Zwischen Anerkennung von Differenz und Geschlechtergleichheit Normkonflikte und Handlungsdilemmata in der Sozialen Arbeit Schlussbericht zum Projekt 246/14 im Rahmen des Bundesprogramms Chancengleichheit an den Fachhochschulen Eva Nadai, Oliver Käch, Lea Hollenstein Olten, Juli 2016 2 Abstract Geschlechterverhältnisse sind seit einiger Zeit zu einem bevorzugten Feld für die Austragung von Kulturkonflikten geworden. In Debatten um das Tragen von Kopftüchern, Zwangsehen, „traditi- onsbedingte“ Gewalt und ähnliches werden stellvertretend Auseinandersetzungen um die In- tegration von Migrantinnen und Migranten geführt. Professionen wie die Soziale Arbeit werden in ihrer täglichen Arbeit unmittelbar mit derartigen Konflikten konfrontiert und müssen sich die Frage stellen, wie sie fachlich und professionsethisch begründet mit dem Dilemma zwischen Anerken- nung von kulturellen und sozialen Differenzen und der Orientierung an der Norm der (Geschlech- ter-)Gleichheit umgehen sollen. Die vorliegende Studie analysiert den Umgang von Sozialarbei- tenden mit derartigen Normkonflikten in sieben Institutionen aus drei verschiedenen Handlungs- feldern der Sozialen Arbeit: in zwei stationären und einer ambulanten Einrichtung für Opfer von (häuslicher) Gewalt, in zwei Institutionen der Familien-, Kinder- und Jugendhilfe und in zwei Schuldenberatungsstellen. Empirisch basiert die Forschung auf Expertinneninterviews, Gruppen- diskussionen, Beobachtungen und Dokumentenanalyse in jeder der sieben Einrichtungen. Das Geschlechterverhältnis ist vor allem in der Beratung von Opfern häuslicher Gewalt als Prob- lemursache und Ansatzpunkt für Veränderungen explizit ein Thema; in den anderen Institutionen wird es durch eine neutralisierende Begrifflichkeit und die Konstruktion von Geschlechtersymmet- rien weitgehend ausgeblendet. Dies lässt sich dadurch erklären, dass Gender in der Arbeit mit Familien oder in der Schuldenberatung nicht unmittelbarer Gegenstand des institutionellen Man- dats ist. In allen untersuchten Einrichtungen wird Geschlechterungleichheit primär in „anderen“ Kulturen verortet, indem die Befragten eine Polarisierung zwischen einem modern-egalitären Geschlechterarrangement bei uns und traditionell-patriarchalen Verhältnissen in anderen Gesell- schaften vornehmen. Die geschilderten Normkonflikte um Geschlechterrollen beziehen sich je- doch nicht vorwiegend auf die symbolische Ebene sondern betreffen greifbare Integritätsverlet- zungen und Einschränkungen der Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen. Gleichheit und die Anerkennung von Differenz gehören neben Autonomie, Selbstbestimmung, Partizipation und Wahrung der Integrität der Klientel zu den zentralen Werten der befragten So- zialarbeitenden. Die Gleichheitsnorm bezieht sich aber vor allem auf die Unterlassung von Dis- kriminierung in der eigenen Beratungspraxis, nicht jedoch auf die aktive Förderung von (Ge- schlechter-)Gleichheit. Trotzdem wirken die Sozialarbeitenden faktisch auf die Ausweitung von Handlungsspielräumen von Frauen und Mädchen hin, soweit die angestrebte „Modernisierung“ von Geschlechterrollen den fallspezifischen Interventionszielen dient. Diese quasi beiläufige För- derung von Gleichstellung ist indes begrenzt, denn die Sozialarbeitenden handeln nach dem Mot- to „das patriarchale System ist nicht verboten“ – Gleichstellung ist mithin keine zwingende oder dringende Pflicht. Die professionsethische Zentralnorm der Autonomiewahrung und -förderung wird in der Praxis in eine weitgehende Übergabe von Verantwortung an die Klientel übersetzt. Diese Strategie der Responsibilisierung ist dann problematisch, wenn zu wenig reflektiert wird, ob die Klientinnen und Klienten tatsächlich über die Voraussetzungen für Handlungsfähigkeit verfügen. Mit Rekurs auf Selbstbestimmung lehnen die Sozialarbeitenden paternalistische Bevormundung ab; bei Erwach- senen haben sie auch rechtlich nur begrenzte Möglichkeiten zu Eingriffen gegen deren Willen. Dadurch werden indes die Klientinnen selbst in akuten Gefährdungs- und Krisensituationen als autonome Akteure auf sich selbst zurückgeworfen und können z.B. bei der Rückkehr in Gewalt- verhältnisse nicht vor weiteren Integritätsverletzungen geschützt werden. 3 Inhaltsverzeichnis 1. Geschlechternormen als Handlungsdilemmata: Forschungsstand und Fragestellung .... 1 1.1 Auseinandersetzungen um Geschlechtergleichheit ............................................................... 1 1.2 Differenz und Normalisierung in der Sozialen Arbeit ............................................................. 2 1.3 Fragestellung .......................................................................................................................... 3 2. Forschungsdesign, Methoden und Daten ............................................................................... 7 3. Zwischen Geschlechterblindheit und Kulturalisierung: Kategorisierungen der Klientel 11 3.1 Adressatenkonstruktionen als Mitgliedschaftskategorisierungen ........................................ 11 3.2 Askriptive Kategorisierungen ................................................................................................ 12 3.3 Verhaltensbezogene Kategorisierungen .............................................................................. 15 3.4 Fazit ...................................................................................................................................... 17 4. Berufsspezifische Werte und normative Erwartungen ........................................................ 20 4.1 Autonomie ............................................................................................................................. 21 4.2 Anerkennung von Differenz .................................................................................................. 23 4.3 Teilhabe und Integration ....................................................................................................... 25 4.4 Wahrung von Integrität ......................................................................................................... 27 5. Normkonflikte ........................................................................................................................... 29 5.1 Normkonflikte auf der gesellschaftspolitisch-institutionellen Ebene .................................... 29 5.2 Normkonflikte in der interprofessionellen Zusammenarbeit ................................................. 30 5.3. Normkonflikte zwischen Sozialarbeitenden und Klientel ..................................................... 31 Eigenverantwortung versus Passivität ....................................................................................... 31 Autonomie versus Schutz ........................................................................................................... 32 Anerkennung von Differenz versus Integration und Assimilation .............................................. 35 6. Bearbeitung von Normkonflikten ........................................................................................... 39 6.1 Die Strategie der Responsibilisierung .................................................................................. 40 6.2 Die paternalistische Logik ..................................................................................................... 45 6.3 Kompromissbildung .............................................................................................................. 48 6.4 Objektivierung von Normen .................................................................................................. 51 7. Zwischen Differenz, Autonomie und Schutz – Schlussbetrachtungen.............................. 53 Modernisierung von Geschlechternormen ................................................................................. 53 Paternalismus: Übergriff oder Schutz ......................................................................................... 55 Voraussetzungen für Autonomie ................................................................................................ 56 Fazit ............................................................................................................................................ 54 Literatur ......................................................................................................................................... 62 1 1. Geschlechternormen als Handlungsdilemmata: Forschungsstand und Fra- gestellung 1.1 Auseinandersetzungen um Geschlechtergleichheit In den letzten Jahrzehnten hat sich das Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter als glo- bale Norm etabliert; in der Schweiz ist es bekanntlich seit 1981 in der Verfassung verankert. Seit fast ebenso langer Zeit wird darüber debattiert, wie weit dieses normative Ziel tatsächlich erreicht wurde. Die Antwort auf diese Frage hängt wesentlich davon ab, was unter dem Begriff der Gleichberechtigung verstanden wird. Eine inhaltliche Füllung des Begriffs ist in dem Masse kom- plexer geworden, wie sich die Geschlechtertheorie und die Frauenbewegung(en) den binnenge- schlechtlichen Differenzen und Ungleichheiten zugewendet haben. Beginnend in den frühen 1980ern wurde der universalisierende Geschlechterbegriff des „spezifisch westliche(n), spezifisch weisse(n) und spezifisch bürgerliche(n)“ Feminismus zunehmend als totalisierend und aus- schliessend in Frage gestellt (Heintz 1993: 35; Walgenbach 2007). Diese Kritik reflektierte nicht zuletzt den von Individualisierung und Pluralisierung geprägten gesellschaftlichen Wandel, der zu einer zunehmenden Heterogenität von weiblichen Lebenssituationen und zur „Disparatheit weib- licher Erfahrungen in einer ethnisch stark differenzierten Gesellschaft“ geführt hat (Heintz 1993: 35). Die relativ unproblematische Annahme einer Gemeinsamkeit aller Frauen (qua Körper oder qua sozialer Lage als „Unterdrückte“) wurde durch einen „gender skepticism“ (Bordo 1990) abge- löst, der – bis zu seinem logischen Ende durchgespielt – die Möglichkeit generalisierender Aus- sagen über eine Genusgruppe praktisch ausschliesst. Auf theoretischer Ebene wurde der Auflö- sung eines universellen Geschlechterbegriffs mit Konzepten wie Intersektionalität, Interdepen- denz, Achsen der Differenz, Konfigurationen und ähnlichem begegnet (Klinger/Knapp/Sauer 2007; Walgenbach 2007). Auf der politischen Ebene stellt sich die Frage, inwiefern sich über- haupt eine Gemeinsamkeit von Bedürfnissen und Interessen eines Kollektivsubjekts „Frau“ als Begründung für die inhaltliche Bestimmung von Geschlechtergleichheit denken lässt. In jüngster Zeit ist diese komplexe akademische Debatte in gewisser Weise in der Öffentlichkeit angekommen, indem das Geschlechterverhältnis zum Gegenstand medialer und politischer Skandalisierung gemacht wird. Dabei geht es weniger um die klassischen Probleme unvollende- ter Gleichstellung wie etwa Lohndiskriminierung oder die Untervertretung von Frauen in wirt- schaftlichen und politischen Machtpositionen. Vielmehr werden Geschlechterverhältnisse als Arena für die Austragung von Kulturkonflikten instrumentalisiert. In Diskussionen um das Tragen von Kopftuch bzw. Schleier (Berghahn/Rostock 2009; Hadj-Abdou et al. 2012), Zwangsehen (Riaño 2012; Markom/Rössl 2009), „traditionsbedingte“ Gewalt (Leicht 2012; Sauer 2009; Schröttle 2009), Befreiung vom koedukativen Sportunterricht (Karakasoglu 2009) und ähnlichem mehr werden stellvertretend Auseinandersetzungen um die Integration von Migrantinnen und Migranten geführt. Die beanstandeten Praktiken werden als unvereinbar mit der hierzulande gel- tenden Norm der Geschlechtergleichheit dargestellt (Hadj-Abdou 2012; Sauer/Strasser 2009; Rommelspacher 2009). In diesen Auseinandersetzungen, so die These von Sauer (2012: 194), wird eine neue Vorstellung von citizenship verhandelt: die Geschlechterdifferenz wird „zu einem Marker für Zugehörigkeit und den Zugang zu staatsbürgerlichen Rechten“, wobei Zugehörigkeit als einseitige Assimilation der Minderheit an die Mehrheitsgesellschaft verstanden wird. Die Kopf- tuch tragende Muslimin wird so gleichsam zum Symbol für die Nicht-Integrierbarkeit und Nicht- Zugehörigkeit von Migrantinnen und Migranten und für das Scheitern einer Politik der Anerken- nung von Differenzen. Umgekehrt kann der von aussen aufgezwungene Assimilationsdruck in- 2 nerhalb von kulturellen Minderheiten zu einer Reaktivierung oder Neuerfindung von Traditionen, welche Frauen benachteiligen, führen (Philipps 2005). Diese Kontroversen in der Öffentlichkeit und der Wissenschaft werfen grundsätzliche geschlech- tertheoretische und -politische Fragen zum Verhältnis von Universalismus und Anerkennung von Differenz bzw. von echter Emanzipation und „Zwangsfreiheiten“ auf (Sauer/Strasser 2009). Aus einem universalistischen Verständnis von Gleichheit können (vermeintliche) Einschränkungen von Frauen als Verletzung von Menschenrechten im Namen von kultureller Differenz kritisiert werden. Darauf macht etwa die Debatte um „minorities within minorities“ aufmerksam, welche das Verhältnis von individuellen und Gruppenrechten im Spannungsfeld von Toleranz, Gleichheit, Selbstbestimmung und Demokratie analysiert. Wie soll etwa ein liberaler, demokratischer Staat reagieren, wenn Minderheitengruppen ihrerseits bestimmte Gruppenmitglieder, z.B. Frauen, dis- kriminieren (Eisenberg/Spinner-Halev 2005)? Inwiefern können solche normativen Dilemmata über Rechtsetzung und Rechtsprechung gelöst werden und inwiefern handelt es sich um Fragen demokratischer Deliberation? Aus der Warte der politischen Theorie liegt der Akzent mithin auf der Vermittlung zwischen Individuum, sozialer Gruppe und Staat. Etwas anders gelagert ist der Fokus in der (feministischen) Debatte um den Autonomiebegriff. Im Zentrum stehen hier die Mög- lichkeiten und Bedingungen individueller Autonomie (Mackenzie/Stoljar 2000; Veltman/Piper 2014). Ein für die vorliegende Studie relevanter Streitpunkt ist, ob die Befolgung „traditioneller“ Geschlechternormen tatsächlich Ausdruck autonomer Entscheidungen von Frauen sein könne (Christman 2014; Friedman 2000; Stoljar 2014, vgl. Kap. 7).1 1.2 Differenz und Normalisierung in der Sozialen Arbeit Für personenbezogene Dienstleistungsberufe im Sozial-, Bildungs- oder Gesundheitswesen ha- ben die skizzierten theoretischen und politischen Debatten eine hohe handlungspraktische Rele- vanz. Professionen wie die Soziale Arbeit werden in ihrer täglichen Arbeit ganz unmittelbar mit Konflikten um divergierende Geschlechternormen konfrontiert und müssen sich der Frage stellen, wie sie fachlich und professionsethisch begründet mit dem Dilemma zwischen Anerkennung von kulturellen und sozialen Differenzen und der Orientierung an der Norm der Geschlechtergleich- heit umgehen sollen (Effinger et al. 2012; Grossmass 2010). Ethikkodizes der Profession stellen hierzu auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau einen gewissen Orientierungsrahmen zur Ver- fügung. So beruft sich etwa der Kodex des Berufsverbands AvenirSocial (2010) auf die Prinzipien der Menschenrechte, den Grundsatz der Selbstbestimmung und die Anerkennung von Verschie- denheiten. Die Wahrung und Stärkung der Autonomie von Klientinnen und Klienten gilt allgemein als zentraler normativer Bezugspunkt und Ziel der Sozialen Arbeit (Dewe/Otto 2011) bzw. wird strukturlogisch als notwendig für professionelles Handeln betrachtet (Oevermann 2009: 120ff.). Im disziplinären Diskurs finden sich überdies Funktionsbestimmungen Sozialer Arbeit, welche diese explizit als Menschenrechtsprofession (Staub-Bernasconi 2003), Gerechtigkeitsprofession (Schrödter 2007) oder als zugleich anerkennungs- und gerechtigkeitstheoretisch informierte Pro- fession (Heite 2008) konzeptualisieren. Aus professionsethischer Perspektive haben das indivi- duelle Recht auf Selbstbestimmung und die Anerkennung von Besonderheit einen hohen Stel- lenwert. Anderseits hat die Soziale Arbeit eine lange Geschichte als Erziehungsinstanz für soziale Grup- pen, deren Lebensführung als problematisch oder abweichend gilt. Die Herstellung einer Diffe- 1 Vgl. dazu speziell die Diskussion um den islami(stisch)en Feminismus (z.B. Derichs 2012). 3 renz von Norm und Abweichung ist insofern ein konstitutives Dilemma für die Soziale Arbeit, als sie einerseits zwischen unterstützungswürdigen und nicht unterstützungswürdigen Gruppen un- terscheiden muss, anderseits mit ihren Interventionen auf die Integration ihrer Klientinnen und Klienten abzielt, diesen mithin dazu verhilft, „in Relation zur Gesamtbevölkerung weniger ‚anders’ zu sein“ (Kessl/Plößer 2010: 8). Gerade dadurch fungiert sie jedoch als Normalisierungsinstanz, die gegenüber historisch wechselnden „Anderen“ gesellschaftlich dominante Verhaltensmuster durchsetzt. Im aktuellen disziplinären Diskurs ist umstritten, inwiefern die Normalisierungsfunktion der Sozialen Arbeit obsolet wurde oder ob sie nicht vielmehr in neuem Gewand auftrete (Kelle 2013; Seelmeyer 2008). Als Folge von gesellschaftlichen Individualisierungs- und Pluralisie- rungsprozessen haben sich verbindliche normative Orientierungsmassstäbe aufgelöst, an welche die Klientel der Sozialen Arbeit angepasst werden müsste. Mit Bezug auf Foucaults Unterschei- dung von disziplinierender und regulierender Normalisierung wird jedoch argumentiert, dass da- mit lediglich die disziplinierende Überwachung der Befolgung ethisch-moralischer Normen durch eine Orientierung an „normalistischen Normen“ ersetzt worden sei, d.h. durch die Ausrichtung von Handeln und Haltungen am statistischen Durchschnitt (Seelmeyer 2008: 182). Regulierende Normalisierung arbeitet nicht mit direktem äusseren Zwang sondern unterwirft das Subjekt durch die „gezielte Gestaltung von Situationen (...), in denen das Individuum als rational kalkulierender Akteur aufgrund von Kosten-Nutzen-Abwägungen eine Selbststeuerung vornimmt“ (ebd.: 191) dem Zwang zur Selbstlenkung. Soziale Arbeit werde mithin zur Agentin von Responsibilisierung, indem sie ihrer Klientel Eigenverantwortung abverlange und zumute (vgl. auch Kessl/Otto 2002). Entsprechend der grundlegenden Bedeutung von Normativität für die Soziale Arbeit und dem aktuellen gesellschaftlichen Fokus auf die Möglichkeiten und Grenzen von Multikulturalität und Diversität werden Prozesse der Differenzsetzung und Normalisierung in der Disziplin breit disku- tiert (Bütow/Munsch 2012; Effinger et al. 2012; Giebeler/Rademacher/Schulze 2013). Empirische Studien zeigen auf, dass und wie in der Praxis der Sozialen Arbeit folgenreiche Unterscheidun- gen hergestellt werden, die zu Ungleichheiten und Diskriminierung führen (Gaitanides 2009; Rommelspacher 2012;) Rommelspacher (2010) stellt z.B. fest, dass Professionelle in der psy- chosozialen Beratung oft glauben, Mädchen aus Migrantenfamilien aus einer repressiven patriar- chalen Kultur retten zu müssen, oder dass sie eine starke Familienzentrierung generell als rück- ständig betrachten. Folgerichtig zielen Interventionen von Sozialarbeitenden auf die Modernisie- rung von Geschlechterrollen ab, indem Migrantinnen lernen sollen, sich als eigenständiges Sub- jekt zu begreifen, sich durch Eintritt in den Arbeitsmarkt zu emanzipieren oder sich aus der Her- kunftsfamilie abzulösen (Nadai/Hauss/Canonica 2013). Spiegelbildich zur unterdrückten Migran- tin werden männliche Migranten als patriarchale und gewaltbereite „Machos“ gezeichnet (Schei- belhofer 2012). Vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten öffentlichen Debatten um fremde kulturelle Praktiken tragen Sozialarbeitende damit zur Verfestigung des Bildes einer „patriarcha- len Kultur“ bei (Baquero Torres 2012). 1.3 Fragestellung Wie die theoretische Debatte und die empirische Forschung deutlich machen, ist der Umgang mit Gender in pluralistischen Gesellschaften äusserst anspruchsvoll. In der Sozialen Arbeit liegen zwar programmatische Entwürfe für den Umgang mit Differenz vor, so etwa der Ruf nach „Gen- derkompetenz“ (Böllert/Karsunky 2008) und nach „diversitätsbewusster“ (Leiprecht 2011) oder „intersektionaler“ (Busch/Stuve 2012) Sozialer Arbeit. Oft wird die Bewältigung dieser Aufgabe indes den einzelnen Sozialarbeitenden überantwortet (Effinger 2012; Rommelspacher 2012). 4 Nach Otto/Ziegler (2012: 3) kann es jedoch nicht angehen, „die Frage nach dem Normativen in der Sozialen Arbeit mit personalen Tugenden der SozialarbeiterInnen ... gleichzusetzen“. Die Autoren fordern deshalb eine vertiefte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Normativität und empfehlen als ersten Schritt eine empirische Rekonstruktion der Normen und Adressaten- konstruktionen, welche die Praxis der Sozialen Arbeit prägen sowie eine Analyse der handlungs- praktischen Implikationen entsprechender Werthaltungen. Eine solche Analyse normativer Prak- tiken wird in der vorliegenden Studie mit Bezug auf die Norm der Geschlechtergleichheit für drei exemplarische Handlungsfelder der Sozialen Arbeit geleistet. Die weiter oben besprochenen empirischen Untersuchungen belassen es im Allgemeinen beim Nachweis, dass die Sozialarbeitenden Differenzen (re)konstruieren und Ungleichheit (re)produzieren. Sie fokussieren primär die Akteurebene und blenden die institutionelle Einbet- tung des Handelns und vor allem die Handlungszwänge aus, denen die Sozialarbeitenden in der Praxis unterliegen. Implizit wird zudem unterstellt, dass sich Differenzkonstruktionen und Norma- lisierung quasi „hinter dem Rücken“ der Akteure ergeben, die unreflektiert gesellschaftliche Nor- men durchsetzten. Die Professionellen in der Praxis können jedoch nicht in gleicher Weise wie handlungsentlastete Wissenschaftler/innen als unbeteiligte Beobachter die komplexen Inter- sektionen von Differenz- und Ungleichheitslinien analysieren und die gesellschaftlichen Folgen ihres Tuns abschätzen. Vielmehr müssen sie vor dem Hintergrund eines institutionell definierten Mandats, organisationaler Rahmenbedingungen und Ressourcen sowie professioneller Wissens- bestände unablässig Entscheidungen im Einzelfall treffen. Für Sozialarbeitende in der Praxis „geht es darum, welche Strategien das Beste für die jeweiligen Betroffenen sind“ (Markom/Rössl 2009: 86). Das Spannungsfeld von Anerkennung von Differenzen, Wahrung der Selbstbestim- mung der Klientel, Menschenrechten und Gleichheitsgebot manifestiert sich für sie als konkrete ethische Handlungsdilemmata (vgl. Beiträge in Zavirsec et al. 2010). In Bezug auf den Umgang mit Gender lautet das Dilemma, inwiefern Sozialarbeitende Geschlechterrollen und Lebenswei- sen akzeptieren, die der Norm der Geschlechtergleichheit zu widersprechen scheinen, und unter welchen Umständen sie auf Anpassung pochen. Empirisch ist diese Frage noch wenig erforscht. Besonders dringlich stellt sie sich, wenn die persönliche Integrität der Klientinnen unmittelbar bedroht ist, wie etwa in Fällen von Zwangsheiraten und häuslicher Gewalt (Helfferich/Kavemann 2006; Hollenstein 2013; Riaño/Dahinden 2010), speziell wenn sich gewaltbetroffene Klientinnen mit Kindern trotz Fortbestehen einer hohen Gefährdung nicht von ihrem gewalttätigen Partner trennen wollen (Helfferich 2005). Vor diesem Hintergrund fragt das Projekt danach, wie Sozialarbeitende sich im Spannungsfeld von Geschlechtergleichheit und Differenz bewegen. Wie gehen sie mit dem Dilemma zwischen Anerkennung von kulturell und sozial unterschiedlichen Geschlechternormen und Lebensfüh- rungsweisen und dem normativen Gleichheitsgebot um? Im Fokus stehen die Normkonflikte und Handlungsprobleme, die sich aus Widersprüchen zwischen den Lebensentwürfen der Klientel, den normativen Orientierungen der Professionellen und den institutionellen Zwängen des Hand- lungskontextes ergeben. Unter Normkonflikt verstehen wir eine Situation, in der widersprüchliche Normen zur Anwendung kommen können, so dass die Akteurinnen eine Wahl treffen müssen. Die Sozialarbeitenden werden dabei als grundsätzlich kompetente Akteurinnen und Akteure be- trachtet, die in erster Linie um die „angemessene(n) Bewältigung von anstehenden Arbeits- problemen“ (Wolff 1981: 7) bemüht sind. Als „street level bureaucrats“ (Michael Lipsky) verfügen sie in ihrer Praxis strukturell über grosse Ermessensspielräume und entscheiden über die Zutei- lung von Ressourcen und Dienstleistungen (Brodkin 2010). So gesehen haben sie eine politikge- 5 staltende Funktion und können auch ohne ein entsprechendes explizites Mandat als Gleichstel- lungs-Praktiker/innen verstanden werden. Die Forschungsfragen fokussieren die Ebenen der Deutungen und Werthaltungen, des Handelns in Konfliktsituationen und der institutionellen Rah- menbedingungen. Eine erste Fragestellung bezieht sich auf die Adressatenkonstruktionen der Sozialarbeitenden vor dem Hintergrund der jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen und normativen Orien- tierungen untersucht. Wie wird die Klientel wahrgenommen und in Bezug auf ihre Werthaltungen, ihre Lebensführung und ihre Problembewältigungsmuster bewertet? Welche Differenzen werden fokussiert oder allenfalls ausgeblendet? Werden Geschlechterungleichheiten überhaupt wahrge- nommen bzw. können sie im institutionellen Kontext Beachtung finden? Es ist davon auszuge- hen, dass das spezifische Mandat ein Stück weit vorgibt, unter welchen Gesichtspunkten die Klientel wahrgenommen und behandelt werden kann (z.B. als Mutter, als Gewaltopfer, als Mig- rantin, vgl. Nadai 2014). Zweitens wird nach den Werthaltungen und normativen Orientierungen der untersuchten Instituti- onen und Sozialarbeitenden gefragt. Welche Werte werden in den Untersuchungsfeldern als zentral erachtet, und welche Erwartungen an die Klientinnen und Klienten werden daraus abge- leitet? Wie werden diese Orientierungen mit Bezug auf professionelle und alltagsweltliche Wis- sensbestände begründet? Besonders interessiert, ob und wie hoch abstrakte und ethisch an- spruchsvolle Positionen, so etwa die Idee der Ausrichtung Sozialer Arbeit an Menschenrechten, die Verpflichtung auf die Anerkennung von Verschiedenheiten oder Gleichberechtigung argumen- tativ auf konkrete Handlungsdilemmata übertragen werden. Inwiefern ist die Gleichberechtigung der Geschlechter explizit ein Wert, der in konkreten Interventionen verfolgt wird? Zu fragen ist auch, inwiefern die Institutionen eine explizite Position zum Umgang mit Differenz vertreten (z.B. in einem Leitbild) und ob sich diese Haltung in den Wahrnehmungen und im Handeln der Sozial- arbeitenden niederschlägt. Ein dritter Fokus liegt auf der Wahrnehmung und dem Erleben von Normkonflikten. Soziale Arbeit ist gekennzeichnet durch „hartnäckig-unaufhebbare Dauerprobleme im Vollzug des professionel- len Handelns“, die sich aus den Konstitutionsproblemen der Interaktions-, Handlungs- und Ar- beitsvollzüge in der (Mit-)Bearbeitung von Fallproblemen durch die Professionellen ergeben (Schütze 2000: 57). Sozialarbeitende sind also permanent mit Konfliktsituationen konfrontiert, aber nicht alle diese Konflikte sind Normkonflikte. Zu fragen ist zunächst, welche Konflikte mit Klientinnen und Klienten überhaupt auf divergierende Werte und Normen zurückgeführt werden und in einem nächsten Schritt, welche normativen Positionen besonders umstritten sind. Werden unterschiedliche Positionen zur Norm der Geschlechtergleichheit implizit oder explizit zu einem Anlass für Konflikte? Lassen sich in den Untersuchungsfeldern ähnliche Auseinandersetzungen um das Geschlechterverhältnis, wie eingangs beschrieben, beobachten? Auch hier ist zu unter- scheiden zwischen der quasi offiziellen Position der Institution, wie sie etwa in Leitbildern zum Ausdruck kommt, und den Haltungen der einzelnen Sozialarbeitenden. Schliesslich werden viertens die Strategien der Bewältigung von Normkonflikten analysiert. Wie reagieren die Sozialarbeitenden, wenn Klientinnen und Klienten ein Verhalten zeigen, das den Werthaltungen der Professionellen zuwiderläuft? Bis zu welchem Grad sind sie bereit, Differen- zen stehen zu lassen und inwieweit versuchen sie, auf Verhaltensänderungen hinzuarbeiten? Welche Umstände spielen dabei mit? Und welche Effekte lassen sich aus diesen Strategien in Bezug auf die Herstellung von Geschlechter(un)gleichheit ableiten? Untersucht wird auch, wel- 6 che Hilfestellung die Institutionen diesbezüglich bieten: gibt es Gefässe für die fallbezogene, aber auch für die über den Einzelfall hinausreichende grundsätzliche Reflexion des Umgangs mit Normkonflikten? 7 2. Forschungsdesign, Methoden und Daten Für die empirische Untersuchung wurden drei Handlungsfelder der Sozialen Arbeit ausgewählt, in denen unterschiedliche Ausprägungen und Formen der interessierenden Normkonflikte zu erwarten waren: (1) Soziale Arbeit im Feld (häuslicher) Gewalt: in diesem Feld steht einerseits das Geschlechter- verhältnis unmittelbar zu Disposition, anderseits ist hier das Dilemma zwischen Selbst- bestimmung der Klientinnen und ihrem Schutz besonders virulent. Beispielsweise müssen die Interessen der mitbetroffenen Kinder mit berücksichtigt und gegen die Interessen der Frauen an Schutz vor Gewalt und an Selbstbestimmung abgewogen werden. Anderseits haben Sicherheits- überlegungen, Gewaltschutzmassnahmen und Bedrohungsmanagement im Kontext staatlicher Interventionen gegen häusliche Gewalt an Gewicht gewonnen (Hollenstein 2013; Mösch 2007). An der Studie beteiligten sich zwei stationäre Institutionen für Opfer häuslicher Gewalt und eine ambulante Opferberatungsstelle, die verschiedene Zielgruppen adressiert.2 − Das Frauenhaus 1 (FH_1) ist eine Institution mit explizit feministischem Hintergrund, die sich als Kriseninterventionsstelle für gewaltbetroffene Frauen versteht.3 Die Institution ist primär für ihr stationäres Angebot bekannt, übernimmt aber auch kürzere oder längere ambulante Beratungen im Rahmen eines Leistungsauftrags der kantonalen Opferhilfe. Rund ein Viertel der Klientinnen, die eine längere Beratung in Anspruch nehmen, wird stationär betreut. Die maximale Aufenthaltsdauer beträgt drei Monate. Das Frauenhaus beschäftigt etwas weniger als zehn Sozialarbeiterinnen sowie Mitarbeiterinnen, die speziell für den Nachtdienst ange- stellt sind. − Das Frauenhaus 2 (FH_2) ist ebenfalls eine stationäre Einrichtung zur Beratung und Unter- stützung von Frauen, die häusliche Gewalt erfahren. Die Klientinnen können hier auch nach dem Aufenthalt weiterhin Beratung in Anspruch nehmen. Die Institution versteht ihr Mandat nicht lediglich als Krisenintervention sondern will mit ihrem Beratungsangebot auf die Präven- tion weiterer Gewalt hinwirken. Das Frauenhaus hat seine Wurzeln nicht direkt in der Frau- enbewegung, sondern wurde von Freiwilligen gegründet und arbeitet heute mit einem kanto- nalen Leistungsauftrag. Neben den rund zehn Beraterinnen für die Frauen werden noch Mit- arbeiterinnen für die Betreuung und Begleitung der Kinder der Klientinnen beschäftigt. − Die Opferberatungsstelle (OB) verfügt über Beratungsangebote für unterschiedliche Ziel- gruppen. Gemessen an der Anzahl der Klientinnen und der Beraterinnen ist die Beratung für Frauen, die von sexueller und häuslicher Gewalt betroffen sind, am gewichtigsten; über alle Angebote hinweg stellen Frauen mehr als zwei Drittel der Klientel. Die Opferberatungsstelle hat ein Mandat im Rahmen des Opferhilfegesetzes und fungiert als niederschwellige Anlauf- stelle für Opfer von Straftaten, die mit physischer, psychischer oder sexueller Integritätsver- letzung verbunden sind. Sie beschäftigt etwas mehr als zehn Beraterinnen und Berater. (2) Soziale Arbeit mit Familien: in diesem Feld, in dem sich pädagogische und alltagsnahe Hilfe verschränken, greift Soziale Arbeit direkt in die Lebenswelt der Klientel ein. Wenngleich hier oft von „Elternarbeit“ die Rede ist, ist das Feld von einem „implizite(n) Maternalismus“ (Rohleder 2 Die nachfolgenden Beschreibungen der untersuchten Institutionen sind zwecks Wahrung der Ano- nymität der Institutionen bewusst knapp gehalten; zudem wurden einige Angaben leicht verändert. Die Institutionen sind in drei verschiedenen Deutschschweizer Kantonen angesiedelt. 3 Die Institution nimmt auch minderjährige Frauen auf. 8 2006: 292) geprägt. Faktisch steht die Erziehungskompetenz von Müttern im Fokus, während Väter häufig ausgeblendet werden (Sabla 2012). Normkonflikte sind als Folge sozial und kulturell unterschiedlicher Erziehungsvorstellungen (Thiessen/Sandner 2012) insbesondere auch bezüg- lich Geschlechterrollen zu erwarten. Untersucht wurden in diesem Handlungsfeld eine Institution der sozialpädagogischen Familienbegleitung und eine kantonale Institution der Kinder- und Ju- gendhilfe. – Die untersuchte sozialpädagogische Familienbegleitung (Fam_1) ist Teil einer Stiftung, die verschiedene ambulante und stationäre Einrichtungen für Kinder und Jugendliche führt. Die Institution bietet Familien, die aufgrund von sozialen, psychischen oder pädagogischen Prob- lemen und Krisen überfordert sind, Beratung und Begleitung bei Erziehungsschwierigkeiten. Die Unterstützungsformen bewegen sich in einem Spektrum von relativ kurzen befristeten In- tensivprogrammen bis zu Dauerbegleitungen mit offenem Zeithorizont. Die Familien können das Angebot freiwillig nutzen; faktisch wird jedoch die Mehrheit der Klientel aufgrund einer Anordnung der KESB (Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde) an die Institution überwie- sen, z.B. im Rahmen einer Erziehungsbeistandschaft. In der Institution sind rund 70 Mitarbei- tende in der Familienarbeit tätig. – Die zweite Einrichtung im Bereich Kinder- und Jugendhilfe (Fam_2) ist eine kantonale Institu- tion, die ebenfalls Eltern Unterstützung bei Erziehungsproblemen und familiären Konflikten bietet. Darüber ist sie für Abklärungen und Mandatsführungen im Bereich Kindesschutz zu- ständig. Sie übernimmt die Fallführung in der Organisation und Koordination von Hilfen und versteht ihr Mandat als Schaffung von guten Entwicklungsbedingungen für Kinder und Ju- gendliche. Etwa die Hälfte der Fälle wird durch die KESB initiiert; daneben werden die Fami- lien oft von Schulen oder andere Fachstellen an die Institution verwiesen oder die Eltern, sel- tener die Kinder oder Jugendlichen, melden sich selbst. In der direkten Arbeit mit den Fami- lien sind ungefähr 40 Sozialarbeitende tätig. (3) Schuldenberatung: Das Handlungsfeld Schuldenberatung wurde aufgrund von Annahmen zur Normativität und zur Rolle von Gender ausgewählt, die sich empirisch nur zum Teil bewahrheitet haben. In der wissenschaftlichen Literatur wird der Disziplinierungs- und Kontrollcharakter der Schuldenberatung betont (Mattes 2007) und der Umgang mit Geld und Schulden als verge- schlechtlicht beschrieben. In Haushalten mit geringem Einkommen seien vorwiegend die Frauen für die Verwaltung des Familienbudgets verantwortlich (Wrede 2003: 50). Sie geraten damit doppelt in den Fokus der Sozialen Arbeit: als Geldverwalterinnen und als Erzieherinnen, die ihren Kindern die richtigen Werte und den umsichtigen Umgang mit Geld vermitteln sollen. Wie noch gezeigt wird (vgl. Kap. 5) lehnen die untersuchten Schuldenberatungsstellen jedoch eine norma- tive Bewertung von Schulden oder ein pädagogische Rolle im Hinblick auf eine Verhaltensände- rung der Klientel weitgehend ab. Die folgenden beiden Fachstellen wurden in die Studie einbezo- gen: – Schuldenberatung 1 (SB_1): Zu Beginn adressierte die Institution Behörden und Fach- personen aus dem Sozialbereich, die mit überschuldeten Klientinnen und Klienten konfron- tiert waren, aber nicht über das notwendige Fachwissen verfügten. Heute steht sie zwar im- mer noch Fachleuten für Auskünfte zur Verfügung und bietet Präventionskurse für Institutio- nen und Schulen an. Ihr Schwergewicht liegt aber bei der Beratung von überschuldeten Per- sonen. Für diese umfasst das Angebot einerseits telefonische oder persönliche Kurzberatun- gen zur Einschätzung der Schuldensituation und zur Entwicklung von Handlungsmöglichkei- ten, anderseits auch längerdauernde Begleitungen und Schuldensanierungen. In einem 9 Grossteil der Fälle kommt es nur zu einer kurzen Beratung. Die Institution wird über Leis- tungsaufträge und Beiträge von Kanton und Gemeinden finanziert. Das Beratungsteam um- fasst fünf Mitarbeitende. – Schuldenberatung 2 (SB_2): Auch die zweite Schuldenberatungsstelle ist schwergewichtig in der telefonischen und persönlichen Beratung von überschuldeten Personen tätig und über- dies in der Präventionsarbeit mit Kursen für verschiedene Zielgruppen (von Eltern über Schu- len bis zu Betrieben) und der Bereitstellung von Informationsmaterialien. Wie bei der SB_1 werden vorwiegend Kurzberatungen durchgeführt; die meisten Klienten kommen nur für ein bis zwei Gespräche in die Beratung. Längerfristige Schuldensanierungen machen rund ein Zehntel der Fälle aus. Die Institution entstand aus dem Zusammenschluss zweier Vereine und arbeitet heute auf der Grundlage von Leistungsvereinbarungen und Betriebsbeiträgen von Kantonen, Gemeinden, Kirchen und gemeinnützigen Institutionen. In der Beratung sind rund zehn Fachleute tätig. Empirisch ist die Forschung als explorative qualitative Studie angelegt, basierend auf Gruppen- diskussionen, Expertinneninterviews, kurzen Beobachtungen und Dokumentenanalyse. Da sich die Fragestellung auf kollektive Orientierungen richtet, bot sich ein Zugang über Gruppendiskus- sionen im Rahmen der dokumentarischen Methode nach Bohnsack (2001; 2007a) an. Die doku- mentarische Methode hat den Anspruch über den immanenten Sinngehalt von empirischem Ma- terial hinaus zu dem zu gelangen, „was sich in dem Gesagten über die Gruppe dokumentiert“ (Bohnsack 2007b: 383, kursiv i. Original). Angepeilt werden generative Strukturen, die jenseits des von den einzelnen Beteiligten intendierten Sinns liegen. Dieser kollektive Gehalt basiert auf dem „konjunktiven Erfahrungsraum“ der Subjekte, die durch gemeinsame Handlungspraxis und Erleben verbunden sind. Im vorliegenden Fall begründet die Berufspraxis in einem spezifischen Handlungsfeld der Sozialen Arbeit einen konjunktiven Erfahrungsraum, der überdies durch die Angehörigkeit zu einer spezifischen Organisation respektive einem Team gestiftet wird. Als Annäherung an den konjunktiven Erfahrungsraum der Studienteilnehmenden wurden die Gruppendiskussionen mit Experteninterviews (Meuser/Nagel 2009), kurzen Sequenzen der Be- obachtung in den Untersuchungsorganisationen sowie der Sichtung organisationaler Konzepte und Leitbilder vorbereitet. Als Expertinnen befragt wurde in jeder Institution die Stellenleitung; in vier der Institutionen nahmen je zwei Vertreter/innen der Institution daran teil.4 Die Interviews wurden nach einem Leitfaden gestaltet, der die Organisationsstrukturen und -prozesse, das Mandatsverständnis und die Angebote sowie (Norm)Konflikte in der alltäglichen Arbeit der jewei- ligen Institution thematisierte. Anschliessend konnten in jeder Institution relevante Arbeitssituatio- nen beobachtet werden: Beratungsgespräche, bilaterale Fallbesprechungen bzw. Fallsupervisio- nen im Team sowie die erste Kontaktnahme zwischen Klientel und Institution mittels einer Tele- fonhotline. Die Interviews, Beobachtungsprotokolle und Leitbilder wurden einer ersten Analyse unterzogen und in Form von Thesenpapieren aufbereitet als Vorbereitung für die Gruppendiskus- sionen. Im Zentrum standen dann sieben Gruppendiskussionen mit Sozialarbeitenden der aus- gewählten Institutionen. An den Diskussionen nahmen zwischen vier bis acht Personen teil; meistens war auch die Team- oder Stellenleitung dabei.5 Die Diskussionen dauerten zwischen zwei bis drei Stunden; sie wurden aufgezeichnet und transkribiert. Die angestrebte Selbstläufig- 4 Einige der Institutionen werden in Ko-Leitung geführt. 5 In den kleineren Organisationen nahmen jeweils alle Berater/innen teil, die nicht terminlich verhin- dert waren; in den grösseren wurde die Auswahl der Diskussionsteilnehmenden mit der Stellenlei- tung ausgehandelt. 10 keit der Diskussion (Bohnsack 2007b) ergab sich jeweils problemlos auf eine offen formulierte Erzählaufforderung hin.6 Die Gespräche verliefen lebhaft – die Problematik von Werthaltungen und Normkonflikten stiess offensichtlich auf grosses Interesse. Die Auswertung richtete sich auf die Rekonstruktion der kollektiven Orientierungsrahmen der Gruppen. Das Material wurde zum einen thematisch gegliedert, zum anderen wurde es auf antithetische oder parallelisierende Dis- kursorganisation (Bohnsack/Schäffer 2001) untersucht, d.h. inwiefern sich Dissens oder identi- sche Orientierungsmuster manifestieren. Schliesslich wurden Gemeinsamkeiten und Kontraste zwischen den Institutionen respektive Handlungsfeldern herausgearbeitet. Als letzter Schritt wurde in jeder der Untersuchungsorganisationen ein zwei- bis dreistündiger Workshop durchgeführt.7 Diese Veranstaltungen dienten einerseits der kommunikativen Validie- rung der Ergebnisse (Steinke 2012), anderseits der Sondierung von Reflexionsbedürfnissen im Hinblick auf mögliche Weiterbildungsangebote zum Problem von Normkonflikten. Im ersten Teil wurden handlungsfeldübergreifende und handlungsfeldspezifische Ergebnisse vorgestellt und diskutiert, im zweiten Teil erarbeiteten die Teilnehmenden interessierende Themen und Formen für eine Weiterbildung. Die Forschungsergebnisse und die Schlüsse aus den Workshops mit den Sozialarbeitenden wurden schliesslich in einem weiteren Workshop mit einer Runde von vier Expertinnen aus Hochschulen und Verwaltung diskutiert.8 6 Gefragt wurde, in welchen Situationen im beruflichen Alltag die Sozialarbeitenden Normkonflikte erlebten. 7 Mehrheitlich nahmen an den Workshops nicht nur die Sozialarbeitenden teil, die schon bei der Gruppendiskussion dabei gewesen waren, sondern auch weitere Mitarbeitende. Die Teilnehmer- zahl bewegte sich zwischen drei bis rund 40 Personen. 8 Folgende Personen nahmen teil: Prof. Sonja Hug, Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit / FHNW mit Schwerpunkt Ethik; Dr. Eva Mey, Dozentin an der ZHAW / Departement Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Migration; Prof. Gabriella Schmid, Dozentin an der FHSG / Fachbereich Soziale Arbeit mit Schwerpunkten Geschlechterforschung und Gewalt; Dr. Simone Prodolliet, Geschäfts- führerin der Eidgenössischen Migrationskommission. 11 3. Zwischen Geschlechterblindheit und Kulturalisierung: Kategorisierungen der Klientel Für die Sozialarbeitenden der untersuchten Institutionen stellen die Selbstbestimmung der Klien- tinnen und Klienten und folgerichtig auch die Anerkennung von unterschiedlichen Lebensweisen wichtige normative Bezugspunkte dar (vgl. Kap. 4). Anderseits zeigt die einschlägige Forschung, dass Sozialarbeitende in ihrer Praxis oft stereotype Zuschreibungen vornehmen, die mit hierar- chisierenden Bewertungen von Lebensführungsweisen und Werthaltungen verknüpft sind. Gera- de unterschiedliche Geschlechterarrangements werden nicht lediglich beobachtend registriert, sondern als besser oder schlechter rangiert. Weniger akzeptierte Geschlechterarrangements gelten dann als anpassungsbedürftig an die höher bewertete Normvorstellung. Nachfolgend wer- den deshalb die empirisch vorgefundenen Differenzsetzungen analysiert: wie kategorisieren die Sozialarbeitenden ihre Klientel und wie bewerten sie die diesen Kategorien zugeschriebenen Haltungen und Verhaltensweisen? 3.1 Adressatenkonstruktionen als Mitgliedschaftskategorisierungen Die Sozialarbeitenden der untersuchten Institutionen sind täglich mit einer vielfältigen Klientel konfrontiert, deren primäre Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie sich in einer Problemlage be- findet, die durch den Rahmen der institutionellen Zuständigkeit abgedeckt wird. Klientinnen der Familienhilfe leben in einer durch Konflikte und Erziehungsschwierigkeiten charakterisierten Fa- milie, Klienten der Schuldenberatung stecken in finanziellen Schwierigkeiten und die Klientel der Opferberatungsstellen hat bestimmte Formen von Gewalt erfahren. Abgesehen von der Gemein- samkeit der Problemsituation – die in sich ebenfalls vielschichtig ist – unterscheiden sich die be- troffenen Individuen respektive Klientensysteme jedoch hinsichtlich einer potenziell unendlichen Anzahl von Merkmalen. Um angesichts einer immer vieldeutigen sozialen Wirklichkeit das „unbe- schränkbare etcetera“ möglicher Differenzsetzungen (Butler 1991: 210) handhaben zu können, sind Typisierungen unumgänglich. Die auf Harvey Sacks zurückgehende ethnomethodologische „Membership Categorization Ana- lysis“ (MCA) zeigt auf, wie Akteure solche typisierenden Beschreibungen vornehmen und verste- hen (Sacks 1972; Lepper 2000; Schegloff 2007; ten Have 2002). Eine grundlegende Operation besteht darin, Kategorien, die in einem gegebenen kulturellen Kontext auf bestimmte Weise „zu- sammengehören“, zu Kollektionen zu gruppieren und als Mitglieder dieser Kollektionen zu be- handeln. Kollektionen und eine Reihe von Anwendungsregeln bilden eine „membership categori- zation device“: einen Apparat zur Strukturierung von Alltagswissen. Beispielsweise besagt die Ökonomieregel, dass für praktische Zwecke in einer Situation eine einzige Beschreibung hinrei- chend präzise sein kann. Eine Person z.B. als „Migrantin“ zu kategorisieren, erübrigt so die oh- nehin nie erschöpfend zu leistende Wahrnehmung und Beschreibung aller Attribute und Positio- nierungen dieser Person. Die Kategorisierung reicht dann aus, um zu wissen, dass sie als Mig- rantin auch „ressourcenarm“ ist (Hollenstein im Erscheinen). Ein weitere Regel, das Prinzip der standardisierten Beziehungspaare, verbindet zusammengehörige Kategorien durch gegenseitige Rechte und Pflichten: so kann z.B. von einer als „Mutter“ kategorisierten Person als Mitglied des Beziehungspaars Mutter-Kind erwartet werden, dass sie für ihr Kind sorgt. Insofern Mitglied- schaftskategorisierungen also Verhaltenserwartungen implizieren, haben sie immer auch norma- tiven Charakter. Sie fungieren als „store house and (...) filing system for the common-sense knowledge that ordinary people (...) have about what people are like, how they behave etc.“ 12 (Schegloff 2007: 469). Dieser Fundus an Alltagswissen über Eigenschaften und Handlungswei- sen von Akteurskategorien umfasst in beruflichen Kontexten auch die geteilten Wissensbestände einer Berufsgruppe als Amalgam aus theoretisch erlernten und pragmatisch überformten An- nahmen über kompetentes Handeln in einem gegebenen Kontext (Maeder/Nadai 2003: 156f.). Kategorisierungen bieten in institutionellen Kontexten mithin auch Anleitungen zur Bewältigung von beruflichen Handlungsanforderungen (Karl 2011). Allerdings dürfen Mitgliedschaftskategorisierungen nicht als situations- und kontextunabhängige Essentialisierungen verstanden werden. Vielmehr sind sie immer „categories-in-context“ (Hes- ter/Eglin 1997: 27). Sie beziehen sich als interaktive Leistung der Akteurinnen auf eine spezifi- sche Situation in einem spezifischen Kontext. So kann etwa die Klientin eines Beschäftigungs- programms für Arbeitslose im Verlauf eines Beratungsgesprächs als berufstätige Frau, als stel- lensuchende Arbeitslose, als alleinerziehende Mutter oder als Sozialhilfebezügerin adressiert werden mit je anderen Folgen für das Handeln der Beraterin (Nadai 2014). Kategorisierungen stehen im professionellen Kontext immer schon in Bezug zu einem Handlungsentwurf. Kategori- siert werden entsprechend nicht in erster Linie Personen per se, sondern Akteure in Problem- konstellationen, die im Kontext des spezifischen Arbeitsauftrags einer Institution relevant sind und einer Bearbeitung bedürfen. Die Kategorisierungen stellen dabei dank ihrer Speicherfunktion für (berufliches) Alltagswissen eine Ressource für die Gestaltung der Intervention dar. Zum Bei- spiel legt die Zuschreibung von Traditionalität und Ressourcenarmut an Migrantinnen im Kontext eines Frauenhauses eine Interventionsstrategie der Befähigung zu mehr Eigenständigkeit nahe Der institutionelle Kontext strukturiert also mit, unter welchen Gesichtspunkten die Klientel wahr- genommen und behandelt wird. 3.2 Askriptive Kategorisierungen Für die Fragestellung der vorliegenden Studie ist Gender die zentrale Differenzdimension – für die befragten Sozialarbeitenden ist dies ebenso eindeutig nicht der Fall. Oder präziser ausge- drückt: Gender ist für sie – wenn überhaupt – nur in der Interdependenz mit Kultur respektive Ethnizität von Interesse, indem sie einen Gegensatz zwischen ,unserer’ (modernen) Ausprägung des Geschlechterverhältnisses und den „traditionellen“ Geschlechterarrangements anderer Kultu- ren konstruieren. In gewisser Weise praktizieren die Praktiker damit eine interdependente Sicht- weise, die ihnen in wissenschaftlichen Debatten gemeinhin abgesprochen wird. Allerdings lassen sie dabei vor allem die theoretisch durchgängig als relevant gesetzte Dimension von Klasse weit- gehend aussen vor, wohingegen das Alter in den Kategorisierungen mitspielt (vgl. zum Alter 3.3). Diese pauschalen Feststellungen werden nachfolgend detaillierter mit Blick auf die Unterschiede zwischen den Handlungsfeldern und Institutionen dargestellt.9 In den beiden Frauenhäusern ist Gender gleichsam als implizite Selbstverständlichkeit im Hinter- grund präsent. So wird in den grundlegenden Konzepten beider Institutionen explizit das Ge- schlechterverhältnis als Gewaltursache benannt. Insofern alle Klientinnen dem gleichen Ge- schlecht angehören, rücken dann in den Interviews und Gruppendiskussionen intrageschlechtli- che Unterschiede in den Vordergrund. Dies sind insbesondere Kultur und Alter sowie, etwas we- niger prominent, auch die soziale Lage qua Bildung und Zugang zu Erwerbsarbeit. Mit Kultur 9 Für diese Darstellung werden zudem die als interdependent postulierten Kategorien wieder ausei- nanderdividiert. Überdies werden Kategorisierungen nur in Bezug auf ihre Relevanz für Normkon- flikte analysiert. 13 verhält es sich umgekehrt wie mit Gender: in den schriftlichen Dokumenten wird betont, dass „Gewalt in allen Schichten und Ethnien unabhängig der Religionszugehörigkeit“ vorkomme (Rahmenkonzept FH_1), in den Interviews und Gruppendiskussionen erscheint indes Kultur als zentrale Begründung für häusliche Gewalt. Es ist auffallend, dass die erzählten Fallbeispiele, die zur Erörterung von Normkonflikten herangezogen werden, ausschliesslich Migrantinnen der ers- ten oder zweiten Generation betreffen und auch generalisierende Beschreibungen sich auf ande- re Kulturen beziehen.10 (Junge) Frauen werden in diesen stark familienorientierten, „patriarcha- len“ und von „Machismo“ geprägten Kulturen in arrangierten Ehen verheiratet; sie sind „Sklavin- nen des Haushalts“; werden von ihren Männern in den Ferien im Herkunftsland zurückgelassen oder hier in der Schweiz „auf die Strasse gestellt“. Die Gefährdung kann in diesen Kontexten nicht nur vom Mann ausgehen, sondern von seiner ganzen Verwandtschaft bzw. die Frau kann nicht mit der Unterstützung ihrer eigenen Familie gegen den Mann rechnen. Ein ähnliches Bild der abhängigen Migrantin wird auch in der Opferberatungsstelle gezeichnet.11 Die in dieser Weise beschriebenen Geschlechterverhältnisse werden vollumfänglich kulturellen Differenzen zugerechnet, mögliche milieu- und schichtspezifische Unterschiede innerhalb dieser Kulturen geraten nicht in den Blick. Hingegen wird in Bezug auf die Handlungschancen der ein- zelnen Klientinnen die Verschränkung von sozialer Lage und Migrationsstatus in Rechnung ge- stellt. Migrantinnen verfügen seltener als Schweizerinnen über die „Schutzfaktoren“ einer Berufs- ausbildung oder eines eigenen Einkommens qua Erwerbsarbeit. Auch deshalb können sie sich „ein Leben allein nicht vorstellen“ und sind mit der Alltagsbewältigung – „was mache ich mit den Rechnungen, wie überweise ich meine Miete“ – überfordert. Überdies erschwert ihnen das schweizerische Migrationsregime, das ihren Aufenthaltsstatus an den des Ehemannes knüpft und Kantonswechsel verunmöglicht, das Ausbrechen aus einem Gewaltverhältnis. In der Kategorisie- rung der abhängigen und hilflosen Migrantin drückt sich gleichsam die als belastend empfundene Hilflosigkeit der Sozialarbeitenden aus, denn je höher die Hürden für den Ausstieg der Klientin aus einer unterdrückenden Partnerschaft, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Beratung das normativ erwünschte Ziel erreicht. So gesehen weist die Kategorisierung einen unmittelbaren Bezug zum zentralen Normkonflikt in diesem Feld auf. Kulturalisierende Genderkonstruktionen finden sich auch im Handlungsfeld der Familienarbeit wobei hier die kulturelle Differenz herausgestrichen wird und Gender nur im Hintergrund mit- schwingt. Entsprechend dem inhaltlich anderen institutionellen Mandat und der darauf bezoge- nen Fallkonstitution wird der Kulturgegensatz auch an anderen Verhaltensweisen festgemacht als in der Beratung von Gewaltopfern. Zur Disposition stehen hier als kulturspezifisch betrachtete Erziehungspraktiken und die Frage, inwiefern diese dem Kindeswohl widersprechen (z.B. Gewalt als Erziehungsmittel oder übermässige elterliche Kontrolle, vgl. Kap. 5.3). In der Sozialen Arbeit mit Familien bildet das gesamte Familiensystem den Fall und es wird davon ausgegangen, dass einerseits die Bedürfnisse und Interessen der Familienmitglieder sorgfältig austariert werden 10 In relativierender Absicht wird in einem der Frauenhäuser kulturelle Differenz mit einer religiösen Minderheit in der Schweiz in Verbindung gebracht („fundamental-religiöse Kreise“). Ansonsten wird die Religionszugehörigkeit nicht als Differenzkategorie genutzt. Insbesondere fanden wir keine auf den Islam bezogenen Zuschreibungen. Die anderen Kulturen/Nationen werden manchmal konkret benannt (Türken, Tamilen, Eritreer u.a.), manchmal bleiben sie ein unspezifisches Anderes. 11 In dieser Institution wird zudem am Rand die Unvereinbarkeit von Männlichkeit und einem Opfer- status diskutiert, die für Männer aus anderen Kulturen noch stärker akzentuiert sei: „Der Patriarch geht nicht zur Opferhilfe.“ 14 müssen, anderseits jede Intervention das System als Ganzes tangiert. Dabei haben die Bedürf- nisse der Kinder Vorrang gegenüber denjenigen der Eltern. Die Familie wird also als ein standar- disiertes Beziehungspaar von „Kindern“ (respektive „Jugendlichen“) und „Eltern“ behandelt, was zur Folge hat, dass die Geschlechtszugehörigkeit der einzelnen Familienmitglieder von der neut- ralisierenden Begrifflichkeit verdeckt wird. Erst in den konkreten Fallschilderungen problemati- scher Erziehungspraktiken wird das Geschlecht durch die Bezugnahme auf Väter, Mütter, Mäd- chen oder Jungen explizit benannt, wenngleich nicht vor dem Hintergrund von Geschlechterver- hältnissen reflektiert. Beispielsweise ist eine problematische Familie zunächst „ein total über- wachtes System“. In der weiteren Erzählung wird deutlich, dass „der Papa den Kindern Ohrfeigen gibt“ oder „der Mann das Gefühl hat, er müsse [die Frau] überwachen“. Allerdings wird letztlich wieder relativiert: Also ich denke, dass alles vorkommt. Es kann sein, dass ein einzelnes Kind irgendwie einge- schränkt wird, aus welchen Gründen auch immer. Es kann sein dass, dass es nur darum geht, Kontrolle über die Frau auszuüben und die Kinder mehr Freiheiten haben. Es kann sein, dass die Knaben mehr dürfen als die Mädchen oder umgekehrt. Es kann sein, dass eine Person die ganze Familie versucht unter Kontrolle zu halten. (Gruppendiskussion Fam_2) Während die „patriarchale Familie“ in der Beratung von Gewaltopfern primär als Unterdrückungs- zusammenhang für Migrantinnen geschildert wird, steht in der Familienarbeit die Rolle des Vaters als Patriarch im Fokus.12 Die Väter üben übermässige Kontrolle über (weibliche) Jugendliche und manchmal auch über ihre Frauen aus und verweigern sich der Auseinandersetzung mit Erzie- hungsfragen, indem sie kaum je an der Beratung teilnehmen. Insbesondere im Feld der Sozialen Arbeit mit Familien, aber auch im Feld der Beratung von Ge- waltopfern bietet überdies die Interdependenz von Ethnizität, Gender und Generation einen An- satzpunkt für Kategorisierung. Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird eine bikulturelle Iden- tität attestiert, gerade auch in Bezug auf Geschlechterrollen. Im Unterschied zu den Eltern, die noch vollständig ihrer Herkunftskultur verhaftet seien, hätten sich die Jugendlichen den schweize- rischen Geschlechternormen angenähert, was wiederum zu intrafamiliären Normkonflikten führe, v.a. wenn junge Frauen sich dieselben Freiheiten wie ihre Schweizer Kolleginnen herausnehmen wollten. Im Handlungsfeld Familienarbeit sowie in der allgemeinen Opferberatungsstelle wird Gender des Weiteren in der Umkehr des gewohnten Täter-Opfer-Verhältnisses thematisch. In beiden Hand- lungsfeldern wird auf die gesellschaftlich ausgeblendete Figur der Frau bzw. Mutter als Täterin aufmerksam gemacht: auch Frauen könnten ihre Kinder (in selteneren Fällen ihre Partner) miss- handeln oder sie vernachlässigen. Mit dem Verweis auf die Täterschaft von Frauen wird gleich- sam eine Geschlechtersymmetrie hergestellt, womit die Relevanz von Gender neutralisiert wird. Wenn beide Geschlechter Täter und Opfer sein können, müssen andere Faktoren für ein zur Debatte stehendes Verhalten verantwortlich sein, z.B. kulturelle Werte. Geschlechtersymmetrie bzw. sogar eine explizite Negierung der Relevanz von Gender findet sich vor allem in den beiden Schuldenberatungsstellen. Hier wird betont, dass es keine Unterschiede zwischen Frauen und Männer in Bezug auf Konsumverhalten oder den Umgang mit der Über- schuldung gebe.13 Auch in diesem Handlungsfeld dient eine Form der Täter-Opfer-Symmetrie als 12 Überdies wird der Familie in anderen Kulturen generell ein höherer Stellenwert attestiert als in der Schweiz üblich. 13 Auch nicht in Bezug auf ein Konsumgut, das regelmässig Anlass zu Normkonflikten bietet, nämlich 15 Mittel zur Konstruktion von Geschlechtsneutralität. Hier ist es das Problem der Alimente, das nach einer Scheidung entweder beide Geschlechter zum Opfer macht oder die Frau zur Täterin, wenn nämlich der Alimente zahlende Mann finanziell „ausgesogen wird nach Strich und Faden“, der Betrag für die auf Alimente angewiesene Frau und ihre Kinder dennoch nicht existenzsi- chernd ist. Wenn konkrete Fallbeispiele, die zur Illustration von Normkonflikten erzählt werden, Hinweise auf Geschlechterverhältnisse enthalten, werden diese entweder nicht benannt oder im Nachhinein aktiv entkräftet. So wird etwa in der einen Beratungsstelle ein Muster von Müttern, die sich zugunsten ihrer Söhne verschulden, angeführt, anschliessend aber unter dem Blickwin- kel von „Kindern“, die für ihre „Eltern“ Kredite aufnehmen, wieder entgeschlechtlicht. Zu dieser Ausblendung von Geschlecht tragen drei institutionsspezifische Faktoren bei. Erstens wird die Schuldenberatung als relativ eng fokussierte quasi technische Fachberatung verstanden, bei der die finanziellen und juristischen Fragen des Umgangs mit Überschuldung im Vordergrund stehen. Eine quasi pädagogische Beratung mit dem Ziel weitreichender Veränderungen der Lebensfüh- rung (z.B. eine Veränderung von Geschlechterarrangements im Haushalt) fällt zweitens deshalb ausser Betracht, weil die Beratung in den meisten Fällen nur eine bis zwei Gespräche umfasst. Und drittens ist die Klientel der einen Schuldenberatungsstelle zu zwei Dritteln alleinstehend, in der anderen sind zwei Drittel der Klienten Männer.14 Die beiden Institutionen haben es also eher selten mit Haushalten zu tun, in denen das Geschlechterverhältnis qua familiale Rollenteilung unmittelbar augenfällig werden oder zum Ansatzpunkt einer Interventionsstrategie werden könn- te. So wurde in den Interviews und Gruppendiskussionen denn auch nur auf direkte Fragen hin erörtert, ob die Sozialarbeitenden z.B. bei einer Familie mit traditioneller Arbeitsteilung auf die Aufnahme oder Ausdehnung der Erwerbstätigkeit der Frau hinwirken, um das Haushalteinkom- men zu erhöhen.15 Eine Kategorisierung nach Geschlecht erfüllt mithin keine Funktion in Bezug auf das institutionelle Handlungsproblem. Die Schuldenberatungsstelle 2 fällt überdies dadurch auf, dass die Sozialarbeitenden keine ethnisierenden Zuschreibungen vornehmen. Sie registrie- ren Unterschiede im Kreditverhalten, erklären diese aber strukturell und nicht mit kulturellen Prä- gungen.16 3.3 Verhaltensbezogene Kategorisierungen Hilfe und Beratung zur Krisenbewältigung sind interaktive Prozesse, die sich immer nur in der Koproduktion von Sozialarbeiterin und Klientin realisieren lassen. Überdies stellen Eigenverant- ein teures Auto, auf das die Klienten trotz Überschuldung nicht verzichten wollen. Diesbezüglich verhielten sich Frauen nicht anderes als Männer. 14 Die Angaben stammen aus den Jahresberichten. Die beiden Institutionen veröffentlichen unter- schiedliche Statistiken: die eine schlüsselt die Klientel nach Geschlecht auf, die andere nach Haushaltsituation. Ob die beiden untersuchten Stellen bezüglich der Zusammensetzung der Klien- tel typisch sind, entzieht sich unserer Kenntnis. 15 Die Frage wurde bejaht. Gleichzeitig wurden aber auch die Hindernisse einer solchen Schulden- bewältigungsstrategie benannt: es handle sich um Familien mit betreuungsbedürftigen Kindern, um Frauen mit geringen Erwerbschancen (ohne Sprachkenntnisse, ohne Ausbildung) oder die Klienten würden die Beratung abbrechen, wenn man ihnen eine Lösungen vorschlage, die ihren eigenen Rollenvorstellungen zuwiderlaufen. 16 Migranten erhielten oft über die Vermittlung von Landsleuten einen Kredit. In diesen Fällen werde die Kreditfähigkeit weniger sorgfältig geprüft, so dass die Kredite eher zu Schuldenfallen würden. In der anderen Schuldenberatungsstelle werden hingegen Überschuldung und der Umgang damit stark mit kulturellen Werten in Verbindung gebracht. 16 wortung und Selbstbestimmung für die Sozialarbeitenden hohe Werte dar. Die Umsetzung dieser Werte in eine konkrete Praxis hängt indes ebenfalls von den Klientinnen und Klienten ab, welche die ihnen zugestandene und zugedachte Eigenverantwortung wahrnehmen wollen bzw. können oder nicht. Aus diesen Gründen kategorisieren die Sozialarbeitenden ihre Klientel jenseits von askriptiven Merkmalen auch nach Verhaltensweisen, welche die Koproduktion von Hilfe und die Realisierung von Werten erleichtern oder erschweren.17 Zuvorderst werden die Klientinnen und Klienten nach ihrer Kooperationsbereitschaft in der Bera- tung kategorisiert. In allen Institutionen werden aktive und passive Klienten unterschieden und diese Unterscheidung ist mit einer klaren Wertung verbunden. Passive Klientinnen mit einer „An- spruchshaltung“ und einer „Dienstleistungsmentalität“ verhalten sich als „Kunden“ und erwarten, dass die Sozialarbeitenden ihre Probleme für sie lösen, ohne dass sie selbst sich bemühen müs- sen. Sie nehmen damit gleichsam den heutzutage in sozialen Institutionen verbreiteten Kunden- begriff zum Nennwert und fordern von den Sozialarbeitenden eine einseitige Leistung ein. Sie verharren in ihrem „Opferstatus“, „obwohl sie die Ressourcen haben“, verweigern die Einsicht in ihre eigene Verantwortung für ihre Problemlage und blockieren so eine Lösung. Demgegenüber sind aktive Klientinnen und Klienten bereit, ihre eigene Situation zu reflektieren und ihren Teil zur Problemlösung beizutragen. Treffend wird diese Entgegensetzung im folgenden Ausschnitt aus einer Gruppendiskussion ausgedrückt: Wir wünschen uns normale Klientinnen! [alle lachen] Klientinnen, die kommen, wissen, was sie wollen und dann können wir schön arbeiten. Die klar sind und so weiter. Aber die Fälle in den letzten Jahren, die ins Frauenhaus kommen, das sind nicht mehr so normale Fälle von häusli- cher Gewalt. Sondern sie kommen mit anderen Problemen (...). Oder Frauen, die darauf spe- zialisiert sind, in dieser Opferrolle zu bleiben. (Gruppendiskussion FH_2). Die Erwartungs- respektive Anspruchshaltung wird zum Teil mit kulturellen Differenzen in Verbin- dung gebracht. So wurde in der Opferberatung darauf hingewiesen, dass Migranten bisweilen überhöhte Erwartungen an die Handlungsmöglichkeiten der Sozialarbeitenden hätten und diese als „einen Übervater oder eine Übermutter“ adressierten, die zugunsten ihrer Klientel in Konflikte eingreifen sollten und dies auch erfolgreich tun könnten. Überwiegend werden aber Aktivität und Passivität als individuelle Charaktermerkmale verstanden, die unabhängig von sozialer Zugehö- rigkeit sind. Von grosser Bedeutung ist zweitens die Kategorisierung der Klientinnen und Klienten entlang der vermuteten Handlungsfähigkeit, denn die Übernahme von Eigenverantwortung und ein entspre- chende Engagement zur Lösung der eigenen Probleme kann vernünftigerweise nur von Perso- nen erwartet werden, die auch in der Lage sind, Handlungsalternativen zu entwerfen und zu ver- stehen sowie Entscheidungen zu fällen. Handlungsfähigkeit hat drei Komponenten: Mündigkeit im rechtlichen Sinn, kognitive und psychische Reife bzw. Gesundheit sowie äussere Umstände, welche die Handlungsfähigkeit einschränken können. Rechtliche Mündigkeit spielt im Hinblick auf die Bestimmung des Gefährdungsgrads von Klientinnen und Klienten eine wichtige Rolle, denn rechtliche Unmündigkeit schränkt einerseits die Exit-Optionen von Kindern und Jugendlichen ein und eröffnet anderseits den Sozialarbeitenden Handlungsmöglichkeiten, über die sie mit Bezug auf Erwachsene nicht verfügen (vgl. Kap. 6.2). Jenseits der dichotomen rechtlichen Definition 17 Neben diesen zwei, für unsere Fragestellung relevanten Kategorisierungsachsen werden in jeder Institution weitere verhaltensbezogene Unterscheidungen getroffen, auf die wir hier nicht weiter eingehen. 17 enthält die Kategorisierung nach Mündigkeit aber auch die Komponente der graduellen persönli- chen Reife: haben jugendliche Klientinnen und Klienten einen Entwicklungsstand erreicht, der ihnen erlaubt, die Tragweite ihrer Entscheidungen abzuschätzen, so dass die Sozialarbeitenden diese als Ausdruck von Autonomie anerkennen müssen? So diskutieren Sozialarbeiterinnen ei- nes Frauenhauses die ihnen nicht genehme Haltung einer jugendlichen Klientin folgendermas- sen: Sozialarbeiterin 1: Ich habe das Gefühl, so Mädchen, das [= Akzeptieren einer arrangierten Ehe] kannst du nicht entscheiden. (...) DA bist du noch nicht. Sozialarbeiterin 2: Weil sie noch nicht reif ist, oder? Sozialarbeiterin 1: Ja, genau. Oder, weil sie diese Konsequenzen nicht absehen kann. Auf der Ebene der persönlichen Voraussetzungen von Handlungsfähigkeit wird weiter die psychi- sche Stabilität oder Instabilität der Klientel beobachtet und kategorisiert. Klientinnen und Klienten mit ausgeprägten psychischen Erkrankungen fallen in die Kategorie der nicht voll Handlungsfähi- gen, denen Eigenverantwortung nicht zugemutet werden muss. Schliesslich kann Handlungsfä- higkeit durch familiale oder strukturelle Zwänge mehr oder weniger stark eingeschränkt sein. Die- se Sichtweise findet sich in den Frauenhäusern – hier wurde, wie bereits erwähnt, thematisiert, dass den Klientinnen durch die Bestimmungen des Migrationsregimes gewisse Exit-Optionen versperrt sind. Oder jungen Frauen können in der Familie mehr oder weniger Handlungsfreiheit zugestanden werden. Zusätzlich wird eine hohe Gefährdung durch weitere Gewalt als Hand- lungsbeschränkung betrachtet. Diese strukturelle Komponente von fehlender Handlungsfähigkeit ist anders als die rechtliche Mündigkeit oder persönliche Reife mit Gender verknüpft.18 Im Unter- schied zur Kategorisierung nach Kooperationsbereitschaft ist mit den Unterscheidungen nach Handlungsfähigkeit keine normative Wertung verknüpft; vielmehr bilden sie in wertneutraler Wei- se gleichsam Teil einer Fallbestimmung. 3.4 Fazit Die Klientinnen und Klienten der hier untersuchten Institutionen sind jung und alt, Frauen und Männer, gesund und krank, Working Poor oder aber ein „Zielpublikum, das sich gut verschulden lässt“, „Analphabetinnen“ oder „fast alle mit Berufsabschluss oder Abschluss auf Tertiärstufe“, sie leben in verschiedensten Haushaltkonstellationen und gehören Nationalitäten aus aller Welt an. In den Interviews und Gruppendiskussionen zu Normkonflikten wurde diese Vielfalt zumeist – aber nicht durchgängig – durch die Brille der kulturellen Zugehörigkeit wahrgenommen. So auch das Geschlecht, das immer schon kulturell eingefärbt erscheint und deshalb vor allem in „ande- ren Kulturen“ als problematisch auffällt und ohne diese kulturelle Markierung kaum sichtbar zu sein scheint. Indem Kultur selektiv in Bezug auf ethnische Minderheiten angerufen wird und de- ren Verhaltensweisen als Ausdruck von Kultur wahrgenommen werden, wird Kultur in der Mehr- heitsgesellschaft gleichsam unsichtbar (Phillips 2005). Es wäre billig, den Sozialarbeitenden ein- mal mehr nachzuweisen, dass sie kulturalisierende Stereotypen reproduzieren. Ein solcher Vor- wurf würde verkennen, unter welchen Umständen und zu welchen Zwecken die Sozialarbeiten- den ihre Klientel in soziale und verhaltensbezogene Kategorien sortieren. Wie gezeigt hat in der Wissenschaft die Verabschiedung eines universellen Geschlechterbegriffs erhebliche konzeptio- 18 In den Schuldenberatungsstellen wird eine geschlechtsunabhängige Einschränkung durch das Migrationsregime erwähnt: Ausländerinnen und Ausländer stehen unter dem Druck, Betreibungen oder den Gang zur Sozialhilfe zu vermeiden, da sie damit ihren Aufenthaltsstatus oder die Mög- lichkeit einer Einbürgerung gefährden. 18 nelle Probleme aufgeworfen (vgl. Kap. 1). Die Schwierigkeit des Zusammendenkens von mehrfa- chen Differenzen und Ungleichheiten besteht einerseits in der Auswahl und Gewichtung von re- levanten Kategorien, anderseits in der theoretischen Konzeptionalisierung eines integralen Zu- sammenwirkens dieser Kategorien. So hat Walgenbach (2007: 23) darauf aufmerksam gemacht, dass die verbreiteten „Verschränkungs- und Überkreuzungsmetaphern immer noch die Vorstel- lung eines ‚genuinen’ Kerns sozialer Kategorien“ transportieren. Sie selbst schlägt deshalb das Konzept der „interdependenten“ Kategorien vor, „die als in sich heterogen strukturiert“ zu denken sind (ebd.: 61, kursiv i.O.). Auf theoretischer Ebene ist eine nicht homogenisierende, komplexi- tätsbewahrende Betrachtung des Zusammenspiels von Differenzen und Ungleichheiten also hoch anspruchsvoll. Vor diesem Hintergrund kann kaum erwartet werden, dass die Sozialarbei- tenden in ihrer täglichen Arbeit eine theoretisch und empirisch akkurate Sezierung der sozialen Positionierung ihrer Klientel leisten. Interdependenz präsentiert sich ihnen in der Praxis als opake Gemengelage, die sie im konkreten Einzelfall nur so weit aufdröseln wie dies für die Fallbearbei- tung notwendig ist. Die Adressatenkonstruktionen der Sozialarbeitenden sind widerstreitenden Kräften zu Vereinfa- chung einerseits, Differenzierung anderseits unterworfen. Auf der einen Seite wohnt dem interak- tiven Prozess der Mitgliedschaftskategorisierungen eine kognitive Tendenz zur Vereinfachung und Homogenisierung inne. Mitgliedschaftskategorien reduzieren die Komplexität der sozialen Wirklichkeit und machen sie für praktische Zwecke handhabbar. In Interaktionen können z.B. einige wenige einfache und offensichtliche „Super-Schemata“ der anfänglichen gegenseitigen Einordnung der Interaktionsteilnehmenden dienen, selbst wenn sie nicht zwingend relevant für die Situation sind (Ridgeway 2001: 253). Ridgeway bezieht ihre Ausführungen auf Gender, aber auch ethnische Zugehörigkeit kann als augenfällige Grundkategorie für die Fremd- und Selbstsi- tuierung genutzt werden. Im weiteren Interaktionsverlauf werden dann zusätzliche Kategorisie- rungen herangezogen, welche die Situation komplexer machen. Während Ridgeway hervorhebt, dass die anfängliche Identifikation als „kognitiver Ausgangspunkt (...) auf sehr subtile Weise den gesamten Interaktionsverlauf beeinflussen“ kann (ebd.), fokussiert die ethnomethodologische MCA im Gegenteil die immer nur situative Nutzung von Kategorisierungen. Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass kategoriale Zuschreibungen nicht als Essentialisierungen verstanden werden. Die Beschreibungen der befragten Sozialarbeitenden zeichnen sich denn auch durch ein Neben- einander von Homogenisierung und Differenzierung aus. Dieses Nebeneinander ist u.E. einer grundsätzlich kasuistischen Denkweise geschuldet, welche quasi als Gegenkraft gegen die Ver- einfachungstendenz des Kategorisierungsprozesses wirkt. Typischerweise betonen die Sozialar- beitenden, dass jeder Fall anders oder „jede Familie ein eigene Kultur“ sei und ein für Migranten diskutiertes Verhalten „auch bei Schweizern“ anzutreffen sei. Solche Relativierungen können als Ausdruck einer gesellschaftlich und im sozialarbeiterischen Fachdiskurs angemahnten politi- schen Korrektheit interpretiert werden. Sie sind aber auch durch das professionstheoretische und -ethische Postulat des Fallbezugs erklärbar. Professionelles Handeln, so das theoretische Argu- ment, lässt sich prinzipiell nicht standardisieren sondern Entscheidungen können immer nur in Bezug auf einen konkreten Fall getroffen werden, unter Zuhilfenahme von Fachwissen, das ebenfalls kontext- respektive fallspezifisch einzusetzen ist. Professionelles Handeln erfordert dementsprechend die Identifikation der für den individuellen Fall konstitutiven Merkmale – dieses Strukturmerkmal Sozialer Arbeit wirkt mithin auf eine differenzierte Wahrnehmung hin. Sozialarbeitende können und müssen indes nicht alle theoretisch als relevant postulierten Di- mensionen der sozialen Positionierung ihrer Klientinnen und Klienten erfassen. Für die Praxis 19 zählt nicht, ob die Klientel theoretisch korrekt und differenziert sozial positioniert werden kann, sondern ob die Zuordnung mit Bezug auf die Fallbearbeitung hinreichende Erklärungskraft bietet. Differenzen werden deshalb in erster Linie in Bezug auf institutionell definierte Handlungsproble- me registriert. Die Sozialarbeitenden konstruieren entsprechend Kategorien, die sich in Bezug auf spezifische Handlungsprobleme ähnlich sind, wie z.B. unterdrückte Migrantinnen, die als Fol- ge von Unterdrückung „ressourcenarm“ sind und deshalb nur schwer zum Verlassen einer Ge- waltbeziehung zu motivieren bzw. auf besonders viel Unterstützung angewiesen sind (Hollenstein 2013). Insofern das Geschlechterverhältnis nur in einem der drei untersuchten Handlungsfelder unmittelbar Gegenstand des Mandats ist, wird verständlich, dass Gender insgesamt keine primä- re Kategorisierung darstellt. Kulturelle Differenz ist zwar ebenfalls nur in einem Handlungsfeld ins Mandat eingelassen, nämlich im impliziten Integrationsauftrag im Feld Familienhilfe. Ethnizität stellt jedoch gegenwärtig eine zentrale Kategorie in öffentlichen Debatten und in professionellen Diskursen dar und bietet sich deshalb als „Super-Schema“ für die basale Kategorisierung der Klientel an. Der starke Handlungsbezug der Kategorisierungen zeigt sich des Weiteren empirisch darin, dass die Sozialarbeitenden ihre Klientinnen und Klienten nicht nur in Bezug auf ungleich- heitskonstituierende Merkmale wie Geschlecht, Alter, Ethnizität und ähnliches beschreiben, son- dern auch mit Blick auf ihr Verhalten in der Unterstützungsbeziehung. 20 4. Professionsspezifische Werte und normative Erwartungen Im professionssoziologischen Diskurs ist der Status der Sozialen Arbeit als Profession nach wie vor umstritten. Dies wird nicht zuletzt in der z.T. heftig geführten Diskussion um eine angemes- sene professionelle Wissensbasis deutlich. Dass Soziale Arbeit sich als Profession auf eine ei- genständige ethische Grundlage stützen können muss, wird hingegen von keiner Seite in Frage gestellt. So ist international und national auf berufspolitischer Ebene ein Berufsethos der Sozialen Arbeit ausformuliert worden: international 2004 in den ethischen Prinzipien der IFSW (Internatio- nal Federation of Social Workers), national 2010 im Berufskodex von AvenirSocial (Becker- Lenz/Müller 2015). Dieser Ethikkodex richtet sich einerseits an die Professionellen der Sozialen Arbeit sowie die Organisationen und Institutionen, in denen sie tätig sind respektive ausgebildet werden. Auf der anderen Seite sollen mit dem Ethikkodex aber auch die Angehörigen anderer Berufe bzw. Professionen und die Öffentlichkeit über die im Kodex verankerten Grundwerte der Sozialen Arbeit aufgeklärt werden (AvenirSocial 2010). Damit adressiert dieses professionelle Normenwerk im Prinzip auch direkt die Klientinnen und Klienten der Sozialen Arbeit. Die zentra- len Werte und Normen, die in den untersuchten Organisationen von Bedeutung sind, implizieren Verhaltenserwartungen an die Professionellen auf der einen, an die Klientel auf der anderen Sei- te. Zur nachfolgenden Darstellung der zentralen Wertorientierungen der untersuchten Institutionen und Sozialarbeitenden ist eine Vorbemerkung angebracht. Insofern wir uns in unserer Studie für die kollektiv geteilten Orientierungen und Handlungsweisen interessieren und primär diese über- einstimmenden Haltungen vorführen, werden die Divergenzen tendenziell vernachlässigt. Wir weisen vor allem auf die Unterschiede zwischen Handlungsfeldern und Institutionen hin. Dane- ben finden sich selbstverständlich auch Differenzen zwischen den einzelnen Sozialarbeitenden, die je nach Institution das Handeln mehr oder weniger stark prägen können. Während die einen Institutionen eine recht einheitliche Linie bezüglich Werthaltungen und Handeln verfolgen (z.B. Fam_2), lagen die Haltungen der individuellen Sozialarbeitenden in anderen Organisationen wei- ter auseinander (v.a. Schuldenberatungen und FH_1). Auffallend war überdies in mehreren Insti- tutionen ein Generationenunterschied, der weniger durch das Lebensalter der Sozialarbeitenden bestimmt schien als durch den Zeitpunkt ihrer Ausbildung. Während die in Bezug auf den Ausbil- dungsabschluss jüngere Generation eher professionstheoretisch und -ethisch argumentierte und sich explizit auf theoretische und methodische Konzepte berief, rekurrierte die ältere Generation stärker auf arbeitsfeldspezifische Konzepte (z.B. feministische Sozialarbeit) und Berufserfahrung als Modus Operandi des beruflichen Handelns. Es muss allerdings offen bleiben, ob divergieren- de Orientierungsrahmen tatsächlich einer Ausbildungsgeneration geschuldet sind oder ob sie auf unterschiedliche Tätigkeitsdauern innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraums der spezifischen Institution oder des Handlungsfeldes zurückgehen. Trotz Differenzen in den Orientierungen der Professionellen sowohl innerhalb als auch zwischen den untersuchten Organisationen haben sich einige gemeinsame Zentralwerte der Profession mit handlungsleitender Funktion herauskristallisiert. Auch wenn diese Zentralwerte heute integraler Bestandteil des Berufsethos der Sozialen Arbeit sind, ist zu berücksichtigen, dass sie je nach Handlungsfeld eine weiter in die Vergangenheit zurückreichende Bedeutung haben, die sich auf die Entstehung und Institutionalisierung feldspezifischer Konzeptionen zurückführen lässt. So haben sich z.B. in der feministischen Sozialen Arbeit eigene Wertorientierungen zu spezifischen Vorgehensweisen in der Fallarbeit verdichtet. Als besonders bedeutsam haben sich in unserer 21 Untersuchung die folgenden Grundsätze herausgestellt: Autonomie und Selbstbestimmung, An- erkennung von Differenz und Gleichbehandlung, Teilhabe und Integration sowie die Wahrung der Integrität der Klientel. Die berufsspezifischen und handlungspraktisch wirksamen Werte stellen unmittelbar Erwartungen an die Professionellen, im mittelbaren Sinne aber auch an die Klientel. 4.1 Autonomie Autonomie kommt in den untersuchten Organisationen Priorität zu, einerseits im Hinblick auf die Zieldimension professionellen Handelns, andererseits in Bezug auf Art und Weise der Einbindung der Klientel in den professionellen Prozessbogen. So zielt Soziale Arbeit nicht nur auf die (Wie- der-)Herstellung von Autonomie, sondern die Gewährleistung eines möglichst hohen Grades an Autonomie gilt auch als Handlungsmaxime für die Strukturierung des Hilfeprozesses. Der men- schenrechtliche Grundsatz der Selbstbestimmung respektive der darin angelegte essenzielle Anspruch auf die Wahrung und Förderung der Autonomie der Adressatinnen und Adressaten markiert ein „klassisches Motiv Sozialer Arbeit“ (Ziegler/Schrödter/Oelkers 2012: 307). Einerseits stellt Autonomie bzw. Freiheit in Form der Emanzipation aus Unterdrückungsverhältnissen seit der französischen Revolution einen Zentralwert aller Befreiungsbewegungen und daraus hervor- gegangener Konzeptionen der Sozialen Arbeit dar. Andererseits lässt sich der Zentralwert der Autonomie in seiner doppelten Bedeutung der Wahrung und Förderung von Selbstbestimmung strukturell über den Gegenstand und die Tätigkeit von Professionen begründet. Erstens erfolgt professionelles Handeln in personenbezogenen Dienstleistungsberufen wie der Sozialen Arbeit im Modus der „Koproduktion“ (Ortmann 1996: 63) und ist in Bezug auf Verlauf und Ergebnis ab- hängig von der Mitwirkung, den (autonomen) Entscheiden und Aktivitäten des Klienten. Zweitens charakterisieren sich Professionen dadurch, dass sie Klientinnen in der Bewältigung „manifester Krisen einer Lebenspraxis“ (Oevermann 2009: 120ff.) unterstützen, die von diesen nicht autonom gelöst werden können. Da die Wiederherstellung von Autonomie nicht durch Fremdbestimmung erreicht werden kann, muss ihrer Wahrung und Förderung im Hilfeprozess ein vordringlicher Stel- lenwert eingeräumt werden (Heiner 2007: 179; Oeverrmann 2009). Beides hat dazu beigetragen, dass Autonomie ein unabdingbarer Bestandteil des Berufsethos der Sozialen Arbeit darstellt. Im Berufskodex finden sich denn auch Begriffe wie Selbstbestimmung, Ermächtigung oder Hand- lungsfähigkeit (AvenirSocial 2010: 5f.). Von den Professionellen wird somit erwartet, dass sie auf die Wahrung und Förderung der Autonomie der Klientel hinwirken. Auf der handlungspraktischen Ebene des professionellen Handelns ist das Gebot der Autono- miewahrung und -förderung im Selbstbestimmungsprinzip und Ermächtigungs-Ansatz aufgeho- ben. Die Institutionen der stationären und ambulanten Opferhilfe wie auch eine der beteiligten Organisationen der Familienhilfe weisen Selbstbestimmung und Ermächtigung ausdrücklich als methodische Prinzipien aus. Ebenso ist das Selbstbestimmungsprinzip in der Schuldenberatung von Bedeutung, so etwa wenn Klienten sich mit dem Ziel der Schuldenfreiheit selbst materiell so stark einschränken, dass sie unterhalb des betreibungsrechtlichen Existenzminimums (BEX) le- ben. Dieser übermässige Verzicht wird zwar kritisch gesehen, weil damit die Norm des BEX in- frage gestellt wird, welche allen überschuldeten Menschen eine gewisse materielle Sicherheit bietet. Trotzdem wird der Entschluss zur Selbsteinschränkung respektiert. In Organisationen mit feministischen Wurzeln drückt sich in der Handlungsmaxime der Selbstbe- stimmung ein Gegenpol zur Entmündigung von Frauen unter patriarchalen Herrschaftsverhältnis- sen aus. Selbstbestimmung als Ziel und Arbeitsprinzip im Hilfeprozess stellt daher zunächst ei- nen unhintergehbaren Wert dar, wollen Sozialarbeiterinnen nicht ihrerseits Herrschaft ausüben. 22 Der Aufenthalt in den untersuchten Angeboten der stationären Opferhilfe ist daher freiwillig und kann jederzeit von Seiten der Klientin abgebrochen werden. Darüber hinaus wird in diesen Ein- richtungen davon ausgegangen, dass das Erleben von Autonomie als Gegenpart zur erlebten Ohnmacht eine wichtige Voraussetzung zur Emanzipation aus Diskriminierungs- und Gewaltver- hältnissen darstellt. Eng verbunden mit dem Prinzip der Selbstbestimmung ist deshalb das Prin- zip der Parteilichkeit. Denn Ermächtigung erfordert nicht nur, dass die Ziele und Bedürfnisse der Klientinnen ins Zentrum gerückt, sondern auch dass die Klientinnen diese gegenüber Dritten durchsetzen können. Die Parteilichkeit verpflichtet die Sozialarbeiterinnen folglich dazu, die Klien- tinnen auf dem Weg, für den sie sich entscheiden, und in der Wahrnehmung ihrer Interessen zu unterstützen. Dies drückt sich auch in einer grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber systemi- schen Ansätzen aus, in denen die unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen aller Mitglieder eines Klientensystems austariert werden müssen. Deshalb wird in der Einrichtung, die auch mit Minderjährigen arbeitet, bisher keine Elternarbeit geleistet. Aber auch in der ambulanten Opferhil- fe und in der Schuldenberatung, die sich nicht als feministisch begreifen, wird nach dem Prinzip der Parteilichkeit gearbeitet. Im Feld der Familienhilfe hingegen kann aufgrund der systemischen Arbeit mit dem gesamten Familiensystem keine auf einzelne Personen ausgerichtete Position der Parteilichkeit eingenommen werden. Die Erwartung an die Professionellen, die Klientel zur Autonomie zu befähigen, zieht als logische Konsequenz die Erwartung gegenüber der Klientel nach sich, die Hilfe im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe anzunehmen, also überhaupt zur Autonomie befähigt werden zu wollen. Auf der Ver- haltensebene wird daher in den untersuchten Organisationen die Unterscheidung zwischen den aktiven Klientinnen und Klienten auf der einen und den passiven auf der anderen Seite vorge- nommen und das Verharren in einer „Opferrolle“ abgelehnt (vgl. Kap. 3.3). Die professionelle Maxime der Wiederherstellung von Autonomie setzt die Kooperationsbereitschaft auf Seiten der Klientel voraus. Die zumindest minimale Einsicht in den Hilfebedarf und die grundlegende Be- reitwilligkeit zur Mitwirkung im Hinblick auf die Erreichung eines konsensuellen Ziels sind struktu- relle Bedingungen für ein professionelles Arbeitsbündnis. Wenn diese Bedingungen nicht gege- ben sind, wird eine Arbeitsbeziehung auf der Grundlage einer grundsätzlich geteilten Zielsetzung verunmöglicht. Eine Herausforderung in der Familienhilfe stellt daher die Herstellung der Partizi- pation der Mitglieder des Familiensystems dar. Insbesondere die Partizipation der Väter in Fami- lien mit Migrationshintergrund wird dabei als Herausforderung beschrieben. Der Autonomiewille der Klientinnen und Klienten ist also eine methodisch notwendige Vorausset- zung für die Unterstützungsbeziehung. Er ist aber ebenso sehr eine wertbasierte normative Er- wartung, die in der Logik der Sozialen Arbeit angelegt und durch gesellschaftspolitische Entwick- lung der letzten Jahrzehnte verstärkt wurde. So postuliert der Gouvernementalitätsansatz, dass das Subjekt im Zuge der Durchsetzung einer neoliberalen Gouvernementalität (Foucault 2000) zu „Eigenverantwortung, Eigenständigkeit und Eigeninitiative“ aufgerufen (Krasmann 2000: 198) und als Selbstunternehmer adressiert wird, der sein Leben rational zu planen und missliche Lebens- lagen aktiv zu bewältigen hat. Die Klientinnen und Klienten dürfen mithin nicht nur autonom han- deln, sie müssen auch. Autonomie ist Freiheit und Zumutung zugleich: Die Förderung von Handlungsoptionen ist nicht zu trennen von der Forderung, einen spezifi- schen Gebrauch von diesen ,Freiheiten’ zu machen, so dass die Freiheit zum Handeln sich oftmals in einen faktischen Zwang zum Handeln oder in eine Entscheidungszumutung verwan- delt. (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000: 30) 23 Die Verknüpfung von Autonomie als Zentralwert mit der Forderung nach Übernahme von Ver- antwortung für die Bewältigung von schwierigen Lebenslagen findet ihren Niederschlag auch in den Orientierungen und Praktiken der befragten Fachkräfte (vgl. Kap. 6.1). 4.2 Anerkennung von Differenz Der berufsspezifische Zentralwert der Autonomie, der auf der Ebene der professionellen Praxis in den handlungsleitenden Prinzipien der Selbstbestimmung, Ermächtigung und Parteilichkeit ein- gelagert ist, hat zwangsläufig eine mehr oder weniger differenzanerkennende Haltung zur Folge. Die Anerkennung von Differenz ist entsprechend auch in allen untersuchten Handlungsfeldern relevant, allerdings in unterschiedlicher Gestalt. Im Praxisfeld der Hilfe für Opfer von häuslicher Gewalt wird, wie erwähnt, sowohl in den beiden stationären Einrichtungen als auch in der ambulanten Beratungsstelle nach dem Ansatz der Par- teilichkeit gearbeitet. Innerhalb dieses Arbeitsprinzips wird dem Selbstbestimmungsrecht ein ho- her Stellenwert eingeräumt. Da stationäre Aufenthalte und die Beratung in diesem Feld darüber hinaus auf Freiwilligkeit beruhen, herrscht die Haltung vor, die Entscheidungen der Klientinnen und Klienten zu akzeptieren. In einem der beiden Frauenhäuser wird die Ankerkennung von Dif- ferenz theoretisch durch eine einer herrschaftskritischen Perspektive geschuldete kulturrelativisti- sche Prägung feministischer Sozialarbeit fundiert. Einer Hierarchisierung zwischen sogenannten traditionellen und modernen Geschlechternormen wird die Gefahr kolonialisierender Praktiken entgegen gehalten. Diese Haltung kommt besonders deutlich zum Ausdruck in der Aussage einer Sozialarbeiterin in Bezug auf die Verheiratung einer siebzehnjährigen Türkin: Ich denke, da gilt es ja die Werte von ihnen dem gegenüber zu stellen und dass unsere Werte nicht die besseren sind, sondern dass unsere Werte einfach anders sind. […] Ich habe einfach speziell eine Geschichte von einer jungen Türkin im Kopf. Die ist in einer arrangierten Ehe ge- landet, mit einem Typen, den sie sich dann schlussendlich aussuchen konnte, weil die anderen hatte sie abgelehnt, sie konnte sich dann einen aussuchen. Und für sie hat es gestimmt, weil es aus ihrer Kultur her kommt und sie hat einen Guten erwischt natürlich auch und sie hat so das Positive rausgezogen. Und warum unsere Errungenschaften, Werte wie auch immer in der Schweiz, Deutschland, warum die so hochwertig schätzen und das andere so? Weil mit unserer Freiheit können wir ja teilweise auch nicht umgehen unbedingt. [...] Ich finde immer so, wir sind fast so Kolonialherren, weil wir das so aufpfropfen und nicht versuchen, das nebeneinander stehen zu lassen. Weil in diesem Konflikt sind wir, und das eine abwerten und das andere auf- werten und das finde ich so die Schwierigkeit, schon. Nicht unbedingt Schwierigkeit, aber das auch annehmen zu können, dass es für jemanden anderen so ist, wie es für mich einfach nie ginge. Ich würde mich nie verheiraten lassen. (Gruppendiskussion FH_1) In diesem Beispiel wird deutlich, wie die Sozialarbeiterin um die Anerkennung der für sie persön- lich unvorstellbaren Form der Eheschliessung ringt. Sie bekennt sich zwar explizit zur Akzeptanz der fremden kulturellen Praxis und relativiert die hiesige Vorstellung mit dem Verweis auf die Schwierigkeiten des Umgangs mit individueller Freiheit. Sie kann diese Position jedoch vor allem aufgrund des glücklichen Ausgangs der Geschichte vor sich rechtfertigen: der jungen Frau wurde offensichtlich von ihrer Familie doch ein gewisses Mitspracherecht zugestanden, und sie hat „ei- nen Guten erwischt“. Abgesehen davon, dass die Familie eine Vorselektion von Kandidaten ge- troffen hatte, handelte es sich immer noch um eine eigene Wahl des Ehepartners, wie sie bei uns üblich ist. Allerdings hat dieses beruhigende Argument seine Grenzen, denn die Klientin scheint nicht die Wahl zu haben, überhaupt nicht bzw. nicht in so jungem Alter zu heiraten. Sie muss sich „verheiraten lassen“, was die Sozialarbeiterin für sich selbst völlig ausschliesst und was in die- 24 sem konkreten Fall überdies rechtlich problematisch ist, liegt doch die Ehemündigkeit in der Schweiz bei 18 Jahren. In der Familienhilfe ist eher eine differenzsensible als eine differenzanerkennende Haltung identi- fizierbar. Die Klientel der Familienhilfe besteht aus „Familien (…) aus allen Herkunftskulturen“. Entsprechend sind die Sozialarbeitenden darin geübt, kulturelle Unterschiede zu erkennen und dann auf der Grundlage der erkannten Differenzen auf deren Einebnung hinzuarbeiten. Denn Kulturdifferenzen sind häufig der Auslöser für die Beratung und sind mithin konstitutiv für die zu bearbeitende Problematik. Sichtbar und konflikthaft werden sie typischerweise dann, wenn die Kinder und Jugendlichen aus Migrationsfamilien verstärkt in die Mehrheitskultur sozialisiert wer- den: Jeder ist im eigenen System solange die Kinder klein sind und das öffnet sich, wenn die Kinder (…) in den Kindergarten gehen. Und in der Schule fängt dieser Prozess, also diese Konflikte so, der ganze Integrationsprozess ist wirklich so konfliktbehaftet, (…) und wenn das nicht mehr geht, dann kommen wir in eine Familie (…) Und es ist oft die Familie mit Migrationshintergrund, die eigene Kultur mitbringen und die stossen auf eine andere Kultur und dann ist für die Familie natürlich selbstverständlich, Normen und Werte weiterzuführen und bis sie sie anpassen, braucht es manchmal auch eine Familienbegleitung. (Gruppendiskussion Fam_1) Differenzen, die es anzuerkennen gilt, finden sich nicht nur zwischen kulturellen und sozialen Gruppen sondern auch auf individueller Ebene, wie im nachfolgenden Beispiel aus der ambulan- ten Opferberatungsstelle, in dem der Blick auf unterschiedliche Werthaltungen und Lebenswei- sen von Individuen gerichtet wird: Ich brauche keinen Audi (…), der mir ein Drittel vom Budget frisst, oder. Aber es gibt scheinbar Menschen, die das brauchen (…), dann verzichten sie lieber auf, ja gutes Essen, worauf ich nicht gerne verzichte, (…) wohnen lieber in einer Einzimmerwohnung. Aber dort kann ich nur (4 Sekunden Pause) anerkennen, dass das bei denen nun halt mal so ist. (…) Ich kann einfach einmal loslassen, was meine Normen sind und sagen, ja ich weiss gar nicht was seine Normen sind. Ich muss einfach akzeptieren, dass es so ist oder. (Gruppendiskussion Opferberatung) Diese vergleichsweise entspannte Anerkennung von Differenz lässt sich sicherlich auch darauf zurückführen, dass hier nicht ein Kernproblem der Institution zur Debatte steht. Das Konsummus- ter der Klienten muss eine Beratungsstelle für Gewaltopfer nicht interessieren – ob eine minder- jährige Klientin eine arrangierte Ehe eingeht oder eingehen muss, wie im weiter oben zitierten Beispiel, kann von der Institution hingegen nicht einfach ignoriert werden. Auch in der Schuldenberatung werden eher individuelle als gruppenbezogene Differenzen the- matisiert. In diesem Feld geben gewissermassen der auf die Bewältigung der Überschuldungssi- tuation begrenzte Auftrag bzw. budgettechnische Erwägungen das Spektrum vor, innerhalb des- sen die Lebensentwürfe und Verhaltensweisen der Klientel divergieren dürfen. Die Akzeptanz gegenüber unterschiedlichen Lebensformen ist hier in der Haltung der Neutralität gegenüber den Schulden angelegt. Schulden und die Ursachen der Überschuldung sollen grundsätzlich nicht gewertet werden. So werden etwa Strafdelikte, die Geldbussen nach sich ziehen, eine exzessive Lebensführung „über den Verhältnissen“ des Schuldners oder auch Bordellbesuche vor allem im Hinblick auf die Schuldensanierung thematisch, weil die Schuldensanierung unter Umständen eine Verhaltensänderung voraussetzt. In dieser Sinnlogik müssen also Personen, die entgegen ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit teuren Champagner trinken, nicht unbedingt mit dem Trinken aufhören, sondern sich einfach mit billigem Fusel begnügen. Bordellbesuche können zwar per- sönlich als amoralisch empfunden werden, eine „gewisse Aggression“ bei der Beraterin auslösen 25 und so auch das neutrale Handeln gefährden. Sie werden allerdings akzeptiert, wenn der Bor- dellbesucher gleich Lösungen präsentiert, wie er „sein Minus wieder decken“ kann. Sofern die Überschuldungssituation nicht auf schwerwiegende Problemlagen wie Glückspiel- oder Drogen- sucht o.ä. zurückgeht, entscheidet letzten Endes die Haltung der Klientinnen und Klienten ge- genüber der Schuldenbewältigung über das akzeptierte Spektrum von unterschiedlichen Verhal- tensweisen. Massgebend ist nämlich, inwiefern die Klientel zu einem Verhalten bereit ist, das mit dem Ziel der Schuldensanierung respektive der Schuldenfreiheit kompatibel ist. Wenn dieser Wille identifizierbar ist, können die Sozialarbeitenden „relativ schnell neutral“ funktionieren. 4.3 Teilhabe und Integration Das Recht auf Teilhabe ist ein Menschenrecht und entsprechend ist die Achtung und Förderung der Teilhabe der Klientel expliziter Bestandteil des Berufskodexes der Sozialen Arbeit Schweiz (vgl. AvenirSocial 2010). Empirisch hat sich der Grundsatz der Partizipation auf zwei Ebenen als relevant erwiesen: auf der Ebene der Arbeitsbeziehung sowie auf der gesellschaftlichen Ebene. Dass die Entscheidungen und Vorgehensweisen im Rahmen der professionellen respektive stell- vertretenden Krisenbearbeitung seitens der Klientel zumindest minimaler Zustimmung bedürfen, ist der Struktur des Arbeitsbündnisses geschuldet. Insbesondere in der Familienhilfe wird die Notwendigkeit der Teilhabe am Hilfeprozess anhand eines systemisch-lösungsorientierten Mo- dells begründet. Die systemisch-lösungsorientierte Denkfigur kommt vor allem in der Grundan- nahme zum Ausdruck, auf der die Konzeption von Veränderungsprozessen basiert. Die Fachkräf- te in der Familienhilfe gehen davon aus, dass die Abklärungen und/oder Interventionen– qua Systemperturbation – einen Prozess in der Familie in Gang setzen und dann „Veränderung (…) stattfindet“. Das Drehen „an jedem Rad“ hat mithin auch eine Veränderung des ganzen Systems zur Folge.19 Da Veränderung aber gemäss systemischer Logik nicht von aussen herbeizuführen ist, sondern sich aus dem System heraus vollzieht, spielt Partizipation eine zentrale Rolle: Durch die Erarbeitung eines gemeinsamen Fokus wird das „Commitment (…) der Familie“ sicherge- stellt. Zusammenarbeit und die Gestaltung der Arbeitsbeziehung sind somit essenziell, denn der Erfolg der Interventionen hängt massgeblich von einer funktionierenden Zusammenarbeit ab. Entsprechend der Bedeutung von Partizipation für die Arbeitsbeziehung überrascht es wenig, dass dieser Wert auch in den anderen untersuchten Institutionen hohe Relevanz hat. Im Feld der Hilfe für Opfer von häuslicher Gewalt deutet die starke Betonung von Ermächtigung in der Arbeitsbeziehung die Relevanz der Teilhabe bereits an. Wenn die (Wieder-)Herstellung der Handlungsfähigkeit der Klientel im Alltag als zentrale Aufgabe der Hilfe für Opfer von häuslicher Gewalt angesehen wird, dann ist überdies die Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe Bedin- gung für die Befähigung zu Handlungsfähigkeit im Alltag. Dies gilt vor allem beim Ausstieg von mehrfach benachteiligten Frauen aus einer von Gewalt und Asymmetrie gekennzeichneten Be- ziehung, denn ohne Ausbildung, Arbeit, Sprachkenntnisse und unterstützendes soziales Umfeld ist dies schwer zu bewerkstelligen (vgl. auch Markom/Rössl 2009). Partizipation im Beratungs- prozess und soziale und kulturelle Teilhabe sind notwendige Prinzipien zur Verwirklichung des Zentralwerts der Autonomie. In einer der beiden Schuldenberatungsstellen ist Partizipation stärker auf der gesellschaftlichen 19 Um eine Idee der Verbreitung des systemischen Ansatzes in diesem Feld zu bekommen: Fünf der sechs Diskussionsteilnehmerinnen in einer der beiden Organisationen in diesem Feld haben sys- temische Weiterbildungen absolviert oder arbeiten auch systemisch. 26 Ebene als auf jener der Arbeitsbeziehung relevant. Konsum und Schulden werden gewissermas- sen sozialwissenschaftlich als Mittel zu gesellschaftlicher Teilhabe verstanden und als ein Teil der Identität der Klientel gefasst: „Das kann man nicht so schnell wechseln“. Klienten, die an ih- rem Lebensstandard festhalten wollen, verweigern sich aus der Sicht der Sozialarbeitenden demnach zwar dem rationalen Umgang mit den Schulden, aber deren Verhalten wird nicht ein- fach als unverantwortlich verurteilt. Vielmehr versuchen die Sozialarbeitenden die Perspektive der Klientel nachzuvollziehen, die ihr gewohntes Leben radikal umstellen und dadurch auch ei- nen Teil der Identität zur Disposition stellen muss. In der anderen untersuchten Schuldenbera- tungsstelle hingegen wird stärker auf die empirisch beobachtbaren Folgeerscheinungen der Überschuldung verwiesen, die den Leidensdruck der Klientel versinnbildlichen: Druck, Stress, Scham, Stigmatisierung, Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt und Abhängigkeit. Umgekehrt ist ein Leben ohne Schulden gleichbedeutend mit der Freiheit von diesen Belastungen, und des- halb wollen „90% der Klienten“ die Schulden auch zurückzahlen. Verschuldung ist so gesehen höchstens eine mit Widersprüchen befrachtete Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe, kaum aber eindeutig eine „Teilhabe durch Widerstand“ (Mattes 2007), wodurch auch Menschen ohne finanzielle Ressourcen an der Konsumgesellschaft partizipieren können, was zur Harmonisierung sozialer Ungleichheit beitrage. 20 Eine solche Auslegung von Verschuldung ist zwar zwiespältig, macht aber deutlich, dass die Orientierung der Schuldenberatung am Ziel der Schuldenfreiheit tatsächlich eine spezifische Werthaltung ist, die normalerweise als implizites Hintergrundwissen verdeckt bleibt.21 Die Bekämpfung der sozialen Symptome der Überschuldung (Scham, Stigmati- sierung, Diskriminierung, Abhängigkeit) kann unter dem Gesichtspunkt von Partizipation ferner als Bewahrung und Förderung der Teilhabe der Klientel am sozialen und kulturellen Leben gele- sen werden. Genauso bezieht sich in der Familienhilfe die normative Orientierung an Partizipation über die Arbeitsbeziehung hinaus auf gesellschaftliche Teilhabe. So gilt in der einen Institution der „Zu- gang zu neuen Ressourcen“, d.h. die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben als Kriterium für den Anstieg von Lebensqualität, der wiederum als Ziel der Interventionen begriffen wird. Auch in der anderen Einrichtung spielt Partizipation als orientierendes Prinzip eine Rolle, allerdings quasi als Nebeneffekt von Integration. Im Rahmen der Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern, die gemäss Rahmenkonzept der Institution massgeblich von soziokulturellen Bedingun- gen geprägt ist, übernimmt die Stelle die Funktion des „Kulturvermittlers“, um auf diese Weise eine sozial akzeptable Erziehungspraxis sicherzustellen und damit Ausschluss zu verhindern – also soziale Teilhabe zumindest zu bewahren. Als Vermittler zwischen Familien mit Migrations- hintergrund und der Mehrheitskultur beanspruchen die Institutionen der Familienhilfe eine Integ- rationsfunktion. Die eine Organisation bezeichnet sich entsprechend auch als „Integrationsbehör- de“, die eine „gewisse Integrationsaufgabe“ hat, womit die Vertretung von „unseren Werten“ ein- hergeht. Diese Organisation setzt sich zum Ziel die Lebensqualität der betreuten Familien zu verbessern. Im Zuge der Verbesserung der Lebensqualität wirkt sie darauf hin, dass die Familien: 20 Die Konzipierung der Verschuldung als widerständige Teilhabe an der Konsumgesellschaft und Harmonisierung von sozialer Ungleichheit ist ohnehin kritisch zu betrachten. Denn gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen werden durch individuelle Verschuldung zwecks Teilhabe durch Konsum sicherlich nicht aufgehoben. 21 Schuldenfreiheit ist keine absolute Norm sondern eher ein (manchmal unerreichbares) Fernziel. In der Beratung werden drei Strategien im Umgang mit Überschuldung unterschieden: Schuldensa- nierung; „mit den Schulden leben lernen“, wenn eine mittelfristige Sanierung unrealistisch scheint, und Privatkonkurs. 27 konfliktfreier existieren (…, sich eben nicht mehr an Normen, Werten oder Gesetzen reiben, oder stossen und dadurch auch ein besseres Verständnis innerhalb der Familie füreinander ha- ben, so dass sie in der Beziehung (…) mehr Respekt voreinander haben. (Gruppendiskussion Fam_2). Obwohl darauf verwiesen wird, dass ein Anstieg der Lebensqualität „selbstverständlich (…) eine Frage (…) der subjektiven Wahrnehmung“ sei und daher ungewiss bleibe, ob ein „Vater, der un- bedingt sein System kontrollieren will, das als Gewinn beschreiben würde, wenn man ihm einen Teil dieser Kontrolle wegnimmt“, wird im Rahmen der Integrationsfunktion auf eine Eindämmung der Kontrolle hingewirkt. Partizipation ist im Handlungsfeld Familienhilfe überdies als integraler Bestandteil des Kindes- wohls bedeutsam. Dieses gesetzlich verankerte Konstrukt ist durch unterschiedliche Kriterien konstituiert, deren Erfüllung die leibliche und psychosoziale Integrität des Kindes sichert. Kindes- wohlspezifische Merkmale wie eine gelungene Einbindung im Bildungssystem oder auch die Pflege von sozialen Kontakten sind unter dem Grundsatz der Partizipation in gesellschaftlicher Hinsicht zu subsumieren. 4.4 Wahrung von Integrität Dem Wert der Integrität wird im Berufskodex eine hohe Bedeutung eingeräumt, indem er im Kapi- tel über die Grundsätze der Sozialen Arbeit zusammen mit der „Befriedigung existentieller Be- dürfnisse“ und der „Integration in ein soziale Umfeld“ als erstes Anrecht erwähnt wird, das nicht nur von der Sozialen Arbeit sondern von „allen Menschen“ gewährleistet werden müsse (Avenir Social 2010: 6). Empirisch verbinden die Sozialarbeitenden in unserer Studie die Wahrung der leiblichen und psychosozialen Integrität der Klientel einerseits mit dem Schutz vor Schädigung, anderseits mit der Förderung von Wohlbefinden. In Bezug auf den Schutz vor einer Verletzung von Integrität steht das Prinzip der Gewaltfreiheit im Zentrum, dies vor allem in der Hilfe für Opfer häuslicher Gewalt. Besonders in der Familienhilfe, liegt der Fokus von Schutz und Förderung des Kindeswohls.22 Allerdings hat der Fokus Kondeswohl auch im Handlungsfeld der Beratung von Gewaltopfern gegenüber dem Schutz gewaltbetroffener Frauen (und Männer) an Bedeutung ge- wonnen. Im Feld der Hilfe für Opfer von häuslicher Gewalt kommt dem Wert der Gewaltfreiheit als Mittel zur Wahrung von leiblicher und seelischer Unversehrtheit eine herausragende Stellung zu. Vor allem in den beiden stationären Einrichtungen stellt Gewaltfreiheit ein nicht verhandelbares Prin- zip dar. In der Konzeption des Frauenhauses als Schutzraum vor Gewalt, dessen Anonymität daher um jeden Preis gewahrt werden muss, drückt sich diese normative Orientierung besonders deutlich aus. In dieser Konzeption wird der Wert der Wahrung von Integrität zunächst darin deut- lich, dass die gesamte Organisation darauf ausgerichtet ist, den Klientinnen und ihren Kindern Schutz vor Gewalt zu bieten. Dies hat einerseits die Konsequenz, dass Klientinnen, welche die Anonymität dieses Schutzraumes gefährden bzw. verletzen, die Einrichtung verlassen müssen. Andererseits wird auch innerhalb der Einrichtungen keine Gewalt geduldet, weder zwischen Kli- entinnen noch zwischen Klientinnen und Beraterinnen. Der Verstoss gegen die Regel der Ge- waltlosigkeit führt ebenfalls zum Austritt. Die Norm der Gewaltfreiheit wird einerseits konsequen- 22 Dass das Kindeswohl Gewaltfreiheit impliziert, liegt auf der Hand; das Prinzip der Gewaltfreiheit kann allerdings auch unabhängig vom Kindeswohl die körperlich-seelische Unversehrtheit schüt- zen. 28 zialistisch begründet: Gewalt bringt weitere Gewalt hervor. Beispielsweise werden Kinder, die in einem Klima der Gewalt aufwachsen, später eher selbst Gewalt ausüben. Gewaltfreiheit ist des- halb notwendig, um die „Gewaltmuster zu unterbrechen“ und die Gewaltspirale nachhaltig zu unterbinden. Anderseits wird Gewaltfreiheit deontologisch als absoluter politischer „Grundwert“ hochgehalten, der schliesslich im institutionellen Auftrag des Schutzes der Frauen vor Gewalt angelegt ist. Insofern ein Teil der Klientinnen mitsamt ihren Kindern ins Frauenhaus kommt und einige der Klientinnen selbst minderjährig sein können, spielt auch das Kindeswohl eine Rolle im Kontext der Wahrung von Integrität. Das Kindeswohl dient als Massstab zur Einschätzung von körperlichen, geistigen und seelischen Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen – „nach Massgabe geltender gesellschaftlicher Normen“, wie es im Rahmenkonzept der Familienhilfe 1 heisst. Das Konzept des Kindeswohls hat dadurch eine integritätssichernde Funktion in körperlich-seelisch-sozialer Hinsicht. Da das Kindeswohl ein unbestimmter Rechtsbegriff ohne eindeutige Legaldefinition ist, muss es immer kontextbezogen inhaltlich gefüllt werden. Inhaltliche Bestimmungen werden im breit gefassten konjunktiven Erfahrungsraum der praktischen Kinder- und Jugendhilfe und der entsprechenden wissenschaftlichen Disziplin ausgehandelt. So sind aktuell an Hochschulen für Soziale Arbeit in der Schweiz Bemühungen zur Entwicklung von geeigneten Abklärungsinstrumenten im Gange, die auf sozial- und erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Diese werden auch von den Institutionen in unserem Sample aufgegriffen und adaptiert (vgl. Kap. 6.4). In der Schuldenberatung liegt der Bezug auf Integrität weniger offensichtlich auf der Hand, da weder Schutz vor Gewalt noch Wahrung des Kindeswohls direkt Bestandteil des institutionellen Mandats sind. Das Kindeswohl kann jedoch insofern tangiert werden, als die Überschuldung der Eltern das Wohlergehen der Kinder gefährdet. So wurde in der einen Institution der Fall einer Familie diskutiert, in welcher der Vater weiterhin die Leasingraten für ein teures Auto abzahlt, dafür jedoch die Krankenkassenprämien für die ganze Familie nicht bezahlt. Hier ist mithin die medizinische Versorgung der Kinder (und der Eltern) nicht gewährleistet, weil die Familie „auf dieser schwarzen Liste“ der Krankenkassen figuriert. Grundsätzlich sei oft zu beobachten, dass die Eltern ihre Kinder „wie nicht im Budget (haben), die sind wie nicht budgetiert“. Hier geht die Gefährdung des Kindeswohls von den Klienten selbst aus. Überdies sind die Kinder von über- schuldeten Eltern aber auch strukturell benachteiligt, weil der Betrag, der im betreibungsrechtli- che Existenzminimum als Kinderkosten angerechnet wird, zu tief ist, um z.B. hohe Ausbildungs- kosten (für ein Studium) zu decken.23 Schliesslich kann die Integrität der Klientinnen und Klienten durch den bereits erwähnten selbst gewählten extremen Konsumverzicht gefährdet werden. Durch die übermässigen Einschränkungen verbauen sich die Betroffenen gleichsam selbst den Weg zu sozialer Integration. Und Klienten, die zwecks Überwindung von Schulden Zusatzjobs übernehmen und über längere Zeit mehr als Vollzeit arbeiten, riskieren gesundheitliche Beein- trächtigungen. 23 Gemäss Experteninterview in der Schuldenberatungsstelle 2 werden maximal 600 Franken dafür angerechnet. 29 5. Normkonflikte Wie sich im Zuge der Ausführungen zu den Zentralwerten der Sozialen Arbeit bereits abgezeich- net hat, resultieren daraus normative Erwartungen an die Sozialarbeitenden und die Klientinnen und Klienten, die zu Normkonflikten führen können. Die handlungspraktisch manifest werdenden Normkonflikte wiederum können unterschiedlich angesiedelt sein: auf der gesellschaftspolitisch- institutionellen Ebene, der Ebene der interprofessionellen Kooperation und schliesslich auf der Ebene der Arbeitsbeziehung zwischen Fachkräften und Klientel. Da der Fokus des Forschungs- projekts auf den Normkonflikten und Umgangsstrategien auf der Ebene der Arbeitsbeziehung mit der Klientel liegt, werden die beiden anderweitig verorteten Normkonflikte nur kurz skizziert. 5.1 Normkonflikte auf der gesellschaftspolitisch-institutionellen Ebene Zu Normkonflikten auf der gesellschaftspoltisch-institutionellen Ebene kommt es in allen unter- suchten Feldern. Konflikthaft sind dabei in erster Linie die auf politische Aushandlungsprozesse zurückgehenden limitierten finanziellen Ressourcen, die eine unter fachlichen Gesichtspunkten angemessene Fallbearbeitung erschweren. Der politisch induzierten Ressourcenknappheit sind die Institutionen relativ hilflos ausgeliefert. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu versuchen, dennoch so gut wie möglich den eigenen professionellen Standards zu genügen und den „innerli- chen Konflikt“ mit den eigenen Werten auszuhalten. Auflösen lässt sich der Konflikt kurz- und mittelfristig indes nicht. Durch Ungleichheitsstrukturen erzeugte Probleme der Klientel stellen eine weitere Dimension auf dieser Ebene von Normkonflikten dar. Beispielsweise sind die Schuldenberatungsstellen auch mit Klientinnen und Klienten konfrontiert, die als Working Poor trotz regelmässiger Erwerbstätigkeit nicht genügend Mittel zur Bestreitung eines Lebens auf bescheidenem materiellen Niveau zur Verfügung haben. Strukturelle Benachteiligung erzeugt in solchen Fällen eine als ungerecht emp- fundene Überschuldungsituation respektive einen Leidensdruck, dem weder die Schuldenbera- tung noch die Klientel unmittelbar etwas entgegensetzen können: die Klientinnen kommen trotz bester Beratung und sparsamer Lebensführung nicht aus den Schulden heraus. Auch gesetzliche Bestimmungen, welche die Institutionen in direkter Weise betreffen, können zu Normkonflikten führen. So darf das eine Frauenhaus nur Frauen aufnehmen, die im Sinne des Opferhilfegesetzes Opfer einer Straftat sind, nämlich Opfer von häuslicher Gewalt, nicht jedoch Frauen, die von anderen Formen der Gewalt betroffen sind, wie etwa von Menschenhandel oder von struktureller Gewalt wie Obdachlosigkeit. Der rechtlich verankerte institutionelle Auftrag hin- dert die Sozialarbeiterinnen daran, selbst adäquat auf die von den Frauen im telefonischen Erst- kontakt geäusserten Notlagen zu reagieren. Sie können diese Frauen nur an andere Stellen wei- ter verweisen. Subjektives Leiden kann deshalb unter Umständen gar nicht – bei fehlenden Tria- gemöglichkeiten – oder aber verzögert – bei der Triage an andere Institutionen mit je eigenen Intake-Prozessen – behandelt werden. Ferner bindet die Rechtsnorm der Schweigepflicht den Sozialarbeitenden in der Opferhilfe in dem Sinne die Hände, dass sie selbst keine Anzeige erstat- ten können, wenn sie in der Beratung von mehreren Opfern von einem sexuellen Übergriff oder Handlungen in „pädophilen Bereichen“ erfahren. Obwohl sie sich selbst „eine gesellschaftliche Pflicht“ zuschreiben, mutmassliche Täter anzuzeigen, um Übergriffe auf weitere Personen zu verhindern, müssen sie abwarten bis „endlich ein Opfer bereit [ist] zur Polizei zu gehen“.24 24 Wenn Minderjährige bzw. Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen betroffen sind, kann die 30 Schliesslich entstehen aus institutionellen Zuständigkeitsbestimmungen und bürokratischen Ab- laufprozeduren Normkonflikte, weil dadurch unter Umständen hilfsbedürftigen Klienten eine zeit- nahe Hilfe verwehrt bleibt, also sozusagen der Wert der formaljuristischen Korrektheit eine dem Hilfebedarf angemessene Hilfeleistung verhindert. 5.2 Normkonflikte in der interprofessionellen Zusammenarbeit Normkonflikte sind des Weiteren in der institutionalisierten Zusammenarbeit mit anderen Berufs- gruppen angelegt. In Bezug auf Kooperationen sind feldspezifisch unterschiedliche professionelle Instanzen oder Akteure relevant: in der Familienhilfe insbesondere die Kindes- und Erwachse- nenschutzbehörde (KESB) und die Schule; in der Hilfe für Opfer von häuslicher Gewalt ebenfalls vor allem die KESB und die Polizei; in der Schuldenberatung primär die Gläubiger. In der stationären Hilfe für Opfer von häuslicher Gewalt kann es zu interinstitutionellen Normkon- flikten kommen, wenn etwa die KESB eine von der (minderjährigen) Klientin und dem Frauen- haus präferierte Lösungsstrategie als inadäquat einschätzt, die dazu erforderlichen Massnahmen entsprechend nicht anordnet sondern Druck ausübt, so dass die junge Frau in das von Gewalt geprägte familiäre Umfeld zurückkehrt. In solchen Fällen wird das in diesem Feld so bedeutsame Prinzip der Parteilichkeit durch Instanzen, die nicht primär auf häusliche Gewalt spezialisiert sind, missachtet. Auf der anderen Seite umgehen auch die befragten Institutionen bisweilen zum Schutz der Klientin den im Parteilichkeitsansatz eingeschriebenen Grundsatz der Selbstbestim- mung (vgl. Kap. 6.2). In der Familienhilfe sorgt die Zusammenarbeit mit der KESB insbesondere in jener Einrichtung, die Beistandschaften führt, für Konflikte. Dabei handelt es sich allerdings weniger um Norm- als vielmehr um Rollenkonflikte. Im Zuge der 2013 in Kraft getretenen Reform des Schweizerischen Zivilgesetzes wurde in der entsprechenden Gemeinde im Bereich des Kindesschutzes eine Ge- waltenteilung vorgenommen. Die Familienhilfestelle wurde dabei klar auf der Handlungs- und die KESB auf der Entscheidungsebene verortet. Dadurch beschränkt sich die Zusammenarbeit mit der KESB auf Berichterstattung (Empfehlungen für Kindesschutzmassnahmen), Anträge und Austausch von Informationen. Diese institutionelle Gliederung ist der Öffentlichkeit, den Familien, der Schule und weiteren Fachpartnern allerdings nicht geläufig, sodass die Familienhilfestelle häufig mit der KESB verwechselt wird und entsprechend zur Rollenklärung angehalten ist. Dies gilt vor allem, wenn überhöhte Erwartung an deren Mitarbeitenden gerichtet werden: "Eben, Sie sind doch Beistand, und das heisst doch, Sie können doch eigentlich alles bestimmen auch." Um sich deutlich von der KESB abzugrenzen beruft sich die Familienhilfe auf das Prinzip der Freiwil- ligkeit und unterscheidet zwischen den eigenen „vereinbarten“ Leistungen und den „angeordne- ten“ Massnahmen der KESB.25 Institutionalisierte Zusammenarbeitsformen erzeugen aber nicht nur Rollen-, sondern auch genuine Normkonflikte: so wenn etwa zuweisende Stellen von der sozialpädagogischen Familienhilfe fordern, den Fernsehkonsum der Kinder auf ein Mass zu re- duzieren, das weit von ihrer Vorstellung von angemessenem Fernsehkonsum abweicht. Auch die Zusammenarbeit mit der Schule kann konfliktreich sein, insbesondere wenn diese die Erwar- Schweigepflicht gelockert werden (vgl. 6.2). 25 Man ist sich indes bewusst, dass die Zusammenarbeit der Familien mit der Institution nur „Gänse- füsschen-freiwillig“ ist, denn es sucht niemand freiwillig ihre Hilfe auf, sondern immer erst, wenn „ein Initialer ein Defizit festgestellt hat“. Zudem kann es immer vorkommen, dass sich aus einer vereinbarten freiwilligen Leistung eine angeordnete Massnahme entwickelt und umgekehrt. 31 tungshaltung hat, dass ein Kind aufgrund von schlechten Schulnoten und fehlender Kooperati- onsbereitschaft seitens der Eltern fremdplatziert werden soll. Hierbei ist von einem institutionell begründeten Normkonflikt auszugehen, da sich die divergierenden Erwartungen von den norma- tiven Orientierungen der verschiedenen Institutionen ableiten. Während die Schule gute Lernleis- tungen als allgemein verbindliche Norm festlegt und bei Nichterfüllung die Eltern involviert res- pektive bei fehlender Kooperationsbereitschaft der Eltern Sanktionen fordert, hält die Familienhil- fe das Kindeswohl als allgemeingültige Norm fest, das nicht in erster Linie an gute Schulnoten gebunden ist (auch wenn gute Schulleistungen dem Kindeswohl sicherlich nicht abträglich sind). Auch die generalisierende Anordnung der Schule, dass Eltern ihren Kindern nicht bei den Haus- aufgaben helfen dürfen, löst innerhalb des Feldes einen Normkonflikt aus, weil die Familienbe- gleitung fallbezogen argumentiert: „Man kann nicht sagen, (…) Eltern dürfen keinen Kindern bei den Hausaufgaben helfen, das wäre falsch.“ In den Schuldenberatungsstellen ist die Zusammenarbeit mit den Gläubigern im Rahmen des doppelten Mandats konfliktträchtig: Während die Sozialarbeitenden zu Beginn der Beratung ein- seitig parteilich respektive anwaltschaftlich für die Klientel handeln können, sind sie ab dem Zeit- punkt der Sanierung „Sachwalter“ der Gläubiger und müssen entsprechend „hart durchgreifen“. So stehen im Einzelfall die Interessen der Klientel jenen der Gläubiger gegenüber. Die Schulden- beratung hat indes über den Einzelfall hinaus ein gutes Verhältnis zu wichtigen Gläubigern wie z.B. dem Steueramt zu pflegen, da dieses als Teil der Gemeinde indirekt auch „Finanzgeber“ der mit Mitteln der öffentlichen Hand alimentierten Beratungsstellen ist. Das Renommee der Schul- denberatung bei den Gläubigern dient letztlich aber auch den Verschuldeten selbst, denn es si- chert den Schuldenberatungsstellen eine wirkungsvolle Position in den Verhandlungen mit den Gläubigern im Hinblick auf die Durchsetzung der Interessen der Klientel. 5.3. Normkonflikte zwischen Sozialarbeitenden und Klientel Die rekonstruierten Normkonflikte auf der Ebene der Arbeitsbeziehung zwischen Sozialarbeiten- den und Klienten sind in den drei zentralen, als Spannungsverhältnisse zu verstehenden Konflikt- linien angelegt: Eigenverantwortung versus Passivität; Autonomie versus Schutz sowie Anerken- nung von Differenz versus Assimilation. Insbesondere die beiden letzteren widersprüchlichen Einheiten sind im Sinne von Schütze (1996: 193) als „unaufhebbare Paradoxien professionellen Handelns“ zu begreifen, wobei der Versuch der endgültigen Auflösung auf die eine oder andere Seite ein Indiz für mangelhaft professionalisiertes Handeln wäre (ebd.: 210). Eigenverantwortung versus Passivität Wie gesehen fungiert die Wiederherstellung von Autonomie als Zentralwert der Sozialen Arbeit und transportiert die Erwartung gegenüber der Klientel, zur Autonomie befähigt werden zu wol- len. Die normative Orientierung an der Wiedererlangung einer autonomen Lebensführung hat zur Folge, dass die Hilfe im Modus der Hilfe zur Selbsthilfe geleistet und auf der anderen Seite auch angenommen werden muss. Das antagonistische Gegenüber der Eigenverantwortung ist Passivi- tät. Entsprechend werden die Klientinnen und Klienten, wie gezeigt (vgl. Kap. 3.3) nach Aktivität bzw. Passivität sortiert. Es wird unterschieden zwischen Klienten, die Verantwortung für die Ver- änderung ihrer Situation übernehmen, und jenen, die eben nicht eigenaktiv die Initiative ergreifen, um ihre Notlage zu lindern oder abzuwenden. Dabei müssen die Sozialarbeitenden im Feld der Opferhilfe bei Gewalt einschätzen, ob die „Opferhaltung“ durch Traumatisierung bis zum Punkt völliger Hilflosigkeit im Alltag begründet ist, oder ob die Klientinnen „eigentlich keine Opfer sind“ 32 sondern über Ressourcen verfügen und dennoch in aggressiver Weise „verlangen, dass wir vie- les, vieles übernehmen“. Wenngleich ein Verharren in der Opferhaltung als Folge schwerer Traumatisierung verständlich scheint, wird Passivität dennoch als Anlass für einen Normkonflikt erlebt. Ich könnte noch etwas dazu sagen, zum Wert-/Normen-Spannungsfeld hinzufügen. Die Erwar- tungshaltung der Klientin ist, ich bin Opfer, man muss mich retten. Und in der Beratung kommt es oft vor, dass ich mich von dieser Parteilichkeit ein wenig distanzieren muss, damit ich die ganze Situation neutral betrachte. Und für mich auch als Beraterin ein Bild bilden zu können und auch dazu die Klientin zu befähigen: Ich bin nicht da, um dir irgendeinen Weg aufzuzeigen, du musst, es wäre schön, deine Fähigkeiten zu aktivieren um diesen Weg selbst zu gehen. Und wenn ich mich von dieser Parteilichkeit distanziere, dann reflektiere ich auch. Und da kommt es zu einer Verwirrung der anderen Seite: Oh, ist sie nun Feind, ist sie Freund oder was ist sie ge- nau? Da sind auch so Momente, in denen es Ausdauer und ein Aushalten braucht, von beiden Seiten. (Gruppendiskussion FH_2) In dieser Schilderung vermischen sich Rollen- und Normkonflikte. Die Klientin hat die verständli- che Erwartung, dass sie von einer Beratungsstelle Hilfe erwarten kann und konzipiert die Sozial- arbeiterin als die Fachfrau, die eine einseitige Unterstützungsleistung erbringen und sie „retten“ soll. Sie unterliegt hier gewissermassen einem Missverständnis hinsichtlich der Rolle der Berate- rin. Die Sozialarbeiterin wiederum versteht sich nicht als Helferin sondern als professionelle Initi- antin und Begleiterin von Selbstermächtigungsprozessen. Indem die Klientin sich passiv verhält, bringt sie die Beraterin in einen Konflikt zwischen dem professionellen Ideal der Parteilichkeit zugunsten des „Opfers“ und dem ebenso wichtigen Grundsatz, die Klientin als handlungsfähige Akteurin anzuerkennen. In der Familienhilfe wird von den Eltern verlangt, Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder zu übernehmen und die dazu notwendige Hilfe anzunehmen und zu kooperieren. Abgelehnt wird entsprechend, wenn die Klienten Hilfe entgegennehmen und profitieren wollen, ohne selbst et- was zu leisten. Im Handlungsfeld der Schuldenberatung äussert sich die Opferhaltung von Klien- ten darin, dass sie anderen die Schuld an der eigenen Überschuldung zuweisen und mit „Wahn- sinnsansprüchen“ bezüglich Unterstützung an die Institution herantreten. Auch hier wird also zwi- schen eigenverantwortlichen Klientinnen und Klienten, die ihren Teil im Rahmen der Schulden- sanierung leisten, und denjenigen ohne den Willen zur aktiven Mitwirkung differenziert. Das Prob- lem der Passivität tritt also nicht nur in denjenigen Institutionen auf, die ihre Klientel nur bedingt freiwillig adressieren (z.B. im Rahmen von angeordneten Erziehungsmassnahmen in der Famili- enhilfe) sondern auch in jenen Einrichtungen, die nach dem Freiwilligkeitsprinzip arbeiten. Autonomie versus Schutz Während die Übernahme von Eigenverantwortung eine Bedingung der Möglichkeit der Wieder- herstellung von Autonomie ist, schlägt sich in der starken Betonung von Eigenverantwortung und Autonomie in den Praxisorganisationen auf der anderen Seite aber auch die in der neoliberalen Politik eingeschriebene Responsibilisierungslogik nieder (vgl. Kap. 6.1). Das Gegenstück der autonomiezentrierten Rationalität der Responsibilisierung ist die paternalistisch grundierte Logik des Schutzes. Wie schon erwähnt verstehen die Schuldenberatungsstellen ihren Auftrag relativ eng als Unter- stützung bei der Bewältigung der finanziellen Probleme, und sie haben es oft mit Einzelpersonen zu tun, die gleichsam in Reinform das autonome, nur für sich selbst verantwortliche Individuum 33 verkörpern (vgl. Kap. 4.2). Vor diesem Hintergrund wird die Norm der Autonomie klar höher ge- wichtet als der Schutz, selbst wenn mit der Respektierung des Willens der Klientel das Risiko von „Fehlentscheidungen“ einhergeht und ein Beratungsabbruch droht. Der Normkonflikt zwischen Gewährung von Autonomie und Schutz wird aus der Sicht der Sozialarbeitenden durch einen rechtlich verankerten Schutzmechanismus entschärft: Die Klientel wird auch beim Abbruch einer Beratung durch das betreibungsrechtliche Existenzminimum vor absoluter Verarmung bewahrt.26 Ein wenig anders verhält sich das Spannungsfeld von Autonomie und Schutz im Feld der Hilfe für Opfer von häuslicher Gewalt. Der Wert der Autonomie ist in diesem Feld ebenso von zentraler Bedeutung und wird vorwiegend über den feldspezifisch prominenten Ansatz der Selbstbestim- mung und Parteilichkeit realisiert. Die Klientinnen werden hier als Expertinnen ihrer Situation und Kultur begriffen und als autonomiefähige Akteurinnen konzipiert und adressiert, die folgerichtig auch die Verantwortung für sich und ihre Situation übernehmen können. Solange einerseits die von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen selbst autonomiefähig im Sinne der Volljährigkeit sind, andererseits keine Kinder unmittelbar oder mittelbar von der Gewaltdynamik betroffen sind, wird den Klientinnen die Verantwortung für die Folgen ihres Tuns aufgebürdet. Ein Normkonflikt zwi- schen einem weit gefassten Autonomiebegriff und der Gewährleistung des Schutzes der Klientin entsteht vor allem bei der Rückkehr der Klientinnen in die von Gewalt gekennzeichnete Bezie- hung. Dabei lassen sich in der Beratung von Opfern häuslicher Gewalt zwei gegenläufige Ten- denzen beobachten. Angesichts der in der Frauenprojektbewegung und Entwicklung der Profession wurzelnden Rele- vanz von Autonomie einerseits sowie der gegenwärtigen gesellschaftlichen Überhöhung von Au- tonomie und Eigenverantwortung andererseits gelten selbst gewaltbetroffene Frauen nicht ohne weiteres als schutzbedürftig oder gar schwach, sondern werden sogar in konkreten Bedrohungs- und Krisensituationen als selbstverantwortlich behandelt. Solange ihre Handlungsfähigkeit prinzi- piell intakt scheint, also nicht z.B. durch psychische Instabilität oder Suizidalität eingeschränkt ist, besteht mithin kein Anlass, sie gegen ihren manifesten Willen zu schützen: Und es ist ein Unterschied ob eine Frau zu ihrem gewalttätigen Ehemann zurückgeht und wir befürchten es passiert ihr was, oder sie sagt, ich gehe jetzt raus und werfe mich unter das nächste Tram [zustimmendes Murmeln], ja. Da ist sie aktiv suizidal, ja und da ergibt sie sich ih- rem Schicksal im Moment erst mal wieder. Also da gibt es schon, es sei denn ich weiss, dass der [Mann] so fertig ist, dass er sie ziemlich sicher tötet, ja. Und selbst dann wird es schwierig. Sie ist nicht suizidal, suizidal ist sie einfach wenn sie ihrem Leben aktiv ein Ende setzen will. Und dann kann ich aktiv werden. Aber wenn sie, pff sich dazu entscheidet, sich weiterhin ver- prügeln zu lassen. (Gruppendiskussion OB) Das Zugeständnis der Freiheit sich verprügeln zu lassen muss in diesem Zusammenhang als Überhöhung von Emanzipation interpretiert werden. Frauen fallen nicht in die Kategorie der schutzwürdigen Unmündigen und Schwachen, sondern werden selbst in konkreten Bedrohungs- und Krisensituationen und auch dann, wenn sie keine realistischen Exit-Optionen haben, als selbstverantwortlich behandelt und auf eine unterstellte Autonomiefähigkeit zurückgeworfen. Auf der anderen Seite wird in diesem Handlungsfeld auch die gesellschaftliche Entwicklung zur Fokussierung auf Sicherheit und Risikominimierung und eine hohe Interventionsbereitschaft ma- 26 Allerdings wissen die Sozialarbeitenden, dass die Klienten manchmal nach einem Beratungsab- bruch zu privaten Schuldensanierungsstellen gehen und sich dadurch noch tiefer in Schulden ver- stricken. 34 nifest (vgl. Krasmann 2007; Hollenstein 2013). Diese Tendenz zeigt sich zunächst in stationären Einrichtungen in Gestalt des nicht verhandelbaren Prinzips der Gewaltfreiheit. Darüber hinaus lässt sich seit Mitte der 1990er Jahre eine Verschiebung der Verantwortung für den Schutz vor Integritätsverletzungen vom Individuum zum Staat beobachten. Zur Entwicklung und Gewährleis- tung interinstitutionell abgestimmter effektiver Interventionen bei häuslicher Gewalt wurden regio- nale Interventionsstellen und Kooperationsgefässe eingerichtet. Seit einigen Jahren wurde zu- dem in einigen Kantonen ein polizeiliches Bedrohungsmanagement implementiert, das in Fällen besonderer Gefährdung an Leib und Leben aktiviert wird (Wechlin 2013). Zum anderen wurden gesetzliche Reformen vorgenommen, so die Offizialisierung häuslicher Gewalt 2004, die Gewalt- schutznorm in Art. 27a im ZGB 2007 sowie die auf kantonaler Ebene eingeführten Gesetze, die es der Polizei ermöglichen, bei häuslicher Gewalt auch ohne Einwilligung der betroffenen Perso- nen zu intervenieren und für eine kurze Dauer (meist zwei Wochen) Gewaltschutzmassnahmen zu verfügen (d. h. Wegweisung des Täters, Rayon- und Kontaktverbote), die durch das Opfer durch einen Antrag beim Zivilgericht verlängert werden können. Wenn Kinder mitbetroffen sind, führt die Verfügung von Gewaltschutzmassnahmen automatisch zu einer Meldung bei der KESB. Flankierend zu den Gewaltschutzmassnahmen werden zudem in der Regel spezialisierte Bera- tungsstellen aktiviert, die Opfern und Tätern sodann auf freiwilliger Basis Beratung anbieten. Es ist allerdings zu betonen, dass sich die kantonalen Wegweisungs- und Gewaltschutzgesetze in Reichweite und Ausgestaltung von Kanton zu Kanton unterscheiden (EBG 2015). Bei hoher Ge- fährdung der Klientinnen beim Austritt werden im einen untersuchten Frauenhaus polizeiliche oder zivilschutzrechtliche Gewaltschutzmassnahmen eingeleitet (vgl. 6.2) In der oben zitierten Passage aus der Gruppendiskussion in der ambulanten Opferhilfestelle wird in der Kontrastierung der aktiven Suizidalität mit dem freien Entscheid sich weiter verprügeln zu lassen erörtert, dass die Rückkehr eine massive Selbstgefährdung mit sich bringen kann, die Interventionsmöglichkeiten auf der anderen Seite jedoch angesichts der Rechtslage, aber auch unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung bescheiden sind. Wenn sich eine erwachsene Frau für die Rückkehr in die Gewaltbeziehung entscheidet hat sie das zu verantworten. Sind al- lerdings ihre Kinder mit gefährdet, drohen die Sozialarbeitenden mit einer Meldung an die KESB.27 Dann wird also die Autonomie der Klientinnen definitiv in die Schranken gewiesen, denn nach Massgabe des Kindeswohls werden auch Wege gegen den Willen der Mutter einge- schlagen, um die leibliche und psychosoziale Integrität der Kinder sicherzustellen. Die mutmass- liche Gefährdung des Kindeswohls indiziert mithin eine Schutzorientierung, wenn nötig auf Kos- ten der Autonomie der Mütter. Vor dem Hintergrund der Differenzsetzung zwischen Kindern und Erwachsenen im Feld der Hilfe für Opfer von häuslicher Gewalt wird auch deutlich, weshalb der Wert der Autonomie in der Fami- lienhilfe eine weniger grosse Bedeutung hat als etwa der methodische und normative Orientie- rungsrahmen des Kindeswohls. Festzuhalten ist, dass Erwachsene grundsätzlich als autonom konzipiert und entsprechend für ihre Situation verantwortlich gemacht, d.h. responsibilisierend regiert werden, während Kinder als schutzbedürftig verstanden und in Bezug auf sie im Gefähr- dungsfall eher paternalistisch gehandelt wird. 27 Offenbar scheint in solchen Fällen die Drohung meist auseichend zu sein, denn die betreffende Opferberatungsstelle macht nach eigenen Aussagen „fast nie“ Gefährdungsmeldungen. 35 Anerkennung von Differenz versus Integration und Assimilation Soziale Arbeit ist als Profession einerseits dem Gemeinwohl verpflichtet, anderseits dem Recht. Ihre primäre Funktion liegt in der „Aufrechterhaltung und Gewährleistung von leiblicher und psy- chosozialer Integrität“, zugleich hat sie den Problemfokus der „Aufrechterhaltung und Gewährleis- tung einer kollektiven Praxis von Recht und Gerechtigkeit“ im Auge zu behalten (Oevermann 1996: 88). Diese beiden Problemfoki professionellen Handelns sind in einer widersprüchlichen Einheit aufeinander bezogen und genau darin ist auch der Normalisierungsauftrag der Sozialen Arbeit verortet. Die Gewährung absoluter Selbstbestimmung steht demnach in einem Span- nungsverhältnis zur Aufrechterhaltung der geltenden normativen Ordnung. In den untersuchten Institutionen sind die beiden Pole dieser normativen Konfliktlinie empirisch durch die Anerken- nung von Differenz auf der einen und Integration in Gestalt von Assimilation auf der anderen Sei- te gedeckt. Während die Generalisierung von Autonomie in der Logik der Anerkennung von Diffe- renz Entsprechung findet, schlägt sich die Rekonstitution der normativen Ordnung der hiesigen Gesellschaft in der Rationalität der Assimilation nieder. Die Realisierung des Zentralwerts der Autonomie ist mit einer differenzanerkennende Haltung verbunden. Den auch in Krisensituationen als grundsätzlich handlungsfähig betrachteten Klien- tinnen und Klienten muss zugestanden werden, dass sie an Handlungsmustern festhalten, die von den Sozialarbeitenden problematisiert werden. Insbesondere dann, wenn die Klientinnen als selbstbestimmte Expertinnen ihrer selbst konzeptualisiert werden, ist ein Verhalten, das den Normen der Fachkräfte zuwiderläuft, kaum grundsätzlich kritisierbar. Der Versuch, die Klienten von fremdkulturell geprägtem Handeln abzubringen, könnte vielmehr selbst als Ausdruck von „Kolonialherren“-Verhalten kritisiert werden. In diesem Dilemma zwischen Anerkennung von Dif- ferenz und Durchsetzung der eigenen Normen kann der Rekurs auf das Gesetz als einigermas- sen stabile Leitplanke dienen. Dies zeigt sich etwa im folgenden Kommentar eines Sozialarbei- ters zu patriarchalen Familienformen: [Man muss] immer wieder hinterfragen und auch können, jetzt auch einmal mit Abstrichen et- was anschauen und sagen ja, das patriarchalische System ist nicht verboten in der Schweiz, wenn er [= der Vater] will, also geht es. Es tönt so platt, aber es ist ganz wichtig, das ist einer von den wichtigsten Punkten am Anfang von der Arbeit, oder wenn man eine Familie neu ken- nenlernt, auch einen Schritt zurück machen und sagen, ja, ich muss ja nicht alles umkrempeln oder. (…) Ja wenn der Vater wieder Anführer von der Familie sein will und die will nach aussen vertreten, dann ist das nicht verboten, dann hat das Platz, es gibt kein Recht, welches heisst, die Mutter muss Gespräche entgegennehmen in der Schule und und und, und der Vater darf gar nicht als Chef auftreten, das gibt es nicht. (Experteninterview Fam_1) Diese Argumentation macht zweierlei deutlich: erstens ist die Duldung eines hypothetischen pat- riarchalen Familiensystems offensichtlich legitimationsbedürftig und nicht einfach fraglos gesetzt. Daraus folgt, dass es diesem Familienmodell als solchem an normativer Gültigkeit mangelt: es kann gewissermassen aus methodischen Gründen vorübergehend geduldet werden, um ein Ar- beitsbündnis mit der Familie zu ermöglichen, aber es ist nicht in gleicher Weise legitim wie ein nicht-patriarchales System. Zweitens schafft der Bezug auf die Rechtslage Eindeutigkeit und entlastet den Sozialarbeiter von der Notwendigkeit einer eigenen normativen Begründung. Zu- gleich bewahrt die eindeutige Gesetzeslage die Fachkräfte davor, in die Selbstbestimmung der Klienten eingreifen zu müssen – was nicht verboten ist, kann akzeptiert werden, ohne dass sich die Professionellen für die Akzeptanz der unter hiesigen normativen Gesichtspunkten fragwürdi- gen Familienform rechtfertigen müssten. Zugleich hat die Familienhilfe aber, wie schon gezeigt, eine Integrationsaufgabe und vor diesem Hintergrund kann sie sich den Normkonflikten um sozial 36 und kulturell unterschiedliche Erziehungspraktiken nicht so einfach entziehen, zumal in den meis- ten Konfliktsituationen keine eindeutige Entscheidungsgrundlage zur Verfügung steht. Vielmehr wirkt die Familienhilfe als Kulturvermittlerin mit assimilierender Stossrichtung. Der folgende Aus- schnitt aus einer Gruppendiskussion illustriert die Komplexität der normativen Bewertung: Ich habe eine syrische Familie, da will der Vater die Tochter so stark kontrollieren. Weil ich den- ke, der muss die Tochter schützen, falls sie zurück nach Syrien gehen, ist sie so verdorben, dass sie dort keine Zukunft mehr hat. Und was ich jetzt da für mich denke, muss ich in so einer Zeitperspektive jetzt anlegen, dass ich so geduldig sein muss, dass der Vater wirklich lernt, Ver- trauen zu erhalten, dass ich die Tochter nicht schlecht beeinflusse, weil ich zumindest einmal eine Frau bin. Oder auch die Kontrolle im Moment, muss ich [der Tochter] sagen, du musst sie noch aushalten. (…) Du kannst nicht jedes Mal abhauen von zu Hause, ich platziere dich, du gehst wieder heim. Das kann nicht die Zukunft sein. Sondern sie muss lernen diese Kontrolle, im Moment ist diese trotzdem noch zu ertragen, irgendwo bis es geht, bis der Vater dann auch diesen Schritt macht. (…) Vielleicht sind wir dann in zwei Jahren dort. Diese Geduld muss man dann wirklich aufbringen, weil man das System so aus dem Gleichgewicht bringt, wenn man einfach findet: Die ist 16, die darf, sie ist hier in der Schweiz. Und sie ist aber 14 Jahre lang in Syrien gewesen. Und das geht für niemanden auf, irgendwo. (Gruppendiskussion Fam_2) Neben gesetzlichen Grundlagen dient vor allem das Kindeswohl als bestimmendes Moment für akzeptable Differenz: erlaubt ist unter diesem Blickwinkel, was die leibliche und psychosoziale Integrität von Kindern und Jugendlichen nicht gefährdet. Allerdings ist der Kindeswohlbegriff ebenfalls wieder auslegebedürftig und bis zu einem gewissen Grad kulturgebunden; folglich hebt der Massstab des Kindeswohls den Normkonflikt zwischen Anerkennung von Differenz und As- similation nicht auf (vgl. Kap. 6.2). Schliesslich orientieren sich die Sozialarbeitenden in der Fa- milienhilfe gleichsam an der gesellschaftlichen Funktionsfähigkeit der Klientel: differente Erzie- hungspraktiken und Familienformen können so weit toleriert werden, wie die Familien einigerma- ssen konfliktfrei mit sich und ihrem Umfeld existieren „und sich eben nicht mehr an Normen, Wer- ten oder Gesetzen reiben oder stossen“. Die Familienhilfe hat also die Funktion, die gesellschaft- lich definierte Normalität in Bezug auf die leibliche und psychosoziale Integrität von Kindern und Jugendlichen wiederherzustellen und dadurch auch die normative Ordnung der Gesellschaft auf- rechtzuerhalten. Die Institutionen in diesem Handlungsfeld bewegen sich mithin aufgrund ihrer institutionellen Funktion respektive der behördlichen Mandatierung primär auf der Seite der As- similation. Hingegen ist im Praxisfeld der Hilfe für Opfer von häuslicher Gewalt aus der Logik des eigenen Mandats heraus eine stärker differenzanerkennende Haltung auszumachen. Insbesondere die beiden Frauenhäuser fühlen sich der Ermächtigung ihrer Klientinnen und damit auch zur Eman- zipation aus einem hierarchischen Geschlechterverhältnis verpflichtet. Aus dem Arbeitsprinzip der Parteilichkeit und dem entsprechend hohen Wert von Selbstbestimmung ergibt sich der Ak- zent auf die Respektierung von Differenz. Besonders ausgeprägt ist diese Haltung im kulturrelati- vistischen Ansatz, der in einem der Frauenhäuser vertreten wird. Eine konsequente relativisti- sche Position impliziert die Anerkennung von Entscheidungen, die den durch fachliche oder per- sönliche Normen begründeten Vorstellungen der Sozialarbeiterinnen zuwiderlaufen. Entspre- chend akzentuiert stellt sich in diesem Handlungsfeld der Normkonflikt dar, wenn Klientinnen in die von Gewalt geprägte Familie respektive Paarbeziehung zurückkehren. Durch die Rückkehr der Frauen wird nämlich deren Ermächtigung zu Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit im Alltag in der hiesigen Gesellschaft unterlaufen, die im feldbezogen ebenso zentralen Empower- ment-Ansatz angelegt ist. Denn der Aufenthalt im Frauenhaus ist über den temporären Schutz 37 vor Gewalt hinaus auch alternativer Erfahrungsraum für die Klientinnen gedacht, in welchem die- se direkt mit selbstbestimmten Lebensentwürfen für Frauen konfrontiert werden. Sozialarbeiterin: Eben einfach eine andere Möglichkeit, eine andere Sichtweise. Vielleicht mehr, als was sie von zu Hause kennt, sondern mehr ihr noch etwas anderes aufzeigen, es gibt noch andere Lebensvarianten, es gibt so. Ich finde das so wertvoll. Forscherin 1: Wenn Sie das Andere, in Anführungszeichen, noch ein wenig ausformulieren müssten, mit welchen Worten würden Sie das machen? Sozialarbeiterin: Keine Ahnung, jemand der homophob, dort zu schauen oder jungen Frauen, die darauf getrimmt sind, keine Ahnung, Nageldesignerin oder Friseurin zu werden, auch Mal zu sagen, he, du hast doch noch ganz viele Fähigkeiten, da gibt es noch ganz andere Berufe oder du musst dich als Frau nicht unterordnen lassen können. Einfach wie so andere Bilder zu zei- gen, das ist auch möglich. Forscherin 2: Dass sie dann wählen können. Sozialarbeiterin: Genau, nach dem habe ich gesucht. Dass sie vielleicht möglichst eine Wahl mehr haben oder einen Blickpunkt mehr. Und vieles wissen sie ja instinktiv auch. Weil sie es sehen, irgendwo. Sie sind ja nicht abgeschottet, sie leben ja nicht irgendwo. Es sei denn sie sind erst seit einem dreiviertel Jahr in der Schweiz und haben nirgends Kontakte. Aber sie wis- sen, es gibt andere Modelle, so. Ja, ich würde ihnen gerne einfach eine Wahlmöglichkeit anbie- ten. Weil ich aber auch weiss, dass die Möglichkeiten nicht immer hoch positiv sind. Und was ich finde, was dann auch wieder für mich irgendwann darin zurückgeführt habe, dass sie genau in diese Sicherheit der Nichtwahl zurückgehen. Weil das einfacher ist, in die Sicherheit der Nichtwahl gehen. (Gruppendiskussion FH_1) Kehrt die Klientin (vorzeitig) in ihr altes Umfeld zurück, wird sie gleichsam von den Entwick- lungsmöglichkeiten abgeschnitten, die ihr im Frauenhaus vorgelebt werden. Selbst wenn die Kli- entinnen in ihr altes Leben zurückkehren, so die Hoffnung, wirkt aber die Erfahrung nach. So gesehen, wird der angestrebte Emanzipationsprozess durch die Rückkehr zwar unterbrochen oder verlangsamt, aber nicht vollständig gestoppt. Wie die oben zitierte Sozialarbeiterin an ande- rer Stelle in der Diskussion meint: Es gibt so ein Sprichwort: Du kannst nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Sobald du einmal das System unterbrochen hast, weggegangen bist, ist eine Veränderung da. (Gruppen- diskussion FH_1) In der Hoffnung auf eine durch den Frauenhausaufenthalt angestossene sozusagen selbstläufige Entwicklung in Richtung Emanzipation wird das Dilemma zwischen Anerkennung von Differenz und Assimilation gewissermassen ohne aktives Zutun der Sozialarbeiterinnen zugleich bewahrt und aufgelöst. Die Spannung besteht insofern weiterhin, als die Sozialarbeiterinnen im Moment der Rückkehr der Klientin in ein unterdrückerisches Gewaltverhältnis keine direkte Eingriffsmög- lichkeit haben. Insofern der während des Aufenthalts gepflanzte Samen der Emanzipation wei- terwächst, vollzieht sich die Annäherung der Klientin an das Ideal der selbstbestimmten Frau von selbst. In der Schuldenberatung ist der Normkonflikt zwischen Anerkennung von Differenz und Assimila- tion nicht auf den ersten Blick virulent. Zum einen sind kulturelle und soziale Differenzen weniger prominent als in den anderen Institutionen, weil die Klientel mehrheitlich aus Schweizern und gut integrierten Migrantinnen und Migranten aus der Mittelschicht besteht. Anderseits bezieht sich der Auftrag, wie gezeigt, in erster Linie auf die Bewältigung der Überschuldung und unter diesen Umständen steckt primär das finanzielle Budget den Rahmen für die Akzeptanz von Lebensent- würfen und Verhaltensweisen ab. Die Klientinnen und Klienten der Schuldenberatung müssen sich nicht unbedingt gesellschaftlichen Normen anpassen oder sich soziokulturell assimilieren, 38 aber sie haben sich – sofern sie an weiterer Unterstützung seitens der Schuldenberatung inte- ressiert sind – den budgetbezogenen Restriktionen im Hinblick auf die Schuldensanierung zu unterwerfen. Divergierende Geschlechternormen werden eher am Rand registriert, aber nicht als Konflikt beschrieben, dem sich die Fachkräfte unweigerlich stellen müssen. Die Sozialarbeiten- den mögen sich empören, wenn die Frau das ganze Haushalteinkommen erwirtschaftet und der erwerbslose Mann sich als „Chef“ aufspielt und auf einem Auto beharrt, aber die Krankenkassen- prämien nicht bezahlt oder ein Süditaliener partout seine Frau nicht in die Beratung mitbringen will. Sie sehen es aber nicht als ihre Aufgabe, die Klienten zum „Überdenken“ ihrer Geschlechter- rollen zu motivieren, wie dies in der Familienhilfe erwähnt wurde. Im Fall des „Chefs“ ist die Sozi- alarbeiterin zwar perplex über die Deutlichkeit, mit welcher der Klient die Geschlechterasymmet- rie in seiner Familie benennt, löst dann die Situation aber mit Humor auf: In diesem Fall habe ich einen Witz gemacht und wir haben nachher alle gelacht, das ist dann ir- gendwie so, aber das hat mich schon noch beschäftigt. Er geht dann nach Hause, seine Kinder sind nicht krankenversichert, seine Frau ist nicht krankenversichert aber die Frau ist die, die das Haupteinkommen generiert. (Gruppendiskussion SB_2) Mit dem Witz wird der Konflikt mit dem Klienten entschärft, dessen Haltung damit ratifiziert wird. Die Sozialarbeiterin ist hingegen weiterhin mit dem Normkonflikt „beschäftigt“. 39 6. Bearbeitung von Normkonflikten In der Sozialarbeitspraxis sind normative Dilemmata unumgänglich (Schütze 1996). Sie äussern sich, wie in Kap. 5 vorgeführt, in institutionenspezifischen Formen: je nach Mandat und Rahmen- bedingungen stehen typischerweise andere Konflikte im Vordergrund. Die Normkonflikte werden von den Sozialarbeitenden als psychische Belastungen erlebt, die sich aus der Erfahrung ergibt, die Klientel nicht vor falschen Entscheidungen bewahren zu können (vor selbstschädigendem oder die eigenen Potenziale einschränkendem Verhalten). Insbesondere im Feld der Arbeit mit Gewaltopfern sprechen die Sozialarbeitenden von der Notwendigkeit derartige Situationen „aus- halten“ zu müssen. Die Analyse unseres Datenmaterials zeigt institutionenübergreifend, dass jedoch eine grundsätzliche Reflexion von Werten und Normen im beruflichen Alltag eher selten stattfindet. Wenn die Durchsetzung von Normen zur Disposition steht, beziehen sich die Ausei- nandersetzungen in der Regel auf die Diskussion von Einzelfällen im Rahmen von informellem oder formellem Austausch im Team. Die Möglichkeiten des organisationsinternen Austauschs über konkrete Fälle reichen von einer informellen „Kultur der offenen Bürotür“ bis zu regelmässi- gen formellen Fallbesprechungen (z.B. mit Vorgesetzten), Intervisionen und Supervisionen. Die normativen Positionen der Institutionen sind zwar in Leitbildern und Konzepten verankert, in den Orientierungen der Sozialarbeitenden in konkreten Konfliktsituationen schlagen sich diese aber nicht signifikant nieder. In den Gruppendiskussionen zeigte sich, dass die Leitbilder kaum eine Orientierungsfunktion im berufspraktischen Alltag haben. Eher werden sie als nicht besonders alltagsrelevante institutionelle Selbstdarstellung betrachtet, und sie sind auch nicht zwingend allen Mitarbeitenden bekannt. Je weiter weg die Leitbilder von der Ebene Fallarbeit angesiedelt sind, desto geringer scheint ihre Bedeutung für die Praxis zu sein. So sind insbesondere jene Leitbilder, die auf einer institutionell übergeordneten Ebene verortet sind (z.B. der Trägerschaft), handlungspraktisch kaum relevant. Gesättigt wird dieser Eindruck überdies dadurch, dass den Leitbildern und Konzepten in den Expertengesprächen mit den Leiterinnen und Leitern der Insti- tutionen gemeinhin ein grösserer Stellenwert eingeräumt wurde als in den Gruppendiskussionen mit den Sozialarbeitenden, die unmittelbar mit der Klientel arbeiten. Im Allgemeinen scheinen Leitbilder und Konzepte zu abstrakt zu sein, um eine Orientierung in konkreten Konfliktsituationen bieten zu können. Dies gilt auch für den Berufskodex, der in einer Gruppendiskussion explizit als zu abstrakt und in konkreten Konfliktsituationen als wenig hilfreich bezeichnet wurde. Sicherlich ist die begrenzte Auseinandersetzung mit Wert- und Normfragen der Hektik des All- tagsgeschäfts geschuldet. Eine gewisse Skepsis gegenüber einer abstrakten Diskussion über Normen, wie sie in den reflektierenden Workshops mit den untersuchten Institutionen zum Aus- druck kam, ist aber ebenso im unhintergehbaren Fallbezug der Sozialarbeitspraxis begründet. Empirisch sind die befragten Sozialarbeitenden überzeugt, dass jeder Fall anders sei und es folg- lich keine verallgemeinerbaren Lösungen für normative Dilemmata gebe. Theoretisch lässt sich diese Überzeugung wie erwähnt mit der Notwendigkeit des Einzelfallbezugs in der Sozialen Ar- beit begründen. Vor diesem Hintergrund wird plausibel, dass die Sozialarbeitenden Normkonflik- te nicht auf abstrakter Ebene losgelöst vom Einzelfall betrachten wollen. Aus soziologischer Sicht lassen sich in den diskutierten Umgangsweisen natürlich dennoch allgemeine Muster erkennen, die nachfolgend vorgestellt werden. Zwei der identifizierten Strategien markieren effektiv den Gegensatz von Einzelfallbezug und Standardisierung, nämlich Formen der Kompromissbildung (6.3.) einerseits und Versuche der Objektivierung anderseits (6.4). Die beiden anderen Muster bewegen sich im Spannungsfeld von (überhöhter) Autonomie (6.1) und paternalistischem Ein- greifen (6.2). 40 6.1 Die Strategie der Responsibilisierung Die Zentralnorm der Autonomieförderung impliziert Handlungsanforderungen an die Professionel- len, aber auch an die Klientel, denen der Wille zur Wahrnehmung des Autonomieangebots abver- langt wird (vgl. Kap. 4.1). Am Autonomiegebot schliesst denn auch die wichtigste Strategie im Umgang mit Normkonflikten an: die Zuweisung von Verantwortung für Entscheidungen und deren Konsequenzen an die Klientel selbst. Darin lässt sich, zumindest insofern diese Strategie nicht in eine fallübergreifende emanzipative Praxis eingebettet ist, eine Analogie zu neoliberalen Strate- gien der Responsibilisierung feststellen (Kessl/Otto 2002; Seelmeyer 2008). Responsibilisierung stellt eine regierungsförmige Machttechnologie dar, die den Subjekten „einen aktiven Part bei diesem ihrem Regiertwerden“ (Rose 2000: 78, Hervorhebung i.O.) zuweist. Sie sind in dem Sinne relativ autonom, als sie nur indirekt durch die Anordnung von Handlungsoptionen geführt werden, die systematisch mit negativen oder positiven Konsequenzen verknüpft sind (Foucault 2004: 370f.). Anderseits ist die Selbstführung in Herrschaftsstrukturen eingebettet und an Techniken der Fremdführung gekoppelt. Die Strategien zur Bewältigung von Normkonflikten der untersuch- ten Institutionen lassen sich in diesem dialektischen Spannungsfeld von Selbst- und Fremdfüh- rung verorten. Der Rekurs auf Autonomie und Eigenverantwortung drückt sich in der Strategie der Responsibilisierung aus, die Disziplinierungslogik findet sich in der paternalistischen Rationa- lität (vgl. 6.2). In methodischer Hinsicht wird die Seite der Responsibilisierung durch den Empowerment-Ansatz unterfüttert, denn die Ermächtigung der Klientel zur autonomen Bewältigung des Alltags kann von den Sozialarbeitenden nur angestossen werden, muss aber von den Adressatinnen aufgenom- men und umgesetzt werden. Empowerment setzt zunächst die Erarbeitung neuer und erweiterter Handlungsmöglichkeiten voraus und dies erfordert wiederum Information sowie die Bereitstellung von Ressourcen respektive die Förderung von Kompetenzen. Responsibilisierung beginnt mit der Technik des „Aufzeigens“ von Handlungsoptionen. Aufzeigen hat zwei Spielarten: zum einen werden der Klientel positiv gewertete Alternativen zu ihren bisherigen Handlungsroutinen vorge- stellt, zum anderen werden die negativen Konsequenzen einer selbst gewählten Handlungsweise dargelegt, um sie von unerwünschtem Verhalten abzuhalten. Vor allem in stationären Einrichtun- gen, in denen die Klientinnen einige Zeit gleichsam rund um die Uhr unter sozialpädagogischer Begleitung verbringen, wird positives Aufzeigen als Modelllernen konzipiert: Wenn [eine Klientin] findet, ich will ein Kopftuch tragen, ich will mit 18 mein erstes Kind, ich will sieben Kinder, was auch immer und sie sagt ich möchte das, dann ist das okay. So und dort sagen wir nicht, nein also das ist ja, nein, nein also das ist falsch, das sagen wir nicht oder. Wir versuchen dann einfach zu sagen, schau, wenn du das willst, das ist das okay. Es gibt die, oder, du siehst auch hier im Haus, siehst du die verschiedensten Lebensentwürfe, die sind alle mög- lich. Ähm und deiner steht, wie alle anderen, steht der hier und der ist okay, wenn du das willst. (...) Und das kann sein, dass so eine junge Frau nach drei Monaten sagt, ich habe da jetzt et- was anderes gesehen, ähm, ich habe gesehen, dass ich auch alleine etwas wert bin, oder. Es hat ja oft mit, mit Wertigkeit zu tun. Ich bin dann etwas, wenn [ich] dem und dem entspreche. Und dann sieht sie drei Monate lang, dass es auch andere Formen geben kann und dann plötz- lich findet, ähm ich bin einfach etwas wert weil ich ich bin. (...) Schön. und sie kann sich trotz- dem entscheiden, ich heirate mit 18, ich habe mit 18 ein Kind, ja ist okay. (Expertinneninterview FH_1) Das hier konstruierte Beispiel der 18-Jährigen, die sich sieben Kinder wünscht und ein Kopftuch tragen will, markiert gleichsam die Antithese zur modernen unabhängigen Frau. Die hypotheti- sche Klientin in diesem Zitat setzt quasi exzessive Mutterschaft vor Ausbildung und Erwerbstätig- 41 keit und wählt freiwillig das Kopftuch, das in öffentlichen Debatten oft als Symbol für weibliche Unterwerfung gilt. Dennoch konzediert die Beraterin, dass eine solche Option „okay“ sei. Damit kommt in dieser Interviewpassage zum Ausdruck, dass das Aufzeigen von Optionen mit dem Prinzip der Parteilichkeit verbunden ist. Parteilichkeit verpflichtet die Sozialarbeitenden die Ent- scheidungen der Klientinnen zu akzeptieren, scheinen sie aus Sicht der Sozialarbeiterinnen noch so abwegig. Der Wille der Klientel ist „massgebend“. Die Fachkräfte sind verpflichtet, die „Konse- quenzen aufzuzeigen (…), die eine Entscheidung nach sich ziehen kann (…) und dann einfach den Weg mitzugehen, [für den die Klientinnen] sich entscheiden“. Gemäss der Rationalität der Responsibilisierung werden die Vor- und Nachteile respektive die Konsequenzen der Entschei- dungsmöglichkeiten dargelegt, es bleibt aber letztlich der Klientel überlassen, wofür sie optieren. Gleichzeitig müssen sich die Klienten und Klientinnen dann jedoch auch die Folgen ihrer Ent- scheidungen selbst zurechnen. Insbesondere wenn Normkonflikte im Raum stehen, wird die Relevanz der Konfrontation der Klientinnen „mit der Realität“ betont. So werden z.B. die Klientin- nen der Frauenhäuser über das Gefährdungspotential und zu erwartende staatliche Interventio- nen im Falle einer Rückkehr zum gewalttätigen Partner aufgeklärt (v. a. KESB, Polizei). Eine distanziertere Form des Aufzeigens findet sich in der Schuldenberatung. Hier lassen sich die Handlungsoptionen im wörtlichen Sinne rational kalkulieren: Wir fangen ja nicht an zu streiten, dann sage ich [dem Klienten] einfach, hören Sie, ich kann Ihnen leider nicht helfen, wenn Sie Ihr Auto behalten wollen, dann wird es halt zu Betreibungen kommen und das Betreibungsamt wird das dann schon regeln. Ich kann ja nicht mit den Gläu- bigern verhandeln. Wenn Sie halt das Auto haben, ist in dem Budget gar nichts übrig. Sie müss- ten leider auf dieses Auto verzichten, dann hätten wir eine Quote, die wir den Gläubigern anbie- ten könnten um die Schulden zu tilgen. Aber im Moment ist das nicht möglich, eben wegen dem Auto. (Experteninterview SB_1) Hier werden dem Klienten ein Lösungsansatz präsentiert und gleichzeitig die negativen Folgen für den Fall, dass er diese Lösung verwirft. Der Berater legt dem Klienten die Alternativen auf den Tisch, verzichtet aber auf weitergehende Überzeugungsarbeit – er fängt nicht an zu streiten. Ebenso verhält er sich neutral zur Möglichkeit, dass der Klient uneinsichtig bleibt, nicht auf das Auto verzichtet und so den Erfolg der Beratungsarbeit gefährdet. Dies ist anders in den Institutio- nen der Familienhilfe, wo Responsibilisierung fliessende Übergänge zu Disziplinierung aufweist. So wird Eltern z.B. zu Beginn einer Familienbegleitung ein „entwicklungspsychologischer Input“ gegeben: „Was brauchen die Kindern in diesem Alter, wie sehen wir das als Schweizer, was sie brauchen.“ Insofern man in der betreffenden Institution grundsätzlich davon ausgeht, dass alle Eltern gewisse Erziehungskompetenzen mitbringen, wird zunächst abgewartet, ob diese ihr Verhalten mit Hilfe der Beratung in die gewünschte Richtung verändern. Wenn dies allerdings nicht in genügendem Ausmass geschieht, „muss man über eine Platzierung von Kindern sprechen“. Den Eltern wird hier (und in der anderen Familienhilfeinstitution) nicht wie in der Schuldenberatung die Freiheit des unvernünftigen Handelns zugestanden. Vielmehr zieht die Wahl der falschen Handlungsalternative einen paternalistischen Eingriff nach sich, der mit dem Wohl der betroffenen Kinder begründet wird (vgl. Kap. 6.2). Die Konsequenzen der aufgezeigten Optionen markieren also die Schnittstelle zwischen Responsibilisierung und Disziplinierung: Während sich die Strategie der Responsibilisierung da- rauf beschränkt, die Klientel auf die Konsequenzen ihres Tuns und Lassens hinzuwiesen, um letztlich auch ihr die Entscheidung zu überlassen, werden auf der disziplinierungslogischen Seite darüber hinaus unter Umständen Massnahmen gegen den Willen der Klientinnen und Klienten 42 ergriffen. Inwiefern die Sozialarbeitenden überhaupt disziplinierungslogisch vorgehen können, hängt massgeblich davon ab, ob die Beratungsangebote auf Freiwilligkeit beruhen oder nicht. Insbesondere in den beiden Schuldenberatungsstellen betonen die Sozialarbeitenden, dass die Klienten ohne weiteres die Beratung abbrechen können, wenn sie mit den vorgeschlagenen Lö- sungswegen nicht einverstanden sind. Freiwilligkeit bietet so beiden Parteien die Möglichkeit einem Konflikt auszuweichen. Das Wissen um die einfache Rückzugsmöglichkeit der Klientel enthebt die Sozialarbeitenden von der Notwendigkeit von mühseligen, immer vom Scheitern be- drohten Aushandlungen, um die Klienten von einer Verhaltensänderung zu überzeugen. Der Re- kurs auf Freiwilligkeit bedeutet dennoch nicht, dass die Sozialarbeitenden in der Schuldenbera- tung gänzlich von pädagogischer Einflussnahme im Hinblick auf Verhaltensänderungen absehen. Sie versuchen durchaus Strategien zu entwickeln, wie die Klientel sich einerseits hinsichtlich der Lebenshaltungskosten einschränken, wie sie andererseits Mehreinnahmen erzielen können (kurzfristig z.B. mit einem Stellenwechsel, mittelfristig mit einer Berufsausbildung), und sie zeigen Alternativen zur gegenwärtigen Lebenssituation auf. Da sie aber über keine Zwangsmittel verfü- gen, können sie nur etwas erreichen, wenn die Klientinnen auch selbst dazu bereit sind. Die Stra- tegie der Responsibilisierung entlastet letztlich die Sozialarbeitenden von ihrer eigenen Verant- wortung. Wenn sie „nicht diejenigen [sind], die sagen, was richtig und was falsch ist“, müssen sie „zum Glück nicht [selber] entscheiden“. Die strukturelle Kehrseite der Freiwilligkeit ist die relative Ohnmacht der Beraterinnen und Bera- ter, die deswegen auch „Fehlentscheidungen“ der Klientel aushalten müssen. Diese gefühlte Ohnmacht ist zum einen sicherlich erfahrungsgesättigt, zum anderen bietet sie auch eine Legiti- mation für die einseitige Responsibilisierung der Klientel. Besonders drastisch kommt dies in ei- nem Fall aus der Schuldenberatung zum Ausdruck. Es handelt sich um eine tamilische Familie, in der die erwachsenen Kinder sich selbst einschränken, um den Kredit der Mutter bei einem informellen tamilischen Geldverleiher zurückzuzahlen: Sozialarbeiterin 1.: Ja, die haben ein Geldsystem, also ich kenne es auch nicht genau, die stel- len ihren Leuten Geld zur Verfügung. In diesem Fall war es, um ein Lädeli zu führen und ja, das wird nachher wieder eingetrieben und da ist man dann nicht unzimperlich, das kann dann auch mit körperlicher Gewalt weitergehen. Also es ist die Mutter hier gewesen mit den beiden Kin- dern und beide Kinder haben gesagt, für uns ist klar, wir arbeiten voll, wir wollen dass dieser Kredit möglichst schnell zurückbezahlt wird für unsere Mutter. Und die gehen einfach arbeiten und stellen die Berufslehren hinten an, damit dieser Kredit schnell abbezahlt wird und es ist selbstverständlich dass sie diesen Kredit zahlen. Forscher: Begleiten Sie dann so einen Fall? Sozialarbeiterin 1: Ich habe keine Möglichkeit. Also ich meine, was will ich sie begleiten? Ich kann sie über ihre Rechte aufklären, aber wenn sie das auch nicht in Anspruch nehmen wollen (…) Das ist ja eh unser Job, das Zeug sechsmal sagen müssen. Und signalisieren, dass sie je- derzeit wieder kommen können. Aber was, also was will ich begleiten. Forscher: Könnten Sie das auch melden? Sozialarbeiterin 1: Wem möchte ich, wem könnte ich das melden? Der Polizei? In wessen Inte- resse? Forscher: Der KESB? Sozialarbeiterin 1: Das sind Erwachsene, das sind junge Frauen und Männer. Forscher: Aber das ist so am Rand derer Legalität? Sozialarbeiterin 1: Das ist klar illegal. Forscher: Dann könnte man es ja eigentlich der Polizei melden. Sozialarbeiterin1: Sicher und das wissen sie ja auch, dass sie das könnten. // Sozialarbeiterin 2: Aber Schweigepflicht// 43 Sozialarbeiterin 1: Aber sie wollen das nicht machen // Forscher: Oder Meldepflicht? Sozialarbeiterin 2: Wir müssen beachten, körperliche Gewalt ist im Spiel. Was heisst das, wenn auskommt, dass es gemeldet worden ist. Wer leidet danach darunter? Also ich finde es noch schwierig, einfach gerade sofort eine Meldung an die Polizei: Dort wird ein illegales Geschäft gemacht. Sozialarbeiterin 3: Also wir können nicht mehr versuchen, als unser Klientel zu befähigen, sie zu stärken und ihnen zeigen, wo ihre Schutzmöglichkeiten, also in diesem Fall, was sie für Schutzmöglichkeiten haben. Das haben sie aber alles schon gewusst. (Gruppendiskussion SB_2) Offensichtlich ist die Rechtslage in diesem Beispiel unsicher: hat die Beratungsstelle eine Schweige- oder im Gegenteil eine Meldepflicht? Ist sie berechtigt, ein kriminelles Handeln zum Schaden ihrer Klientel zur Anzeige zu bringen oder würde sie diese damit erst recht in Gefahr bringen? Die Sozialarbeiterin 2 scheint in ihren Überlegungen das kriminelle Handeln auf das „illegale Geschäft“ zu beziehen, das zur Anzeige gebracht werden könnte. Aus diesem Blickwin- kel steht die finanzielle Seite im Vordergrund: dass die Klienten ihre eigenen Lebenschancen einschränken, um im Interesse der Mutter einen Kredit eines vermutlich illegal operierenden Geldverleihers zu bedienen. Das Problem wird damit als Frage der Selbstbestimmung von Er- wachsenen gerahmt so wie der bereits thematisierte extreme Konsumverzicht anderer Klienten. Damit bleibt für die Beraterin nur der Weg übrig, die Klienten über ihre Rechte aufzuklären und „das Zeug sechsmal (zu) sagen“. Würde man das illegale Handeln jedoch auf die vermutete Kör- perverletzung beziehen, stünde die Frage eines paternalistischen Eingriffes zum Schutz der Fa- milie (und weiterer potenzieller Opfer des illegalen Geldverleihers) sehr viel dringlicher im Raum. Responsibilisierung kann sich darauf beschränken, Sachverhalte auf den Tisch zu legen und Informationen zu den Voraussetzungen und Konsequenzen von Handlungsalternativen zu geben, damit die Klientel eine solide Entscheidungsgrundlage hat, dann aber mit den Folgen alleine fer- tig werden muss. In vielen Fällen wäre ein solches Vorgehen der strukturlogisch eingeschränkten Handlungsfähigkeit der Klientel nicht angemessen (vgl. Kap. 5.3). Die untersuchten Institutionen unterscheiden sich denn auch deutlich in Bezug auf die Verantwortungsteilung zwischen Berater und Klientin. Insbesondere in den Institutionen für Gewaltopfer wird darauf hingearbeitet, den Klientinnen und Klienten nicht nur Optionen aufzuzeigen, sondern sie auch zu befähigen, Optio- nen überhaupt wahrnehmen zu können. Die Übergabe von Verantwortung wird zudem sozialpä- dagogisch begründet: Die Betroffenen sollen „wieder die Gewalt über sich und Macht über sich“ bekommen. Dazu ist es notwendig, „dass sie entscheiden können“ und auch immer wieder darin bestärkt werden, dass es „ihr Entscheid“ ist. Von den Sozialarbeitenden werden sie dabei beglei- tet; diese stehen für Fragen zur Verfügung und geben Informationen. Die Opfer von häuslicher Gewalt werden dazu ermutigt, Entscheidungen zu treffen respektive das Leben (wieder) selbst zu gestalten. Dies bedingt, dass sie über ihre Handlungsoptionen Bescheid wissen und sich ihren Gestaltungsmöglichkeiten bewusst sind. Bezeichnend dafür ist die erste Aussage in der Grup- pendiskussion in einem Frauenhaus auf die Frage nach der zentralen normativen Orientierung: Ermächtigung durch Aufklärung, Ermutigung, Kompetenzstärkung. In der Beratungsarbeit ist es wichtig, dass die Klientin mehr weiss über ihre Situation (…) und dass sie die Verantwortung übernehmen kann. Es gibt Klientinnen, die brauchen mehr Informa- tionen, weil sie nichts wissen. Zum Beispiel kommen sie mit der Aussage: Mein Mann will meine Kinder nehmen. Und sie sind sicher, dass das so sein wird. Und da beginnen wir fast von null sie über ihre Rechte, was kann sie als Mutter, was kann sie als Frau hier erreichen.“ (Gruppen- diskussion FH_2) 44 Über die Formulierung „Verantwortung übernehmen kann“ wird in diesem Zitat deutlich, dass die Übernahme von Verantwortung als Ziel definiert wird, dem ein Ermächtigungsprozess im Sinne der Aufklärung über ihre Rechte und Möglichkeiten vorauszugehen hat. In solchen Prozessen wird den Klientinnen einerseits durch Beratung das Feld von Handlungsoptionen aufgezeigt. So erfahren sie, welche Möglichkeiten ihnen für die weitere Gestaltung ihres Lebens offen stehen. Die Beratung dient neben der Informationsvermittlung auch einer Entschleunigung der Entschei- dung der Klientin. Diese soll nicht aus einer momentanen Stimmung heraus den schwerwiegen- den Schritt zurück vollziehen sondern allenfalls erst nachdem sie über ihre tatsächlichen Hand- lungsmöglichkeiten aufgeklärt wurde.28 Andererseits werden sie in dieser Institution durch Ange- bote der „Kompetenzentwicklung“ (Deutschkurs, Selbstverteidigung, kreative Tätigkeiten) dazu ermächtigt, ein selbstbestimmtes und eigenständiges Leben zu führen. Im ambulanten Bereich gibt es zwar keine expliziten Angebote der Kompetenzentwicklung, aber auch hier wird Empowerment betrieben. Im Zuge von längerfristigen Beratungen werden die Kli- entinnen zu einem selbstständigen Leben in der hiesigen Gesellschaft befähigt, indem ihnen im Rahmen der Beratung und mit Hilfe von anderen Stellen das nötige „Knowhow“ vermittelt wird. Aber auch dass sie es wirklich nicht wissen, also dass sie nicht genau wissen, Krankenkasse wie geht das überhaupt, was mache ich mit den Rechnungen, was ähm, wie überweise ich meine Miete. Also es sind ganz praktische Sache, die sie auch wirklich nicht wissen (…) Okay, ähm Migranten die dann solche Schritte tun und sich doch irgendwie trennen oder überlegen sich zu trennen, versuche [ich] Wege aufzuzeigen wie sie an welche Stelle oder auch an uns angehängt bleiben können, um ganz viel Knowhow zu erlangen, um diese Schritte zu machen. Tatsächlich sind im häuslichen Bereich die Frauen auch lange und regelmässig bei mir in Bera- tung, bis sie sozusagen, ja auf dem Weg sind, selbstständig sind, ja. (Gruppendiskussion OB). Hier verdeutlicht sich nochmals die Strategie der Responsibilisierung, indem den Klientinnen die Entscheidung überlassen wird, ob sie die von Gewalt geprägte Beziehung beenden oder nicht. Andererseits kommt erneut ganz klar zum Ausdruck, dass ein eigenständiges Leben ausserhalb des Abhängigkeitsverhältnisses der Familie respektive Paarbeziehung Empowerment bedingt und dass dies ein Prozess ist, der Zeit benötigt. Responsibilisierung bedeutet insofern anzuer- kennen und gegenüber den Klientinnen transparent zu machen, dass der Ausbruch aus einem Leben in einer Abhängigkeitsbeziehung die Bereitschaft voraussetzt, Verantwortung für das ei- gene (Über-)Leben ausserhalb dieses Ungleichheitsverhältnisses zu übernehmen. Wie im fol- genden Zitat zum Ausdruck kommt, stellt das für einige Frauen eine hohe Klippe dar: Zum Beispiel wenn eine Frau keine Erfahrung hat in der Arbeitswelt, sie hat keine Ahnung wo- her kommen die, wer trägt die Kosten. Und wenn sie dann die Information bekommt, dass sie zur Arbeit gehen muss, dass sie die Miete bezahlen muss, sie muss ihre Transportkosten be- zahlen, kommen sie in die Krise. Und weil sie denken, dass es zu viel Arbeit ist, für einige ist es entscheidend dann zurückzugehen. Lieber ein wenig geschlagen zu werden, aber nichts zu tun haben, mit allen diesen Dingen. Und das betrifft dann Schweizerinnen und Ausländerinnen. (Gruppendiskussion FH_2) An dieser Stelle wird das Prinzip der Parteilichkeit virulent. Denn gerade bei der Rückkehr in die Gewaltbeziehung ist es erforderlich, die Entscheidung der Klientin zu akzeptieren und vor allem ihren Weg mitzugehen: 28 Im einen Frauenhaus müssen die Klientinnen in den ersten Tagen des Aufenthalts das Handy ab- geben. Damit sollen sie in der Krisensituation vor Fremdeinflüssen und „sozialem Druck“ geschützt werden. 45 Eine Frau, die zurückgeht zu ihrem gewalttätigen Mann. Und dort hat es dort natürlich auch Sinn, wenn ich es schaffe ihr zu sagen, es ist Ihre Entscheidung und ich bin auch für Sie da, wenn Sie zurückgehen, dann behalte ich den Faden. Und vielleicht, und dann kommt die Theo- rie, man weiss es braucht manchmal mehrere Anläufe. Und vielleicht ist es dann der dritte An- lauf, bei dem sie es schafft. Und weil der Faden nicht abgerissen ist, kann sie, es ist immer eine Person da, die gleich immer mitträgt und wo sie kann und sie sich nicht schämen muss. Und beim dritten Anlauf schafft sie es vielleicht wirklich den Schritt zu machen, das würde sie aber nicht wenn ich schon beim ersten Mal finde, ja nein nein, Sie müssen sich trennen und da geht gar nichts und spinnen Sie wieder zurückzugehen, oder. Also da sehe ich dann wieder die Pro- fessionalität in dem Sinn zu bleiben, aber auch die Konsequenzen aufzuzeichnen. (Gruppen- diskussion OB) Durch dieses „Mitgehen“ unterscheidet sich die ambulante Beratungsstelle von einer der beiden stationären Einrichtungen. In diesem Frauenhaus wird im Falle einer Rückkehr der Klientin ein Notfallkonzept erstellt, das festhält, an wen sich die Rückkehrerin bei erneuter Gewalt wenden kann und welche anderen Institutionen auf die Möglichkeit von aufmerksam werden könnten und weitere Interventionen in die Wege leiten könnten. Eine eigentliche Nachbetreuung ist aufgrund des institutionellen Auftrags und der Finanzierungsmodalitäten jedoch nur in minimalem Umfang von einigen wenigen Beratungen möglich. Damit wird die Klientin nach ihrem eigenverantwortli- chen Entscheid zur Rückkehr sozusagen auf sich selbst zurückgeworfen. Demgegenüber können die ambulante Beratungsstelle und das andere Frauenhaus eine über einseitige Responsibilisie- rung hinausgehende Begleitung gewähren und „den Faden behalten“.29 6.2 Die paternalistische Logik Während erwachsene Frauen und Männer zum Teil selbst in akuten Gefährdungs- und Krisensi- tuationen als autonom begriffen und entsprechend auf sich selbst zurückgeworfen werden, gelten Kinder hingegen ebenso pauschal als schutzbedürftig. Am stärksten ausgeprägt ist die paterna- listische Logik daher in der Familienhilfe, weil in diesem Feld a priori Kinder involviert sind. Die Einrichtungen im Feld der Familienhilfe haben die Aufgabe, das leibliche und psychosoziale Wohl von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen. Die Angebote in diesem Feld sind dann indiziert, wenn Kindeswohlgefährdungen bestehen oder vermutet werden; sie basieren demnach auch nicht prinzipiell auf Freiwilligkeit. Für die Akzeptanz von Differenzen hinsichtlich der elterli- chen Erziehungspraktiken ist das Kindeswohl das entscheidende Kriterium. Das Kindeswohl ist einerseits wissenschaftlich fundiert, andererseits ist es auch soziokulturell geprägt. Das zeigt sich z.B. an einer Diskussionspassage über die kulturelle Neutralität bzw. Färbung des Kinds- wohlbegriffs, in der u.a. die Frage nach der Nähe zwischen Kindern und Eltern verhandelt wird: Ich meine wir hatten auch so eine Familie, bei der musste man auch schauen: Warum schläft dieser 13-Jährige immer noch im Zimmer oder im Bett sogar von dieser Mutter? Also eben, ist es kulturell bedingt oder hat es irgendeinen anderen Grund. Das ist für mich schon auch wichtig. Ob jetzt das Kindswohl gefährdet ist oder nicht? (Gruppendiskussion Fam_1) Obwohl in der Diskussion eine kurze antithetische Diskurspassage stattfindet, ist sich die Gruppe darin einig, dass zwischen Pathologischem (wenn das betreffende Handeln z.B. „in Richtung Partnerersatz“ gehe) und normaler herkunftskultureller Praxis unterschieden werden müsse. So sei es in der albanischen Kultur normal dass die Kinder lange bei den Eltern im Zimmer schlafen, 29 Das Frauenhaus kann im Rahmen einer „Postvention“ die Beratungsbeziehung über den Aufent- halt hinaus aufrechterhalten und so weiterhin auf einen Autonomiegewinn der Klientin hinarbeiten. 46 folglich könne man dieses Verhalten dulden: „why not“? Eine andere Beraterin will dieses "why not" nicht so allgemein annehmen und spricht sich dafür aus, genauer hinzuschauen. Die diver- gierenden Ansichten machen deutlich, dass Ermessensspielräume bestehen, die vermutlich auch innerhalb der Teams unterschiedlich genutzt werden. Stellt sich jedoch im Zuge der Abklärungen eine Gefährdung des Kindeswohls heraus, wird im Feld der Familienhilfe auf paternalistische Weise interveniert. Zunächst werden die Eltern, wie oben gezeigt, auf die Konsequenzen der aktuellen Handlungsweise hingewiesen und es werden ihnen Handlungsoptionen eröffnet. Wenn sie unverändert fortfahren, wird ihnen mit der Einleitung staatlicher Interventionen bzw. der Ein- schaltung der KESB gedroht. Hören Sie, es gibt jetzt einfach nichts mehr anderes, entweder Sie entscheiden sich für eine multisystemische Therapie (…) oder Sie sagen: Nein, (…) ich bin nicht bereit, jeden zweiten Tag jemanden bei uns im Hause zu haben, dann müssen Sie bereit sein, Ihren Sohn abzuge- ben, fremd zu platzieren (..). Sie können jetzt über das Wochenende nachdenken und mir Be- scheid geben, in welche Richtung es geht und wenn Sie das nicht machen, dann werde ich mich an die KESB wenden. (Gruppendiskussion Fam_2) Die Einschaltung der KESB ermöglicht es den Sozialarbeitenden, die Durchsetzung einer Norm einer anderen Behörde zu überlassen. In derartigen Fällen entscheiden die Sozialarbeitenden einseitig und bisweilen gegen den Willen der Klientel, dass ein nicht mehr tolerierbarer Norm- verstoss vorliegt und bedienen sich der Macht des Gesetzes bzw. der vollziehenden Behörden, um ihre Position durchzusetzen. Die Strategie der Delegation von Verantwortung findet sich auch in anderen Handlungsfeldern. Wenn Kinder betroffen sind, kann und muss u.U. ein paternalistischer Eingriff in die Familie an die KESB abgegeben werden. Im Feld der Opferberatung können Polizei respektive Justiz einge- schaltet werden; allerdings sind hier die Hürden hoch, da die Selbstbestimmung von Erwachse- nen in entsprechenden Gesetzen weitgehend geschützt ist. Bei der KESB kann laut Gesetz jede Person Meldung erstatten, wenn ihr „eine Person hilfsbedürftig“ erscheint (Zivilgesetzbuch Art. 443 A Abs.1). Gemäss Absatz 2 besteht sogar eine Meldepflicht für Personen, die „in amtlicher Tätigkeit“ von einer hilfsbedürftigen Person erfahren. Allerdings werden Melderecht und -pflicht im ersten Absatz zugleich eingeschränkt: „Vorbehalten bleiben die Bestimmungen über das Be- rufsgeheimnis.“ (ebd.) Im Feld der Hilfe für Opfer häuslicher Gewalt kommt hier insbesondere das Opferhilfegesetz zum Tragen und hier unterstehen die Beraterinnen und Berater nach Art. 11 OHG grundsätzlich der Schweigepflicht gegenüber Privaten und Behörden. Die Schweigepflicht kann nur mit Einverständnis der betroffenen Person aufgehoben werden (EBG 2015: 9). Ohne diese Zustimmung können die Beratungsstellen nur im Falle „ernsthafter Gefährdung“ der Integri- tät von Minderjährigen und Personen in Abhängigkeitsverhältnissen Meldung bei der KESB ma- chen oder Anzeige bei einer Strafverfolgungsbehörde erstatten (ebd.). Wenn die untersuchten Institutionen in Bezug auf paternalistisches Handeln so klar zwischen Minderjährigen und Er- wachsenen unterscheiden, folgen sie mithin auch den gesetzlichen Vorgaben. Bei häuslicher Gewalt spitzt sich das Dilemma zu. Grundsätzlich setzen zivilrechtliche Schutzmassnahmen die Eigenaktivität des Opfers voraus: die betroffene Person muss selbst beim Gericht den Antrag auf Anordnung von Schutzmassnahmen stellen (z.B. Wegweisung des Täters), wobei sie erst noch „die volle Beweispflicht trifft“ (EBG 2015: 6). Für die Beratungsstellen bedeutet dies, dass sie die Klientinnen überzeugen müssen, aber nicht eigenmächtig zu ihrem Schutz handeln dürfen (vgl. Kap. 5.3). Angesichts der der kantonalen Differenzen der gesetzlichen Bestimmungen und des relativ hohen Ermessensspielraum im Gesetz ist die Praxis uneinheitlich. So ist es im einen Frauenhaus mittlerweile selbstverständlich, im Falle hoher Gefährdung bei der Rückkehr zu ei- 47 nem gewalttätigen Partner staatlicher Akteure zum Opferschutz (Polizei, KESB, Bedrohungsma- nagement) zu aktivieren. Interviewerin: Und wenn jetzt so eine Frau nach Hause gehen will und nicht bei euch bleiben will. Und ihr habt sozusagen auf der einen Seite diese Freiwilligkeit und auf der anderen Seite wisst ihr, dass sie zurück in eine Gewaltsituation geht. Wie geht ihr damit um? Leiterin Frauenhaus: Dann melden wir direkt der Polizei. Normalerweise sind diese Fälle vermit- telt durch die Polizei. Und wenn das ist, dann ersuchen wir, dass die Polizei mit dem Mann aktiv arbeitet, dass die Wegweisung installiert wird. Damit auch die Polizei etwas in der Hand hat, damit sie weitere Massnahmen gegen den Mann machen wird. Interviewerin: Also ihr sagt dann, wir sind dann nicht zuständig, weil die Frau will unsere Hilfe nicht // ja // Und gleichzeitig sagt ihr, aber jetzt ist die Polizei doch noch im Boot wegen diesen Gewaltschutzmassnahmen, jetzt soll // ja weil nur // die Polizei schauen. Leiterin: Ja, weil nur die Polizei hat den Kontakt mit dem Täter. Und nur als Institution, die Poli- zei hat die Macht etwas Konkreteres zu tun, um die Gewalt zu verhindern (4 Sekunden Pause). Und dieses Hin und Her von der Klientin, die nicht bereit ist, diese Unterstützung zu nehmen, hat dazu geführt, dass in [Kanton] (bei) allen polizeilichen Einsätze werden direkt die KESB o- der Familiengericht involviert. Und so wenn die Frau nicht bereit ist im Frauenhaus zu bleiben, dann ist der Fall immer noch bei der Polizei oder KESB, ja. (...) und die wichtige Sache ist, wenn die Polizei interveniert und die Kinder involviert sind, sie machen die Gefährdungsmel- dung, nicht mehr wir. Weil bis letztes Jahr haben wir die Gefährdungsmeldung gemacht, und das hat auch gewisse Probleme in der Zusammenarbeit mit den Klientinnen kreiert. (...) Jetzt ist es so, die Polizei macht die Meldung und wir machen die Berichte. Und die Berichte ist einfa- cher zu kommunizieren an die Frauen. Sind wir nicht mehr in dieser repressiven Situation in den Augen der Klientin. (Expertinneninterview FH_2). Im anderen Frauenhaus wird das Recht auf Selbstbestimmung selbst bei Minderjährigen höher gewichtet (sofern die KESB nicht ohnehin schon involviert ist). Dies gilt aufgrund des hohen Stel- lenwerts der Schweigepflicht im Opferhilfegesetz auch für die ambulante Opferhilfestelle. Beim Entscheid, von Responsibilisierung auf paternalistisches Eingreifen umzustellen, spielen also die gesetzlichen Möglichkeiten (mit ihren Ermessensspielräumen) eine zentrale Rolle. Wie das Zitat zeigt, ist die Intervention des Frauenhauses über den Kopf der Klientin hinweg nur sozusagen durch den Umweg über die Kinder zulässig. Weil die Gewalt nicht nur die Frau sondern auch die Kinder betrifft, wird erstens im Kanton jeder Polizeieinsatz bei häuslicher Gewalt in einer Familie mit Kindern automatisch bei den zuständigen Behörden gemeldet. Die Klientinnen respektive ihre Kinder sind also bereits im Visier der KESB, wenn sie ins Frauenhaus eintreten.30 Zweitens kann sich das Frauenhaus in dieses Beobachtungsdispositiv durch die Behörden einklinken und sei- nerseits den Austritt der Klientin melden. Vordergründig geht es immer um den Schutz der Kin- der; gleichzeitig wird damit aber auch die Frau geschützt, obwohl sie sich aus eigenem Antrieb wieder der Gefährdung aussetzt. Die im Recht institutionalisierte Zuweisung der Verantwortung für Eingriffe in die Familie erleichtert überdies den Sozialarbeiterinnen das „Aushalten“ der Rück- kehr von Klientinnen in die Gewaltbeziehung und entlastet zugleich die Beratungsbeziehung. Es ermöglicht ihnen, mit der Klientin aus einer klaren Beratungsrolle über Konsequenzen, Vor- und Nachteile ihrer Entscheide nachzudenken und die „repressive“ Rolle der Polizei und der KESB zu überlassen. Das Strukturproblem der Interferenz von Hilfe und Kontrolle in der Sozialen Arbeit wird damit über eine strukturell-organisationale Zuordnung von Hilfe und Kontrolle an zwei unter- schiedliche Instanzen gelöst (vgl. auch Oevermann 2009). Insofern einem paternalistischen Ein- griff zum Schutz von Erwachsenen höhere Hürden entgegenstehen, ist diese Form der paterna- 30 Vorausgesetzt es hat ein Polizeieinsatz stattgefunden. 48 listischen Intervention auf Umwegen indes nur möglich, wenn eine Frau Kinder hat. Kinderlose Frauen sind entsprechend auf sich selbst gestellt. Wie in Kap. 5.3 geschildert, rechtfertigt dann in den Augen der Sozialarbeitenden nur eine manifeste Selbstgefährdung, z.B. aktive Suizidalität, ein Eingreifen. Auch eine andere Form des paternalistischen Handelns wird durch die Präsenz von Kindern er- möglicht. So hat das eine Frauenhaus sein Mandat von der Arbeit mit den Frauen als quasi pri- märe Klientinnen ausgeweitet auf die Arbeit mit den Kindern der Klientinnen. Unter dem Titel der Resilienzförderung sollen die Kinder gestärkt werden, was in den Augen der Sozialarbeiterinnen eine Anpassung der Erziehungspraktiken der Mütter erfordert. Die Klientinnen seien gerade in der durch die Gewalt ausgelösten Krise „oft überfordert mit der Erziehung der Kinder“. Sie hätten vielleicht keine stabile Bindung zu den Kindern aufgebaut, „nehmen die Gefühle von ihren Kin- dern nicht wahr (...). Sie schleppen einfach die Kinder wie eine Sache.“ Mit dieser Argumentation wird also eine Kindeswohlgefährdung jenseits der unmittelbaren Gewalterfahrung unterstellt: die Gewalt bewirkt die Vernachlässigung der Kinder durch die Mütter. Folglich wurde eine Reihe von Geboten und Verboten für den Aufenthalt im Frauenhaus aufgestellt, z.B. dürfen die Frauen den Kindern keine Süssigkeiten geben, es muss eine „Essstruktur“ mit gemeinsamen Mahlzeiten ein- gehalten werden und die Kinder müssen „sauber“ in die Kinderbetreuung kommen. Hier wird also sehr direkt in die Erziehungskompetenz der Mütter eingegriffen, was von den Sozialarbeiterinnen auch explizit als „gravierender Eingriff in ihre Rechte und Bestimmungen“ bezeichnet wird. Be- gründet wird diese paternalistische Haltung konsequenzialistisch mit den positiven Wirkungen für die Kinder und die Mütter: die Klientinnen nähmen oft bereits nach kurzer Zeit wahr, dass es den Kindern besser gehe. Anders als im Handlungsfeld der Familienhilfe wird das Konzept des Kin- deswohls in der Diskussion allerdings inhaltlich nicht weiter erörtert, sondern mehr oder weniger als evident gesetzt. Das Frauenhaus legitimiert die Ausweitung des eigenen Mandat auf Erzie- hungspraktiken und die Arbeit mit den Kindern des Weiteren damit, dass man oft die erste Institu- tion sei, die mit der Familie in Kontakt komme und so im Sinne einer Früherfassung potenzielle und aktuelle Kindeswohlgefährdungen durch defizitäre Erziehungspraktiken erkennen könne. 6.3 Kompromissbildung Wie bis anhin deutlich geworden sein dürfte, sind die Sozialarbeitenden in ihrem beruflichen All- tag immer wieder mit normativ äusserst anspruchsvollen Situationen konfrontiert, in denen sie zwischen der Zuweisung von Verantwortung an die Klientel und paternalistischem Eingreifen zu deren Schutz bzw. zur Durchsetzung gesellschaftlicher Normen entscheiden müssen. Eine Stra- tegie zur Entschärfung der Konflikte besteht darin, Kompromisse einzugehen. Kompromissbil- dung in verschiedenen Formen ist kongruent mit dem notwendigerweise kasuistischen Zugang der Sozialen Arbeit. Besonders deutlich kommt die Kompromisslogik in der Orientierung am „gut genug“ zum Vor- schein. Die Sozialarbeitenden beharren nicht auf quasi perfekter Übereinstimmung des Klienten- handelns mit einer bestimmten Norm, sondern sie sind bereit, ein Verhalten zu tolerieren, das als gut genug eingeschätzt wird. Dabei richten die Sozialarbeitenden ihre Zielsetzung nicht primär an der Umsetzung des Ideals aus, sondern begnügen sich mit einer Entwicklung in die Richtung des Ideals: Wann ist etwas gut genug, oder eben nicht immer alles an eine Norm oder eine Vorstellung vom Ideal binden, sich anzupassen und finden, die Klienten müssten auf diesen Stand sondern wirklich eine Wertschätzung den Klienten gegenüber und dann ein Entgegenkommen und sa- 49 gen: Es ist gut genug. Und auch einmal etwas abschliessen können und nicht immer dran blei- ben, bis es dann den eigenen Idealen entspricht. (Gruppendiskussion Fam_2) Plastisch wird die Orientierung am „gut genug“ am Beispiel einer tamilischen Familie, in der eine deutliche Geschlechterungleichheit zwischen Töchtern und Söhnen besteht. Die Mädchen wer- den möglichst zu Hause gehalten und ausserhalb des Hauses kontrolliert, die Jungen hingegen dürfen ihre Jugend frei ausleben. Kompromissbildung bedeutet in diesem konkreten Fall, das Handeln zwar am Ideal der Geschlechtergleichheit auszurichten, sich aber mit einer Entwick- lungstendenz in die angestrebte Richtung zufrieden zu geben: Jetzt in einer tamilischen Familie zum Beispiel (…) [die] Familienarbeiterin (…) kann nicht die ganzen Normen und Werte über den Haufen schmeissen. Es wird nicht von ihr angestrebt, dass beide genau gleich behandelt werden, oder? Schon, sie versucht schon, aber (…) eben, schwierig, es ist dann noch nicht gut, wenn es nicht gleich ist, aber es ist gut genug, wenn es mehr ist. (Gruppendiskussion Fam_1) Ähnlich wie im bereits geschilderten Beispiel des kontrollierenden syrischen Vaters, dessen Tochter sich der Kontrolle durch Weglaufen zu entziehen versucht (vgl. Kap. 5.3) erfüllt der Kom- promiss im Fall der tamilischen Familie eine doppelte Funktion. Würden die Sozialarbeitenden versuchen, „die ganzen Normen und Werte über den Haufen (zu) schmeissen“, wäre die länger- fristige Arbeitsbeziehung zur Klientel gefährdet und damit auch die Möglichkeit irgendeiner Ver- änderung in die gewünschte Richtung. Hingegen verspricht in beiden Fällen die Kompromissbe- reitschaft zumindest die Aussicht auf ein „Mehr“ an Handlungsfreiheit für die betroffenen Mäd- chen. Kompromisse werden selbst dann eingegangen, wenn Eltern Gewalt als Erziehungsmittel nutzen. Dies wird grundsätzlich als inakzeptabel betrachtet, kann aber ebenso wenig von heute auf morgen unterbunden werden wie die Benachteiligung von Mädchen. Entscheidend ist auch hier, dass eine Entwicklung zu Normkonformität erkennbar ist: Wenn ich höre, Papa gibt den Kindern Ohrfeigen, dann heisst das nicht automatisch Obhuts- entzug oder so, sondern dann will ich zumindest einen Prozess sehen, dass der Papa zusieht, wie er auf Ohrfeigen verzichten kann, auch auf die Gefahr hin, dass das vielleicht noch zwei, drei Male vorkommt in den nächsten Monaten. Aber eine Tendenz muss für mich sichtbar sein zum Beispiel. Also das ist schon, ja, wenn er das Kind grün und blau schlägt, dann wäre das eher eine Sache, da sagt man: Ok, das muss man jetzt in Sicherheit bringen, das geht nicht. (Gruppendiskussion Fam_2) Auf der Ebene der interinstitutionellen Zusammenarbeit greift die Kompromisslogik bei der Bear- beitung von Normkonflikten ebenso. Das wird am Beispiel der Forderung nach einer aus Sicht der Familienhilfe unverhältnismässigen Reduktion des Fernsehkonsums durch die zuweisende Stelle deutlich. Dabei versuchen die Sozialarbeitenden nicht in erster Linie, den TV-Konsum auf ein vorgegebenes Mass herabzusetzen. Sie wirken aber dennoch auf eine Verringerung hin, in- dem sie den Familien alternative Beschäftigungsmöglichkeiten aufzeigen: Sozialarbeiterin1: Also wenn jetzt eine Zuweiserin verlangt, sie möchte, dass diese Kinder, ich weiss doch auch nicht, 10 Minuten fernsehen pro Tag. Aber in dieser Familie läuft seit eh und je, seit Monaten läuft der ganze Tag der Fernseher (…) ja, das ist jetzt vielleicht ein wenig über- trieben (…). Also, das hat nie jemand verlangt, aber es ist jetzt ein wenig krass gewesen. // Sozialarbeiterin 2: Es geht ja dann darum, wenn wir den Konsum nehmen, dass es reduziert wird. Und das ist dann schon eine Verbesserung. Und auf dem Weg gehen. Du kannst ja nicht gerade // Sozialarbeiterin 3: Und andere Optionen geben, was macht man wenn der Fernseher ausge- 50 schaltet ist (…) das wissen sie zum Teil nicht, weil sie nur das kennen und dann wir sagen: Ok, kann man das machen, kann man ein Gesellschaftsspiel machen, kann man zusammen ko- chen. So Optionen geben, die sie noch nicht kennen. (Gruppendiskussion Fam_1) Die von der Klientel geforderte Anpassung wird hier zum Anlass für sozialpädagogisches Han- deln, um die Familie an ein Verhalten heranzuführen, das als zuträglicher für die Entwicklung der Kinder betrachtet wird. In diesem Beispiel wird nicht angesprochen, ob der Kompromiss mit der zuweisenden Institution abgesprochen ist oder von der Familienhilfe eigenmächtig installiert wird. In anderen Situationen wurde hingegen klar benannt, dass man Ermessensspielräume ausnutze und sich ohne Rücksprache an den eigenen normativen Massstäben ausrichte. Gelegentlich werden Kompromisse aber auch offen mit zuweisenden Stellen ausgehandelt und der entspre- chende Auftrag wird reformuliert. Eine weitere Strategie, mit der gewissermassen Kompromisse eingegangen werden, ist jene der Auftragsklärung. Insbesondere in der ambulanten Opferhilfe nimmt diese Strategie einen hohen Stellenwert ein. Sie dient dem Schutz vor unnötiger Komplexitätserhöhung. Trotz dem gut gere- gelten institutionellen Auftrag müssen die Fachkräfte im einzelnen Fall „immer wieder auch mitei- nander überlegen, was „jetzt eigentlich [der] Auftrag“ ist. Auf diese Weise überschreiten sie ihre Kompetenz nicht und geraten nicht in Versuchung, alle an sie herangetragenen Erwartungen erfüllen zu wollen. Gerade in schwerwiegenden Fällen hilft es den Berater/innen, gemeinsam die Grenzen ihres Auftrags inhaltlich zu präzisieren. So begreifen sie es zwar als ihre Verpflichtung, sexuelle Übergriffe zur Anzeige zu bringen, wenn sie davon in Beratungsgesprächen erfahren. Die Schweigeplicht im Rahmen des Opferhilfegesetzes hindert sie aber daran. In solchen Fällen hilft eine gemeinsame Auftragsklärung, sich darauf zu besinnen, dass die Beratungsstelle „nicht den Auftrag [hat] die Gesellschaft zu schützen". Auf diese Weise wird der Kompromiss möglich, lediglich die unmittelbar davon Betroffenen zu unterstützen und nicht für den Schutz der Gesamt- gesellschaft verantwortlich zu sein. Aber auch in weniger folgenreichen Fällen ist Auftragsklärung erforderlich. Also für mich, stosse ich immer wieder auf Normenkonflikte bei den Klienten, wo ich wieder überlegen muss, ähm, muss ich da eine Intervention machen oder nicht, gehört das zu meinem Auftrag oder nicht. Also gerade die Finanzen, oder. Ähm gerade bei jungen Migranten, ich habe mal gesehen dass sie drei Viertel vom Lohn für die Leasingraten ausgeben, damit sie mit dem Mercedes rumfahren können, dann muss ich mich wirklich fragen, ja, muss ich da intervenieren oder nicht, oder mache ich einfach einmal ein einmaliges Statement und dann ziehe ich mich wieder zurück oder wie. Dort ist die Antwort für mich schon klar, ähm wo ist mein Auftrag, wo ist der Konflikt, habe ich einen Auftrag in diesem Konflikt? (Gruppendiskussion_OB) Mittels Auftragsklärung lässt sich Unwesentliches identifizieren und damit verbundene Normkon- flikte können „einfach so stehen [ge]lassen“ werden. Durch die Strategie der Auftragsklärung lassen sich Normkonflikte zwar nicht per se aufheben, aber es lässt sich entscheiden, welcher Konflikt im Rahmen des eigenen Mandats eine Bearbeitung erfordert. Auftragsklärung ist mithin verwandt mit der Strategie der Hierarchisierung von Werten: es wird Wesentliches von Unwesentlichem unterschieden bzw. analysiert, welche Werte innerhalb der eigenen Institution Priorität haben. Diese Prioritätensetzung ergibt sich in erster Linie aus dem institutionellen Auftrag. So erklärt, wie bereits zitiert (vgl. Kap. 4.2), die Familienhilfe, dass „Gen- der-Rechte“ nicht „unser Schwerpunktthema“ sei. „Aber Kinderrecht ist unser Schwerpunktthe- ma.“ Erziehungspraktiken wie die rigide Überwachung von Mädchen werden folglich eher mit Bezug auf das Kindeswohl und gedeihliche Entwicklungsbedingungen korrigiert als mit Bezug auf 51 Geschlechtergerechtigkeit, und wie gesehen, wird das Recht auf die Anerkennung kultureller Besonderheiten höher gewertet als die unmittelbare und vollständige Verwirklichung von Ge- schlechtergleichheit. 6.4 Objektivierung von Normen Die Strategie der Kompromissbildung schützt das Arbeitsbündnis zwischen Berater/innen und Klientel, indem die Lebensführung der Klientinnen und Klienten nicht vollständig in Frage gestellt sondern ein Stück weit anerkannt wird. Ebenfalls auf die handlungspraktische Ebene der Erleich- terung des Umgangs mit Normkonflikten zielt die Strategie der Objektivierung: Normen werden nach Möglichkeit gleichsam von ihrer Werthaltigkeit gereinigt und zu vermeintlich wertfreien Fak- ten erklärt. Die Objektivierungsstrategie wird insbesondere im Feld der Familienhilfe gepflegt. In den beiden am Forschungsprojekt beteiligten Organisationen werden wissenschaftlich fundierte Instrumente zur Einschätzung des Kindeswohls verwendet. Mit den entsprechenden Checklisten wird das Kindeswohl einerseits in seiner Mannigfaltigkeit „konkretisiert“ und den Professionellen damit einen „Anhaltspunkt“ und „eine gewisse Sicherheit“ bei der Beurteilung von Gefährdungssi- tuationen geben. Andererseits wird die Klientel vor Willkür und grossen Unterschieden unter den Professionellen geschützt. Die Instrumente umfassen soziokulturelle Dimensionen (Pflege sozia- ler Kontakte, angemessener Zugang zu Bildung), das Verhalten der Eltern (Erziehungsfähigkeit, stabile liebevolle Beziehungen, emotionale Zuwendung) materielle Sicherheit inklusive Gewähr- leistung von Gesundheit und medizinischer Versorgung sowie das Vorhandensein einer ge- schlechtsspezifischen „Identifikationsfigur“. Die Erziehungsfähigkeit der Eltern ist durch deren Erziehungskompetenz bestimmt; diese ist gemäss Konzept der Institution dann gegeben, wenn der Erziehungsstil zu einem „längerfristig günstigen Verhältnis von positiven und negativen Fol- gen“ führt und in der sozialen Umwelt akzeptiert ist. In dieser Definition von Erziehungsfähigkeit ist unübersehbar, dass die vermeintliche wissenschaftliche Objektivität der Bestimmung des Kindewohls doch wieder massgeblich von soziokulturellen Rahmenbedingungen bestimmt ist. Neben den soziokulturellen Rahmenbedingungen fungiert weiter das theoretische Modell der Entwicklungsaufgaben als Richtschnur für die Eltern im Hinblick auf die Ausbildung von Erzie- hungskompetenz. Wissenschaftliche Modelle der Entwicklungsaufgaben spezifizieren, in wel- chem Alter Kinder und Jugendliche bestimmte Aufgaben gemeistert haben sollten und wie sie von den Eltern dabei angemessen unterstützt werden können. Erziehungskompetenz ist dem- nach doppelt bestimmt durch soziokulturelle Anteile – die in einem gegebenen kulturellen Kontext als akzeptable geltenden Praktiken – und entwicklungspsychologische Elemente. Durch Verwissenschaftlichung und Technisierung wird die Norm des Kindeswohls in diesen Ein- richtungen objektiviert, um den normativen Gehalt in den konkreten Entscheidungssituationen zu entschärfen. Indem komplexe wissenschaftliche Theorien, die als solche immer nur Wahrschein- lichkeiten von Entwicklungen spezifizieren, in simple Checklisten zur Gefährdungseinschätzung übertragen werden, werden die Sozialarbeitenden von schwierigen fallbezogenen Auseinander- setzungen um die Gültigkeit unterschiedlicher Normen ein Stück weit entlastet. Gleichzeitig kann sich die Institution gegen öffentliche Kritik oder gar rechtliche Anfechtungen ihrer Entscheide wappnen.31 Der Rekurs auf wissenschaftliches Wissen findet sich auch im Feld der Hilfe für Opfer von häusli- 31 Zur Kritik an der „Manualisierung“ von Entscheidungsgrundlagen für die Sozialarbeitspraxis vgl. Otto/Polutta/Ziegler 2010. 52 cher Gewalt. Allerdings werden hier nicht normative Entscheide mittels Checklisten technisiert. Vielmehr hilft theoretisches Wissen dabei, ein Verhalten, das den eigenen Werten widerspricht, zu verstehen und die eigene Ohnmacht auszuhalten. Mithilfe von einschlägigem Fachwissen über die Determinanten und Ausprägungen bestimmter Verhaltensmuster der Klientinnen versi- chern sich die Sozialarbeiterinnen, dass der Konflikt nicht eigenen Defiziten geschuldet ist, son- dern gleichsam naturwüchsig auftreten musste. Ein Beispiel ist das in der Fachliteratur zu häusli- cher Gewalt bekannte Konzept des „Kreislaufs der Gewalt“ (Walker 1984). Das Wissen um die Notwendigkeit mehrerer Anläufe beim Ausbruch aus einer von Gewalt geprägten Beziehung hilft den Sozialarbeitenden, die Rückkehr in die Gewaltbeziehung auszuhalten und die Klientinnen weiterhin zu begleiten. Dabei werden die einzelnen Fälle unter generalisiertes Wissen mit erklä- rendem Gehalt subsumiert, um das Handeln der Klientel nachvollziehbar zu machen und Span- nungszustände abzubauen. Nicht thematisiert wurde in den untersuchten Einrichtungen die aktu- ell in Zusammenhang mit dem Bedrohungsmanagement in Organisationen der Hilfe für Opfer von Gewalt verbreiteten standardisierten Instrumente zur Gefährdungseinschätzung (vgl. Wechlin, 2013). 53 7. Zwischen Differenz, Autonomie und Schutz – Schlussbetrachtungen Soziale Arbeit befasst sich mit Menschen, die eine persönliche und soziale Krisensituation nicht aus eigener Kraft bewältigen können und die sich mehrheitlich in einer unterprivilegierten Lage befinden. Ihre Adressatinnen und Adressaten gehören gemeinhin nicht zur Zielgruppe institutio- nalisierter Gleichstellungspolitik. Ebenso werden Sozialarbeitende im Allgemeinen nicht unbe- dingt als geschlechterpolitische Akteure betrachtet. In der vorliegenden Studie haben wir genau das versucht: die Praxis der Sozialen Arbeit wurde hier unter dem Blickwinkel einer informellen und impliziten Form von Genderpolitik untersucht. Wir knüpfen mit dieser Perspektive an die These der street level-bureaucracy-Forschung an, wonach öffentliche Verwaltungen mit einem hohen Anteil an interaktiver Dienstleistungsarbeit aufgrund der grossen Entscheidungsspielräu- me des Personals faktisch eine politikgestaltende Funktion haben. Die Forschung schliesst des Weiteren an die feministische Debatte um Wertekonflikte im Spannungsfeld von Geschlech- tergleichheit und „Zwangsemanzipation“ an. Die Frage nach dem Umgang mit divergierenden Geschlechternormen in pluralistischen Gesellschaften wurde dabei auf die handlungspraktische Ebene der professionellen Praxis in drei verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit herunterge- brochen. Inwieweit sind Sozialarbeitende bereit, Lebensweisen und insbesondere Geschlech- terarrangements zu akzeptieren, die von ihren eigenen persönlichen und professionellen Normen abweichen? In der Beratung von Opfern häuslicher Gewalt ist das Geschlechterverhältnis offen- sichtlich von Bedeutung als Problemursache wie als Ansatzpunkt für Veränderungen. In der Ar- beit mit Familien, Kindern und Jugendlichen spielen Geschlechternormen vermittelt über Erzie- hungspraktiken eine Rolle, wohingegen Gender im Handlungsfeld der Schuldenberatung auf den ersten Blick unerheblich zu sein scheint. In allen drei Feldern müssen die Sozialarbeitenden grundsätzlich immer wieder abwägen zwischen der momentanen Selbstbestimmung der Klientel und einem paternalistischen Eingreifen zu ihrem Schutz bzw. zur Entwicklung von zukünftiger Handlungsfähigkeit. Modernisierung von Geschlechternormen Die Analyse der Adressatenkonstruktionen hat ergeben, dass der Blick der Sozialarbeitenden auf Gender untrennbar ist vom Blick auf kulturelle Differenzen. Die Befragten nehmen in ihren Be- schreibungen eine deutliche Polarisierung zwischen einer modernen Ausprägung des Geschlech- terverhältnisses in „unserer“ Kultur und vormodernen „patriarchalen“ Geschlechterarrangements in anderen Kulturen vor. Ohne diese kulturelle Markierung scheint Gender sozusagen unsichtbar und wird in seiner Wirkung entweder explizit negiert oder durch die Konstruktion von Geschlech- tersymmetrien neutralisiert. Dieses Ergebnis lässt sich u.a. durch die Mechanismen der Diffe- renzkonstruktionen erklären, denn die Sozialarbeitenden kategorisieren nicht einfach kontextfreie Akteure sondern vielmehr Personen in einer spezifischen Problemkonstellation. Kulturelle An- dersartigkeit ist insofern auffällig, als die Klientinnen und Klienten mit Migrationshintergrund in zwei der drei untersuchten Handlungsfelder überrepräsentiert sind und die Integration der Klientel in die Mehrheitskultur in diesen beiden Feldern explizit oder implizit als Teil des institutionellen Mandats begriffen wird (Familienhilfe und Opferhilfe). Insbesondere in der Familienhilfe werden Konflikte im Kontext von unterschiedlich weitgehender Assimilation innerhalb der Familie oder zwischen Familie und Umfeld oft zum Auslöser für die Intervention. Unterstützungsanlass und Fremdheit fallen hier sozusagen zusammen. Ebenso sind kulturelle Differenz, Gender und Prob- lemanlass eng verknüpft, so im Fall von arrangierten Ehen im Feld Opferberatung oder bei der rigorosen Kontrolle von Mädchen durch ihre Väter im Feld Familienhilfe. Folgerichtig wird die 54 Anpassung von „traditionellen“ Geschlechternormen an ein egalitäreres Ideal gewissermassen zu einer integralen Dimension der Fallbearbeitung. Erst wenn weiblichen Jugendlichen mehr Freihei- ten zugestanden werden, können die betreffenden Familien „konfliktfreier“ leben und nur indem ressourcenarme Migrantinnen Handlungskompetenzen zur Alltagsbewältigung in einer Gesell- schaft erwerben, die auch von Frauen Eigenständigkeit erwartet, werden sie fähig aus einem Gewaltverhältnis auszubrechen. Bemerkenswert scheint uns zum einen, dass die geschilderten Normkonflikte um Geschlechterrollen nicht auf der vorwiegend symbolischen Ebene angesiedelt sind: die Auseinandersetzungen beziehen sich nicht auf das Kopftuchtragen oder die Verweige- rung eines Händedrucks32 sondern auf greifbare Integritätsverletzungen respektive Einschrän- kungen der Selbstbestimmung von Frauen und Mädchen. Zum anderen werden jedoch soziale Ungleichheitsverhältnisse vollkommen ausgeblendet, so wenn z.B. Bildungsdefizite von Klientin- nen der Opferberatungsstellen ihrer Unterdrückung als Frauen in patriarchalen Kulturen zuge- rechnet werden und nicht ihrer Klassenzugehörigkeit, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine ebenso wichtige Determinante darstellt. An Benachteiligungen qua soziale Lage können die So- zialarbeitenden allerdings direkt wenig ändern (z.B. der Klientel zu einer Ausbildung verhelfen), folglich setzen sie primär an Verhaltensänderungen an (vgl. auch Nadai et al. 2013). Soziale Ar- beit wird damit „auf ein pädagogisches Projekt reduziert“ (Seithe 2012: 327). Im Allgemeinen ist eine bewusste Orientierung an Geschlechtergleichheit jedoch nur in den Insti- tutionen vorherrschend, die häusliche Gewalt zum Gegenstand haben und z.T. einen feministi- schen Hintergrund aufweisen. Die Sozialarbeitenden mögen zwar persönlich die Norm eines ega- litären Geschlechterverhältnisses vertreten, solange diese Haltung jedoch nicht im offiziellen Mandat der Einrichtung oder Fachstelle eingeschrieben ist, ist sie institutionell nicht wirksam. Das Gebot der Gleichbehandlung als durchgängig relevante normative Orientierung bezieht sich pri- mär auf die Unterlassung diskriminierender Behandlung in der eigenen Beratungspraxis, umfasst aber nicht die Verpflichtung auf eine aktive Förderung von (Geschlechter-)Gleichheit. Auch wenn die Förderung von Geschlechtergleichstellung nicht im Pflichtenheft der befragten Fachkräfte steht und das Geschlechterverhältnis nur in den Frauenhäusern unmittelbar im Man- dat angesprochen wird, wirken die Sozialarbeitenden faktisch auf die Ausweitung von Hand- lungsspielräumen für Frauen und Mädchen hin. Sie tun dies meist nicht mit dem expliziten Ziel von mehr Geschlechteregalität; vielmehr laufen Bestrebungen zur „Modernisierung“ von Ge- schlechterrollen gleichsam mit, sofern sie den fallspezifischen Interventionszielen dienlich sind. Die implizite, quasi beiläufige Förderung von Gleichstellung, die dem persönlichen Engagement einzelner Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter überlassen ist, hat ihre Grenzen. Erstens richtet sie sich gewissermassen nach dem Motto „das patriarchalische System ist nicht verboten in der Schweiz“ (vgl. Kap. 5.3). Ein hierarchisches Geschlechterverhältnis mag zwar gemäss hiesigen Normen illegitim sein, es ist aber nicht illegal.33 Folglich scheint der Versuch, hier korrigierend einzugreifen nicht zwingend geboten, so wie etwa eine Intervention zur Wahrung des Kindes- 32 Im Untersuchungszeitraum wurde in den Medien der Fall von zwei männlichen muslimischen Ju- gendlichen breit verhandelt, die sich weigerten ihrer Lehrerin die Hand zu geben (vgl. z.B. Artikel „Der Händedruck wird Pflicht“ im Tagesanzeiger vom 25.5.). 33 Selbst scheinbar eindeutige Eingriffe in die Selbstbestimmung von Frauen (und Männern) wie Zwangsheiraten verstossen zwar klar gegen Art. 16 Abs. 2 der Menschenrechtscharta. Zwangshei- raten lassen sich aber im konkreten Fall nur schwer gegen arrangierte Ehen oder andere Heirats- formen abgrenzen (Riaño/Dahinden 2010). Die Grenze vom Erlaubten zum Verbotenen ist also auch hier unscharf. 55 wohls eine rechtlich abgestützte Pflicht ist. Interventionen mit dem Ziel der Gleichstellung sind so gesehen in Institutionen ohne ein entsprechendes explizites Mandat grundsätzlich begründungs- pflichtig. Paternalismus: Übergriff oder Schutz Die Sozialarbeitenden müssen nicht auf Gleichstellung beharren und sie können nicht. Insofern Soziale Arbeit für die Erzielung von Wirkung immer auf die Kooperation mit der Klientel angewie- sen ist, können die Fachkräfte den Klientinnen und Klientinnen eine Veränderung von Geschlech- terrollen und -normen nicht einfach aufzwingen. Sie können nur versuchen, die Klientel von einer angestrebten Verhaltensveränderung zu überzeugen – sei dies mit den beschriebenen Techni- ken des Aufzeigens von positiven oder negativen Konsequenzen eines bestimmten Verhaltens oder auf dem Weg des Vorlebens von Alternativen (vgl. Kap. 6.1). Und schliesslich wollen die Sozialarbeitenden in der Lebensführung der Klientel „nicht alles umkrempeln“, wenn eine Inter- vention nicht zwingend notwendig ist. Wie in Kap. 4.2 gezeigt, sind die Anerkennung von Diffe- renz sowie die Wahrung der Selbstbestimmung der Klientel für die Befragten wichtige Werte; paternalistische Bevormundung wird mehrheitlich abgelehnt.34 Im disziplinären Diskurs der Sozialen Arbeit ist hingegen gegenwärtig viel von einer Wiederkehr eines autoritären Paternalismus die Rede, der die Klientel gewissermassen zum eigenen Glück zwingen wolle (Ziegler/Scherr 2013; Seithe 2012). In der Debatte wird der Paternalismusbegriff dabei oft undifferenziert verwendet und tendenziell auf jedes sozialarbeiterische Handeln ange- wendet, das nicht von vornherein in vollständiger Übereinstimmung mit den manifesten Wün- schen der Klientel steht. In der Literatur wird Paternalismus gemeinhin als „die mit ‚guten’ Absich- ten und unabhängig von der Zustimmung eines anderen Individuums ausgeführte Einschränkung von dessen Autonomie“ konzeptualisiert (Oelker/Feldhaus 2011: 76). Zudem werden verschiede- ne Formen unterschieden: so fokussiert etwa die Differenzierung eines „weichen“ versus eines „harten“ Paternalismus die Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen, also ob ein Eingriff gegen- über einer Person stattfindet, die wissentlich und willentlich handelt oder die dazu nicht in der Lage ist (Steckmann 2014: 195). Die in der vorliegenden Studie mehrfach angesprochenen Ein- griffe zur Gewährleistung des Kindeswohls in der Familienhilfe können allerdings je nach Per- spektive beides sein. Argumentiert man von den betroffenen Kindern aus, ist ein Süssigkeits- oder TV-Konsumverbot in dem Sinne eine weiche Form, als die Kinder (je nach Alter) die Folgen ihres Tuns nicht abschätzen können. Nimmt man den Standpunkt der Eltern ein, stellt ein Eingriff in die Erziehungspraktiken einen harten Paternalismus dar: der syrische oder tamilische Vater, der seiner Tochter den Ausgang verbietet, um ihre Ehre zu schützen, weiss sehr genau, was er tut und sein Handeln ist in seinem kulturellen Herkunftskontext rational und normativ geboten. Weiter lässt sich eine „schwache“ von einer „starken“ Form des Paternalismus abgrenzen. Schwacher Paternalismus beschränkt Eingriffe auf die Mittel zur Erreichung eines Ziels, das von der betroffenen Person selbst gewählt wurde, während starker Paternalismus auch die Zielorien- tierungen der Betroffenen von aussen bestimmen will (ebd.). Wenn eine Frau zum eigenen Schutz ein Frauenhaus aufsucht und ihr dort verboten wird, sich bis zur Türe des Frauenhauses zurückbegleiten zu lassen, falls sie in den Ausgang geht, wird ihr ein Mittel zur Wahrung ihres Schutzes (und des Schutzes aller anderen Klientinnen) vorgeschrieben. Würde sie aktiv zurück- 34 Das bestätigte sich in einem der Workshops zur Präsentation der Forschungsergebnisse, in dem sich eine kritische Diskussion um unsere Verwendung des Paternalismusbegriffs ergab. 56 gehalten, wenn sie das Frauenhaus verlassen und zum Partner respektive der Familie zurück- kehren will, wäre dies ein starker paternalistischer Eingriff in ihre Selbstbestimmung – es würde an ihrer Stelle entschieden, dass ihr Schutz anderen Bedürfnissen und Werthaltungen vorgeht. In der einschlägigen wissenschaftlichen Diskussion zum Wiedererstarken des Paternalismus in der Sozialen Arbeit wird diese Entwicklung in Zusammenhang gebracht mit der tiefgreifenden Transformation des Sozialstaats von der Vor- und Fürsorge zur Aktivierung, die mit der Sozialpo- litik auch die Soziale Arbeit grundlegend verändert habe (Seithe 2012). Harter Paternalismus wird insbesondere im Umgang mit Erwerbslosen geortet, insofern hier Unterstützungsziele immer schon gesetzt seien (Eingliederung in den Arbeitsmarkt), die Klientel wenig zu den Mitteln zur Zielerreichung zu sagen hätten (zu Aktivierungsmassnahmen) und ihr Verhalten mittels Sanktio- nen gesteuert werde. Unsere Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, dass Ausmass und Formen paternalistischen Handelns erstens nach Handlungsfeld variieren und zweitens nicht lediglich den Werthaltungen der Sozialarbeitenden angerechnet werden können, sondern stark durch die institutionellen Rahmenbedingungen bestimmt werden. So ist Paternalismus in der Schuldenberatung nicht anzutreffen, weil die Sozialarbeitenden keine grundlegenden Verhal- tensänderungen anstreben, weil sie gegenüber der Klientel keine Zwangsmittel in der Hand ha- ben und weil die Beratungsbeziehung meistens von sehr kurzer Dauer ist. In der Familienhilfe wird dann paternalistisch gehandelt, wenn eine gravierende Gefährdung des Kindeswohls diag- nostiziert wird. Im Feld der Beratung von Gewaltopfern liegt das Problem eher umgekehrt darin, dass die Sozialarbeitenden nur sehr begrenzt die Möglichkeit haben, die Klientinnen gegen ihren Willen vor weiterer Gewalt zu schützen. Ein weitgehendes Eingreifen ohne die Zustimmung der Klientel ist nur bei eindeutigen Integritätsverletzungen möglich und bei Erwachsenen auch dann nur für kurze Zeit. Bei Erwachsenen wird in den einschlägigen Gesetzen die Selbstbestimmung klar höher gewertet als der Schutz (vgl. Kap. 6.2). Voraussetzungen für Autonomie So wie die Renaissance des Paternalismus in der Sozialen Arbeit mit der aktivierenden Wende von Sozialpolitik in Verbindung gebracht wird, wird in der einschlägigen wissenschaftlichen De- batte ein Zusammenhang zwischen der neoliberalen Ökonomisierung des Sozialen und der neu- en inhaltlichen Bestimmung von Begriffen wie Autonomie, Eigenverantwortung Selbstbestim- mung oder Partizipation postuliert. Zentrale Konzepte der Sozialen Arbeit, so die Kritik, seien im Zuge der „neosozialen Programmierung“ der Sozialen Arbeit (Kessl/Otto 2002) nur dem Namen nach aufgegriffen, aber inhaltlich umgewertet, verzerrt und pervertiert worden (Dahme/Wohlfahrt 2005; Seithe 2012). Die in allen unseren Untersuchungsfeldern beobachtete Strategie der Responsibilisierung zum Beispiel beruft sich auf die Wahrung und Förderung von Autonomie. Die Maxime lautet: Die Klientin entscheidet selbst, was weitergeht. Es sind nicht wir, die ihnen die Entscheidungen abnehmen. (Expertinneninterview OB) Die Sozialarbeitenden zeigen Optionen auf, die Klientinnen und Klienten wählen – bis hin zur Wahl „sich verprügeln zu lassen“. Die Zumutung von Eigenverantwortung ist in theoretischen und methodischen Wissensbeständen unterschiedlichster Provenienz angelegt, die in der Sozialen Arbeit ursprünglich in herrschaftskritischer Intention gegen die Entmündigung der Klientel formu- liert worden waren. Problematisch ist sie dann, wenn die Übernahme von Verantwortung gefor- dert wird ohne zu berücksichtigen, ob die gesellschaftlichen, sozialen, materiellen und persönli- chen Voraussetzungen dafür gegeben sind (Seithe 2012: 318ff.). Dies gilt auch für den gut ge- 57 meinten, aber einseitigen Blick auf Kompetenzen und Ressourcen. Wenn Opfer von häuslicher Gewalt oder überforderte Eltern jederzeit als grundsätzlich kompetente Akteure adressiert wer- den, können sie auch in gravierenden Krisensituationen keine Inkompetenz geltend machen, um von der Bürde der Autonomie entlastet zu werden.35 Wie Staub-Bernasconi (2006: 284) kritisiert, tragen „machtverschleiernde Begriffe“ wie Ressourcenorientierung oder die Adressierung von Klientinnen als Expertinnen ihrer selbst letztlich zur „sprachlich-kognitive(n) Tilgung der Not und des Leidens“ der Klientel bei. Aus der Geschichte der Sozialen Arbeit als entmündigende und kontrollierende Normalisierungsinstanz heraus ist verständlich, dass die heutigen Praktikerinnen und Praktiker sich eine gewisse Zurückhaltung in Bezug auf die Setzung von normativen Mass- stäben auferlegen und mit Rekurs auf die Respektierung von Autonomie Entscheidungen der Klientel übergeben. Nimmt man jedoch den subjektiven Standpunkt der Klientinnen und Klienten als alleinige Richtschnur für Hilfsbedürftigkeit, würde dies (..) auf einen naiven Subjektivismus und (…) auf einen kulturellen Relativismus hinauslaufen, der die Interpretation und den Umgang mit dieser Hilfsbedürftigkeit den Erfahrungen und Selbstdeutungen der KlientInnen überlässt, die selbst nach den Kategorien ihrer soziokulturel- len Lebenswelten geformt worden sind“.“ (Otto/Scherr/Ziegler 2010: 145f.) Soziale Arbeit, so die Autoren, kann sich der normativen Begründung ihrer Interventionsziele und -praktiken nicht entziehen. Ebenso wenig kann sich so einfach des Paternalismusproblems ent- ledigen, das ein konstitutives Dilemma der Profession darstellt (Ziegler 2014: 254). Professionel- les Handeln zielt auf der Basis stellvertretender Deutung darauf ab, die Klientinnen und Klienten zu einer gelingenderen Lebensführung im Sinne von mehr Handlungsfähigkeit zu befähigen und ist mithin strukturell nicht neutral gegenüber Konzeptionen eines guten Lebens. Orientiert sich die Soziale Arbeit lediglich an manifesten Bedürfnissen der Klientel, handelt sie sich das Problem der adaptiven Präferenzen ein (vgl. unten) und verhält sich affirmativ zu den bestehenden gesell- schaftlichen Verhältnissen. Für die angemessene Einschätzung von Hilfsbedürftigkeit und die Befähigung zu echter Autonomie benötigt Soziale Arbeit stattdessen eine „evaluative Metrik zur Erfassung vermeidbaren menschlichen Leidens und (…) zur Identifikation menschlichen Wohler- gehens“ (Otto et al. 2010.: 146). Wie wäre also eine Hilfe zu konzipieren, die weder subjektivis- tisch, noch vollkommen kulturrelativistisch ist und die Autonomie und Kompetenz einerseits und Hilfsbedürftigkeit und Defizite anderseits in Rechnung stellt? Und spezifisch bezogen auf Ge- schlechtergerechtigkeit ist zu fragen, welche Unterstützung Frauen brauchen, um tatsächlich autonom handeln zu können – sie dies in ,traditionell-patriarchalen‘ oder egalitären Kontexten. Autonomie ist ein zentrales, wenngleich heftig umstrittenes Konzept im feministischen Denken und in der Mainstream-Philosophie.36 Die entsprechend breite Diskussion soll und kann hier nicht im Detail nachgezeichnet werden. Grob vereinfacht, lassen sich jedoch in der Literatur einige Bedingungsbündel für individuelle Autonomie identifizieren. Ein erstes betrifft kognitive und psy- chologische Voraussetzungen des Subjekts, die zusammengenommen die Autonomiekompetenz konstituieren, aufgrund derer ein Individuum in der Lage ist, „vorhandene Optionen wahrzuneh- men, zu reflektieren und sie (...) anzunehmen oder zu verwerfen“ (Holzleithner 2009: 351). Je nach Autor/in werden verschiedene Fähigkeiten in den Vordergrund gestellt; grundsätzlich stim- 35 Umgekehrt immunisiert die Unterstellung von Kompetenz das Handeln der Klienten gegen norma- tive Kritik der Fachkräfte. 36 Von feministischer Seite werden insbesondere Autonomiekonzeptionen kritisiert, die ein atomisti- sches abstraktes Subjekt postulieren, welches unabhängig von sozialen Beziehungen existiert und nach absoluter Freiheit strebt (Mackenzie/Stoljar 2000). 58 men verschiedene Ansätze so weit überein, dass Autonomiefähigkeit sich nicht auf intellektuell- analytische Kapazitäten reduzieren lässt. Autonome Entscheidungen können auch auf Emotio- nen, Wünschen und Fantasien basieren, kurz auf „any mental state from the standpoint of which an action is good or valuable“ (Friedman 2000: 10; vgl. auch Meyers 2014, Holzleithner 2009). Überdies wird – wiederum in Varianten – auf ein Minimum an Selbstwertgefühl bzw. Selbstver- trauen als notwendiges Element von Autonomiekompetenz verwiesen. Eine zweite Bedingung bezieht sich auf die Authentizität einer Wahl: autonom sind Entscheidungen, die eine Akteurin mit Bezug auf ihr reflexiv verfügbare, für sie wichtige Werte und Wünsche fällt. Als dritte Bedingung für Autonomie gilt allgemein, dass Entscheidungen relativ frei von Zwang und Manipulation zustande kommen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere umstritten, inwiefern die Entscheidungen von subordinierten Subjekten überhaupt in diesem Sinne frei sein können, haben sie doch in der Regel eine Wertordnung internalisiert, die ihnen einen inferioren Status zuweist. So argumentiert z.B. Stoljar (2000; 2014), dass die geschlechtsspezifische Sozia- lisation moralische Zwänge schafft und dadurch die psychologische Freiheit von Frauen ein- schränkt, sich gegen unterdrückerische Normen zu entscheiden. Stoljar plädiert deshalb für ein Verständnis von Autonomie, das den Gehalt von Entscheidungen aus feministischer Warte un- tersucht und bewertet. Aus dieser Perspektive könnte die Zustimmung von Frauen zu patriarcha- len Geschlechternormen – z.B. die in Kap. 3.3 erwähnte Akzeptanz einer arrangierten Ehe durch eine 17-jährige Türkin – grundsätzlich nicht selbstbestimmt sein. Inhaltliche Konzepte schätzen mithin den Autonomiestatus von Entscheidungen nach einem externen Massstab, unabhängig von der Einschätzung des handelnden Subjekts ein. Prozedurale Ansätze fokussieren hingegen lediglich die Bedingungen, unter denen eine Wahl getroffen wird, also ob das Subjekt die erwähn- ten Autonomiekompetenzen besitzt und die Entscheidung reflexiv verfügbar wäre (Christman 2014). So gesehen kann auch die ,Wahl’ weiblicher Unterordnung als selbstbestimmt gelten, sofern sie mit den Wünschen und Werten des Subjekts übereinstimmt und nicht direkt erzwungen ist. Friedman (2000: 24) weist im übrigen darauf hin, dass auch traditionelle Rollen Frauen ge- wisse Freiheitsräume zugestehen, innerhalb derer sie selbstbestimmte Entscheidungen treffen können. Der Gegensatz zwischen substanzieller und prozeduraler Autonomie sei also nicht abso- lut sondern graduell. Anders ausgedrückt kann die Autonomie einer Person eine unterschiedliche Reichweite haben (Mackenzie 2014: 19): so wäre die Frau, die ihrem sozialen Ort in einer patri- archalen Geschlechterordnung grundsätzlich zustimmt, „global“ (d.h. in Bezug auf ihre gesamte Lebensweise) autonom und könnte ebenso „lokale“ Selbstbestimmung in Bezug auf einzelne Entscheidungen innerhalb der traditionellen Ordnung beanspruchen (z.B. wie sie den Haushalt organisiert). Es würde ihr aber immer noch an „programmatischer“ Autonomie mangeln, nämlich an der Möglichkeit über einzelne Bereiche ihres Lebens, z.B. über Familie oder Arbeit, zu be- stimmen, denn die patriarchale Ordnung würde ihr die Optionen einer selbstgewählten Familien- form oder die Wahl von Berufstätigkeit verunmöglichen. Schliesslich räumen auch prozedurale Ansätze ein, dass echte Selbstbestimmung die Verfügbar- keit von realen Alternativen voraussetzt. Wenn eine misshandelte Frau zu einem gewalttätigen Mann zurückkehrt, weil sie mangels eines eigenen Einkommens oder einer eigenständigen Auf- enthaltsgenehmigung ausserhalb dieser Ehe ökonomisch nicht überleben kann, kann man diesen Entscheid nicht ohne Weiteres als selbstbestimmt einstufen. Autonomie erfordert mithin im Mini- mum Exit-Möglichkeiten und diese setzen wiederum die Verfügung über Kompetenzen, Ressour- 59 cen und gewisse Rechte voraus.37 Genau auf diese individuellen und gesellschaftlichen Voraus- setzungen für ein selbstbestimmtes Leben entsprechend den eigenen Wertvorstellungen hebt der Capability-Ansatz (CA) ab, den auch Otto/Scherr/Ziegler (2010) für die Entwicklung der von ihnen angemahnten „evaluativen Metrik“ von Leiden respektive Wohlergehen herbeiziehen. Im Zentrum stehen Verwirklichungschancen als Möglichkeitsraum für Handeln und diese werden bestimmt durch die Verfügung über materielle Ressourcen und individuelle und soziale Umwandlungsfakto- ren: physische, psychische und kognitive Fähigkeiten sowie gesellschaftliche Normen, Institutio- nen und Strukturen (Robeyns 2005). Der Akzent liegt auf den realen Chancen (capabilities) und nicht auf den realisierten Lebensweisen (functionings), weil die Freiheit der selbstbestimmten Wahl zwischen Alternativen als intrinsischer Wert betrachtet wird. Damit vermeidet der CA mit Rekurs auf Respekt für das Individuum paternalistische Übergriffe im Sinne von Vorschriften für ein individuell gutes Leben. So hält Nussbaum (in Ziegler 2014: 271) kategorisch fest: „Where adult citizens are concerned, capability not functioning is the appropriate political goal“. Der CA postuliert insbesondere eine Verpflichtung der Gesellschaft, allen ihren Mitgliedern ein Mindest- mass an Verwirklichungschancen zu gewährleisten, was ihn attraktiv macht als normative Fun- dierung für die Soziale Arbeit (Otto et al. 2010) und für Geschlechtergleichstellung (Nussbaum 2003; 2011; Robeyns 2005; Nadai 2016). Mit Blick auf das Dilemma zwischen den Rechten von Individuen und Gruppen, wenn es um die Anerkennung von kultureller Differenz geht, ist überdies bedeutsam, dass der CA einen ethischen Individualismus vertritt: „It postulates that individuals, and only individuals, are the units of moral concern“ (Robeyns 2005: 107, kursiv hinzugefügt). Gefragt wird also immer nach den Effekten von Strukturen, Institutionen und Handeln auf das Wohlergehen von Individuen. Vor allem Nussbaum plädiert überdies mit Bezug auf das Problem adaptiver Präferenzen für die Festlegung von Mindeststandards für Verwirklichungschancen: We can only have an adequate theory of gender justice, and of social justice more generally, if we are willing to make claims about fundamental entitlements that are to some extent indepen- dent of the preferences people happen to have, preferences shaped, often, by unjust back- ground conditions. (Nussbaum 2003: 34) Nussbaums Liste von zehn „central capabilities“ als Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben ist mit Absicht allgemein und offen gehalten, um Raum für demokratische Aushandlung zu lassen (Nussbaum 2003: 42; 2011: 17-45). Unter anderem figurieren darauf beispielsweise das Recht auf körperliche Integrität und Bewegungsfreiheit, auf Respekt und Würde oder die Fähig- keit „to form a conception of the good and to engage in critical reflection about the planning of one’s life“ (2011: 34). Die abstrakte Formulierung der grundlegenden Verwirklichungschancen fordert dazu auf, sie kontextspezifisch im Dialog mit den Betroffenen zu konkretisieren. Systematische Reflexion normativer Dilemmata Sozialarbeitende wurden in der vorliegenden Studie als implizite geschlechterpolitische Akteurin- nen und Akteure betrachtet, die je nach Handlungsfeld und Institution mehr oder weniger gezielt oder nebenbei bzw. bewusst oder unbewusst Einfluss auf Geschlechterverhältnisse nehmen. Die empirische Analyse förderte diesbezüglich eine gewisse Ambivalenz zutage. Die befragten Sozi- 37 Okin (2002: 214ff.) merkt sehr zu Recht an, dass ein einseitiger Fokus auf die individuelle Chance unterdrückerische Verhältnisse zu verlassen, auf gesellschaftlicher Ebene konservative Tendenzen befördert. Denn indem dissidente Individuen eine Gruppe, in der sie benachteiligt sind, verlassen, verlieren sie auch die Chance, von innen Einfluss zu nehmen auf die Veränderung von Normen und Strukturen. 60 alarbeiterinnen und Sozialarbeiter fühlen sich der Anerkennung von Differenzen verpflichtet und möchten nicht als „Kolonialherren“ auftreten, die Menschen mit einem anderen kulturellen Hinter- grund ihre Normen aufoktroyieren. Wenn etwa argumentiert wird, ein patriarchales Familiensys- tem verstosse nicht gegen schweizerische Gesetze, 38 wird damit das Recht einer kulturellen Minderheit auf die Bewahrung ihrer traditionellen Geschlechterordnung über die Rechte der weib- lichen Angehörigen dieser Gruppe gestellt. Wie Feministinnen zu bedenken geben, geht jedoch eine solche relativistische Akzeptanz von scheinbar traditionellen Geschlechterordnungen auf gesellschaftlicher Ebene oft einseitig zulasten von Frauen, und kulturelle Minderheiten werden auf diese Weise als monolithischer behandelt als sie tatsächlich sind (Nussbaum 2011; Okin 2002; Phillips 2009). Phillips (2009) plädiert dafür, das Spannungsfeld von Anerkennung von Differenz und Geschlechtergleichheit nicht auf die Seite der Anerkennung hin aufzulösen, son- dern vom Standpunkt der Gleichheit aus zu argumentieren. Denn die Forderung nach Akzeptanz kultureller Diversität beruhe im Grunde genommen auf der Forderung nach Gleichberechtigung. Wenn Anerkennung in den Vordergrund gestellt werde, sei es argumentativ tatsächlich schwierig, Konflikte zwischen der Anerkennung kultureller Autonomie einer Gruppe und der Anerkennung des Rechts auf Gleichberechtigung einer Subgruppe innerhalb der Minderheit zu thematisieren. Wenn hingegen Anerkennung von Differenzen als Frage der Förderung von Gleichberechtigung diskutiert werde, wäre die Ungleichheit respektive Gleichberechtigung von Frauen auf gleicher Ebene angesiedelt und könnte nicht als nachrangiges Problem marginalisiert werden. Sie und andere Feministinnen betonen überdies, es müsse vor allem darum gehen, Frauen dazu zu er- mächtigen, patriarchalische Definitionen ihrer Kultur zu hinterfragen anstatt Differenzen einfach anzuerkennen. Insofern die befragten Sozialarbeitenden, wie gezeigt, mindesten teilweise auf die Ermächtigung von Frauen und Mädchen hinarbeiten, handeln sie in diesem Sinne gewissermas- sen gleichstellungsorientierter als sie sich gebärden. Wichtig wäre folglich vor allem in den Insti- tutionen ohne offensichtlichen Gleichstellungsauftrag eine bewusste und über den Einzelfall hin- ausreichende Reflexion von Praktiken, welche stillschweigend ohnehin ,mitlaufen’. Aus dem Pos- tulat des ethischen Individualismus des Capability-Ansatzes folgt überdies, dass normative Di- lemmata vom Wohlergehen des betroffenen Individuums aus zu analysieren sind. Überlegungen zur Wahrung kultureller Besonderheiten wären demgegenüber nachrangig. Wenn Soziale Arbeit berufsethisch zur Anerkennung von Differenz verpflichtet ist, bezieht sich das lediglich auf das Gebot der Nicht-Diskriminierung. Ähnlich verhält es sich in Bezug auf paternalistische Interventionen. Aus normativ begründetem, berechtigten Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht der Klientel scheuen die befragten Sozi- alarbeitenden vor paternalistischen Eingriffen gegenüber mündigen und handlungsfähigen Er- wachsenen zurück und übergeben die Verantwortung für folgenreiche Entscheidungen den Klien- tinnen und Klienten. Diese vorsichtige Haltung läuft indes Gefahr, in eine überzogene Responsi- bilisierung umzukippen. Auch in dieser Hinsicht wäre vermehrte inhaltliche Reflexion angezeigt und zwar einerseits in Bezug auf die Rechtfertigung von paternalistischem Handeln, anderseits bezüglich des Gehalts von Autonomie. Ziegler (2014: 261) schlägt für die Legitimation von pater- nalistischen Eingriffen in der Sozialen Arbeit die Kriterien der Autonomiefunktionalität und der Achtung der Würde der Person vor, die fallspezifisch auszulegen sind. Die oft genutzte Strategie der Ex-post-Zustimmung ist nach ihm deshalb ungenügend, weil damit eine eigentliche Begrün- dung für die Intervention umgangen wird und die zukünftige Zustimmung der Betroffenen zum 38 Im zitierten Beispiel der Präsenz von Müttern bei Elterngesprächen in der Schule (vgl. Kap. 5.3) handelt sich tatsächlich nicht um kodifizierte Rechte. 61 Zeitpunkt der Intervention lediglich eine hypothetisch und „kaum widerlegbar(e)“ Hoffnung ist (ebd.: 263). Wenn also eines der untersuchten Frauenhäuser Erziehungsvorschriften für die Kli- entinnen damit begründet, die Frauen seien oft dankbar dafür, weil sie bald sähen, dass es den Kindern besser gehe, ist dies keine hinreichende Begründung. Vielmehr, so Ziegler (ebd.: 262) „bedarf es zur Feststellung der Autoniomiefunktionalität Kriterien, die vor der (paternalistischen) Intervention selbst geprüft werden könne“. Im Hinblick auf die Wahrung der Würde der Person ist zunächst davon auszugehen, dass Subjekte über die Fähigkeit verfügen, einen eigenen Lebens- entwurf gemäss dem eigenen Urteilsvermögen zu bestimmen und zu revidieren, gleichzeitig aber darauf zu achten, dass die Würde der Person von sozialen Bedingungen abhängt. Es gilt insbe- sondere zu unterscheiden „zwischen dem je individuellen guten Lebens, das (...) vor äusseren Eingriffen zu schützen bleibt und dem autonomiekonstitutiven Möglichkeitsraum eines in relativer Allgemeinheit beschreibbaren guten menschlichen Lebens“ (ebd.: 263, kursiv i.O.). Soll Autono- mie nicht nur ein leeres Schlagwort bleiben, müsste jeweils berücksichtigt werden, über welche Handlungschancen die Klientinnen und Klienten effektiv verfügen, bevor man ihnen Autonomie abfordert. Wendet man das Postulat der Gewährleistung von minimalen Verwirklichungschancen des Cap- ability-Ansatzes auf die Soziale Arbeit an, impliziert dies Interventionen in zwei Richtungen. Zum einen geht es um den Schutz vor Gefährdung, z.B. der Gefährdung der körperlichen Integrität durch Gewalt, zum anderen um die Unterstützung der Entwicklung von Fähigkeiten. In Bezug auf den Schutz von Erwachsenen ist zu diskutieren, wie die Gewährleistung von Integrität gegenüber (informationeller) Selbstbestimmung abgewogen werden kann. In den Institutionen im Feld häus- liche Gewalt dreht sich der zentrale Normkonflikt für die Sozialarbeiterinnen um dieses Problem und um die Frage der Schaffung von Exit-Möglichkeiten für die betroffenen Frauen. Wie bereits betont treffen hier die normativen Haltungen der Sozialarbeitenden auf soziale Umwandlungsfak- toren – konkret: auf gesetzliche Regelungen zum Datenschutz oder zur Freiwilligkeit der Bera- tung in der Opferhilfe. Insofern ein Exit – sei es aus Gewaltverhältnissen im engeren Sinn oder aus einem die Entfaltungschancen begrenzenden Umfeld im weiten Sinn –„kein punktuelles, fi- xierbares Ereignis“ ist, sondern „viele Schritte im Rahmen eines Veränderungsprozesses“ bein- haltet (Markom/Rössl 2009: 93), erfordert die Förderung von Autonomie die Unterstützung von Bildungsprozessen. In der oben kurz skizzierten Autonomiedebatte werden als individuelle Vo- raussetzungen ein gewisses Selbstwertgefühl und die Fähigkeit, Optionen überhaupt wahrzu- nehmen und zu reflektieren, benannt. Zu fördern sind demnach in erster Linie „Fundamentalfä- higkeiten“ (Sedmak 2011: 46). Diese „Fähigkeiten, mit Fähigkeiten umzugehen“ (ebd.: 47) um- fassenr fünf Kompetenzen: Selbstreflexion, Entscheidungs- und Urteilsvermögen, die Fähigkeit zu Identifikation und Beziehungsaufbau, das Vermögen Alternativen zum Status Quo zu denken sowie die Fähigkeit, am eigenen Leben engagiert teilhaben zu können (ebd.: 48ff.). Die in der vorliegenden Studie diskutierten Normkonflikte lassen sich wie alle professionellen Handlungsdilemmata grundsätzlich nicht auflösen, müssen aber systematisch bearbeitet werden (Schütze 1996). Nach Schütze (ebd.: 248) ist „beherzte Selbst-Reflexion und Selbst-Gestaltung“ gefragt, damit Sozialarbeitende weder „ausschliesslich [als] Sprachrohr der Klientin“ noch als „konformistische Staatsvertreter(in)“ fungieren. Wichtig scheint uns, dass den Sozialarbeitenden in der Praxis ihre Gestaltungsmacht in Bezug auf Geschlechterverhältnisse bewusst ist und dass die Profession wo nötig auf gesellschaftliche und politische Veränderungen hinarbeitet. 62 Literatur Avenirsocial. 2010. Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz. Ein Argumentarium für die Praxis der Pro- fessionellen. URL: http://www.avenirsocial.ch/cm_data/Do_Berufs-kodex_Web_D_gesch.pdf [Zu- griffsdatum: 26. April 2016]. Baquero Torres, Patricia. 2012. Migration und Geschlecht in der Sozialen Arbeit. 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