LES ESPACES SONORES Stimmungen, Klanganalysen, spektrale Musiken PFAU Eine Publikation der Abteilung Forschung & Entwicklung der Hochschule für Musik Basel www.musikforschungbasel.ch LES ESPACES SONORES Stimmungen, Klanganalysen, spektrale Musiken herausgegeben von Michael Kunkel PFAU Mit freundlicher Unterstützung der ISBN 978-3-89727-541-6 © 2016 bei den Autoren und dem PFAU-Verlag, Büdingen Alle Rechte vorbehalten. Layout und Satz: PFAU-Verlag Umschlaggestaltung: Sigrid Konrad Printed in Germany PFAU-Verlag · Im Breul 9 · 63654 Büdingen www.pfau-verlag.de · info@pfau-verlag.de Inhalt Les sons sont quoi? von Michael Kunkel 9 Das Spektrum der griechischen Antike in der Musik Arc-en-ciel d’oreille klang jenseits der musik – musik jenseits des klanges von jakob ullmann 13 Zum Orestes-Fragment von Euripides überliefert auf dem Papyrus Wien G 2315 von Conrad Steinmann 31 Vieltönigkeit in der Alten Musik Viele Tasten – viele Töne Das Cimbalo cromatico und musikalische Praxis von Martin Kirnbauer 43 Selbstbefragungen Ich bin kein spektraler Komponist von Georg Friedrich Haas 61 Mimesis und Mimikry: (Selbst)kritische Anmerkungen zur musiktheo- retischen und kompositorischen Anwendung von Sonagrammen von Michel Roth 78 Musiques spectrales Zur »Liminalität« der Musik Debussys und Griseys von Lukas Haselböck 99 Skelett der Zeit. Körper des Klanges Die organische Metapher in Schriften und Werk von Gérard Grisey von Ewa Schreiber 113 5 Influence de la musique spectrale sur la composition du temps musical par Xavier Dayer 132 La conscience du lieu où l’on est Ulrich Mosch en conversation avec Hugues Dufourt, Jean-Luc Hervé et Marcin Stanczyk 139 Verzerrte Spektren Fausto Romitelli : An Index of Titles par Alessandro Arbo 149 Spektrale Spuren in Werken der jungen polnischen Komponisten von Jan Topolski 159 Dispositive von Natur Deutungszusammenhänge für Enno Poppes Salz von Björn Gottstein 176 Methoden angewandter Klanganalyse Klingende Geschichte Tondokumente als Grundlage musikwissenschaftlicher Interpretationsforschung von Lena-Lisa Wüstendörfer 191 Navigating Sample-Based Music Immediacy and Musical Control in Recent Electronic Works by Alexander J. Harker 201 Zwischen Anwendung und Konzept: Perspektiven der Sonifikation in Wissenschaft und Kunst von Torsten Möller 212 Sonifikation der menschlichen Stimme durch note~ for Max Ein Experiment von Thomas Resch 216 Musik im Lautsprecher, Musik jenseits des Lautsprechers Erfahrungsbericht zum Aufbau der Klanginstallationen Seesaw von Alvin Lucier und Grigio due von Hauke Harder beim Symposium Les Espaces sonores von Hauke Harder 220 6 Intonationen Modulation in 13-Limit Harmony by Stefan Pohlit 229 Mikrotonalität? Asymptotik? Ein insularer Traum von Manfred Stahnke 252 Die Musik hinter der Musik: Giacinto Scelsis Ondiola-Aufnahmen von Uli Fussenegger 266 Anhang Dokumentation Veranstaltungen des Projekts les espaces sonores. Stimmungen, Klanganalysen, spektrale Musiken an der Hochschule für Musik Basel und am Musikwissen- schaftlichen Seminar Basel im Studienjahr 2011/12 275 Autorinnen und Autoren 281 7 Les sons sont quoi? von Michael Kunkel Das Studienjahr 2011/12 mit zahlreichen Veranstaltungen und einem internationalen Symposium stand unter dem Titel les espaces sonores. Stimmungen, Klanganalysen, spektrale Musiken. Ein Großteil der Beiträge ist in diesem Band dokumentiert. Ganz verschiedene künstlerische und wissenschaftliche Ansätze finden hier Platz. So geht es beispielsweise nicht um die Spektrale Musik oder den »Spektralismus«, sondern um möglichst ver- schiedene Ausprägungen des Musizierens mit Teiltönen, eben: um spektrale Musiken. Fragt man sich nach den Gemeinsamkeiten der hier versammelten Beiträge, so fällt die Schnittmenge recht groß aus: Alle eint das Interesse an, sagen wir, speziellen Klang- erscheinungen, verbunden mit dem Verlangen, in vertiefter Auseinandersetzung mit ihnen eine möglichst hohe Klangempfindlichkeit zu entwickeln und Wahrnehmungs- routine durch Erkenntnisinteresse zu erfrischen. Dies führt zur Entdeckung seltener Klang-, Hör- und Denkräume. Es werden Verbindungen möglich zwischen weit aus- einanderliegenden Klangräumen, oder auch zwischen ganz nah nebeneinander liegenden Klang- bzw. Sprachräumen, wie etwa dem französischen und dem deutschen, zwischen denen es selbst an einem Grenzort wie Basel wenigstens hinsichtlich der Musik noch viel zu wenig Austausch gibt. Hier für eine etwas gesündere Durchblutung zu sorgen, ist eine Initialidee des Projekts. Eine andere Idee liegt darin, einige historische Klangkonzepte zum Teil experimenteller Natur (Tonsysteme der griechischen Antike, cimbalo cromatico, Debussys »Proto-Liminalität«, just intonation, Scelsis intuitive Kleinst- intervallik, Luciers Klanginstallationen etc.) im Kontext der heutigen Praxis nochmals neu durchzuspielen. In letzter Zeit ist eine vermehrte Beschäftigung mit dem Phänomen »Klang« recht auf- fällig; was erstaunen mag, wenn man bedenkt, dass die Emanzipation der Kategorie Klangfarbe ein anerkanntes Merkmal der Musik des 20. Jahrhunderts und damit kein so ganz neues Phänomen ist – ganz abgesehen davon, dass Klang im Medium Musik als unhintergehbare Substanz gilt. Wenn die Forschung erst seit relativ kurzem damit beginnt, sich diesem Phänomen in seiner ganzen Vielgestaltigkeit, Ungleichzeitigkeit und vor allem Unmittelbarkeit direkt zu stellen, mag dies verschiedene Gründe haben: Zunächst ist da die Ausrichtung der Musikwissenschaft im deutschsprachigen Raum, die zuvörderst eine historisch-philologische Disziplin ist und als solche eine unerhörte Virtuosität im Auswerten und Edieren von Schriftdokumenten entwickelt hat und sich vor allem der verbalen Überlieferung widmet. Der »Klang an sich« war und ist natürlich ein wichtiges Thema für Musikpraktiker; für sie gehört innovative und teils extrem auf- wändige Klangrecherche oftmals zum Tagesgeschäft, wobei die Ergebnisse der recherche sonore sich zuallermeist in musikalischer Praxis – also in »Klang« – manifestieren, um 9 sich dann gleich wieder zu verflüchtigen, so dass »Erkenntnisse« sich oftmals schwer festhalten lassen. Die Situation ändert sich, seitdem sich auch im deutschsprachigen Raum die Musikforschung verstärkt für die musikalische Praxis zu interessieren beginnt und Schnittstellen zwischen Forschung und künstlerischer Praxis zunehmend fruchtbar macht – in genau dieser Zone ist auch dieses Gemeinschaftsprojekt der Hochschule für Basel und dem Musikwissenschaftlichem Seminar der Universität Basel verortet. Diese Entwicklung ist ermutigend und erinnert daran, dass auch wissenschaftliches Arbeiten von sinnlicher Erfahrung abhängt – oder wäre es möglich, in kritischer Klang- forschung sogar eine besonders wache Form von Sinneswahrnehmung zu erkennen? Die beschriebene Tendenz hat sich in verschiedenen Paradigmenwechseln bereits mani- festiert: Schlagworte wie »perceptional turn«, »acoustic turn« scheinen uns Recht zu geben. In der Naturwissenschaft sind Verfahren der Sonifikation als auditive Erkennt- nistechniken von hoher Relevanz. Wo verläuft heute die Grenze zwischen »Klang« und »Sound«? Auditives kann dank medientechnischer Innovationen in nahezu sämtliche Bereiche unserer Lebenswelt eindringen, was Kunst und Wissenschaft vor neue Auf- gaben stellt. Man könnte fragen: Hat sich die Neue Musik in ihrer Klangverfeinerung nicht von dieser Lebenswelt entfernt? Ist sie nicht im Begriff, sich aus dem Bewusst- sein der Öffentlichkeit wegzusublimieren? Prägend für die Neue Musik ist oder war der Glaube daran, dass öffentliche Dinge klanglich sedimentieren. Nach einer anderen beliebten naturwissenschaftlichen Metapher ist das die seismographische Dimension von musikalischen Klängen, die aber auch verloren gehen kann: Kaum jemand, der heute genüsslich durch die Tonwolken von Ligetis Atmosphères gleitet, dürfte ahnen, dass die wohlige Klanginhalation die Erfahrung einer extremen zeitgeschichtlichen, politischen Spannung voraussetzt – das Werk gründet bekanntlich auf dem Konzept jener ver- botenen »schwarzen Musik«, die Ligeti während der Zeit der kommunistischen Diktatur in Ungarn im Geheimen entwickelt hatte. Wir kennen auch Grisey und sein sonores Manifest, nach dem das Modell für die Musik bitteschön nicht die Literatur sei, nicht das Theater, nicht die bildenden Künste, nicht die Quantentheorie, nicht die Geologie, nicht die Astrologie und schon gar nicht die Akupunktur, sondern der Klang, der Ton: »le son«. Sind aber die physikalischen Eigenschaften eines Klangs automatisch »musika- lischer« als solche, die man aus anderen Bereichen ableitet? Wovon sprechen die Klänge? Diese Frage ist selten leicht zu beantworten. Wir Europäer sind, im Jahre 104 nach Cage, noch immer nicht sehr begabt darin, Klänge sein zu lassen. Auch in der vorliegenden Sammlung nicht, deren Einzelperspektiven einen gemeinsamen Fluchtpunkt besitzen: im Raum zwischen wissenschaftlichem Dis- kurs und künstlerischer Praxis und der Möglichkeit, dort mit unserer Wahrnehmung zu experimentieren. Gedankt sei der Maja Sacher Stiftung Basel für die großzügige finanzielle Unterstüt- zung und Sigrid Konrad (PFAU-Verlag) für die verlegerische Betreuung und das sorg- fältige Lektorat, Anja Wernicke für die Zusammenstellung der Dokumentation im Anhang – sowie allen Autorinnen und Autoren für die inspirierende Mitarbeit. Michael Kunkel, im Oktober 2016 10 Das Spektrum der griechischen Antike in der Musik Arc-en-ciel d’oreille klang jenseits der musik – musik jenseits des klanges von jakob ullmann Wir können nicht behaupten, wir seien nicht gewarnt worden. Uns ist genau überliefert, dass sich lächerlich zu machen anschickt, wer den blick von der erde, von der uns umge- benden alltagswelt gen himmel richtet. Ausgerechnet jener mann kleinasiens, der noch von Platon zu den ›Sieben Weisen‹ gezählt wird und die liebe zur weisheit als berufs- stand etablierte – was ihm bis heute ungezählte akademiker danken! – verfiel dem lachen einer alten frau (nach anderer überlieferung dem lachen eines hausmädchens, von der diese überlieferung zu wissen glaubt, dass es ausnehmend hübsch gewesen sei) – als er – in betrachtung des himmels – in eine grube fiel.1 Thales, der erwähnte philosoph, hatte nicht nur durch seine auf berechnung beruhende vorhersage einer sonnenfinsternis viel zur entzauberung der welt beigetragen, sein blick in den himmel hatte in einem veritablen krieg gar entscheidende bedeutung gewonnen. Muss sich so jemand dem lachen einer thrakischen magd geschlagen geben? Orient gegen okzident, spekulation gegen den realismus des ›hier und jetzt‹, immer wieder wird uns diese konstellation begegnen, obwohl wir doch eigentlich nur fragen, ob der bogen spektral gebrochenen lichts am himmel ›nur‹ leuchtet oder ob er wo- möglich klingt und – wenn ja – wie oder ›wonach‹? Das ›nur‹ im vorhergehenden satz ist eine krasse untertreibung: in der jüdischen tradition ist es Gott selbst, der diese spektrale brechung des lichts als bogen des immerwährenden bundes zwischen ihm und seinen ungehorsamen abbildern in den himmel stellt2 – die griechischen sphären gebrochenen lichts erhalten ihre sprachliche artikulation an einem der einschneidendsten wendepunkte menschlicher geschichte, der hier allenfalls kurz skizziert werden kann3: es handelt sich um die erfindung, vielleicht die entdeckung der möglichkeit, mit einer begrenzten – und zwar einer auf eine bedenkenswert kleine anzahl! – von zeichen die gesamte, ja die gesamtheit der sprache zur repräsentieren. Nicht nur alle sätze, alle worte, die gesprochen wurden und werden – nein: alle möglichen 1 Diogenes Laertius, Βίοι καὶ γνῶμαι τῶν ἐν φιλοσοφίᾳ εὐδοκιμησάντων A 34: »Λέγεται δ’ ἀγόμενος ὑπὸ γραὸς ἐκ τῆς οἰκίας, ἵνα τὰ ἄστρα κατανοήσῃ, εἰς βόθρον ἐμπεσεῖν καὶ αὐτῷ ἀνοιμώξαντι φάναι τὴν γραῦν· » σὺ γάρ, ὦ Θαλῆ, τὰ ἐν ποσὶν οὐ δυνάμενος ἰδεῖν τὰ ἐπὶ τοῦ οὐρανοῦ οἴει γνώσεσθαι;«, vgl. auch Platon, Theaitetos 174a: »… ὥσπερ καὶ Θαλῆν ἀστρονομοῦντα, ὦ Θεόδωρε καὶ ἄνω βλέποντα, πεσόντα εἰς φρέαρ, Θρᾷττά τις ἐμμελὴς καὶ χαρίεσσα θεραπαινὶς ἀποσκῶψαι λέγεται, ὡς τὰ μὲν ἐν οὐρανῷ προθυμοῖτο εἰδέναι, τὰ δ’ ἔμπροσθεν αὐτοῦ καὶ παρὰ πόδας λανθάνοι αὐτόν.« 2 1. Mose 9.12–17. 3 Vgl. hierzu Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie. Schrift, Zahl und Ton im Medien- verbund, hrsg. von Wolfgang Ernst und Friedrich Kittler, München: Fink 2006. 13 worte und sätze, die jetzt und in zukunft sagbar sind, werden von der kleinen zahl der buchstaben-zeichen erfasst und optisch konserviert. Jorge Luis Borges’ imagination einer »unendlichen bibliothek«, die alle weisheit enthält und alle welträtsel schon gelöst hat, ist nur auf diesem hintergrund denkbar, dass nämlich mit erfindung des vokalalpha- bets alles was sagbar sein kann, in der kombination einer endlichen anzahl von zeichen in gewissem sinne schon vorhanden ist – man muss nur lange (oder schnell) genug die zeichen in verschiedenen konfigurationen kombinieren.4 Es ist vielleicht kein zufall – auch wenn ein klares bewusstsein für die stattgehabte revolution bei dem entdecker bzw. den entdeckern der vollständigen repräsentation der sprache nicht vorausgesetzt werden kann –, dass der vollständigkeit der repräsentation der sprache durch zeichen die benutzung dieser zeichen auch für die bereiche der mathematik (d. h. also der »lern- gegenstände«) und der tönenden areale der von den griechen ja umfassender als heute gedachten »musik« entspricht. Alltagssprache, wissenschaft und kunst werden in einen zusammenhang gleichartiger zeichen gestellt, der auf seine weise eine aussage darüber ist, wie über die gesamtheit der wirklichkeit gedacht und gesprochen werden kann und soll.5 Dass sich die frage der erkennbarkeit als frage der aussprechbarkeit und darstell- barkeit der welt in der von Thales »begründeten« disziplin sehr bald einen ort der dis- kussion schaffen würde, ist nicht verwunderlich. Es weist aber nachdrücklich auf den oben erwähnten zusammenhang zwischen alltagssprache, wissenschaft und kunst hin, dass einer der ersten (und eindrucksvollsten) texte, die dieser frage nachgehen, dies so tut, dass er nicht nur poesie und strenge wissenschaft vereint, sondern eben dies auch in das bild sphärischer klang- und lichtbrechung fasst: »Ἀλλ’ οὐ μέντοι σοι, ἦν δ’ ἐγώ, Ἀλκίνου γε ἀπόλογον ἐρῶ, ἀλλ’ ἀλκίμου μὲν ἀνδρός, Ἠρὸς τοῦ Ἀρμενίου, τὸ γένος Παμφύλου· ὅς ποτε ἐν πολέμῳ τελευτήσας, ἀναιρεθέντων δεκαταίων τῶν νεκρῶν ἤδη διεφθαρμένων, ὑγιὴς μὲν ἀνῃρέθη, κομισθεὶς δ’ οἴκαδε μέλλων θάπτεσθαι δωδεκαταῖος ἐπὶ τῇ πυρᾷ κείμενος ἀνεβίω, ἀναβιοὺς δ’ ἔλεγεν ἃ ἐκεῖ ἴδοι. ἔφη δέ, ἐπειδὴ οὗ ἐκβῆναι, τὴν ψυχὴν, πορεύεσθαι μετὰ πολλῶν, καὶ ἀφικνεῖσθαι (c) σφᾶς εἰς τόπον τινὰ δαιμόνιον, ἐν ᾧ τῆς τε γῆς δύ’ εἶναι χάσματα ἐχομένω ἀλλήλοιν καὶ τοῦ οὐρανοῦ αὖ ἐν τῷ ἄνω ἄλλα καταντικρύ. δικαστὰς δὲ μεταξὺ τούτων καθῆσθαι, οὕς, ἐπειδὴ διαδικάσειαν, τοὺς μὲν δικαίους κελεύειν πορεύεσθαι τὴν εἰς δεξιάν τε καὶ ἄνω διὰ τοῦ οὐρανοῦ, σημεῖα περιάψαντας 4 In: Jorge Luis Borges, El jardín de senderos que se bifurcan, Ficciones 1, 1944. 5 An dieser stelle darf der hinweis keinesfalls unterbleiben, dass der gebrauch der gleichen zeichen für »buchstaben«, »zahlen« und »töne« durchaus beträchtliche unterschiede aufweist! Während die ordnung der buchstaben-zeichen keiner stringenten regel unterliegt (sie ist kon- ventionell) und – was noch wichtiger ist! – die zeichenfolge hinsichtlich der repräsentierten phoneme dicht (was die erfindung neuer zeichen zur repräsentation der der griechischen sprache fremden phoneme keineswegs ausschließt) ist, trifft beides – und zwar in unterschiedlicher weise! – weder für die repräsentation der »zahlen« noch der »töne« zu. Die frage nach der ord- nung ist in beiden bereichen ebenso ein grundproblem dieser bereiche menschlicher denktätig- keit wie die frage nach der dichte der zeichen, d. h. die frage danach, was sich »zwischen« den zeichen befindet oder befinden könnte. Georg Cantors paradoxien des unendlichen sind an dieser stelle bereits dem denken ebenso eingeschrieben wie die frage der interpretation bzw. der infra- gestellung des ersten satzes von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus, ob nämlich die »welt« nicht auch das sei (oder sein könne), was nicht der fall ist! (vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1). 14 τῶν δεδικασμένων ἐν τῷ πρόσθεν, τοὺς δὲ ἀδίκους τὴν εἰς ἀριστεράν τε καὶ κάτω, ἔχοντας (d) καὶ τούτους ἐν τῷ ὄπισθεν σημεῖα πάντων ὧν ἔπραξαν. ἑαυτοῦ δὲ προσελθόντος εἰπεῖν ὅτι δέοι αὐτὸν ἄγγελον ἀνθρώποις γενέσθαι τῶν ἐκεῖ καὶ διακελεύοιντό οἱ ἀκούειν τε καὶ θεᾶσθαι πάντα τὰ ἐν τῷ τόπῳ. […] Ἐπειδὴ δὲ τοῖς ἐν τῷ λειμῶνι ἑκάστοις ἑπτὰ ἡμέραι γένοιντο, ἀναστάντας ἐντεῦθεν δεῖν τῇ ὀγδόῃ πορεύεσθαι, καὶ ἀφικνεῖσθαι τεταρταίους, ὅθεν καθορᾶν ἄνωθεν διὰ παντὸς τοῦ οὐρανοῦ καὶ γῆς τεταμένον φῶς εὐθύ, οἷον κίονα, μάλιστα τῇ ἴριδι προσφερῆ, λαμπρότερον δὲ καὶ καθαρώτερον· εἰς ὃ ἀφικέσθαι προελθόντες ἡμερησίαν ὁδόν, καὶ ἰδεῖν αὐτόθι κατὰ μέσον (c) τὸ φῶς ἐκ τοῦ οὐρανοῦ τὰ ἄκρα αὐτοῦ τῶν δεσμῶν τεταμένα - εἶναι γὰρ τοῦτο τὸ φῶς σύνδεσμον τοῦ οὐρανοῦ, οἷον τὰ ὑποζώματα τῶν τριήρων, οὕτω πᾶσαν συνέχον τὴν περιφοράν - ἐκ δὲ τῶν ἄκρων τεταμένον Ἀνάγκης ἄτρακτον, δι’ οὗ πάσας ἐπιστρέφεσθαι τὰς περιφοράς· οὗ τὴν μὲν ἠλακάτην τε καὶ τὸ ἄγκιστρον εἶναι ἐξ ἀδάμαντος, τὸν δὲ σφόνδυλον μεικτὸν ἔκ τε τούτου καὶ ἄλλων γενῶν. Τὴν δὲ τοῦ σφονδύλου (d) φύσιν εἶναι τοιάνδε· τὸ μὲν σχῆμα οἵαπερ ἡ τοῦ ἐνθάδε, νοῆσαι δὲ δεῖ ἐξ ὧν ἔλεγεν τοιόνδε αὐτὸν εἶναι, ὥσπερ ἂν εἰ ἐν ἑνὶ μεγάλῳ σφονδύλῳ κοίλῳ καὶ ἐξεγλυμμένῳ διαμπερὲς ἄλλος τοιοῦτος ἐλάττων ἐγκέοιτο ἁρμόττων, καθάπερ οἱ κάδοι οἱ εἰς ἀλλήλους ἁρμόττοντες, καὶ οὕτω δὴ τρίτον ἄλλον καὶ τέταρτον καὶ ἄλλους τέτταρας. ὀκτὼ γὰρ εἶναι τοὺς σύμπαντας σφονδύλους, ἐν ἀλλήλοις ἐγκειμένους, κύκλους ἄνωθεν τὰ χείλη (e) φαίνοντας, νῶτον συνεχὲς ἑνὸς σφονδύλου ἀπεργαζομένους περὶ τὴν ἠλακάτην· ἐκείνην δὲ διὰ μέσου τοῦ ὀγδόου διαμπερὲς ἐληλάσθαι. τὸν μὲν οὖν πρῶτόν τε καὶ ἐξωτάτω σφόνδυλον πλατύτατον τὸν τοῦ χείλους κύκλον ἔχειν, τὸν δὲ τοῦ ἕκτου δεύτερον, τρίτον δὲ τὸν τοῦ τετάρτου, τέταρτον δὲ τὸν τοῦ ὀγδόου, πέμπτον δὲ τὸν τοῦ ἑβδόμου, ἕκτον δὲ τὸν τοῦ πέμπτου, ἕβδομον δὲ τὸν τοῦ τρίτου, ὄγδοον δὲ τὸν τοῦ δευτέρου. καὶ τὸν μὲν τοῦ μεγίστου ποικίλον, τὸν δὲ τοῦ ἑβδόμου λαμπρότατον, τὸν δὲ τοῦ ὀγδόου τὸ χρῶμα ἀπὸ τοῦ ἑβδόμου ἔχειν (617a) προσλάμποντος, τὸν δὲ τοῦ δευτέρου καὶ πέμπτου παραπλήσια ἀλλήλοις, ξανθότερα ἐκείνων, τρίτον δὲ λευκότατον χρῶμα ἔχειν, τέταρτον δὲ ὑπέρυθρον, δεύτερον δὲ λευκότητι τὸν ἕκτον. Κυκλεῖσθαι δὲ δὴ στρεφόμενον τὸν ἄτρακτον ὅλον μὲν τὴν αὐτὴν φοράν, ἐν δὲ τῷ ὅλῳ περιφερομένῳ τοὺς μὲν ἐντὸς ἑπτὰ κύκλους τὴν ἐναντίαν τῷ ὅλῳ ἠρέμα περιφέρεσθαι, αὐτῶν δὲ τούτων τάχιστα μὲν ἰέναι τὸν ὄγδοον, δευτέρους δὲ (b) καὶ ἅμα ἀλλήλοις τόν τε ἕβδομον καὶ ἕκτον καὶ πέμπτον· [τὸν] τρίτον δὲ φορᾷ ἰέναι, ὡς σφίσι φαίνεσθαι, ἐπανακυκλούμενον τὸν τέταρτον, τέταρτον δὲ τὸν τρίτον καὶ πέμπτον τὸν δεύτερον. στρέφεσθαι δὲ αὐτὸν ἐν τοῖς τῆς Ἀνάγκης γόνασιν. Ἐπὶ δὲ τῶν κύκλων αὐτοῦ ἄνωθεν ἐφ‹ ἑκάστου βεβηκέναι Σειρῆνα συμπεριφερομένην, φωνὴν μίαν ἱεῖσαν, ἕνα τόνον· ἐκ πασῶν δὲ ὀκτὼ οὐσῶν μίαν ἁρμονίαν συμφωνεῖν. ἄλλας δὲ καθημένας πέριξ δι‹ ἴσου τρεῖς, ἐν θρόνῳ (c) ἑκάστην, θυγατέρας τῆς Ἀνάγκης, Μοίρας, λευχειμονούσας, στέμματα ἐπὶ τῶν κεφαλῶν ἐχούσας, Λάχεσίν τε καὶ Κλωθὼ καὶ Ἄτροπον, ὑμνεῖν πρὸς τὴν τῶν Σειρήνων ἁρμονίαν, Λάχεσιν μὲν τὰ γεγονότα, Κλωθὼ δὲ τὰ ὄντα, Ἄτροπον δὲ τὰ μέλλοντα. καὶ τὴν μὲν Κλωθὼ τῇ δεξιᾷ χειρὶ ἐφαπτομένην συνεπιστρέφειν τοῦ ἀτράκτου τὴν ἔξω περιφοράν, διαλείπουσαν χρόνον, τὴν δὲ Ἄτροπον τῇ ἀριστερᾷ τὰς ἐντὸς αὖ ὡσαύτως· τὴν δὲ Λάχεσιν d) ἐν μέρει ἑκατέρας ἑκατέρᾳ τῇ χειρὶ ἐφάπτεσθαι.«6 6 Platon, Politeia X 614b, 616b–617d: »Ich will dir aber keine Geschichte wie die bei Alkinoos [dem Phäakenkönig] erzählen, sondern von einem mutigen Manne, nämlich Eer, dem Sohn des Armenios, der der Herkunft nach ein Pamphylier war. Dieser war einst im Krieg gefallen und wurde nach zehn Tagen, als die [übrigen] Toten in Verwesung übergegangen waren, unversehrt aufgehoben und nach Hause gebracht, um bestattet zu werden. Als er am zwölften Tage auf dem Scheiterhaufen lag, erwachte er wieder zum Leben und berichtete, was er dort gesehen habe. 15 Angesichts dieses merkwürdigen und überwältigenden platonischen textes treten wir einen schritt zurück und beginnen von neuem: Er sagte, dass die Seele, nachdem sie den Körper verlassen habe, mit vielen anderen gewandert sei, bis sie schließlich einen seltsamen Ort erreicht hätten, an dem sich in der Erde und des- gleichen am Himmel oben diesen gegenüber zwei aneinandergrenzende Spalten befunden hätten. Zwischen diesen hätten Richter gesessen, […] die, als nun auch er selbst herangekommen sei, zu ihm sagten, dass er für die Menschen zum Boten dessen, was dort ist, werden und alles, was er an diesem Ort hört und schaut, verkündigen solle. […] Immer nachdem für die, die sich auf der Wiese befanden, sieben Tage vergangen waren, müssten sie am achten Tage aufstehen und loswandern. Am vierten Tage kämen sie dann dorthin, wo von oben herab durch den gesamten Himmel und die Erde ein gerades Licht gespannt sei, am ehesten einem Regenbogen vergleichbar aber strahlender und reiner. Nach einer weiteren Tagesreise führe sie ihr Weg in dieses [Licht] hinein und sie sähen dort mitten in diesem Licht vom Himmel her die Spitzen seiner Fesseln ausgespannt. Dieses Licht nämlich sei das fesselnde Band des Himmels, welches den Gurttauen, die die Triëren von aussen in ihrem gesamten Umfang zusammenhalten, gleiche. An den Enden aber sei die Spindel der Ananke [der Notwendigkeit] befestigt, durch die alle Umschwünge in Drehung versetzt würden. An dieser befinde sich auch die Spindelstange und der stählerne Spindelhaken, der Wirtel aber sei eine Mischung aus Stahl und anderen Stoffen. Die Gestalt des Wirtels aber sei die folgende: das Aussehen gleiche dem hiesigen. Nach dem, was er sagte, musste man es aber so verstehen, dass seine [also die des Wirtels] Beschaffenheit so sei, als wenn in einem größeren und ausgehöhlten Wirtel ein ebensolcher kleinerer hineingepasst wäre, genauso wie es sich bei Krügen verhielte, die ineinandergestellt werden. Auf diese Weise [seien] auch ein dritter und vierter und noch vier weitere [Wirtel miteinander verbunden]. Insgesamt gäbe es acht ineinanderliegende Wirtel, die nach oben hin ihre Ränder als Kreise erscheinen ließen. Um die Spindel aber bildeten sie eine einzige [zusammenhängende] Rückenfläche, jene sei aber mitten durch die Achtheit hindurch getrieben worden. Der erste und äußerste Wirtel habe den breitesten Kreis des Randes, der zweite [der Größe nach] sei der des sechsten, der dritte der des vierten, der vierte der des achten, der fünfte der des siebenten, der sechste der des fünften, der siebente der des dritten, der achte der des zweiten [Wirtels]. Der des größten sei bunt, der des siebenten sei der glänzendste, der des achten erhalte seine Farbe durch die Leuchtkraft, die der siebte habe, der zweite und der fünfte ähnelten einander, sie seien gelblicher als jene, der dritte habe die weißleuchtendste Farbe, der vierte sei rötlich, der zweite übertreffe mit seinem weissen Glanz den sechsten. Die ganze Spindel drehe sich nun insgesamt zwar mit ihrer eigenen Drehbewegung, aber in diesem gesamten Schwung würden sich die sieben inneren Kreise ruhig in einer dem Ganzen entgegengesetzen Drehung bewegen. Von diesen [inneren] wiederum bewege sich der achte am schnellsten, als zweite folgten die in der Drehgeschwindigkeit miteinander vergleichbaren Kreise Sieben, Sechs und Fünf. Danach folge, so sei es erschienen, als dritter der vierte, vierter der dritte und schließlich als fünfter der zweite. Die Drehung der Spindel aber vollziehe sich im Schoße der Ananke [Notwendigkeit]. Oben auf den Kreis[rändern] säßen jeweils die Drehung mitvollziehende Sirenen, welche eine Stimme und einen Ton ertönen lassen. Aus allen acht klänge eine einzige Harmonie zusammen. Drei andere aber säßen jede auf einem Thron ringsherum in jeweils gleicher Entfernung, nämlich die auf dem Haupte bekränzten Töchter der Ananke, die Moiren Lachesis, Klotho und Atropos. Sie sängen Hymnen zur Harmonie der Sirenen und zwar Lachesis das Vergangene, Klotho das Gegenwärtige, Atropos aber das Zukünftige. Klotho drehe die äußerste Sphäre der Spindel von Zeit zu Zeit mit, indem sie den Umschwung mit der rechten Hand berühre, Atropos handele mit der Linken ebenso bei den inneren [Sphären], Lachesis aber berühre der Reihe nach jede mit jeder [Hand].« 16 Wie in der geschichte menschlicher taten gibt es auch in der geschichte des mensch- lichen geistes momente, an denen der lauf der historie wie der gedanken merkwürdig innehält, orte, an denen sie gleichsam auf sich selbst zurück- oder in so viele verschiedene richtungen gleichzeitig zu blicken scheint, dass jede entscheidung, diktiert von der un- erbittlich verfließenden Zeit, nur um so deutlicher das unabgegoltene als verlust auf dem weiteren weg der entwicklung auf schmerzliche weise spürbar werden lässt. Schon die augenblicke der geschichte menschlicher taten, in denen das schlachtenglück sich entschieden hat, herrscher weitblickende oder verhängnisvolle entscheidungen getroffen haben, ja scheinbar lächerlich nebensächliche begleitumstände bedeutsame, sogar weltgeschichtlich wirksame folgen zeitigten, üben einen nur schwer zu zügelnden reiz auf die phantasie dahingehend aus, dass sie immer neu sich ausmalt, ob es nicht glücklichere gefilde hätten sein können, in die der dornenreiche pfad der geschichte führte, wenn Nike ein wenig länger gezögert hätte, den sieg zu vergeben, wenn die einsicht oder das wissen der herrschenden größer, die eine oder andere tür nicht nur in Konstantinopel verschlossen geblieben wäre. Setzt die geschichte solchen verlockungen der phantasie durch ihre unwandelbare fak- tizität enge und unübersteigliche grenzen, so reizen die unabgegoltenen momente in der geschichte des geistes das nachforschen umso mehr, als ja die freiheit von denken und erinnern weder durch ort noch durch zeit, sondern allein durch die Sache selbst be- grenzt wird. Die in vieler hinsicht merkwürdige erzählung des seltsamen mannes aus dem osten, die Platon vor mehr als 2300 Jahren an das ende seines ausgedehnten gespräches über das gemeinwesen gestellt hat, der der eben zitierte text entnommen wurde, muss sicherlich zur reihe solcher momente gezählt werden, die die geistesgeschichte der menschheit seit ihrer ersten formulierung nicht mehr losgelassen haben. Natürlich wird man nicht leugnen wollen, dass die gewaltige sprachkraft dieses textes ebenso wie das dunkle leuchten der bilder, ja gerade die nur partielle verständlichkeit der formulierungen, die der autor vielleicht nicht nur in kauf genommen, sondern beabsichtigt hat, ein wesentliches dazu beigetragen haben, dass dieser text nicht nur nicht mehr aus den archiven menschlichen geistes, sondern sogar aus dem tätigen nachdenken über seine niederschrift nie ganz verschwunden ist. Aber sollte dies ausreichen, die bis heute fortdauernde wirkungsgeschichte und faszination eines textes zu erklären, der doch in eigentlich allen seines détails so beschaffen ist, dass man ihn leichter unter jene nicht eben seltenen hervorbringungen menschlicher phantasie einordnen würde, bei denen allenfalls hohes alter und ihre literarische qualität das geradezu abstruse ihres inhaltes goutierbar macht? Vielleicht ist es ja die majestätisch gemessene ruhe, in der die stete, immer neue und weiterreichende synthesen anvisierende steigerung der erzählung schließlich im zusammenklang aus der harmonie der sphären des himmels mit den hymnengesängen der das menschliche und irdische mitumfassenden einheit der geschichte von vergangenheit, gegenwart und zukunft kulminiert, die gerade jenseits aller späterhin auf die eine oder andere weise entfalteten détails, etwas ganzem und vollkommenen ausdruck verleiht, was den uns näheren jahrhunderten nur noch als imperativ, als traum- und wunschbild oder als ver- lust formulierbar war. So tönt ein fernes echo dieses gewaltigen zusammentreffens aus 17 homophonie der sphären und der polyphonie der zeiten fort in der zusammenschau von moralischem gesetz und der erhabenheit des sternhimmels bei Kant7, es tönt fort im monumentalen beginn der »Weltalter« bei Schelling8, Goethe versichert sich seiner9 und selbst noch in den ausweglosen Todesnächten der Schützengräben des ersten welt- krieges, so weiß es Karl Kraus, »vor euch der Feind, hinter euch das Vaterland« glänzen am himmel »über euch die ewigen Sterne!«.10 Mathematik und dichtung, mythos und logos, klang und bild gehen bei Platon eine verbindung ein, die die welt umfassend, selber nicht mehr »von dieser Welt ist«. Weil aber vor dieser einheit des kosmos auch die lebenden und die toten als einheit des menschen- geschlechts sichtbar werden, hat Platon den schritt über die eigene und seiner zeit heilige tradition hinaus gewagt. Nicht wie Odysseus vorm könig der phäaken spricht hier der philosoph, nicht bei Homer also holt er sich versicherung seiner nachricht. Er verlässt den griechischen kulturraum und – was vielleicht noch erstaunlicher ist – er wendet sich auch nicht zu den sonst von ihm so geschätzten alten quellen ägyptischen wissens. Es ist ein pamphylier, ein mann aus dem den griechen so feindlichen osten, der hier vom klang der himmel erzählt. Kaum deutlicher konnte der philosoph den ernst und die weite der erstreckung dieser erzählung aus dem osten uns zu verstehen geben. Noch wo er in bildern spricht, lässt er sie hinter sich. Es dürften dies nicht die geringsten gründe sein, warum die versuche der klanglichen darstellung einer an diesen bildern orientierten himmelsmechanik in aller regel zu so ernüchternden ergebnissen geführt haben und führen. Aber wenn es sich denn so verhält, wie Platon es beschreibt – warum hören wir dann nichts? Nicht die grandiosen umläufe und umschwünge und nicht die erzählungen von anfang, mitte und ende der geschichte, die uns Lachesis, Klotho und Atropos singen? Ist der klang für uns nur erfahrbar um den preis seiner grundsätzlichen abschneidung als raum-, zeit und klanghintergrund der gesamtheit aller wirklichkeit? Oder anders: ist dieser hintergrund erst jenseits des lebens angesiedelt? Marcus Tullius Cicero weiß eine antwort: Cum in Africam venissem M’. Manilio consuli ad quartam legionem tribunus, ut scitis, militum, nihil mihi fuit potius, quam ut Masinissam convenirem regem, familiae nostrae iustis de causis amicissimum. […]. 7 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Beschluß, in: ders., Werke in 6 Bänden, Darm- stadt: Wiss. Buchgesellschaft 1998, bd. IV, s. 300 , »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nach- denken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« (Hervor- hebung im Original) 8 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch, in: ders., Schriften von 1813–1830, Darmstadt 1989, s. 5; »Das Vergangene wird gewußt, das Gegenwärtige wird erkannt, das Zu- künftige wird geahndet.« 9 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Prolog im Himmel: »Die Sonne tönt nach alter Weise / in Brudersphären Wettgesang, / und ihre vorgeschriebne Reise / vollendet sie mit Donnergang …« 10 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, V. akt, 54. szene, Wien: Die Fackel 1921, s. 684– 696; »[Ihr] fielet nicht bei einem Schritt nach hinten in die Mördergrube eures Vaterlands. Vor euch der Feind, hinter euch das Vaterland und über euch die ewigen Sterne!« (s. 695). 18 (6,10) Post autem apparatu regio accepti sermonem in multam noctem produximus, cum senex nihil nisi de Africano loqueretur omniaque eius non facta solum, sed etiam dicta meminisset. Deinde, ut cubitum discessimus, me et de via fessum, et qui ad multam noctem vigilassem, artior quam solebat somnus complexus est. Hic mihi (credo equidem ex hoc, quod eramus locuti; fit enim fere, ut cogitationes sermonesque nostri pariant aliquid in somno tale, quale de Homero scribit Ennius, de quo videlicet saepissime vigilans solebat cogitare et loqui) Africanus se ostendit ea forma, quae mihi ex imagine eius quam ex ipso erat notior; quem ubi agnovi, equidem cohorrui, sed ille: Ades, inquit, animo et omitte timorem, Scipio, et, quae dicam, trade memoriae. […]. (6,15) Homines enim sunt hac lege generati, qui tuerentur illum globum, quem in hoc templo medium vides, quae terra dicitur, iisque animus datus est ex illis sempiternis ignibus, quae sidera et stellas vocatis,    quae globosae et rotundae, divinis animatae mentibus, circulos suos orbesque conficiunt celeritate mirabili. […]. (6,16) … ea vita via est in caelum et in hunc coetum eorum, qui iam vixerunt et corpore laxati illum incolunt locum, quem vides, (erat autem is splendidissimo candore inter flammas circus elucens) quem vos, ut a Graiis accepistis, orbem lacteum nuncupatis; ex quo omnia mihi contemplanti praeclara cetera et mirabilia videbantur. Erant autem eae stellae, quas numquam ex hoc loco vidimus, et eae magnitudines omnium, quas esse numquam suspicati sumus, ex quibus erat ea minima, quae ultima a caelo, citima a terris luce lucebat aliena. Stellarum autem globi terrae magnitudinem facile vincebant. Iam ipsa terra ita mihi parva visa est, ut me imperii nostri, quo quasi punctum eius attingimus, paeniteret. (6,17) Quam cum magis intuerer, Quaeso, inquit Africanus, quousque humi defixa tua mens erit? Nonne aspicis, quae in templa veneris? Novem tibi orbibus vel potius globis conexa sunt omnia, quorum unus est caelestis, extumus, qui reliquos omnes complectitur, summus ipse deus arcens et continens ceteros; in quo sunt infixi illi, qui volvuntur, stella rum cursus sempiterni; cui subiecti sunt septem, qui versantur retro contrario motu atque caelum; ex quibus unum globum possidet illa, quam in terris Saturniam nominant. Deinde est hominum generi prosperus et salutaris ille fulgor, qui dicitur Iovis; tum rutilus horribilisque terris, quem Martium dici tis; deinde subter mediam fere regionem sol obtinet, dux et princeps et moderator luminum reliquorum, mens mundi et temperatio, tanta magnitudine, ut cuncta sua luce lustret et compleat. Hunc ut comites consequuntur Veneris alter, alter Mercurii cursus, in infimoque orbe luna radiis solis accensa conver- titur. Infra autem iam nihil est nisi mortale et caducum praeter animos munere deorum hominum generi datos, supra lunam sunt aeterna omnia. Nam ea, quae est media et nona, tellus, neque movetur et infima est, et in eam feruntur omnia nutu suo pondera. (6,18) Quae cum intuerer stupens, ut me recepi, Quid? hic, inquam, quis est, qui con- plet aures meas tantus et tam dulcis sonus? Hic est, inquit, ille, qui intervallis disiunctus inparibus, sed tamen pro rata parte ratione distinctis inpulsu et motu ipsorum orbium efficitur et acuta cum gravibus temperans varios aequabiliter concentus efficit; nec enim silentio tanti motus incitari possunt, et natura fert, ut extrema ex altera parte graviter, ex altera autem acute sonent. Quam ob causam summus ille caeli stellifer cursus, cuius conversio est concitatior, acuto et excitato movetur sono, gravissimo autem hic lunaris atque infimus; nam terra nona inmobilis manens una sede semper haeret complexa medium mundi locum. Illi autem octo cursus, in quibus eadem vis est duorum, septem efficiunt distinctos intervallis sonos, qui numerus rerum omnium fere nodus est; quod docti homines nervis imitati atque cantibus aperuerunt sibi reditum in hunc locum, sicut alii, qui praestantibus   ingeniis in vita humana divina studia coluerunt. (6,19) Hoc sonitu oppletae aures hominum obsurduerunt; nec est ullus hebetior sensus in vobis, sicut, ubi Nilus ad illa, quae Catadupa nominantur, praecipitat ex altissimis montibus, ea gens, quae illum locum adcolit, propter magnitudinem sonitus sensu audiendi caret. Hic vero tantus est totius mundi incitatissima conversione sonitus, ut eum 19 aures hominum capere non possint, sicut intueri solem adversum nequitis, eiusque radiis acies vestra sensusque vincitur. Haec ego admirans…«11 11 Marcus Tullius Cicero, De re publica, Somnium Scipionis 9, 10, 15, 16–19: »Als ich nach Afrika gekommen war als Militärtribun, […] hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als Masinissa aufzusu- chen, den König, der unserer Familie aus berechtigten Gründen besonders befreundet war. […] Mit königlichem Aufwand aufgenommen, zogen wir das Gespräch bis tief in die Nacht hin, wobei der Greis nur über Africanus sprach und sich nicht nur aller seiner Taten, sondern auch seiner Worte erinnerte. Darauf, als wir zum Schlafengehen aufgebrochen waren, umfing mich ein tieferer Schlaf als gewöhnlich, weil ich von der Reise ermüdet und bis tief in die Nacht wach gewesen war. Da zeigte sich mir […] Africanus in einer Gestalt, die mir von seinem Wachsbild eher als von ihm selbst vertraut war. Als ich ihn erkannte, schrak ich zusammen. Aber jener sagte: ›Sei getrost und verbanne die Furcht, Scipio, und was ich dir sagen werde, das präge dir ins Gedächtnis ein. […] Die Menschen nämlich sind unter jenem Gesetz gezeugt, dass sie die Kugel, die du in diesem Tempel in der Mitte siehst und welche Erde genannt wird, schützen sollen und es ist ihnen ein Geist gegeben aus jenen ewigen Feuern, die ihr Gestirne und Sterne nennt, die kugelförmig und mit göttlichem Geist beseelt, ihre Kreise und Bahnen mit wunderbarer Schnelligkeit erfüllen. […] Dieses Leben ist der Weg zum Himmel, in dem Kreis derer, die schon gelebt haben und vom Körper gelöst jenen Ort bewohnen, den du siehst – es war dies aber ein Kreis zwischen den Flammen, im strahlendsten Schimmer erglänzend –, den ihr, wie ihr es von den Griechen ver- nommen, Milchstraße nennt.‹ Ich betrachtete mir alles und es erschien mir herrlich und wunderbar. Die Sterne, die wir nie von diesem Ort aus gesehen haben, waren von einer Größe, wie wir es niemals vermutet hatten; von ihnen aus war derjenige der Kleinste, der als letzter vom Himmel aus gesehen, als nächster von der Erde aus, in einem fremden Licht leuchtete. Die Kugeln der Sterne aber übertrafen die Größe der Erde mit Leichtigkeit. Die Erde selber erschien mir so klein, dass es mich unseres Reiches, mit dem wir sozusagen nur einen Punkt von ihr anrühren, reute. Als ich sie weiter betrachtete, sagte Africanus: ›Ich bitte dich, wie lange wird dein Geist am Boden haften bleiben? Siehst du nicht, in welche Tempel du gekommen bist? In neun Kreisen oder besser Kugeln ist alles miteinander verbunden. Eine von ihnen ist die himmlische, die äußerste [Sphäre], die alle übrigen umfasst, der höchste Gott selber, die übrigen einschließend und umfassend. An ihm sind die ewig kreisenden Bahnen der Sterne befestigt. Unter ihm liegen sieben, welche sich rückwärts drehen in entgegengesetzter Bewegung zur Himmelssphäre. Von jenen hat eine Kugel den Stern besetzt, den sie auf der Erde den Saturn nennen. Danach folgt das blitzende Glänzen, das, dem Menschengeschlecht günstig und heilsam, Jupiter genannt wird, sodann rötlich schimmernd und der Erde schrecklich, jenes was Mars heißt. Darauf hat, indem sie darunter etwa die Mitte hält, die Sonne ihren Platz, die Führerin und Lenkerin der übrigen Lichter, Seele und Herrscherin der Welt und mit solcher Größe ausgestattet, dass sie alles mit ihrem Lichte bescheint und erfüllt. Ihr nun folgen wie Begleiter die Bahnen von Venus wie Merkur, im untersten Kreis dreht sich, von der Strahlen der Sonne erleuchtet, der Mond. Darunter aber ist nichts mehr was nicht sterblich und hinfällig wäre, außer den Seelen, die zum Geschenk gemacht, die Götter dem Menschengeschlecht gaben. Oberhalb des Mondes ist alles ewig. Sie aber, die die Mitte und die neunte [der Kugeln] ist, die Erde, ist nicht bewegt und als Unterster strebt zu ihr alles Gewicht durch die eigene Schwere.‹ Als ich dies nun mit Staunen betrachtete, sagte ich, mich fassend: ›Was ist das hier? Was ist dieser so große und süße Ton, der meine Ohren erfüllt?‹ ›Das ist jener Ton‹, sagte er, ›der, mit ungleichen jedoch in ihrem bestimmten Verhältnis sinnvoll geteilten Intervallen, durch Schwung und Bewegung der Sphären selber bewirkt und, indem auf ausgeglichene Art das Hohe mit dem Tiefen gemischt wird, verschiedene Harmonien hervorruft. So gewaltige Bewegungen nämlich können nicht in der Stille angetrieben werden und die Natur bringt es mit sich, dass das Äußerste auf der einen Seite tief, auf der anderen Seite hoch tönt. Daher bewegt sich jene sternentragende 20 Dieses zitat steht bei Cicero am ende seines nachdenkens über die »öffentlichen sache« (De re publica) im sogenannten »traum des Scipio«. Indem der lateinische autor nicht nur den ort für sein nachdenken über den jenseitigen klang an Platon vergleichbarer stelle des werkes bestimmt, sondern auch die ideen- und bilderwelt des griechischen phi- losophen paraphrasierend aufnimmt, folgt er einem zug seiner zeit, ja einer die römische antike über weite strecken begleitenden prägung. Griechische originale wurden nicht selten wie Homers epen durch Vergil weitergedacht und weitergedichtet, in andere zu- künfte verlängert oder mit anderen hintergründen der vergangenheit versehen, um im neuen kontext des werdenden imperiums eine nicht unwesentliche Rolle bei der kul- turellen und geistigen selbstvergewisserung zu spielen. Insofern ist der text des römers, der in der welt der politik beheimateter und (zeit- weise) weit erfolgreicher war als der grieche ungefähr dreihundert Jahre vor ihm, interessant weniger in seiner abhängigkeit von der erzählung des Eer als in den beträcht- lichen abweichungen und neuausrichtungen, die er vornimmt. Man wird es kaum allein dem ganz anderen sprachcharakter, den das lateinische im vergleich zum griechischen hat, zuschreiben können, dass Ciceros traumbeschreibung selbst da, wo sie die bilder des platonischen originals aufzunehmen und weiterzudenken versucht, einen phi- losophischen in einen literarischen text verwandelt. Indem sie sich um klarheit, was den blickpunkt des betrachters angeht, ebenso um klarheit bei der zuordnung der himmels- sphären und um erfassbare verhältnisse bei der beschreibung und der erklärung ihrer bewegungen bemüht, opfert sie in mehr als einer hinsicht die tiefendimension des plato- nischen textes12. Wo Platon kosmos und geschichte im gemeinsamen erklingen höherer polyphonie noch zusammendenken konnte, bleibt bei Cicero nur ein ominöser »ton«, der sich aus den intervallverhältnissen der planetengeschwindigkeiten ergibt. Aber nicht einmal den kann der mensch – so Cicero – noch hören. Verbunden mit der entdeckung der pythagoräer, denen es schon vor Platon durch experimente an saiten gelungen war, die schwingungsverhältnisse von tonintervallen zu bestimmen und auf einfache Himmelsbahn, deren Umdrehung schneller ist mit einem hohen und erregteren Ton, die des Mondes aber als unterste mit dem tiefsten. Die Erde nämlich als die Neunte bleibt unbeweglich immer an ihrem Platz, indem sie die Mitte der Welt einnimmt. Jene acht Bahnen aber, von denen zwei dieselbe Kraft besitzen, erzeugen sieben durch Intervalle unterschiedene Töne, deren Zahl der Knoten aller Dinge ist, was von gelehrten Männern mit Saiten und Stimmen nachgeahmt wurde. Diese haben sich damit die Rückkehr zu diesem Ort erschlossen, wie jene anderen, die vermöge überragender Geisteskraft im menschlichen Leben göttliche Studien gepflegt haben. Von diesem Ton sind die Ohren der Menschen völlig erfüllt worden und dadurch ertaubt; es ist bei euch ja auch keiner der Sinne abgestumpfter. [Dies verhält sich so] wie dort, wo der Nil von den höchsten Bergen zu einem Ort niederstürzt, der [auf Grund dieser Tatsache] ›Katadupa‹ genannt wird, das ansässige Volk wegen der Gewalt des Geräusches, des Gehörs entbehrt. Der Ton [der himmlischen Harmonie] aber ist in Wahrheit wegen der überaus raschen Umdrehung des gesamten Kosmos derart gewaltig, dass ihn die Ohren der Menschen nicht fassen können, ebenso wie ihr auch die Sonne nicht direkt anschauen könnt und durch ihre Strahlen euer Gesicht und euer Sehvermögen besiegt wird.‹ Ich konnte dies nur bewundern …« 12 Gemahnt es nicht geradezu an uns weit nähere diskussionen, wenn aus einer jenseitsvision, einer im göttlichen auftrag verkündeten wirklichkeitsschau die traumdeutung wird? 21 zahlenverhältnisse zurückzuführen, konnten nun liebliche tonleitern und sympho- nische klänge der planetenharmonie imaginiert werden. Aber sollte das für den verlust entschädigen, den die reduktion der erzählung aus dem osten zum afrikanischen traum eines römers weitab von den gefahren der wanderung des Eer mit sich brachte? Immerhin hat Cicero den preis, den er und seine nachfolger für die harmonie der himmel zu zahlen bereit waren, nicht verschwiegen. Mit der scharfen trennung zwischen der welt »über dem mond« und dem sterblichen und hinfälligen chaos der menschlichen welt darunter hat er jener preisgabe der einheit der wirklichkeit ausdruck verliehen, die nur allzu gern Platon zum vorwurf gemacht wird. Aber gerade hier wird der strikte gegensatz zu Platon offenbar: die harmonie der sphären, der wohlklang der himmel ist nun daran gebunden, dass die geschichte des menschen, seine schicksale und seine erinnerung davon getrennt sind. Kaum je ist dieser χωρισμός, diese strikte trennung bewegender in worte gefasst worden als von Hölderlin13. Seinem Hyperion ist die wandelbarkeit und hinfälligkeit der sublunaren welt zu schrecklicher brandung geworden, die ihn zum blinden spielball ungewisser kräfte werden lässt. Die »seeligen Genien« aber, die »droben im Lichte« wandeln, welcher »Geist« mag es sein, der ewig ihnen blüht, wenn sie, »schiksaallos wie der schlafende Säugling«, in »bescheidener Knospe« bewahrt bleiben? Merkwürdiger als das ertauben der menschen für den klang der himmel, das die oben gestellte frage beantworten soll, bleibt in Ciceros traumbild die tatsache, dass die menschen nicht gänzlich des gehörs entbehren. Ein echo nämlich der harmonie der sphären, das die geräusche der sublunaren welt durcheilte, so wie der autor es für die strahlen der sonne konstatiert, dies ist seinem bild verwehrt. Vielleicht haben deshalb die musiker lange und gern die klänge der sterne den mathematikern und physikern, allenfalls den dichtern überlassen. Noch einmal etwa dreihundert jahre später kommt ein philosoph der ausgehenden antike, vielleicht gleichzeitig der wichtigste und dennoch am wenigsten bekannte der griechischen vordenker unserer zeit scheinbar nebenbei auf die klänge von himmel und erde zu sprechen. Er, der philosoph Plotin, wendet unseren blick um: »[16] Οὐδ́ αὖ τὸ καταφρονῆσαι κόσμου καὶ θεῶν τῶν ἐν αὐτῷ καὶ τῶν ἄλλων καλῶν ἀγαθόν ἐστι γενέσθαι. […] Εἰ δ́ ἄπεστι τοῦ κόσμου, καὶ ὑμῶν ἀπέσται, καὶ οὐδ́ ἂν ἔχοιτέ τι λέγειν περὶ αὐτοῦ οὐδὲ τῶν μετ´ αὐτόν. […] οὐδὲ τὸ ζητεῖν περὶ τούτων ἔμφρονος, ἀλλὰ τυφλοῦ τινος καὶ παντάπασιν οὔτε αἴσθησιν οὔτε νοῦν ἔχοντος καὶ πόρρω τοῦ νοητὸν κόσμον ἰδεῖν ὄντος, ὃς τοῦτον οὐ βλέπει. Τίς γὰρ ἂν μουσικὸς ἀνὴρ εἴη, ὃς τὴν ἐν νοητῷ ἁρμονίαν ἰδὼν οὐ κινήσεται τῆς ἐν φθόγγοις αἰσθητοῖς ἀκούων; Ἢ τίς γεωμετρίας καὶ ἀριθμῶν ἔμπειρος, ὃς τὸ σύμμετρον καὶ ἀνάλογον καὶ τεταγμένον ἰδὼν δί ὀμμάτων οὐχ ἡσθήσεται; Εἴπερ οὐχ ὁμοίως τὰ αὐτὰ βλέπουσιν οὐδ́ ἐν ταῖς γραφαῖς οἱ δί ὀμμάτων τὰ τῆς τέχνης βλέποντες, ἀλλ́ ἐπιγινώσκοντες μίμημα ἐν τῷ αἰσθητῷ τοῦ ἐν νοήσει κειμένου οἷον θορυβοῦνται καὶ εἰς ἀνάμνησιν ἔρχονται τοῦ ἀληθοῦς· ἐξ οὗ δὴ πάθους καὶ κινοῦνται οἱ ἔρωτες. Ἀλλ́ ὁ μὲν ἰδὼν κάλλος ἐν προσώπῳ εὖ μεμιμημένον φέρεται ἐκεῖ, ἀργὸς δὲ τίς οὕτως ἔσται τὴν γνώμην καὶ εἰς οὐδὲν ἄλλο κινήσεται, ὥστε ὁρῶν σύμπαντα μὲν τὰ ἐν αἰσθητῷ κάλλη, σύμπασαν δὲ 13 Vgl. Friedrich Hölderlin, Hyperions Schicksalslied, in: ders., Hyperion oder der Eremit in Griechen- land, Tübingen: Cotta 1799, s. 94. 22 συμμετρίαν καὶ τὴν μεγάλην εὐταξίαν ταύτην καὶ τὸ ἐμφαινόμενον ἐν τοῖς ἄστροις εἶδος καὶ πόρρωθεν οὖσιν οὐκ ἐντεῦθεν ἐνθυμεῖται, καὶ σέβας αὐτὸν λαμβάνει, οἷα ἀφ´ οἵων; Οὐκ ἄρα οὔτε ταῦτα κατενόησεν, οὔτε ἐκεῖνα εἶδεν.«14 Wie kaum ein zweiter philosoph der antike gilt der zitierte autor als weltabgewandt, fast weltflüchtig. Seine direkten verbindungen zum kaiserhof und seine beteiligung an politischen entscheidungen traten in der wahrnehmung immer zurück gegenüber jenen, von seinem herausgeber und biographen Porphyrios in hellstes licht gestellten Zügen seiner existenz, die ihn einem der frühchristlichen asketen weit ähnlicher machten als einem mitglied des kaiserhofes. Er soll so gelebt haben, als habe er sich geschämt einen körper zu haben, berichtet Porphyrios, ganz der betrachtung – und der sehnsucht nach dem geistigen kosmos und dem ›ἕν‹, dem »Einen« verpflichtet. Um so erstaunlicher ist es, gerade von ihm jene zeilen zu lesen, die wie ein ferner vorschein dessen sind, was Friedrich Nietzsche mehr als eineinhalbtausend jahre später seinen lesern, seinem buch »für Alle und Keinen« ins vorwort schreibt: »Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu!«15 Es konnte nicht ausbleiben, dass die frage nach der polyphonie der geschichte, die frage nach dem ort von vergangenheit, gegenwart und zukunft aus der erzählung des Eer sich auf der tagesordnung des nachdenkens über die welt und ihren zustand zurückmelden würde. Eine harmonie des universums, die damit erkauft wäre, dass der missklang aller sublunaren welt, das chaos der welt der menschen von ihr strikt geschieden und allenfalls selbst mit missachtung gestraft würde, dies, so Plotin, muss unvermeidlich in unlösbare widersprüche führen. Vielleicht vermeiden es deshalb die zahllosen spekulativen systeme der ersten nachchristlichen jahrhunderte, die in der religions- 14 Plotin, Enneaden II.9, ΠΡΟΣ ΓΝΩΟΣΤΙΚΟΥΣ 16: »Die Verachtung des Kosmos, der Götter in ihm und des anderen Schönen führt nicht dazu, gut zu werden. […] Ist aber er [der Gott] der Welt fern, so wird er auch euch fern und fremd sein und ihr werdet nichts zu sagen haben, weder über ihn, den Gott, noch über die Dinge unter ihm. […] Die Suche danach hat keinen Sinn, sondern derjenige ist blind und hat keinerlei Einsicht, weder in die Vernunft noch in das Wesen des geistigen Kosmos, der diesen [hier] nicht sieht. Was wohl wäre das für ein Musiker, der, die Harmonien im Geistigen vor Augen, nicht bewegt würde, wenn er die sinnlich wahrnehm- baren Töne hört? Oder was sollte das für ein der Geometrie und Arithmetik Kundiger sein, der nicht durch Augenschein Symmetrien, Analogien und Regelmäßigkeiten wahrnehmen könnte? Wenn auch nicht alle, die auf ein gemaltes Bild blicken, in gleicher Weise davon betroffen sind, sondern diejenigen, die in dem Dargestellten das Abbild jemandes wiedererkennen, an den sie sich wiedererinnern können, diese werden dadurch aufgerüttelt und sie können sogar zur Liebe bewegt werden. Wer also die gute Nachbildung eines schönen Gesichtes sieht, wird zu dem Dar- gestellten selbst hingetragen. Sollte angesichts dessen tatsächlich irgendjemand so träge in seiner Auffassungsgabe sein und derart durch nichts bewegt werden können, daß er beim Anblick all dessen, was schon im Wahrnehmbaren schön ist, der Harmonie des Universums, dieser großen und geregelten Wohlordnung, der Wohlgestalt, die an den Gestirnen auch aus der Ferne in Erscheinung tritt, nicht von dort her nachzudenken beginnen und in Ehrfurcht erfassen würde, wie Wunderbares aus ebensolchem hervorgegangen ist? Denn dann hat er weder diese Welt begriffen, noch jene gesehen.« 15 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zarathustras Vorrede, in: ders., Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1997, bd. 2, s. 280. 23 geschichte unter dem namen ›Gnosis‹ mehr schlecht als recht zusammengefasst werden, ihren weltenbauten und sphärenarchitekturen einen klanghintergrund zu verleihen. Im selben maße wie die acht- und siebenheiten sich vervielfältigen, wie die zahl der himmel und mit ihnen die zahl der von ihnen enthaltenen sphären geradezu inflationär steigt, wird mit dieser vervielfachung sich die verachtung der welt nur vergrössern. So entfernt die ersten und obersten himmelsgewölbe auch sein mögen, so unfassbar die weltabge- wandtheit der sphären der lichtwelt auch sei – allein die möglichkeit, sie zum gegen- stand menschlichen sprechens machen zu können, infiziert sie mit der verworfenheit des geschöpfes, die der harmonie der sphären den stempel der lüge aufdrücken müsste. Einen lieblichen pythagoräischen traum hat Johannes Kepler die erzählung des Cicero nicht zu unrecht genannt – und gegen diesen das ganze mathematische und naturwissenschaftliche wissen, vor allem aber seine beobachtungen der himmels- bewegung aufgeboten16. Die einheit des universums schien ihm gerettet in der einheit 16 Vgl. Johannes Kepler, Harmonices mundi, 5. Buch, Vorrede, Linz 1619: »Was ich vor 25 Jahren vorausgeahnt habe, ehe ich noch die fünf regulären Körper zwischen den Himmelsbahnen ent- deckt hatte, was in meiner Überzeugung feststand, ehe ich die harmonische Schrift des Ptolemäus gelesen hatte, was ich durch die Wahl des Titels zu diesem Buch meinen Freunden versprochen habe, ehe ich über die Sache selber ganz im klaren war, was ich vor 16 Jahren in einer Veröffent- lichung als Ziel der Forschung aufgestellt habe, was mich veranlaßt hat, den besten Teil meines Lebens astronomischen Studien zu widmen, Tycho Brahe aufzusuchen und Prag als Wohnsitz zu wählen, das habe ich mit Gottes Hilfe, der meine Begeisterung entzündet und ein unbändiges Verlangen in mir geweckt hatte, der mein Leben und meine Geisteskraft frisch erhielt und mir auch die übrigen Mittel durch die Freigebigkeit zweier Kaiser und der Stände meines Landes Österreich ob der Enns verschaffte – das habe ich also nach Erledigung meiner astronomischen Aufgabe, bis es genug war, endlich ans Licht gebracht. In einem höheren Maße als ich je hoffen konnte, habe ich als durchaus wahr und richtig erkannt, daß sich die ganze Welt der Harmonik, so groß sie ist, […] bei den himmlischen Bewegungen findet, zwar nicht in einer Art, wie ich mir vorgestellt hatte (und das ist nicht der letzte Teil meiner Freude), sondern in einer ganz anderen, zugleich höchst ausgezeichneten und vollkommenen Weise. […] Ptolemäus, der die Sache erfolglos angefaßt hatte, konnte ihre Aussichtslosigkeit anderen vorhalten; machte er doch den Eindruck, als würde er eher mit dem Scipio bei Cicero einen lieblichen pythagoräischen Traum vortragen, als die philosophische Erkenntnis fördern. Mich jedoch hat in der nachdrücklichen Verfolgung meines Vorhabens nicht nur der niedere Stand der alten Astronomie gewaltig bestärkt, sonder auch die auffallend genaue Übereinstimmung unserer fünfzehn Jahrhunderte auseinanderliegenden Betrachtungen. Denn wozu bedarf es vieler Worte? Die Natur selber wollte sich den Menschen offenbaren durch den Mund von Männern, die sich zu ganz verschiedenen Jahrhunderten an ihre Deutung machten. Es liegt ein Fingerzeig Gottes darin, um mit den Hebräern zu reden, daß im Geist von zwei Männern, die sich ganz der Betrachtung der Natur hingegeben hatten, der gleiche Gedanke an die harmo- nische Gestaltung der Welt auftauchte; denn keiner war Führer des andern beim Beschreiten des Weges. Jetzt, nachdem vor achtzehn Monaten das erste Morgenlicht, vor drei Monaten der helle Tag, vor ganz wenigen Tagen aber die volle Sonne einer höchst wunderbaren Schau aufgegangen ist, hält mich nichts zurück. Jawohl, ich überlasse mich heiliger Raserei. Ich trotze höhnend den Sterblichen mit dem offenen Bekenntnis: Ich habe die goldenen Gefäße der Ägypter geraubt, um meinem Gott daraus eine heilige Hütte einzurichten, weitab von den Grenzen Ägyptens. Ver- zeiht mir, so freue ich mich. Zürnt ihr mir, so ertrage ich es. Wohlan, ich werfe den Würfel und schreibe ein Buch für die Gegenwart oder die Nachwelt. Mit ist es gleich. Es mag hundert Jahre seines Lesers harren, hat doch auch Gott sechstausend Jahre auf den Beschauer gewartet.« (ders., Weltharmonik, übers. und eingel. von Max Caspar, München: Oldenbourg 1997, s. 279 f. Hervor- hebung vom verf.) 24 der erkenntnis, die es sich versagt, die wahrnehmung als bloßes trugbild der begrenzt- heiten des lebens unterhalb des mondes zu denunzieren. Ihm kommt dabei entgegen, dass seit Kopernikus eine teilung der wirklichkeit in die welt oberhalb und unterhalb des mondes schon deshalb unmöglich ist, weil die erde selbst als einer der planeten ihre bahn in der harmonie der sphären zieht. Aber Plotin hat es gerade durch die auseinandersetzung mit seinem studienkollegen Origenes bemerkt: für die einheit der wirklichkeit reicht keine ehrenrettung der erde durch aufnahme in die harmonie jenseitiger, womöglich bloß gedachter sphären. Nein, man muss es ernst nehmen, dass die welt der menschen mit all ihrer chaotik ein nicht elimierbarer teil der wirklichkeit ist. Muss deshalb nicht vor allem weiteren gefragt werden, wie »die erde klingt«? Es wäre hier der ort, erneut innezuhalten und, statt eines neubeginns wie oben, dem nachdenken darüber raum zu geben, wie der »liebliche pythagoräische traum« denn auch jenseits einfacher verhältnisse natürlicher Zahlen genau beschaffen sei und welche immense bedeutung sein zusammenbruch durch die entdeckung der unvermeidbarkeit des »irrationalen« (d. h. auch der existenz überabzählbarer mengen!) selbst im bereich der klänge für die entwicklung menschlichen denkens und menschlicher kultur nicht zuletzt im weiten bereich der »musik« zukommt. Schon in der antike sind diskussionen zu diesen fragen offenbar mit weit größerer intensität geführt worden, als es die uns überlieferten zeugnisse auf den ersten blick glauben lassen. Aber kann dies wirklich ver- wundern, dass der blick in den abgrund der unendlichkeit im großen wie kleinen von derartig nachhaltiger kraft ist, dass sich das auge nicht mehr abwenden kann – das auge eines, der gerade angesichts dieses abgrundes nicht mehr klar zu sagen weiß, ob er denn betrachter oder teil dieses abgrundes ist! Die überlegungen, die in der schule Platons auch nach dem tod ihres gründers intensiv geführt wurden, hatten sicher nicht nur tonortkonzepte, wie jenes, das Aristoxenos aus- gearbeitet hat, nicht nur fragen nach dem »dazwischen« der schalen in Platons bild der sphärenharmonie und deren verhältnis zu den gleichsam die abgründe des irrationalen chaos überspannenden brückenbögen der relationen, die zwischen den pfeilern der ton- orte scheinbar feste pfade mindestens der konstruktion imaginierten, zum thema. Die seltsamen abwege, die diese diskussionen scheinbar immer wieder (und dies keineswegs nur in der antike) genommen haben, dürfen ohne weiteres als hinweis darauf angesehen werden, dass hier ein bereich, eine landschaft des denkens erreicht ist, die fragen des »musikalischen« im heutigen sinn, des klangs und seiner wahrnehmung in all ihren facetten, vielleicht sogar des rein wissenschaftlichen diskurses hinter sich lassen. Es bedarf also wohl keiner besonderen begründung, dass an dieser stelle statt argumenten und ihrer diskussion nur die gleichsam vom blitzlicht unvermeidbarer fragen getroffenen gefilde der herausforderung an menschliches denken und handeln erwähnung finden. Auch der bereits erwähnte theologe Origenes, der in der schule des Ammonius Sakkas als kommilitone Plotins die griechisch-hellenistische, insbesondere die platonische tradition philosophischen denkens und die ihr eigene präzision genau studiert hatte, nimmt im 6. buch seiner erwiderung auf den philosophen Kelsos zur frage der planeten- 25 sphären und damit zu einer möglichen harmonie zwischen ihnen stellung.17 Der kirchenvater führt in dieser stelle aus, dass der Platon an alter weit überragende prophet Mose18 überliefert habe, wie der erzvater Jakob die himmel derart gesehen habe, dass engel auf leitern in den himmel hinauf oder vom himmel hinabgestiegen seien, »während der HErr auf ihrer höchsten Spitze stand«. Origenes’ argumentation, die die herkunft der spekulationen über himmels- und planetensphären – vermutlich korrekt – der per- sischen tradition zuordnet und auf ihre ausbreitung im Mithraskult hinweist19 – bringt alsbald ans licht, dass die frage danach, ob die planeten- und himmelsbahnen schalen- artigen sphären zuzuordnen sind oder ob »leitern« das oben des himmels mit dem unten der erde verbinden, lediglich ein derivat des problems der stellung Gottes in bezug auf die gesamtwirklichkeit ist. Platon hatte in seinem dialog, an dessen ende die eingangs zitierte erzählung von der harmonie der wirklichkeit steht, nicht nur der frage nach Gott einen von der philosophie getrennten, eigenen platz im bereich wissenschaftlichen redens und wissenschaftlicher forschung – der theologia – zugewiesen. Seine einlassungen zu dieser frage (so sehr sie auch vom wunsch des autors bestimmt sein mögen, aussagen in diesem bereich nicht der öffentlichen lehre, schon gar nicht der niederschrift zugäng- lich zu machen) deuten darauf hin, dass für ihn die frage – eine frage, die vielleicht nicht nur für theologen von belang sein dürfte –, ob Gott als teil der gesamtwirklich- keit gelten könne, ausdrücklich mit »nein« zu beantworten sei. Diese entscheidung führt zu einer befreiung nicht nur der mathematik und anderer areale des denkens und der formalen forschung, sie ermöglicht erstmals astronomie und physik als gegenstände wissenschaftlicher tätigkeit und forschung anzusehen und entsprechend zu betreiben. Dass im sinne seiner – von ihm selbst als »mythos« angesehenen – erzählung von der gesamtwirklichkeit auch ein neuer und anderer blick auf die geschichte und ihre er- innerung geworfen werden kann, versteht sich von selbst. Dieser neue blick aber betrifft den klang und seine aufzeichnung in ganz grundsätzlicher weise: indem die geschichte klanglich (nämlich im antiken vollsinne »musikalisch«) erinnert werden kann, steht der klang genauso wie das durch zeichen repräsentierte wort in einer verpflichtung, derer sich die musik durch ihre ferne vom begriff gerade in der neuzeit nur allzugern entzog. Der bedeutende theologe und philosoph Nicolaus von Cusa, hat sich am vorabend der reformation noch einmal eingehend mit der platonischen frage im zusammenhang mit 17 Origenes, Κατὰ Κελσοῦ VI 21: »Επτ δ ορανο  λω περιωρισµνον ριθµν ατν α φερµεναι ν τα κκλησαι το θεο οκ παγγλλουσι γραφα, λ ορανο, ετε τ σφαρα τν παρ Ελλησι λεγοµνων πλαντων ετε κα λλο τι πορρηττερον οκασι διδσκειν ο λγοι. Κα τ δν δ εναι τα φυχα  γν κα π γ Κλσο µν κατ Πλτων φησι γνεσθαι δι τν πλαντων · Μωσ δ,  ρχαιτατο µν προφτη, ν ψει το πατριρχον µν Ιακβ φησιν ωρσθαι θεον νπνιον, κλµακα ›ε ορανν‹ φθνουσαν κα γγλου ›το θεο‹ ναβανοντα κα καταβανοντα π ατ, τν δ κριον πεστηριγµνον π το κροι ατ, ετε τατα ετε τιν µεζονα τοτων ανιττµενο ν τ περ τ κλµακο λγ · περ  κα τΦλωνι ουνττακται βιβλον, ξιον φρονµον κα ουνετ παρ το φιλαλθεσοιν ξετσεω.« 18 Man bedenke, dass in der antike nicht etwa die ›neuigkeit‹ einer nachricht ihre bedeutung ausmachte, sondern gerade das alter, auf das sie sich berufen konnte! 19 Siehe dazu u. a. David Ulansey, Die Ursprünge des Mithraskults. Kosmologie und Erlösung in der Antike, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1998. 26 dem problem des unendlichen befasst und ist – philosophisch umschrieben – zu ergeb- nissen gekommen, die den ideen Giordano Brunos in bezug auf die unendlichkeit des kosmos nicht unähnlich zu sein scheinen. Aber in gegensatz zu jenem hält der Cusaner an einem, von ihm Gott zugeordneten zentralpunkt des als aktualunendliches ganzes vorgestellten weltganzen fest.20 Wahrscheinlich gegen die intention Keplers ist schließlich mit seinem werk ein bedeutender schritt hin zu jenen antworten auf die fragen nach der himmelsmechanik getan worden, über deren korrektheit entschieden werden kann, ohne dass die himmels- mechanik »als ganze« zur debatte stehen müsste oder eine »große vereinigte theorie« der physik bzw. des kosmos die frage nach dem klang der himmel schon beantwortet hätte. Dass letztere frage aber bis heute weder aus den forschungsprogrammen noch gar aus den köpfen von forschern wie künstlern verbannt werden konnte, darf durchaus als indiz dafür gelten, dass weder die kunst noch die wissenschaft auf dauer ohne eine ant- wort darauf auskommen kann, wie sie sich zur gesamtheit der wirklichkeit – und wie sie sich zu ihrem status als autor verhält. Wenn nämlich mit Platon durch den χωρισμός eine unabhängige wissenschaft und ein selbstverantwortetes im klang der worte und in ihrer aufzeichnung möglich wurde, so stellt sich damit aber auch die frage nach dem status des erzählens, dem status des klangs der rede und der rede vom klang. Mit ihm wird die frage unausweichlich: wer oder was ist es, das redet oder klingt? Schon in der antike sind spekulationen darüber angestellt worden, wer dieser merkwürdige Eer wohl gewesen sein könne, dem Platon die erzählung vom klang der himmel und von der polyphonie der zeiten in den mund gelegt hat. Der um die wende vom zweiten zum dritten jahrhundert im ägyptischen alexandria lebende griechische kirchenvater Klemens erwähnt ihn ausdrücklich, allerdings als außerbiblischen zeugen für die auferstehung und berichtet von einer tradition, die diesen Eer mit dem (per- sischen) Zoroasther identifiziert.21 Es mag verwundern, dass der gewährsmann Nietzsches, gerade also diejenige gestalt, die der philosoph des 19. jahrhunderts zum zeugen aufrief, um in seinem namen nicht nur die jüdisch-christliche tradition, sondern mit ihr auch den griechischen einspruch gegen die sophistik durch Sokrates und Platon aufs heftigste und grundsätzlichste zu- rückzuweisen, mit jener gestalt identisch sein soll, der Platon seine vision von der un- teilbaren gesamtheit der wirklichkeit in den mund legt. Aber damit nicht genug: diese 20 Das von Platon aufgeworfene problem löst Nicolaus durch den grundsatz: »inter infinitum et finitum nulla est proportio.« (vgl. ders., De docta ignorantia I 163). 21 Clemens Alexandrinus, Stromateis E’ XIV: » δ ατ ν τ δεκτ τ Πολιτεα Ηρ το Αρµενου, τ γνο Παµφλου, µµνηται,  οτι Ζωροστρη αυτο γον Ζωροστρη γρφει ›τδε συνγραψα Ζωροστρη  Αρµενου, τ γνο Παµφλου, ν πολµ τελευτσα, ›σα‹ ν Αδη γενµενο δην παρ θεν.‹ τν δ Ζωροστρη τοτον  Πλτων δωδεκαταον π τ πυρ κεµενον ναβιαι λγει· τχα µν ον τν νστασιν, τχα δ κενα ανσσεται,  δι τν δδεκα ζδων  δ τα ψυχα γνεται ε τν νληψιν, ατ δ κα ε τν γνεσν φησι τν ατν γγνεοθαι κθοδον.« 27 merkwürdige figur des Eer hat auch in der biblischen tradition entsprechungen, namens- vetter22, die bei einigen gelehrten der nachreformatorischen epoche die hoffnung ent- stehen ließ, es sei vielleicht möglich, zwischen der griechisch-antiken tradition Platons und der jüdisch-christlichen überlieferung jene mittelglieder oder vermittler zu finden, die das, was Platon so wortmächtig als einheit der wirklichkeit beschreibt, auch für die überlieferung menschlicher geschichte formulierbar machen würde. Tatsächlich ist eine solche himmelsharmonie, wie sie im anschluss an die erzählung des mannes aus dem osten immer wieder versucht wurde zu formulieren, selbst mit den vielfältigen einschränkungen, die uns beim weg dieser erzählung durch die geschichte begegnet sind, als harmonie der überlieferung nur schwer vorstellbar. Auch für Origenes ist der unterschied zwischen den leitern der vision des erzvaters Jakob in Beth-El und den himmelssphären der persischen tradition ja nur ausdruck eines unterschiedes, der eben gerade nicht darin besteht, dass die von Platon anvisierte einheit der gesamtwirk- lichkeit zugunsten einer wie auch immer zu begründenden fragmentierung zurück- gewiesen würde, sondern im gegenteil darin, dass diese gesamtwirklichkeit verteidigt, aber durch einen punkt, nein einen vorgang erst konstituiert wird, der noch weit jenseits dessen liegt, was Platon meinte, wenigstens noch durch sein berühmt gewordenes »jen- seits« bezeichnen zu können.23 Es ist der in der jüdisch-christlichen tradition nicht zu eliminierende bezug zum schöpfungswort im klang jenseits der musik, der den sphärischen harmonien der himmel so fremd ist, dass spekulationen darüber, wie etwas klingt, was nicht spricht, eigentlich nicht vorstellbar sind. Und so kann die fremdheit der formulierungen, die bis zur unverständlichkeit gehende merkwürdigkeit der sprache nicht verwundern, die ein text, der unser thema streift, annimmt, der sich in dem im hochmittelalterlichen spanien entstandenen sog. »buch des glanzes« (Sepher ha Sohar) findet. Eine musika- lische ordnung der welt, die statt auf sternen und himmelsbahnen auf buchstaben, auf konsonanten und vokalen beruht; dies ist wohl dem heutigen verständnis noch weit fremder als die leuchtende spindel Platons: »Berešith, Er schuf sechs. Von einem Ende des Himmels zum Anderen sind sechs Pfade, die sich ausbreiten aus höherem Geheimnis in der Ausbreitung, die Er von einem Urpunkt aus schuf. […] ›Und die Vernunft Wirkenden werden leuchten wie das Leuchten der Himmelsfeste und die Gerechtigkeit geben den vielen Sternen gleich für ewig und allezeit.‹ Man vergleiche dies den Akzenten einer Melodie. In der Melodie nämlich bewegen sich Konsonanten und Vokale und wogen ihr nach wie Heere ihrem König – körperartig die Konsonanten, geistartig die Vokale – alle fortgetragen im Zuge nach den Bewegungen der Melodie, und bleiben auch mit ihren Pausen stehen. ›Die Vernunft Wirkenden werden leuchten‹ – das sind Konsonanten und Vokale, ›wie das Licht‹ – das ist die Melodie: wie jene in der Melodie sich ausbreiten und dahinfließen. ›Und die Gerechtigkeit gegeben den Vielen‹: das sind die Pausen der Töne in ihrem Zuge, wo- durch das Wort gehört wird. Es werden leuchten Laute und Vokale und in einem Zuge hin- strömen, im Zuge jener verborgenen Pfade. Von da aus gelangt alles zur Ausbreitung. Und 22 Vgl. 1. Mose 38.7. 23 Platon, Politeia, 509b: »ἐπἑκεινα τῆς οὐσίας«. 28 die [tönend] ›Vernunft Wirkenden‹ sind wiederum die Säulen und Stützen jenes Palastes, die, die gewahr werden all dessen, was notwendig ist. Dieses Geheimnis ist angedeutet in den Worten: ›Heil dem, der Betrachtung wendet zum Bedürftigen.‹ ›Sie werden leuchten‹, denn wenn sie nicht leuchten, können sie nicht schauen in jenem Palaste, was nottut. ›Wie der Glanz der Himmelsfeste‹, die dort ist über jenen Betrachtenden, wovon es heißt: ›Und ein Bild über den Häuptern des Lebewesens, eine Wölbung, wie das furchtbare Eis‹, tönender Glanz, der da Licht ist der Thora; [tönender] Glanz, der Licht ist in jene Häuptern des Lebewesens – jene Häupter sind ›die Vernunft Wirkenden‹, welche beständig tönend leuchten und hinblicken auf jenes Leuchten, das von dort entspringt – dieses ist das Leuchten des Vollkommenen, was ständig leuchtet und nie versiegt.«24 Seit einigen jahrzehnten hören wir nun wirklich, welche geräusche aus dem weltall die erde erreichen. Der klang jenseits der musik ist aus nichtirdischen weiten vernehmbar. Dennoch wissen wir nicht genau, ob das, was unsere ohren vernehmen, tatsächlich jene klänge sind, die die materie des weltalls aussendet, zumal sie längst verklungen sind, wenn sie unserer wahrnehmung zugänglich werden. Die töne der planeten, die einstmals in gewaltigen tonleitern und harmonien den ganzen kosmos durcheilten und ihn als musik jenseits des klanges ordneten, haben sich zurückgezogen in den hin- tergrund gleichmäßigen rauschens, in dem vor dem explosionsartig sich weitenden horizont der milchstraße, den ensembles von galaxien bis zum dunklen echo der von überall fast gleichmäßig zu empfangenden erinnerung an den gemeinsamen beginn die schatten einstiger weltbauten und mit ihnen die zeugen einer musikalischen ordnung der welt versunken sind. Die wiese des Platon, auf der sich homophonie der sphären und polyphonie der geschichte zum klang der gesamtwirklichkeit vereinen, scheint von unserer wirklich- keit so getrennt wie der garten, den wir mit dem persischen wort ›Paradies‹ bezeichnen. Ob über jenem ort ein sternhimmel sich spannt und ob jener jenseits der worte noch tönt, das verschweigt uns der mann aus dem osten. Wir werden dankbar für jede kunde, selbst wenn sie unsere träume von der vollkommenheit zerbricht. Wenn auch scheinbar »nur« für die (geschriebenen!) worte hat dies in unübertroffener klarheit Gershom Scholem im zehnten seiner berühmten »unhistorischen Sätze über Kabbala« zum ausdruck gebracht. Er schreibt dort: »Hundert Jahre vor Kafka schrieb in Prag Jonas Wehle (durchs Medium seines Schwiegersohns Löw von Hönigsberg) seine nie gedruckten und von seinen frankistischen Schülern dann vorsichtig wieder eingesammelten Briefe und Schriften. Er schrieb für die letzten Adepten eines ins Häretische umgeschlagenen Kabbala, eines nihilistischen Mes- sianismus, der die Sprache der Aufklärung zu sprechen suchte. Er ist der erste, der sich die Frage vorgelegt (und bejaht) hat, ob das Paradies mit der Vertreibung des Menschen nicht mehr verloren hat als der Mensch selber. Diese Seite der Sache ist bisher entschieden zu kurz gekommen. Ist es nun Sympathie der Seelen, die hundert Jahre später Kafka auf damit tief kom- munizierende Gedanken gebracht hat? Vielleicht weil wir nicht wissen, was mit dem Paradies geschehen ist, hat er jene Erwägungen darüber angestellt, warum das Gute »in gewissem Sinne trostlos« sei. 24 Sepher ha Sohar, III 65b–66a. 29 Erwägungen die fürwahr eines häretischen Kabbala entsprungen zu sein scheinen. Denn unübertroffen hat er die Grenze zwischen Religion und Nihilismus zum Ausdruck gebracht. Darum haben seine Schriften, die säkularisierte Darstellung des (ihm selber unbekannten) kabbalistischen Weltgefühls für manchen heutigen Leser etwas von dem strengen Glanze des Kanonischen – des Vollkommenen, das zerbricht.«25 Was uns also bleibt, das findet sich in dem, was vor über achthundert Jahren schon ein mönch seinen papieren angesichts der verblühenden rose anvertraute und was selbst für die »ewigen Sterne« gilt: »Stat stella pristina nomine, nomina nuda tenemus. Der Stern von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen.«26 Und uns bleibt fernes, allenfalls kartographiertes leuchten einer erinnerung, die uns ver- sichert, dass die gegenwart nicht ohne vergangenheit der zukunft entgegenstürzt. 25 Gershom Scholem, 10 unhistorische Sätze über Kabbala, in: ders., Judaica 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, s. 271. 26 Vgl. Bernard von Morlaix, De contemptu mundi. 30 Zum Orestes-Fragment von Euripides überliefert auf dem Papyrus Wien G 2315 von Conrad Steinmann Ich möchte versuchen, eine Auslegeordnung zu machen mit allen möglichen Informationen, die uns zur Verfügung stehen, um das berühmte Fragment einzu- ordnen in Musikphilosophie und Theorie der Zeit und einzubetten in eine mögliche Aufführungspraxis. Die Frage ist auch, ob es gelingen mag, (neue) Ansätze einer Inter- pretation zu finden. Dazu möchte ich vorerst festhalten, dass ich kein üblicher Kenner und Insider der musiktheoretischen Debatte der hellenistischen, also nach-klassischen Musik Griechenlands bin. Mein Ansatz der Annäherung ist ein anderer: Seit manchen Jahren beschäftige ich mich, zusammen mit dem Instrumentenbauer Paul J. Reichlin, mit den Informationen, die wir von antiken Instrumenten für Musik und Aufführungs- praxis der klassischen Antike Griechenlands gewinnen können, also des 6. und 5. Jahr- hundert v. Chr. Eine höchst interessante (Neben-) Frage dabei ist übrigens, inwiefern rein organische Gegebenheiten wie Fingerabstände beim Spielen von Blasinstrumenten, Beschaffenheit pflanzlichen Materials oder auch tierische Materialien wie Knochen, Schildkrötenpanzer und deren Verarbeitung zu Instrumenten zur Grundlage von Theorie werden können und, in zeitlich umgekehrter Reihenfolge, die Theorie erhellen. Daran anschließend könnte eine Debatte darüber geführt werden, ob Praxis und Theorie aus- einander streben (und wenn ja, seit wann), bzw. ob die Musiktheorie dazu neigt, ein Eigenleben zu führen (und wenn ja, seit wann). Unter einer Anzahl Papyri aus dem ägyptischen Hermopolis in der Kollektion des österreichischen Erzherzogs Rainer Ferdinand wurde 1892 unser Fragment zum ersten Mal veröffentlicht. Man ist sich seither einigermaßen einig, dass das Schriftstück wahr- scheinlich um 200 v. Chr. aufgeschrieben wurde. Inwieweit chemische Analysen des Papyrus gemacht wurden, die diesen Zeitpunkt der Niederschrift bestätigen könnten, ist mir nicht bekannt. Ebenso unbekannt sind die Absichten, die zur Notation dieses Stückes geführt haben. Auch wissen wir nicht, ob ursprünglich das ganze Drama von unserem Papyrusschreiber festgehalten war oder lediglich die gesungenen Partien. Wir können nur erkennen, dass die Anordnung der bruchstückweise erhaltenen Verse anders ist als bei vollständig überlieferten Texten des gesamten Dramas. Der Orestes von Euripides (480–406 v. Chr.) wurde als Teil einer Tetralogie 408 v. Chr. in Athen aufgeführt. Die zwei anderen Dramen und das dazugehörige Satyrspiel sind nicht mehr erhalten. Die Geschichte des Dramas spielt sich nach dem Ende des Trojanischen Krieges in Mykene in der Landschaft Argos auf der Peloponnes ab und handelt von Orestes, Sohn der Klytaimnestra und des Agamemnon, und Bruder der Elektra. Orestes rächt den Mord 31 Abb. 1: Das Orest-Fragment auf dem Papyrus Wien G 2315 an seinem Vater Agamemnon, der nach der Rückkehr von Troja durch seine Ehefrau und deren Liebhaber Aigisthos erdolcht wurde, indem er als Sühnemord seine Mutter Klytaimnestra tötet. Vom Grammatiker Aristophanes, um 200 v. Chr. Bibliothekar der berühmten Bibliothek in Alexandria, ist folgender Inhaltsbericht überliefert: »Orestes war auf Grund des von ihm an seiner Mutter verübten Mordes gleichzeitig von den Rachegöttinnen, den Erinnyen in Schrecken versetzt und von den Bewohnern von Argos zum Tode verurteilt worden; schon im Begriff, Helena – die Frau seines Onkels Menelaos – und deren Tochter Hermione zu töten, zur Vergeltung dafür, dass Menelaos ihm trotz seiner Anwesenheit keine Hilfe gewährt hatte, wurde er von Apollon gehindert. Die Fabel findet sich bei keinem anderen Dichter. Das Stück spielt in Argos; der Chor besteht aus argeischen Frauen, Altersgenossinnen Elektras, die sich einstellen, um sich nach dem Befinden des Orestes zu erkundigen. […] Das Stück gehört zu den bühnenwirk- samen; es ist aber äußerst minderwertig im Hinblick auf die Charaktere; denn mit Aus- nahme des Pylades – treuer Gefährte des Orestes – taugen alle nichts«.1 Der genannte Chor argeischer Frauen ist es denn, der den vom Wahnsinn geschlagenen Orestes beklagt. In einem Standlied, einem stasimon, aus Strophe und Antistrophe bestehend, heißt es: 1 Euripides, Tragödien, Bd. 5, Orestes, gr./dt. hrsg. und übersetzt von Dietrich Ebener, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1990, S. 217/219. 32 »Κατολοφύρομαι, Κατολοφύρομαι, ich muss dich bejammern, ich muss dich bejammern, weil er kommen lässt / über dein Haus das Blut deiner Mutter, / das mit Wahnsinn dich schlägt. / ich muss dich bejammern, ich muss dich bejammern.«2 Es sind dies die Verse 339–344, die sich auf dem Papyrus Wien G 2315 befinden und die in einer doppelten Notenschrift aufgezeichnet wurden; doppelte Notenschrift deshalb, weil sie die vokalen von den instrumentalen Zeichen auseinanderhält. Abb. 2: Griechische Umschrift von E. Pöhlmann (in: Documents of Ancient Greek Music, hrsg. von Egert Pöhlmann und Martin L. West, Oxford: Clarendon 2001) Erst im 4. nachchristlichen Jahrhundert, also gut 500 Jahre nach Aufzeichnung unseres Chorliedes, lehrt uns der Gelehrte Alypios, auch er aus dem ägyptisch-römischen Alexandria, zum ersten Mal überhaupt, wie diese Notenschrift zu interpretieren ist oder sei, mehr als 700 Jahre nach der Aufführung der euripideischen Komposition. Welche praktische Bewandtnis Notation überhaupt hatte, bleibt in der εὶσαγογὴ μουσική,3 der ›Einführung in die Musik‹ des Alypios, ebenso offen wie auch die Frage, ob wir mit dieser Hilfe die ältesten erhaltenen Musikfragmente wie z. B. unser Orest-Fragment adä- quat lesen können. Zwei Arten von Notenschrift hält er auseinander: die Vokalnotation, 2 Übersetzung von Dietrich Ebener. 3 Alypios, Eisagogè mousiké, in: Musici scriptores Graeci, hrsg. von Carl von Jahn, Leipzig 1897, ND Hildesheim: Olms 1962. 33 wobei Buchstaben des ionischen Alphabets oberhalb der Wörter notiert sind, als Ton- schrift für den Gesang; und die Instrumentalnotation, die sich durch Zeichen eines archaischen Alphabets auszeichnet; sie sind zwischen den Wörtern platziert. Abb. 3: Vorschlag einer Übertragung in die heutige Notenschrift von Egert Pöhlmann, in: Documents of Ancient Greek Music, Oxford 2001 Diese Interpretation der Handschrift ist nicht eindeutig: Selbst heutige Experten wie Egert Pöhlmann und Martin West sind sich nicht einig, was Tongeschlecht anbelangt, ob es im chromatischen oder gar im enharmonischen génos mit Vierteltonschritten ver- fasst ist, wie die hier publizierte Lösung suggeriert; auch der Rhythmus, im Original angedeutet mit Punkten und Strichen, scheint nicht eindeutig. Deshalb verzichtet Pöhlmann heute, im Gegensatz zu seiner ersten Veröffentlichung zu diesem Fragment im Jahre 1960,4 auf ein Festlegen des Rhythmus. Dies ist umso bedenkenswerter, als in der klassischen Zeit Griechenlands der Rhythmus eigentlich stets ableitbar war von den Silbenlängen der lyrischen Texte. Nach bestimmten Regeln war es klar, welche Silben als lang oder als kurz galten. Dies gilt für die Epen eines Homer oder seiner Nachfolger ebenso wie für die Gesänge einer Sappho oder die Siegeslieder eines Pindar oder auch für die vokalen Teile der attischen Dramen. Halten wir also noch einmal fest: das Orest-Fragment ist um 200 v. Chr. zu unbe- kanntem Zweck notiert worden, die entsprechende Notenschrift – wenn es denn wirk- 4 Egert Pöhlmann, Griechische Musikfragmente. Ein Weg zur altgriechischen Musik, Nürnberg: Carl 1960. 34 lich dieselbe ist – wird gut 500 Jahre später erklärt, mehr als 700 Jahre, nachdem das Stück von Euripides aufgeführt wurde. Es ist jetzt der Moment, einen Blick auf die Schriften zu werfen, die sich um 400 v. Chr., in unmittelbarer Nähe zur Entstehung und Aufführung des Orestes, mit Musik befassen. Es sind die ersten griechischen Aussagen überhaupt, die man als musiktheo- retisch/musikphilosophisch/musikpädagogisch bezeichnen kann. Deren Autoren sind Philolaos und Platon. Lassen Sie mich zuerst Philolaos, um 470 bis um 399 v. Chr., aus dem süditalischen Kroton stammend, behandeln und zitieren:5 Er erwähnt zum ersten Mal den Begriff harmonía, wörtlich das ›Zusammengefügte‹, womit auch die Oktave gemeint ist. Bei der Nennung der weiteren Intervalle geht er offensichtlich von den sieben Saiten und deren Disposition auf einer lýra aus: »Die Größe der harmonía besteht aus der Quarte bzw. syllabá – was das ›Zusammengegriffene‹, nämlich von einer Hand auf der lýra Gegriffene bedeutet – und der Quinte/di’oxeiãn – was ›durch die hohen Töne hindurch‹ bedeutet. Die Quinte ist aber einen Ganzton/epógdoon größer als die Quarte.« Des Weiteren erwähnt er die hypáte (zu ergänzen: chordè/Saite), also die im Hinblick auf einen Spieler zuoberst gelegene Saite, die allerdings am tiefsten klingt. Sie bildet zur mése, der ›mittleren‹ (wiederum zu ergänzen: chordè/Saite) eine Quarte. Von dieser mése zur untersten Saite, der néte, ergibt sich eine Quinte; von dieser néte zur dritten Saite, der tríte, eine Quarte, von der tríte zur hypáte, der obersten Saite, eine Quint. Zwischen der tríte und der mése liegt ein Ganzton. Der Anschaulichkeit halber seien diese Angaben in konkrete Töne übersetzt: e (hypáte), a (mése), h (tríte), e’ (néte). Für eine Stimmung einer 7-saitigen lýra oder einer kithára bedeutet das, dass zwischen hypáte und mése zwei Töne/Saiten liegen, zwischen tríte und néte aber nur eine, was einen Terzsprung mit einschließt. Die drei zusätzlichen Saiten werden bei Philolaos nicht bezeichnet. Die gesamte Tonreihe oder Fügung oder harmonía könnte also folgendermaßen aussehen: e, fis, g, a, h, c1 (oder d1), e1 (oder evt. e, f, g/gis, a, h, c1/cis, e1) hyp.        m. tr.              ne. |    syllabá    ||    di’oxeiãn  | |              harmonía            | Die fixen Töne e, a, h, e1, Grundton/Quart/Quint/Oktav bilden in ihren Proportionen die Zahlen 1:2:3:4 ab, was der tetraktýs entspricht, die als Begriff bereits in pythagoräischen Schriften vor Platon erscheint. Platon, 427–347 v. Chr., die zweite Autorität in zeitlicher Nähe zu Euripides, kennt auch den Begriff der harmonía. Darunter versteht er eine An- ordnung der Töne, die während eines Stückes nicht verändert werden soll. Er nennt 5 Nach Die Vorsokratiker, Bd. 1, hrsg. von M. Laura Gemelli Marciano, Düsseldorf: Artemis & Winkler 2007. 35 und toleriert ausschließlich die phrygische und die dorische harmonía. Grundlage einer harmonía sind vier Töne/phthóngoi.6 Inwiefern sich diese Viertonfolgen in den einzelnen harmoníai unterscheiden, sagt er nicht. Es ist anzunehmen, dass er, wie spätere Theoretiker, von zwei aufeinanderfolgenden gleichen Tetrachorden ausgeht, die sich zu einer Septime oder, mit einem einge- schobenen Ton, zur Oktave ergänzen. Ein Beispiel wäre: e-fis-g-a // a-h-c1-d1, was zu einer Septime führt, wie wir sie als strukturell wichtiges Intervall in vielen traditio- nellen Musikkulturen noch heute erkennen. Ich erwähne nur russische Mehrstimmig- keit, rumänische Volksmusik oder besonders georgische Musik. Möglich wäre auch eine Verdoppelung der Vierton-Reihe, wie sie uns von ägyptischen Doppelblasinstrumenten des Neuen Reiches, den mmt, her bekannt sind, ebenso vom verwandten sumerischen embubu:7 e-f↑-g-a // a-b↑-c1-d1. Mit einer eingeschobenen Sekunde ergäbe sich hingegen eine acht Töne umfassende Reihe von zwei getrennten Tetrachorden, die zur Oktave führen würde. Dies würde dem Rahmenintervall des Philolaos entsprechen: e-fis-g-a // h-cis1-d1-e1. Die zwei Tetrachorde bewegen sich also in parallelen Quinten und nicht mehr in Quarten. Allerdings sollten wir bei einer achtstufigen Reihe nicht vergessen, dass die Saiten- instrumente in rund 80 Prozent der überlieferten Dokumente stets sieben Saiten haben.8 Der Mythos, wonach die Instrumente im Laufe der Zeiten von anfänglich vier bis zu zehn oder elf Saiten erweitert wurden, ist den Zeugnissen nicht abzulesen. Der Mythos bildet somit in erster Linie ein Empfinden und einen Glauben an einen stetigen Fort- schritt ab, der sich in Theorien, kaum aber in der Praxis niederschlägt. Wenn wir also von einer achttönigen Grundstruktur ausgehen wollen, so hieße das wohl nichts anderes, als dass sich hier bereits Praxis anhand der Saiteninstrumente und Theorie zu trennen beginnen. Allenfalls trennt sich hier auch die vokale von der instru- mentalen Praxis. Weder Philolaos noch Platon schreiben von den Tongeschlechtern/génoi, wie sie uns von späteren Theoretikern wie Aristoxenos (vor 350 bis nach 330 v. Chr.), einem Enkelschüler Platons, bekannt sind: diatonisch, chromatisch und enharmonisch. Unsere zuvor erwähnten Tonreihen entsprechen indes dem späteren ›diatonischen‹ System, während das chromatische zusätzlich Halbtonschritte einfügt. ›Enharmonisch‹ hin- gegen operiert mit noch kleineren Intervallen, nennen wir sie der Einfachheit halber 6 Platon, Politeia III 400a. 7 Siehe Conrad Steinmann und Paul J. Reichlin, Instrumente der griechischen Klassik und ihre Musik, Kapitel. 2.1., Druck i. V. 8 Siehe Martha Maas und Jane McIntosh Snyder, Stringed Instruments of Ancient Greece, New Haven: Yale University Press 1989. 36 Vierteltöne. Das Wort ›enharmonisch‹ als solches bedeutet allerdings nichts anderes als ›in einer harmonía‹, in einem ›Zusammengefügten‹ stehend. Wenn wir einen Blick nach vorne werfen, in die nach-platonische Zeit, so werden Viertonfolgen, sog. Tetrachorde (wörtlich: vier Saiten) immer als aus zwei Paaren bestehend gesehen: einerseits den fixen Rahmentönen einer Quarte, den hestótes, und den zwei beweglichen Binnentönen, den kinoúmenoi. Diese Beschreibung der Vierton- folgen trifft also auf alle Tongeschlechter zu, ob diatonisch, chromatisch oder enharmo- nisch im Sinne der hellenistischen Theorie. Was lesen wir des Weiteren bei Platon, was für das Verständnis der damaligen Musik und Musikausübung – auch des Euripides-Fragments – von Belang sein könnte? Er wünscht, dass innerhalb eines Stücks keine Wechsel/metabolaí der harmoníai statt- finden.9 Deshalb auch toleriert er nur lýra und kithára, Saiteninstrumente beides, die man während eines Vortrages bestimmt nicht umstimmte. Die Saiten waren fix und unver- änderbar gestimmt und somit waren die harmoníai garantiert. Das Blasinstrument aulós hingegen lehnt er als ›panharmonisches‹ Instrument ab, was nur so zu verstehen ist, dass auf den beiden Spielröhren des Instruments verschiedene Viertonfolgen gespielt werden konnten. Neben der passenden harmonía sollte laut Platon bekanntermaßen auch der Rhythmus, d. h. die Silbenlängen, dem Text folgen, so wie es wenigstens bis anhin der Fall war. (Dies ist ja das berühmte doppelte Diktum Platons, das von Monteverdi in grandioser Umkehr der Bedeutung zur Rechtfertigung der seconda prattica nach 1600 zitiert wurde.10) Verpönt war Platon übrigens auch eine virtuose Zurschaustellung von instru- mentalem Können, weswegen er fordert, dass Gesang und Begleitung im Einklang zu sein hätten.11 Soweit informieren uns die Quellen um 400 v. Chr. zu musikalischen Phänomenen und Praktiken. Es ist nicht eben viel. Wie decken sich nun diese Angaben mit dem Orestes- Fragment in der Übertragung von Pöhlmann/West? Wenn wir einmal die zwei verschiedenen Notationsformen betrachten (siehe Abb. 2 und 3), so fällt auf, dass es nur wenige Instrumentalzeichen gibt, die ab und zu einge- streut sind, während der Text durchgehend mit entsprechenden Tonbezeichnungen ver- sehen ist. Hieße das, dass – entgegen der Befürchtung von Platon – die instrumentale Begleitung, durch welches Instrument auch immer, dünner ist als der Gesang? Wir sehen nur ein paar wenige, völlig unrealistisch wenige Tonzeichen, vor allem g2, zweimal die Folge f1-b1, nicht eben aufregend, wenn wir die doch spektakuläre Melodieführung der Vokallinie daneben halten, die – vergessen wir es nicht – zur Zeit des Euripides durch einen Chor von etwa zwölf Männern unisono gesungen wurde. (Übrigens war dieses 9 Politeia III 397b–d. 10 Politeia 398a; einer der italienischen ›Erfinder‹ der Oper, Claudio Monteverdi, wird sich auf diese berühmt gewordene Aussage stützen, wenn er festhält: »l’oratione sia padrone del armonia e non serva« (Claudio Monteverdi, Scherzi musicali, 1607). 11 Nomoi VII 809c/810a und Nomoi II 669b. 37 zweifache f1-b1 in Egert Pöhlmanns erster Deutung eine Folge von fis-h, was besser zum folgenden e1 passen will und weil sich damit die Gesangslinie im Prinzip auf die Doppelquarte/Septime fis1-e2, mit eingeschlossen eine kithára-typische Terz, reduzieren ließe.) Es sieht so aus, als ob das g2 einen hohen Bordun zum Gesang bildet und damit einen Zweiklang oder, in der zeitgenössischen Terminologie, eine symphonía. Im Urteil vom Platon-Schüler Aristoteles klingt eine symphonía immer schöner als ein Unisono. Wir dürfen bei dieser Einschätzung nicht vergessen, dass ja auch der aulós immer zwei- stimmig klingt bzw. klang, dass ein mehrstimmiges Klangergebnis also stets oder doch oft der Normalfall war. Aber ob das immer wieder notierte g‘‘ durchgehend zu halten war, wie es der aulós mit seinem Dauerklang zwingend erfordern würde, geht aus der Notation nicht hervor. Sie ist in jedem Fall rudimentär oder aber: als Improvisationsvor- lage deutlich genug. In der überlieferten Form erscheint sie etwas unergiebig, mindestens für unsere Deutung sehr unbefriedigend. Etwas wird deutlich: ein einzelnes Instrument – sei es ein Saiteninstrument wie die kithára mit dem Umfang einer Oktave, sei es ein aulós mit einem maximalen Umfang einer Septime oder Oktav von beiden Röhren zusammen – kann selbst diese wenigen Töne im Umfang einer None nicht gespielt haben. Wenn wir die erhaltenen auloí aus dem 5. Jahrhundert betrachten und analysieren, so können wir erkennen, dass sie – mit einer einzigen Ausnahme aus Sparta – alle eine vergleichbare Länge aufweisen und somit dieselben Töne produziert haben. Das zeigen die aus Hirschknochen gefertigten Instrumente oder Instrumentenfragmente aus Süd- italien, Makedonien, Attika oder aus Korinth. Ein kleiner und ein großer aulós im gemeinsamen Spiel sind also beinahe mit Sicherheit auszuschließen. Es bliebe die Kombination von Zupfinstrument und Blasinstrument, von kithára und aulós. Gelegentlich sind sie zu- sammen abgebildet und auch genannt, aber in ihrer Kombination weniger oft als etwa der aulós und das Amateurinstrument bárbitos. (Zu den Bildzeugnissen, die Instrumente mit einschließen, ist aber zu sagen, dass sie im Laufe des 5. Jahrhunderts anzahlmäßig stark zurückgehen, so dass eine aussagekräftige Statistik für das Jahr 400 v. Chr. kaum zu erlangen ist.) Zu berücksichtigen ist bei jeder Interpretation der Instrumente, dass die verschiedenen Instrumenten- gruppen unterschiedlichen Funktionen dienten: Weil die Saiteninstrumente immer mit Plektren ge- schlagen wurden, ist ihnen kein Dauerklang eigen. Der gestrichene Klang ist völlig ungriechisch. Kithára, bárbitos oder lýra, die drei Saiteninstrumente, haben Abb. 4: Kitharöde, r. f. Amphore, attisch um 500 v. Chr., dem Berliner Maler zugeordnet, NY 56.171.38 38 also oft eher eine perkussive Wirkung. Im Gegensatz dazu ist der aulós dank der Technik der Zirkuläratmung für einen konstanten – auch dynamisch konstanten – Klang verantwortlich. Diese instrumentalen Gegebenheiten sind Tatsachen, die auch ein Euripides nur zu gut kannte und denen er nicht ausweichen konnte. Es bleiben also, nach dieser Auslege- ordnung aller möglichen Fakten, einige Fragen zur Aufführung des Fragmentes Abb. 5: Der Autor mit einem Nachbau des aulós aus offen. Sind sie dem großen zeitlichen Hirschknochen von Paestum, um 480 v. Chr., von Abstand von erster Aufführung des Paul J. Reichlin (Foto: Paul J. Reichlin) Dramas Orestes und der Notierung unseres Fragments geschuldet? Hieße das, dass die Grundvoraussetzungen einer Musik um 200 v. Chr. deutlich anders waren als um 400 v. Chr.? Sind es neue In- strumente, ist es eine andere Musiksprache? Vorsichtigerweise sollten wir doch im Auge behalten, dass wir uns bei der Interpretation des Fragments um eine Aufführung um 200 v. Chr. bemühen. Ob eine solche Aufführung allenfalls gleich oder ähnlich war wie die Uraufführung von 408 v. Chr., ist eine zweite Frage, die wir wohl verneinen können. Es bräuchte, um zu einer plausiblen Aufführungspraxis um 200 v. Chr. gelangen zu können und damit dem überlieferten Orest-Fragment gerecht zu werden, zwei Ansätze: Die heute als gültig betrachtete Transkription in Frage zu stellen oder ein adäquates In- strumentarium zu finden, das konkrete und ganz praktische Hinweise liefern könnte. Und dieses Instrumentarium müsste ein anderes als um 400 v. Chr. gewesen sein: Der Gedanke an Restauration und somit der Gedanke an historisierende Instrumente war dem hellenistischen Gedankengut im ägyptischen Alexandria fremd. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich mir beim Auf- schreiben dieser wenigen Gedanken zu unserem Fragment insgeheim erhofft habe, die Lösung zu finden, wie denn diese Musik zu singen und zu spielen sei. Es ist mir, auch unter Zuhilfenahme der Musikinstrumente – und das war ja die Hoff- nung – leider nicht recht gelungen, wirklich Erhellendes beizutragen. Wenigstens haben sich einige Fragen neu gestellt oder doch geschärft. Und wenn sie zu einer neuen Diskussion führen, ist doch etwas geleistet. Abb. 6: Sappho, aus einem Notenblatt lesend/singend, rotfigurige Hydra der Polygnotos-Gruppe, um 450 v. Chr., Athen 1260 (mit freundlicher Genehmigung des National- museums Athen) 39 Vieltönigkeit in der Alten Musik Viele Tasten – viele Töne Das Cimbalo cromatico und musikalische Praxis von Martin Kirnbauer Vorbemerkung: Bei der Präsentation des Beitrags beim Festival les espaces sonores im Dezember 2012 stand die Musik im Vordergrund, einige der besprochenen Kompositionen wurden durch Alice Borciani (Gesang), Eva Saladin (Violine), Brigitte Gasser (Lira da gamba & Viola da gamba) sowie Johannes Keller (Cimbalo cromatico) aufgeführt und so die im Vortragstitel genannte ›musikalische Praxis‹ eingelöst. Diese sinnliche Dimension fehlt notgedrungen in der nun ent- sprechend abgeänderten schriftlichen Form des Beitrags. Es sei aber auf die Klangbeispiele ver- wiesen, die auf der Website des Basler Forschungsprojekts Studio31 zur Entwicklung einer portablen Orgel und eines Cembalos mit 31 Tönen pro Oktave zur Verfügung gestellt werden: www.projektstudio31.com Die Musik von Carlo Gesualdo, diese »hochentwickelte Ausdruckskunst eines genialen Psychopathen« (so die ›alte‹ MGG 1956)1 bzw. dieses »spinnerten Chromatikers« (so an- geblich Igor Strawinsky)2 aus der Zeit um 1600, dürfte auch jedem an der Musik des 20. Jahrhunderts Interessierten bekannt sein. Seine Kompositionen beunruhigten Musik- wissenschaftler seit jeher: Nicht nur wegen der scheinbar schwer zu greifenden Satz- weise und Kompositionstechnik abseits des Üblichen, sondern auch wegen der Frage, wie diese Musik wohl klinge und aufzuführen sei. Während Gesualdos Kompositionen im 18. Jahrhundert noch als »not easy to sing«3 bezeichnet wurden, galten sie im 19. Jahrhundert schlicht als unaufführbar: »Wirklich sind die Madrigale dieses gelehrten Dilettanten in Hinsicht auf die Wahl aus- druckvoller Motive, und auf das Gewebe der Stimmen, höchst merkwürdig; aber in der Modulation der Harmonie sind sie von einer Härte, die es bezweifeln lässt, ob sie jemals haben gesungen werden können und ob deren Lobredner älterer und neuester Zeit dieselben jemals mit ihren leiblichen Ohren gehört oder auch in dieser Beziehung nur untersucht haben.«4 1 Hans F. Redlich, Art. Gesualdo, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, Kassel: Bärenreiter 1956, Sp. 41–45, Sp. 43. 2 Zitiert bei Matthias Blume, Carlo Gesualdo – Exzentrischer Manierist oder Wegbereiter der Ato- nalität. Eine Annäherung, Köln: Dohr 2012, S. 12. 3 John Hawkins, A General History of the Science and Practice of Music, London: Payne & Sin 1776, S. 213. 4 Raphael Georg Kiesewetter, Schicksale und Beschaffenheit des weltlichen Gesanges vom frühen Mittelalter bis zu der Erfindung des dramatischen Styles und den Anfängen der Oper, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1841, S. 22. 43 Beides, die Debatte um die Deutung der Kom- positionsweise wie um die Aufführung, er- langte in der Musik- wissenschaft später sogar die Bezeichnung einer »Gesualdo Con- troversy«,5 eine Kontro- verse mit der Beteiligung auch der besten Köpfe (inklusive von Igor Strawinsky). Worum ging es dabei genau? Um ein Beispiel zu wählen, das Edward Lowinsky in seiner berühmten Schrift Tonality and Atonality in Sixteenth-Century Music verwendete (vgl. Abb. 1):6 Anhand des Madrigals Languisce al fin von Carlo Gesualdo führt er eine Reihe von analytischen Beobachtungen an, etwa »no more than the faint- est traces of tonal defini- tion« oder das Fehlen von authentischen Kadenzen, Abb. 1a: Carlo Gesualdos fünfstimmiges Madrigal Languisce al fin ein ständiger Wechsel zwischen »major and minor intervals« oder die »continued shifts of the harmonic center«. Als besondere Merkwürdigkeit betont er weiter »the complete chromatization of the scale« – und dies sogar bei »one of the less radical chromatic madrigals«, wie dies Gesualdos »Languisce al fin« darstelle. Und er fügt an: »it takes Gesualdo no more than seven measures to present all twelve tones« – womit Gesualdo implizit als moderner Zwölfton-Komponist avant la lettre gelten kann. Allerdings zählte Lowinsky falsch: Tatsächlich verwendet Gesualdo viel mehr als zwölf Töne, allein in dem Ausschnitt sind es nicht weniger als fünfzehn, nämlich 5 Vgl. hierzu Alfred Einstein, The Italian Madrigal, übersetzt von Alexander H. Krappe, Roger H. Sessions und Oliver Strunk, Princeton: Princeton University Press 1949, Bd. II, S. 705 f. 6 Edward E. Lowinsky, Tonality and Atonality in Sixteenth-Century Music, Berkeley & Los Angeles: University of California Press 1962, S. 43–45 (Abb. Languisce al fin auf S. 44 f.). 44 neben den sieben Tönen der Grundskala (c, d, e, f, g, a, h) auch fis, gis, cis, dis und eis sowie b, es und des. Lowinsky hat demnach nur die Ton- stufen gezählt, die beim Spielen der Musik durch sogenannte ›enharmo- nische Verwechslungen‹ auf einem modernen Kla- vier benutzt würden. Gesualdo allerdings besaß ein Cimbalo cromatico, also ein Cembalo, das mehr als zwölf Tasten in der Oktave auf- weist und auf dem alle diese ›vielen Töne‹ auch gespielt werden können.7 Somit lässt sich auch die lange Zeit kontrovers diskutierte Frage, wie die Aufführung seiner Musik vorzustellen ist und welchen konkreten Hintergrund diese ›vielen Töne‹ bei Gesualdo hatten, klar beantworten. Im Folgenden soll es um Abb. 1b: Carlo Gesualdos fünfstimmiges Madrigal Languisce al fin das Cimbalo cromatico wie vor allem auch um die ›vielen Töne‹ bzw. Vieltönigkeit gehen, die 7 So ist in einem Inventar seines Schlosses in Gesualdo aus den 1630er Jahren »un zimbalo gran- de con le ottave stese cromatiche« (ein großes chromatisches Cembalo mit erweiterten Oktaven) aufgeführt; Marta Columbro, Il Fondo Gesualdo della Biblioteca Provinciale di Avellino, in: La musica del Principe: Studi e prospettive per Carlo Gesualdo; Convegno Internazionale di Studi, Venosa, Potenza, 17–20 settembre 2003, hrsg. von Luisa Curinga, Lucca: Libreria musicale italiana 2008, S. 171–184, hier S. 182. 45 es für die Konzeption und Aufführung solcher Instrumente bedarf.8 Ein Cimbalo cromatico – gleiches gilt übrigens auch für alle anderen Tasteninstrumente wie insbesondere Orgeln, aber auch Clavichorde – zeichnet sich durch eine Teilung oder Brechung der üblichen Tastatur aus – und wird so auch meist in den schriftlichen ita- lienischen Quellen (wie etwa Inventaren) identifiziert, in denen von »tasti scavezzi« (gekappten Tasten), »con li semituoni taglia- ti« (mit geschnittenen Obertasten), »spez- zati« wie auch »perfettamente spezzati« (gebrochen) oder auch »acresciuto« (vermehrt) die Rede ist.9 Wie auf der zeitgenössischen Abb. 2: Skizze eines Cimbalo cromatico bei Skizze eines solchen Instrumentes in Abb. 2 Gioseffo Zarlino gut erkennbar ist,10 wurden alle Obertasten der Tastatur sozusagen verdoppelt und auch zwischen den beiden Halbtonschritten e-f und h-c eine zusätzliche Taste eingefügt. Das wirkt aus moderner Perspektive vielleicht merkwürdig, ergibt sich aber ganz kon- sequent aus dem Wesen von ›mitteltönigen‹ Temperaturen, wie sie zwischen dem Ende des 15. bis mindestens zum 18. Jahrhundert und sogar darüber hinaus üblich waren. Erst dann setzte sich die sogenannte ›gleichschwebende‹ bzw. ›gleichstufige‹ Stimmung weitgehend kompromisslos durch, bei der theoretisch die Oktave in zwölf gleiche Teile unterteilt wird (12EDO – Equal Division of the Octave). Ausgangspunkt der Temperaturen bildet bekanntlich die Unvereinbarkeit von reinen Intervallen (wie insbesondere von den in der europäischen Musik so zentralen Intervallen 8 Zum Konzept der Vieltönigkeit vgl. Martin Kirnbauer, Vieltönige Musik – Spielarten chromatischer und enharmonischer Musik in Rom in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, Basel: Schwabe 2013 (= Schola Cantorum Basiliensis Scripta, Bd. 3); ders., Vieltönigkeit statt Mikrotonalität. Konzepte und Praktiken ›mikrotonaler‹ Musik des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Mikrotonalität – Praxis und Utopie, hrsg. von Cordula Pätzold und Caspar Johannes Walter, Mainz: Schott 2014 (= Stuttgarter Musikwissen- schaftliche Schriften, Bd. 3), S. 85–113 (siehe auch: http://www.projektstudio31.com/vieltonigkeit- statt-mikrotonalitat-konzepte-und-praktiken-mikrotonaler-musik-des-16-und-17-jahrhunderts/ [3. 6. 2016]); Johannes Keller, Über mein »cimbalo cromatico«, ebd., S. 114–135. 9 Eine deutsche Quelle von 1680 beschreibt dieses Phänomen ebenso anschaulich wie originell als Tasten, die »eine andere auff dem Rucken hätte« (Michael Bulyowsky [Michaelis Bvliowski de Dulicz], Brevis de emendatione organi musici tractatio / Kurtze Vorstellung von Verbesserung des Orgelwercks, Straßburg: Joh. Eberhard Zetzner 1680, S. 13 – im parallelen lateinischen Text heißt es S. 12: »dorso suo, aliam quandam palmulam, seu taxillum, aut clavem, gestabat«). 10 Gioseffo Zarlino, Le Istitvtioni harmoniche, Venedig 1558, S.  141. In der dazugehörigen Be- schreibung fällt der Begriff Cimbalo cromatico übrigens nicht, aber in Zarlinos Nachlassinventar wird sein (lt. Zarlino 1548 von Domenico Pisaurensis in Venedig gebautes) Instrument explizit als »Vn clauiciembalo cromatico« bezeichnet (Isabella Palumbo Fossati, La casa veneziana di Gioseffo Zarlino nel testamento e nell’inventario dei beni del grande teorico musicale, in: NRMI 20 [1986], S. 633– 649, hier S. 648 [Faks.] und 640). 46 wie Quinten, großen und kleinen mittel- Terzen) bei einer nie in Frage rein 12EDOtönig gestellten Oktavreinheit. Oder c 0,0 1/1 0,0 0 c anders gesagt: Dass beliebige Kom- cis 76,0 25/24 70,7 cis binationen konsonanter Intervalle 100des 117,1 16/15 111,7 des in einem Raster fixierter Tonhöhen d 193,2 10/9 203,9 d möglich sein sollen.11 Dies zwingt 200d 9/8 182,4 d zu einer praktischen Regelung, die dis 269,2 dis in aller Regel in Form eines Kom- 300es 310,3 6/5 315,6 es promisses ausgestaltet wird – der e 386,3 5/4 386,3 e eben Temperatur genannt wird. 400fes 427,4 fes Im Rahmen der Mitteltönigkeit eis 462,4 eis bedeutet dies die Bevorzugung von 500f 503,4 4/3 498,0 f reinen großen Terzen, wofür die fis 579,5 fis Quinten etwas ›leiden‹, d. h. ver- 600 ges 620,5 ges kleinert werden müssen. Dies ist gut g 696,6 3/2 702,0 700 g nachvollziehbar in einem Vergleich gis 772,6 gis der cent-Zahlen der mitteltönigen, 800 as 813,7 8/5 813,7 as der ›modernen‹ gleichstufigen und reinen Intervallen (Abb.  3) – und a 889,7 5/3 884,4 900 a dies ist aber vor allem auch hörbar. ais 965,8 ais1000 Weil in diesen mitteltönigen b 1006,8 7/4 968,8 b Temperaturen ein vehementer h 1082,9 h1100 und keineswegs zu negierender ces 1124,0 ces Unterschied zwischen beispiels- his 1158,9 his1200 weise einem gis und einem as, c 1200,0 2/1 1200,0 c einem dis und einem es usw. Abb. 3: Cent-Angaben für (1/4 Komma-)mitteltönige besteht, ergibt sich für Tasten- Temperatur, reine Intervalle und 12EDO instrumente mit sozusagen fix voreingestellter Temperatur die Notwendigkeit zusätzlicher Tasten (und natürlich auch damit bedienter zusätzlicher Saiten bzw. Orgelpfeifen), um wenigstens die wichtigsten in der Praxis verwendeten Intervalle und Töne hervorbringen zu können: Wenigstens 14 Tasten (mit gis und as, dis und es), aber auch wesentlich mehr (19, 24, 31 usw.). Es erweist sich aber als sinnvoll, zwischen den verschiedenen Erweiterungen zu unterscheiden und nur die mit bis zu 19 Tasten ausgestatteten Instrumente als ›chromatisch‹ zu bezeichnen.12 Belege für entsprechende Tasteninstrumente finden sich 11 Mit herzlichem Dank an Johannes Keller für diese prägnante Zuspitzung, der sogar noch schärfer formulieren würde: die Polyphonie (in einem westlichen Verständnis) ist arithmetisch falsch. 12 Siehe Rudolf Rasch, On terminology for diatonic, chromatic, and enharmonic keyboards, in: Chromatische und enharmonische Musik und Musikinstrumente des 16. & 17. Jahrhunderts. Beiträge zu einem Kolloquium der Schola Cantorum Basiliensis, Hochschule für Alte Musik Basel, und des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Basel am 9. April 2002, hrsg. von Thomas Drescher und Martin Kirnbauer, Bern: Peter Lang 2003 (=Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft, 47 seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert – und sie verschwinden erst mit dem Auf- kommen oder dem sich Durchsetzen von Temperaturen, die andere und weitergehende Kompromisse verwenden, d. h. konkret, immer mehr Intervalle ›ver-stimmen‹. (Nur in Klammern sei angemerkt, dass andere Instrumente wie Streichinstrumente das Problem entweder durch entsprechend differenziertes Greifen oder mittels zusätzlichen Bünden lösen konnten,13 Blasinstrumente durch abweichende Griffe oder Anblasen.) Da durch die gleichschwebende Temperatur die Tastaturen mit gebrochenen Obertasten obsolet wurden, haben sich auch nur sehr wenige solcher Instrumente im ursprünglichen Zu- stand erhalten, meist wurden sie auf herkömmliche Tastaturen zurückgebaut.14 Im Folgenden soll es aber nicht so sehr um die Instrumente gehen, sondern um die Musik, die auf ihnen gespielt wurde bzw. die es zur Aufführung eines Cimbalo cromatico fast zwingend bedarf. Dabei werden nur einige wenige Beispiele vorgestellt und eindeutig bezeichnete Musik wie auch solche Stücke besprochen, denen eine ent- sprechende Vieltönigkeit inhärent ist, die bislang übersehen wurde. * Als erste, explizit für Cimbalo cromatico geschriebene Musik können einige Kompositionen gelten, die als »per« oder »sopra il Cimbalo cromatico« bezeichnet sind.15 Sie stammen von den in Neapel tätigen Ascanio Mayone (ca. 1565–1627) und Giovanni Maria Trabaci (ca. 1575–1647).16 Diese Stücke zeigen einige der Möglichkeiten des vieltönigen Instru- Bd. 22 [2002]), S.  11–250, hier S.  21–33 (mit dem pragmatischen Vorschlag, Instrumente mit zwischen 7 und 12 Tasten pro Oktave als ›diatonisch‹, zwischen 12 und 19 als ›chromatisch‹ und zwischen 19 und 31 Tasten als ›enharmonisch‹ zu bezeichnen). 13 Siehe Martin Kirnbauer, »e potrà facilmente sonare quelle del Chromatico«. Das Gambenensemble in Italien und »vieltönige« Musik, in: Repertoire, Instrumente und Bauweise der Viole da gamba, hrsg. von Christian Philipsen in Verbindung mit Monika Lustig und Ute Omonsky, Augsburg: Wißner & Michaelstein 2016 (= Michaelsteiner Konferenzberichte, Bd. 80), i. V.; vgl. auch David Dolata, Meantone temperaments on lutes and viols, Bloomington: Indiana University Press 2016 (= Publications of the Early Music Institute). 14 Vgl. die (keineswegs erschöpfenden) Zusammenstellungen bei Denzil Wraight, The »cimbalo cromatico« and other Italian string keyboard instruments with divided accidentals, in: Chromatische und enharmonische Musik und Musikinstrumente des 16. & 17. Jahrhunderts (s. Anm.  12), S.  105–134, sowie eine Ergänzung Checklist of Italian harpsichords and virginals with split sharps in: http://www. denzilwraight.com/download.htm (28. 6. 2016). Hingewiesen sei weiter auf den reichen Fundus an Materialien, den Patrizio Barbieri zusammengetragen hat: Patrizio Barbieri, Enharmonic Instru- ments and Music 1470–1900. Revised and Translated Studies, Latina: Il Levante 2008 (= Tastata, Bd. 2), insbesondere S. 413–417. 15 Vgl auch eine erste Zusammenstellung bei Christopher Stembridge, Music for the »Cimbalo cromatico« and Other Split-Keyed Instruments in Seventeenth-Century Italy, in: Performance Practice Review 5 (1992), Nr. 1, S.  5–43 (auch in: http://scholarship.claremont.edu/cgi/viewcontent. cgi?article=1104&context=ppr). 16 Ascanio Mayone, Secondo Libro di Diversi Capricci per Sonare, Neapel: Gio Battista Gargano & Lucretio Nucci 1609, S. 110–116: Toccata quarta per il Cimbalo Cromatico sowie S. 116–123: Toccata 5. per il Cimbalo Cromatico; Giovanni Maria Trabaci, Il Secondo Libro de Ricercate, & altri varij Capricci, Con Cento Versi sopra li Otto finali Ecclesiastici per rispondere in tutti i Diuini Officij, & in ogni altra 48 Abb. 4: Ascanio Mayone, Toccata 5. per il Cimbalo Cromatico (T. 5–22) ments, vor allem Modulationen in weit entfernte Tonarten, die sich eben ohne solche vieltönigen Tastaturen nicht sinnvoll darstellen lassen. So handelt es sich bei Trabacis Toccata Terza, & Ricercar sopra il Cimbalo cromatico um ein Beispiel für weitgreifende sorte d’occasione, Neapel: Giovanni Giacomo Carlino 1615, S. 88–93: Toccata Terza, & Ricercar sopra il Cimbalo cromatico. (Erwähnenswert ist, dass Trabaci hier in einer direkt vorangehenden Vor- bemerkung A’lettori das Cimbalo cromatico von einem »Cimbalo in Armonico« unterscheidet, das mit einer zweiten Tastatur noch mehr Töne aufweist. 49 * Schlussnote Terz zu hoch notiert Abb. 5: Gioanpietro Del Buono, Sonata VII. Strauagante, e per il cimbalo cromatico (T. 26 – Schluss) Modulationen, bei denen auch zu dieser Zeit außergewöhnliche Doppelkreuze (»certi Semitonij con sei piedi«) verwendet werden. Allerdings merkt der Komponist selbst an, wenn das zur Verfügung stehende Cimbalo cromatico über die betreffenden Töne nicht verfüge, könne man das Stück auch mit einfachen Kreuzen spielen.17 Mayones Toccata 5. per il Cimbalo Cromatico hingegen spielt einen anderen Aspekt aus (Abb. 4): In einer Art 17 »& in questa Toccata per vna, � due corde, che mancassero, tutte quelle terze, che non si ponno far Maggiore si facciano Minore, già che non sono Cadenze finale.« (Giovanni Maria Trabaci, Il Secondo Libro de Ricercate [s. Anm. 16], S. 87). 50 »durezze & ligature«-Passage wird eine lange Kette von bewusst gesetzten (Vorhalts-) Dissonanzen mit Modulationen weit in den Kreuztonbereich ausgereizt, wobei alle ›dia- tonischen‹ Tonstufen auch als Alteration erscheinen (fis, cis, gis, dis, ais, eis, his). Ein weiteres Beispiel dieser explizit für ein Cimbalo cromatico konzipierten Musik, das zugleich erahnen lässt, wie die sicht- und begreifbar vor den Augen und Händen des Komponisten liegenden Möglichkeiten eines vieltönigen Tasteninstrumentes ganz neue Ideen und Klangverbindungen entstehen ließen, ist eine kühne Sonata VII. Strauagante, e per il cimbalo cromatico von Gioanpietro Del Buono († 1657; Abb.  5).18 Im Rahmen einer Demonstration kon- trapunktischer Künste – alle Sätze des Drucks basieren auf dem Cantus firmus Ave maris stella, hier im Tenor liegend – wird das Beiwort des Titels ›stravagante‹ umgesetzt, das als Schlüsselwort für eine ganze Reihe von melodischen, rhyth- mischen oder harmonischen Besonderheiten stehen und kaum mit ›Extravaganz‹ oder ›fantastischer Exzentrizität‹ übersetzt werden kann. Auf- grund des Cantus firmus ist hier keine echte Modulation möglich, aber die insgesamt 16 benutzten verschiedenen Ton- stufen (neben den sieben dia- tonischen Grundtönen auch fis, cis, gis, dis, eis und b, es, as, des) scheinen fast wie zu- fällig gesetzte Alterierungen, die eine modale Orientierung verunmöglichen. Damit und durch vorenthaltene Kadenzen, direkte Chromatik usw. wirkt der Tonsatz irritierend frei, ob- Abb. 6: Silverio Picerli, Specchio primo di musica, Neapel: Ottavio Beltrano 1630, S. 8 wohl die zeitüblichen Regeln des Kontrapunkts gewahrt 18 Gioanpietro Del Buono, Canoni, Oblighi et Sonate in varie maniere sopra l’Ave Maris Stella, Palermo: Ant. Martarello & Santo d’Angelo 1641, fol. M1v–M2v; eine Edition der kompletten Sonate findet sich in Kirnbauer, Vieltönigkeit statt Mikrotonalität (s. Anm. 8), S. 103–105. 51 werden.19 Man darf sich fragen, welche Sensation diese Vieltönigkeit in einer modal orientierten und mitteltönig gestimmten Welt ausgelöst haben muss. Wie üblich solche Instrumente zumindest in Italien gewesen sein müssen, wird nicht nur durch ihre Nennung in den gedruckten und für einen Markt gedachten Notenpublikationen belegt, sondern auch an einer versteckteren Stelle: In dem weit ver- breiteten Traktat Specchio primo di musica von Silverio Picerli (Neapel 1630) findet sich zu Beginn eine Seite, auf der ein musikalisches Rätsel dargestellt wird (Abb. 6).20 Laut der Beischrift kann es allerdings nur derjenige lösen, der es zu lesen versteht (»qvi legit, intel- ligat«) – bzw. auch derjenige, der den Traktat liest, in dem es aufgelöst wird. Auf der Ab- bildung ist rechts seitlich die Tastatur eines Cimbalo cromatico mit vollständig gebrochenen Obertasten abgebildet, bezeichnet als »Tastami dell’ord. naturale, & accidentale.«, was sich auf die im Traktat erklärte Diatonik, Chromatik und Enharmonik bezieht, denen das Cimbalo cromatico letztlich auch seinen Namen verdankt. Gemeint sind damit die aus der antiken griechischen Musik abgeleiteten Genera (oder Tongeschlechter), die als Tonstufen Ganz- und ›natürliche‹ Halbtöne (Diatonik), durch Akzidentien erzeugte ›chromatische‹ Halbtöne (Chromatik) oder noch kleinere Intervalle (Enharmonik) verwenden. * Für die nächste Kategorie der sozusagen ›implizit explizit‹ bezeichneten Musik kann ein Lamentum von Domenico Mazzocchi (1592–1665) angeführt werden, das 1638 in Rom im Druck erschien.21 Hier finden sich in den Noten (für Singstimme und Basso continuo) eine Reihe von eigentümlichen Zeichen, die für die Möglichkeiten eines Cimbalo cromatico stehen (das in einem Vorwort übrigens explizit mit »Instrumenti hodierni perfettamente spezzati, � spessati« angesprochen wird). So gibt es neben dem üblichen # ein eigenes Zeichen für die Erhöhung eines (kleinen) Abb. 7: Domenico Mazzocchi, »Lamentum Matris Halbtons um einen weiteren (kleinen) Euryali«, T. 26–30 Halbton, von Mazzocchi als »dieses En- 19 Vgl. hierzu auch James Haar, False Relations and Chromaticism in Sixteenth Century Music, in: JAMS 30 (1977), S. 391–418. 20 Silverio Picerli, Specchio primo di musica, ..., Neapel: Ottavio Beltrano 1630, S.  8; vgl. auch Patrizio Barbieri, Enharmonic Instruments and Music 1470–1900 (s. Anm. 14), S. 413 f. 21 Domenico Mazzocchi, Dialoghi, e Sonetti posti in musica, Rom: Francesco Zannetti 1638, S.  153–156: Lamentum Matris Euryali; vgl. hierzu und zum Hintergrund ausführlich Martin Kirnbauer, Vieltönige Musik (s. Anm. 8), S. 21–27 und 237–240 (Edition). 52 armonico« bezeichnet und mit x gekennzeichnet. Konkret verwendet wird es beispiels- weise für eine große Terz über dem Ton cis, die als eis in der Tonhöhe nicht identisch mit einem f ist. Diese Tonstufen finden sich im Notentext des Lamentum sowohl in der Singstimme wie in den Bassnoten des Basso continuo, hier sogar in der Bezifferung, um den Spieler auf die besondere Tonstufe hinzuweisen (Abb.  7). Damit wird eindeutig, dass hier real erklingende und nicht nur optionale Vieltönigkeit gemeint ist, was der Komponist mit dem expliziten Warnhinweis »Cantatur, vt scribetur, rigorosè.« (Es ist genau so zu singen, wie es geschrieben ist.) unterstreicht.22 Um einiges kühner ist eine Motette von Galeazzo Sabbatini (1597–1662), der selbst nachweislich ein vieltöniges Tasteninstrument besaß.23 Es handelt sich dabei um eine Vertonung eines anspielungsreichen Textes – »Derelinquat impius viam suam« (der gott- lose Mann lasse ab von seinem Weg) –, die er wohl eigens auf Anregung des Universalge- Abb. 8: Galeazzo Sabbatini, Derelinquat impius viam suam, T. 64–70 lehrten Athanasius Kircher schrieb, der sie in seiner voluminösen Mvsvrgia vniversalis (Rom 1650) als »prototypus« für sogenannte ›diatonisch-chromatisch-enharmonische‹ 22 Solche Hinweise finden sich bei ähnlich konzipierten Kompositionen häufiger, vgl. Martin Kirnbauer, Vieltönige Musik (s. Anm. 8), S. 183 f. 23 Siehe Patrizio Barbieri, Enharmonic Instruments and Music 1470–1900 (s. Anm. 14), S. 33 f. 53 Musik abdruckte.24 Auch hier weisen besondere Zeichen auf besondere Tonstufen hin (hier in Form eines ˆ, von Kircher als »consonantiæ enarmonicæ« bezeichnet). Insgesamt werden 19 Töne in der Oktave verwendet (fis, cis, gis, dis, ais, eis, his und b, es, as, des, ces – also alle sieben diatonischen Töne auch mit #-Akzidens und – außer f und g – auch mit b-Akzidens). Ermöglicht sind damit weite Modulationen (insgesamt mit 17 Quinten von des bis his und Modulation von cis zu as und außergewöhnliche Kadenz- Fortschreitungen, die in der Melodielinie den Unterschied zwischen gis und as, h und ces bzw. dis und es ausspielen (Abb. 8). Es verwundert nicht, dass Athanasius Kircher einen topischen Hinweis auf die Schwierigkeiten der Aufführung beifügt: »Quod tamen difficulter nisi à peritoribus tantum phonascis cantabitur. Quicquid sit, exercitium omnia reddet facilia.«25 (Darum ist es schwierig, außer wenn es von sehr erfahrenen Musikern gesungen wird. Wie dem auch sei, Übung macht alles leicht.) * Abschließend sollen noch einige Kompositionen vorgestellt werden, die bislang nicht in vieltöniger Perspektive gesehen wurden, diesen Blick aber mehr als verdienen: Bei der ersten handelt es sich um eine Violin-Sonate von Georg Muffat (1653–1704), in der einzigen handschriftlichen Überlieferung auf 1677 datiert.26 Auch hier gibt es bemerkenswerte weitumspannende Modulationen bei insgesamt 17 verwendeten Ton- stufen (fis, cis, gis, dis, ais, eis, his und b, es, as), die auch in der Basso-continuo-Stimme bzw. Bezifferung erscheinen, also ein Cimbalo cromatico erfordern. Entfernt an Sabbatini erinnern melodische Fortschreitungen von eis zu f, von ais zu b, von his zu c (Abb. 9). Das letzte Beispiel stammt von Johann Jacob Froberger (1616–1667), dessen latente Vieltönigkeit sich allerdings erst bei einem Blick in die originalen Noten offenbart, da die bisherigen Editionen seiner Musik diesen Aspekt nicht sichtbar machen.27 Froberger verwendet nicht nur eine Vielzahl von #- und b-Akzidentien in seiner Musik, sondern bezeichnet auch bestimmte Tonstufen mit einem x. So finden sich in seiner Meditation faite sur ma mort future neben # für f, c, g und d auch die Tonstufen ex und ax (Abb. 10).28 Dass er diese Differenzierung anzeigt, gibt einen klaren Hinweis auf die Verwendung eines Cimbalo cromatico, das für diese Tonstufen über eigene Tasten verfügt. 24 Athanasius Kircher, Mvsvrgia vniversalis sive Ars magna consoni et dissoni in X. libros digesta. ..., Rom: Franciscus Corbelletti Erben & Lodovico Grignani 1650, Bd. I, S. 664–672. Vgl. hierzu und zum Hintergrund Martin Kirnbauer, Vieltönige Musik (s. Anm. 8), S. 207–210 und 351–356 (Edition). 25 Athanasius Kircher, Mvsvrgia vniversalis (s. Anm. 24), Bd. I, S. 664. 26 Sonata Violino solo in CZ-KR (Musikarchiv des erzbischöflichen Schlosses in Kroměříž/ Kremsier) Sign. B IV 118 (bzw. A 562); Faksimile hrsg. von Jiří Sehnal in Denkmäler der Musik in Salzburg. Faksimile-Ausgaben, Bad Reichenhall: Comes 1992. 27 Siehe Martin Kirnbauer, Vieltönigkeit statt Mikrotonalität (s. Anm. 8), S. 111 f.; Johannes Keller, Über mein Cimbalo cromatico (s. Anm. 8), S. 133 f. 28 Die Abbildung zeigt eine Abschrift von Johannes Kortkamp (nach 1660) in D-Bsb SA 4450, 63, aber auch das 2006 bei Sotheby’s versteigerte und seither unzugängliche Autograph Frobergers zeigt die gleiche Notation. Ein Beitrag über die Vieltönigkeit bei Froberger ist in Vorbereitung. 54 Violino Bass Abb. 9: Georg Muffat, Sonata Violino solo, T. 109–135 55 Solche Instrumente waren auch noch in etwas späterer Zeit weniger unüblich, als man heute meinen könnte. Beispielsweise beschreibt Johann Baptist Samber in seiner Manuductio ad organum (Salzburg 1704) neben dem »Ordinari Clavier«, also der gewöhnlichen Klaviatur, auch ein »gebrochne[s] Clavier« mit 19 Abb. 10: Froberger, Meditation faite sur ma mort Tasten pro Oktave.29 Oder Benedetto future, T. 10–11 Marcello, der in seinem Traktat Lettera familiare d’un accademico filarmonico, et arcade (Venedig 1716) die »molti Cembali formato con li spezzati« von denen mit weitergehender Unterteilung unterscheidet.30 Und auch wenn der konkrete Kontext bislang noch unbekannt ist, die Enharmonische Sonate von Gottfried Heinrich Stölzel (1690–1749) ist mit Sicherheit für ein solches vieltöniges Tasteninstrument geschrieben worden, mit insgesamt 18 verschiedenen Tonstufen in der Oktave.31 * Diese kursorischen Bemerkungen zum Cimbalo cromatico und vieltöniger Musik wären noch in vielerlei Hinsicht zu ergänzen, zu erweitern und zu vertiefen, da sich ähn- liche Beispiele auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten finden lassen. Deutlich sollte aber geworden sein, dass die in der Notation aufscheinenden ›vielen Töne‹ keine bloß orthographische Funktion haben müssen, sondern sie tatsächlich für hör- bare ›viele Töne‹ stehen können – oder in unserer üblichen Tasten-Perspektive auf die Musik formuliert: sie stehen konkret für viele Tasten. In diesem Sinne ist ein Cimbalo cromatico – oder irgendein anderes vieltöniges Tasteninstrument – eine Einladung, sich mit Musik jenseits der üblichen 12 Tasten und Töne zu beschäftigen. So stehe am Ende ein bemerkenswertes Zitat aus den Leçons de clavecin von Denis Diderot.32 Hier fragt die Schülerin ihren Clavierlehrer: 29 Johann Baptist Samber, Manuductio ad organum Das ist: Gründlich= und sichere Handleitung Durch die höchst-nothwendige Solmisation, Zu der Edlen Schlag=Kunst. ..., Salzburg: Johann Baptist Mayrs seel. Wittib und Erb. 1704, S. 103 mit Fig. VI. 30 Benedetto Marcello, Lettera familiare d’un accademico filarmonico, et arcade. Discorsiva Sopra un Li- bro di Duetti, Terzetti e Madrigali a più Voci Stampato in Venezia da Antonio Bortoli l’anno 1705, [Venedig 1716], S. 65 (»E che ci� sia verità sopra il mio, e molti Cembali formato con li spezzati (lasciando quelli di moltiplice Tastatura nella quale il Tuono resta in più minute Parti diviso, che in due Semituoni) cioè con ambi l’Intervalli minore, e maggiore si genera per detta Signatura una gran confusione.«). 31 Gedruckt bei Friedrich Wilhelm Marpurg, Musikalisches Allerley von verschiedenen Tonkünstlern, Berlin: Birnstiel 1761, Bd. II, S. 48–50. 32 Denis Diderot und Antoine Bemetzrieder, Leçons de clavecin, et Principes d’harmonie, Paris: Bluet 1771, S. 71. 56 Le Disciple »Dans toute la musique qu’on faite, qu’on fait et qu’on fera, il n’y a donc que douze sons différentes?« Le Maître »Point de réponse à cela. Si j’allais vous dire qu’on obtient du violon vingt-quatre sons différents, je tendrais un piège à votre curiosité. Pour ce moment, contentez-vous de savoir que le clavecin n’est pas le plus riche des instruments, et qu’on un grand violon fait des merveilles impossibles au virtuose claveciniste.« [Schülerin: Also gibt es in der ganzen Musik, die man je gemacht, macht und machen wird, nur zwölf verschiedene Töne? Der Lehrer: Darauf gibt es keine Antwort. Wenn ich Euch sagen würde, dass man auf der Violine 24 verschiedene Töne hervorbringt, dann würde ich Eurer Neugierde eine Falle stellen. Aber für den Moment seien Sie zufrieden zu wissen, dass das Cembalo nicht das reichste aller Instrumente ist und dass ein großer Geiger Wunder vollbringt, die für einen virtuosen Cembalisten unmöglich sind.] An anderer Stelle in Diderots Schrift wird deutlich, dass dieselbe praktizierte Vieltönig- keit auch für Sänger gilt – und es ist wohl im Lichte des Dargelegten keine Pointe mehr, dass Diderot für sich und den Clavierunterricht seiner Tochter 1771 »Un petit piano-forte de Zumpe, avec les touches surajoutées« (ein Tafelklavier mit hinzugefügten Tasten von Johannes Zumpe) erwerben wollte, eigentlich also ein Piano-forte cromatico.33 33 Diderot in einem Brief an Charles Burney am 28. (?) Oktober 1771 (Denis Diderot, Corres- pondance XI Avril 1771 – Décembre 1771), hrsg. von Georges Roth, Paris: Minuit 1964, S. 213–217, hier S.  213). Ein solches Tafelklavier mit durchgehend gebrochenen Obertasten von Johannes Zumpe, London 1766, hat sich in der Sammlung des Württembergischen Landesmuseums in Stuttgart, Inv.-Nr. 1982–86, erhalten. 57 Selbstbefragungen Ich bin kein spektraler Komponist von Georg Friedrich Haas Die Einladung, an diesem Symposium zu sprechen, habe ich nur ungern angenommen. Es ist künstlerisch immer höchst problematisch, an einer Veranstaltung teilzunehmen, von deren Fokus man sich – aus wohlüberlegten ästhetischen Gründen – distanziert. Vorsätzlich andere Wege geht. Dabei existiert die Gefahr eines fundamentalen Missverständnisses: Meine Abgrenzung könnte als Ablehnung interpretiert werden. Das wäre aber unwahr. Ich liebe und verehre z. B. Johann Sebastian Bach. Aber selbst schreibe ich weder Fugen noch protestantische Kirchenmusik und denke auch nicht im bezifferten Bass. Ich liebe und verehrte die Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Felix Mendelssohn und Gustav Mahler – aber in meiner eigenen Musiksprache finden sich weder die melodischen noch die harmonischen noch die formalen Konzeptionen dieser Komponisten. Ich liebe und verehre die Musik Arnold Schönbergs, Alban Bergs und Anton Weberns – aber ich schreibe nicht dodekaphon. Ich liebe viele der seriellen Kom- positionen von Pierre Boulez und Luigi Nono (sogar einiges von Karlheinz Stockhausen) – aber dennoch betrachte ich die serielle Musik als ein spätes Aufflackern jener Kom- positionstechniken, die verzweifelt versucht haben, aus den mehr oder weniger zufäl- ligen Analogien, die die Eigentümlichkeiten unserer Notenschrift mit sich bringen, eine musikalische Logik heraufzubeschwören. Und ich liebe die Musik der Meisterinnen und Meister der spektralen Kompositionstechniken. Aber ich selbst bin kein spektraler Kom- ponist – obwohl ich als ein solcher immer wieder bezeichnet werde: In Wikipedia findet man z. B.: »Georg Friedrich Haas (born August 16, 1953 in Graz) is an Austrian composer of spectral music.« – und noch schlimmer im Artikel Tristan Murail: »Neben Gérard Grisey und Georg Friedrich Haas ist Murail einer der Hauptver- treter der Spektralmusik in der Neuen Musik.« – Sorry, Tristan, ich kann nichts dafür. Das kommt vermutlich daher, dass ich immer wieder die Intervallbeziehungen von Teiltonskalen verwende. Wenn ich in den folgenden Ausführungen Kritik an manchen Grundsätzen der spek- tralen Musik üben werde, so geschieht das auf der Basis einer hohen Wertschätzung. Um es klar auszusprechen: Ich halte Gérard Grisey für den dritten großen Reformator der Musik des 20. Jahrhunderts, nach Arnold Schönberg und Giacinto Scelsi. Seine Kompositionen sind ein wesentlicher Teil der Musikgeschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Den Terminus »spektrale Musik« verstehe ich als den Überbegriff von Kompositions- techniken, die auf spektralen Analysen von Klängen aufgebaut sind. 61 Verzeihen Sie mir, wenn ich jetzt etwas hinlänglich Bekanntes wiederhole: Der Begriff »Klangspektrum« übernimmt einen Fachterminus aus der Optik und überträgt ihn in die Musik. Die Analogie hat etwas Berückendes an sich: So wie ein Prisma aus dem weißen Licht die Farben des Regenbogens zaubern kann, so kann man mit einem Bandfilter aus einem Instrumentalklang die einzelnen Töne der Teiltonreihe heraus- holen. Darüber hinaus existiert noch eine Analogie in der künstlerischen Anwendung: Es ist unmöglich, durch das Mischen der Farben des Regenbogens künstlich weiße Farbe herzustellen; als Ergebnis erhält man im besten Fall ein schmutziges Grau. Und es ist unmöglich, durch das Addieren von Instrumentalklängen, die einen Akkord bilden, dessen Elemente im Abstand der Teiltonreihe gespielt werden, einen künstlichen neuen Instrumental(gesamt)klang zu bilden. Aber während die Regenbogen-Farbmischungen ästhetisch eher unbefriedigend sein dürften (ich kenne keine »spektrale Malerei«), schenken die von Spektralanalysen abgeleiteten Akkorde in der Musik erfahrungs- gemäß äußerst eindrucksvolle Zusammenklänge. Den Begriff »schenken« habe ich in diesem Zusammenhang sehr bewusst gewählt: diese Klangqualitäten sind (manchmal!) Geschenke. Die scheinbare Analogie zwischen dem Lichtspektrum und dem sogenannten Klang- spektrum ist faszinierend – aber die Wesensunterschiede zwischen Licht und Schall sind fundamental. Schon das Ausgangsmaterial ist völlig unterschiedlich – und das nicht nur deshalb, weil die Art und Weise der Wellenbewegung unvergleichbar ist: Während das weiße Licht durch die Gleichzeitigkeit (fast) aller möglichen Frequenzen definiert ist, besteht der »spektral« gebrochene Instrumentalklang aus nur wenigen, theoretisch genau definierten Frequenzen. Dem weißen Licht würde akustisch das weiße Rauschen entsprechen. Die Partialtöne eines Instrumentalklangs könnte man mit der Addition verschiedener monochromer Lichtquellen vergleichen – allerdings scheitert dieser Ver- gleich an der Tatsache, dass bereits die Verdopplung der Lichtfrequenz (also quasi eine »Oktave«) den wahrnehmbaren Bereich sprengen würde. Wenn wir die Teiltöne eines Instrumentalklanges herausfiltern, ist dies ein Vor- gang, der objektive, physikalisch messbare Grundlagen hat: Die Frequenzen sind unterschiedlich stark, die Diskontinuität der Wahrnehmung (= die einzelnen Tonhöhen) entspricht der Diskontinuität der physikalisch messbaren Ursachen (= manche Töne sind in wahrnehmbarer Lautstärke objektiv vorhanden, andere nicht). Der Regenbogen besteht aus Licht in gleichwertig nebeneinander liegenden Frequenzen. Die Farben, die wir unterscheiden, werden durch unser Gehirn definiert. Vermutlich verlaufen die exakten Grenzen zwischen (z. B.) gelb und orange bei jedem Menschen ein wenig anders. Die Diskontinuität der Wahrnehmung (= die einzelnen Farben) ist die Folge der sinnlichen Auflösung einer physikalischen Kontinuität (alle Frequenzen sind vorhanden, unser Gehirn definiert subjektiv die einen Frequenzen als z. B. grün und andere als rot). Wir erkennen also, dass es sich beim Vergleich zwischen Lichtspektrum und Klang- spektrum nur um eine zufällige Parallele des sinnlichen Eindrucks zweier sich völlig fremder Analysetechniken handelt. Allerdings: ein schöner Zufall. Die Dimensionen der Zeit sind in Licht und Klang extrem unterschiedlich. Die Licht- frequenzen finden im Bereich von Hunderten Terahertz statt (bitte schreiben Sie in Gedanken z. B. die Zahl 700 und hängen Sie noch 12 Nullen daran). Würde ein Ton 62 in der Frequenz 440 Hz gleich viele Schwingungen enthalten wie nur eine Sekunde violettes Licht, müsste er ca. 50 000 Jahre lang erklingen. Diese hohe Zahl an Licht- schwingungen ist die Voraussetzung dafür, dass präzise Spektralanalysen durchgeführt werden können. Das einzelne Schwingungsereignis, das einzelne Lichtquantum, ist so kurz, dass es als beinahe 0 gesetzt werden kann. Es ist eine vernachlässigbare Größe. In der Musik ist das anders. Kein Instrumentalklang ist statisch. Physikalisch formuliert: Jede einzelne Schwingung ist relevant. Die Töne verklingen (Gong, Kla- vier, Pizzicato …) oder werden durch Atem oder Streichen am Leben erhalten – sich dabei ständig ein wenig verändernd. Die Spektralanalyse schneidet dann ein winziges Teilchen aus diesem Leben heraus und verlängert es fiktiv auf viele Jahre, damit davon eine Fourieranalyse gemacht werden kann. Mein Freund und Kollege Erik Oña hat mir ein wunderbares Programm gebastelt, mit dem ich das jetzt hier vorführen könnte. Könnte. Denn leider bin ich im Umgang mit Computern derart unbedarft, dass ich Ihnen dieses Tonbeispiel jetzt leider schuldig bleiben muss. Vielleicht schaffe ich es mit seiner Hilfe, die Vorführung des Beispiels im Lauf dieses Symposiums noch nachzuholen.1 Zweifelsohne kann man mit der Methode der Spektralanalyse wichtige Erkennt- nisse über den Klang gewinnen. Ich könnte die gemessenen Analyseergebnisse auch als Grundlage für künstlerische Gestaltung verwenden. Aber dann müsste ich mir bewusst sein, dass es nicht »Naturgesetze« sind, die ich befolge, sondern dass ich lediglich einige durch komplizierte Untersuchungsmethoden ausgetüftelte Teilaspekte des Klanges berücksichtige (nämlich die Teiltonzusammensetzung während eines Augen- blickes). Dabei würde ich aber andere Teilaspekte vernachlässigen: die mikrotonalen Schwankungen der Tonhöhen, die ständigen Veränderungen des Klangspektrums, das Ein- und Ausblenden diverser Partialtöne – zusammengefasst: das LEBEN der Klänge. Die Partialtöne sind schwer fassbar: Sinusschwingungen, die sich in ganz bestimmten Phasenverhältnissen im Gesamtklang befinden. Wenn ich die durch eine Analyse gewonnenen Frequenzen instrumentiere, also aus dem Klangspektrum einen Akkord bilde, zerstöre ich den Klang. Und das ist gut so. Ich gewinne etwas anderes: die Musik, die ich hören will. Es wäre schrecklich, wenn es eine physikalische Rechtfertigung für eine bestimmte Kompositionstechnik gäbe. Wenn es so etwas wie »Naturgesetze« gäbe, die uns vor- schreiben würden, wie wir unsere Töne finden sollten. In meinem Quartett für vier Gitarren sind die Instrumente in den Frequenzverhält- nissen der Obertonreihe gestimmt: die erste Gitarre im 2., 3., 4., 5., 7. und 9. Teilton auf dem Kontra-D. Ein Kontra-D auf dem Klavier gespielt und ein Akkord der leeren Saiten dieser Gitarre – das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Wenn zuerst der Klavierton erklingt und dann die Gitarre dazuspielt, schafft sie einen neuen Klang – und nicht die Kopie eines Ausschnitts des Klavierspektrums (siehe Abb. 1). 1 Dem dichten Zeitplan der Tagung ist geschuldet, dass das erwähnte Beispiel nicht vorgeführt wurde. 63 Abb 1: Georg Friedrich Haas, Quartett für vier Gitarren (2007), Stimmungstabelle (© Universal Edition, Wien) Die physikalischen Grundlagen meiner Musik sind rasch erklärt. Sie finden sie in jedem elementaren Lehrbuch der Akustik ganz am Anfang unter dem Titel: Die Obertonreihe. Es tut mir leid, mehr an Theorie kann ich bedauerlicherweise nicht anbieten. Allerdings weiß ich, dass diese Obertonreihe letztlich fiktiv ist. Die Saiten der Gitarre verhalten sich nicht nur wie Saiten, sie sind ja aus Metall, sie haben Masse und Durchmesser, daher tragen sie auch einige wenige physikalische Aspekte eines Metallstabes mit sich. Die Partialtöne verschieben sich. Es ist daher unmöglich, einen idealen »reinen« Ober- tonakkord auf der Gitarre zu erhalten, denn die höheren Obertöne sind verschoben (quasi »verstimmt«), und es kommt zwangsläufig zu Schwebungen in Mikrointervallen. Diese Schwebungen bewirken aber den Reiz und die Faszination des Klanges. Wäre ich ein spektraler Komponist, hätte ich z. B. einen der Interpreten des Quartetts gebeten, mir einzelne Tonaufnahmen seines Instrumentes zukommen zu lassen. Ich hätte die Frequenzen analysiert und daraus meine Musik gewonnen. Dazu bin ich aber zu faul. Ich habe keine Lust, das zu tun. Und vor allem: Was mache ich, wenn der Inter- pret neue Saiten aufzieht und deshalb die Obertöne sich womöglich ganz woanders hin verschieben? Muss ich dann das Stück neu komponieren? 64 Meine Methode ist viel simpler: Ich weiß, dass sich innerhalb des von einem Instru- ment gespielten Obertonakkordes ganz enge mikrotonale Cluster bilden. Daher stimme ich die vier Gitarren im Abstand eines engen mikrotonalen Clusters. Aus Gründen der Machbarkeit habe ich mich in diesem Werk für eine Distanz in Zwölfteltönen entschieden. Wenn in diesem Quartett nacheinander Obertonakkorde in leeren Saiten und eine Melodie in Zwölfteltonclustern erscheinen, ist hier nur scheinbar ein Kontrast kom- poniert. Denn der Obertonakkord schafft nicht eine Identität der Partialtöne, sondern eine Beinahe-Identität. Vergleichbar, wie die Zwölfteltoncluster als Beinahe-Identität eines Tones verstanden werden können. Diese Cluster greifen also ein Phänomen auf und vergrößern es, das vorher im Obertonakkord latent zu hören gewesen ist. Freilich ist dieser Zusammenhang in den Noten nicht lesbar. Aber er ist klanglich fühlbar und teilt sich den Hörerinnen und Hörern unmittelbar mit. Wir spüren, dass der Obertonakkord nicht eine vollkommene Verschmelzung bringt, sondern eine Beinahe-Verschmel- zung. Irgendwo reibt es sich immer. Ein klein wenig. Diese Beinahe-Verschmelzung kann auch durch einen Zwölfteltoncluster erreicht werden. Und man kann diese beiden Phänomene verbinden – es klingt auch schön, wenn vier Obertonakkorde im Abstand jeweils eines Zwölfteltones gemeinsam gespielt werden. Es ist auffallend, wie militant die Terminologie im Zusammenhang mit an der Obertonreihe orientierten Systemen ist. Man spricht von »reiner Stimmung« oder von »just intonation« – als wäre alles andere in »unreiner Stimmung« oder in »wrong intonation« komponiert bzw. gespielt. Besonders bemerkenswert ist der verbreitete Begriff der »Naturtonreihe«. Wieso »Natur«? Wie eingangs erwähnt, kann die sogenannte »Naturtonreihe« (vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass ich diesen Begriff grundsätzlich vermeide) aus- schließlich durch Klanganalysen statischer Tonhöhen gewonnen werden. In der freien Natur gibt es keine statischen Tonhöhen – zumindest habe ich noch nie welche gehört (und ich habe einen grossen Teil meines Lebens in der Natur verbracht). Alle Klänge des Lebens sind in ständiger Verwandlung. Hingegen ist der annähernd konstante Ton eines Musikinstrumentes ein höchst artifizielles Kunstprodukt: das Resultat eines durch viele Generationen erfolgreichen Wechselspiels zwischen den Wünschen und Träumen von MusikerInnen und den hand- werklichen Fähigkeiten von InstrumentenbauerInnen – also ein Ergebnis jahrhunderte- langer technischer Traditionen. So wie z. B. auch Benzinmotoren oder Plastiktüten das Ergebnis jahrhundertlanger technischer Traditionen sind. Zugegeben: der Klang von Musikinstrumenten ist schöner. Und möglicherweise ist er im alltäglichen Leben weniger nützlich. Aber niemand würde auf die Idee kommen, z. B. die Anordnung der Zylinder als die »Natur-Reihe« eines Benzinmotors zu bezeichnen. Im 19. Jahrhundert hatte man versucht, die sogenannte Überlegenheit der so- genannten abendländischen Musik durch die Übereinstimmung des Durdreiklanges mit der sogenannten Naturtonreihe zu begründen. Diese Argumentationsmethode hat sich offenbar im Denken festgesetzt. Noch Schönberg begründete – in einem rasch hingeworfenen Nebensatz seiner »Harmonielehre« – die Emanzipation der Dissonanz mit »entfernteren Obertönen«. Und Hindemith versuchte in seiner spröden Harmonie- lehre ebenfalls, seine Akkorde durch Obertonbeziehungen zu rechtfertigen. 65 In heutiger Sicht sind diese Begründungsversuche obsolet. Niemand wird derzeit ernstlich behaupten, die tonalen, freitonalen oder atonalen Tonsysteme wären direkte Folgen der Obertonreihe. Es ist ein erstaunliches Phänomen, dass Komponisten und Komponistinnen der Gegenwart diese historisch obsolet gewordene Begründungs- methode von Tonsystemen jetzt – wie auch immer transformiert – in ihre zeitgemäße Musiksprache zu übernehmen bemüht sind. Wenn ich einen Obertonakkord schreibe, so geschieht das nicht, weil ich an die All- gemeingültigkeit eines akustischen Gesetzes glaube, sondern lediglich deshalb, weil ich diese Akkorde, diese Klänge als schön, ausdrucksstark und musikalisch spannend emp- finde. In meinem Ensemblestück Ich suchte, aber ich fand ihn nicht gibt es einen längeren Ausschnitt, der nur aus einer einzigen Obertonreihe besteht. Die musiktheoretischen Grundlagen dieser Stelle sind durch zwei sehr elementare Feststellungen umfassend erläutert: Ich benutze ausschließlich Töne der Teiltonreihe. Höhere Partialtöne (etwa ab dem 30. Teilton) liegen so eng beisammen, dass in der Aufführungspraxis die Grenzen zwischen temperierter Intonation und Obertonintonation verschwimmen. Die Teiltonzusammensetzung eines Instrumentaltones ändert sich ständig. Analog dazu ändern sich die dynamischen Gewichtungen der Obertöne (und ihre Klangfarbe) in meiner Musik ständig. (Allerdings sind diese Änderungen völlig anders gestaltet als die Änderungen der Obertöne eines Instrumentalklanges. Ich weiss nicht einmal, wie diese Änderungen physikalisch vor sich gehen. Es interessiert mich nicht.) Was über diese zwei – wie gesagt sehr elementaren – theoretischen Feststellungen hinausgeht, ist nicht mehr – aber auch nicht weniger – als meine freie kompositorische Entscheidung (siehe Abb. 2). Es ist unmöglich, diese Stelle exakt zu intonieren. Sowohl die crescendi und decrescendi als auch die Klangfarbenveränderungen der Instrumente verhindern eine mathematisch präzise Intonation. Denn die Wahrnehmung der Tonhöhe ist ja auch von der Klangfarbe und der Lautstärke abhängig. Wenn diese sich ständig ändern, ist der Verlust der Orientierung für die InterpretInnen unvermeidbar. Auch ein Stimm- gerät würde nicht helfen – Abweichungen könnten zwar leichter erkannt und besser korrigiert werden, aber sie würden dennoch stattfinden. Und das ist gut so. Durch die unvermeidbaren Tonhöhenschwankungen kommt Leben in den Klang. Das verzweifelte Bemühen der InterpretInnen, die gewünschten Tonhöhen zu halten, vermittelt zu- sätzliche Energie. Würde man denselben Akkord durch elektronische Mittel (z. B. durch Transposition des Klanges) herstellen, wäre die Intonation perfekt. Ich habe es versucht – im IRCAM, im Freiburger Experimentalstudio. Immer klang es trostlos öde. Der ganze Reichtum, die ganze Magie des Obertonakkordes war verschwunden. In einem Gespräch 1995 in Krems hat mir James Tenney einen wunderbaren Satz gesagt: »Pitch is not a point, pitch is a region.« Wenn man dieses Satz zu Ende denkt, sprengt er das traditionelle Denken in Tonsystemen so, wie Einsteins Relativitätstheorie die Newton’sche Physik gesprengt hat. De facto komponieren wir nicht exakte Punkte der Tonhöhe, sondern bestenfalls Idealpositionen, von denen die Realität der Intonation signifikant abweicht. Und meine Obertonakkorde funktionieren nicht deshalb, weil sie »rein« intoniert werden, sondern deshalb, weil es ganz und gar unmöglich ist, sie »rein« zu intonieren. Allerdings gilt: Je näher man der idealen »reinen« Tonhöhe kommt, desto besser klingt die Stelle. 66 Abb. 2: Georg Friedrich Haas, Ich suchte, aber ich fand ihn nicht (2011), T. 282–284 (© Universal Edition, Wien) 67 Der guten Ordnung halber betone ich noch, dass ich nicht nur Obertonakkorde schreibe. Höchstens 20 Prozent des Werks basieren auf Obertonharmonik. Dass ich nicht spektral komponieren will, hängt auch mit Tenneys Satz zusammen. Spektralanalysen liefern punktgenau definierte Tonhöhen. Die Instrumente, die diese Tonhöhen realisieren sollten, können diese jedoch nicht präzise wiedergeben und realisieren stattdessen Tonhöhen, die sich irgendwo in der Region um diese Punkte befinden. Ich habe gerade darauf hingewiesen, dass jedes Klangspektrum zerstört wird, wenn einer der Teiltöne dieses Klangspektrums selbst seine eigenen Teiltöne in den Klang hineinbringt. Jetzt muss ich hinzufügen, dass jedes Klangspektrum zusätzlich auch durch die interpretationsbedingten zwangsläufigen Intonationsschwankungen zerstört wird. Die Veränderungen, die im spektralen Komponieren mit dem ursprünglichen und dann durch Computerprogramme analysierten Klang geschehen, sind also so stark, dass etwas völlig Neues entsteht. Dieses Neue ist aber auf keinen Fall automatisch dadurch gerechtfertigt, dass es die Vorlage eines real existierenden Klanges überträgt. Denn diese Vorlage wurde ja bis zur völligen Unkenntlichkeit bearbeitet, sie wurde geradezu zer- stört. Gerechtfertigt kann das Resultat einer Spektralanalyse nur durch seine eigene ästhetische Qualität werden. In den meisten Fällen erscheint es mir sinnvoller, diese Qualität direkt aus der musikalischen Phantasie des komponierenden Individuums heraus zu entwickeln und nicht erst den mühsamen Weg des Adaptierens von Klang- analysen zu gehen. Im Falle des Obertonakkordes wird aber zweifelsohne durch diese Methode der Zerstörung der klanglichen Vorlage durch die Spektralanalyse eine neue Qualität gefunden. Darum schreibe ich ihn. Wenn ich vorher gesagt habe, ich hätte noch nie Obertonakkorde in der Natur gehört, so ist das nicht ganz wahr. Ich habe sie schon als kleines Kind gehört. Im Freien. Ich wuchs in Vorarlberg (im Montafon) in der Nähe eines Kraftwerks auf. Den Klang der Transformatoren habe ich heute noch in klarer Erinnerung: Es war ein Obertonakkord. Und dieser Klang wäre bestens für Spektralanalysen geeignet, denn er hat keinen An- fang und kein Ende. Vielleicht hängt meine Faszination für die Obertonharmonik auch mit dieser kindlichen Erfahrung zusammen, mit der Erinnerung an diesen unheimlichen, er- schreckend konstanten Ton, der mit einer tödlichen Gefahr verbunden gewesen ist – mir wurde ja eingetrichtert, auf keinen Fall über die Zäune zu klettern. Klänge, die synthetisch aus sogenannten »Naturtönen« zusammengesetzt sind, hören wir im all- täglichen Leben nur als Maschinenklänge. Kühlschränke, Flugzeugmotoren, Rasier- apparate – und (wie gesagt) Trafostationen. Es ist durchaus möglich, dass die ersten Klänge, die ich nach meiner Geburt als Baby gehört habe, derartige maschinell produzierte Obertonklänge gewesen sind. Neu- geborene wurden damals sofort von der Mutter getrennt und in temperierte Brutkästen gesteckt. Die Klimaanlagen könnten dort möglicherweise Obertonakkorde produziert haben. Es ist denkbar, dass – basierend auf dieser ersten Erfahrung – diese Akkorde des- halb von mir als Symbole von Transzendenz – also als Übergang von einer Welt in die andere – empfunden werden. Und dass diese Empfindung von anderen Menschen mit vergleichbarer frühkindlicher Erfahrung in vergleichbarer Weise interpretiert werden. Freilich – das ist lediglich eine Spekulation. Aber den Gedanken, dass parallel mit fort- 68 schreitender Humanisierung der Gebärkliniken die Gewichtigkeit von Obertonakkorden allmählich verschwinden könnte, finde ich reizvoll. Deren musikalische Qualität wird aber auf jeden Fall weiterhin wirksam sein. Das erste Mal schrieb ich einen Obertonakkord in einer Komposition im Jahr 1978. Ich hatte den Auftrag bekommen, für einen Schulchor zu schreiben und entschied mich, eine Musik für 29 Sprechstimmen zu komponieren. Als Thema wählte ich die Einsam- keit. Und ich komponierte diese Einsamkeit dadurch, dass ich in Worten die Klänge beschrieb, die man hören kann, wenn man sich alleine in einer Wohnung befindet. Eine der Sprechstimmen spricht während des ganzen Stückes ständig wiederholt den Satz »Der Wasserhahn tropft.« Dazu kamen u. a. die Beschreibungen von Stimmen, die man durch die Mauer hört oder vom Rascheln von Papier (z. B. beim Lesen einer Zeitung) u. ä. Gegen Ende des Stückes schaltet sich der Kühlschrank ein. Als Kontrapunkt zu »Der Wasserhahn tropft. Der Wasserhahn tropft. …« sprechen andere Stimmen die Worte »Monotones Summen. Monotones Summen. Monotones Summen. …« Und dann summt der Chor (der Buchstabe mmmmmmm ist notiert) einen (so steht es in der Partitur) Dominantseptnonakkord. Heute weiß ich, dass ich hier das Geräusch eines Kühlschranks transkribiert habe – und dass ich an dieser Stelle eigentlich einen Obertonakkord aus dem 4., 5., 6., 7. und 9. Partialton gemeint hatte. Die musikalische Wirkung dieses einzigen Akkordes innerhalb eines Konglomerats aus unveränderten Sprachklängen war stark. Für viele Jahre habe ich dann auf das Komponieren von Ober- tonakkorden verzichtet. Zu problematisch erschien mir die Nähe zur Tonalität. Nach dem Besuch der Darmstädter Ferienkurse 1980 – wo ich Vorträge von Gérard Grisey und von Tristan Murail gehört hatte – komponierte ich mein erstes und einziges spektrales Werk, ein Duo für Blockflöte und präpariertes Klavier. Jeweils einem Zweiklang im Klavier – u. a. auch mit durch Präparation erzielten 7. Teiltönen – folgen Melodien, die aus den Kombinationstönen dieser Intervalle gebildet werden. Das Werk ist so schlecht, dass ich es nicht aufführen lasse. Gelungen ist nur der Titel: »perpetuum immobile«. Schade, dass das Stück nichts taugt. Heute erstaunt mich, dass meine in diesem Referat hier eingangs formulierte grundsätzliche Kritik an der Methode der so- genannten »Spektralanalyse« von Klängen in diesem Titel immanent schon enthalten ist. Denn damals hatte ich noch gar nicht so gedacht. Die Erkenntnis, dass alles, was klingt, nicht statisch ist, sondern sich in ständiger Veränderung befindet (dass eine Spektralanalyse daher immer Fiktion bleiben muss), verdanke ich einem Studienaufenthalt im IRCAM 1991 (also elf Jahre später) und dort konkret einem vergleichsweise kurzen Gespräch (mit praktischer Demonstration am Computer) mit Gerhard Eckel. Dieses Gespräch hat mein Denken über »Klang« auf eine neue Basis gestellt: Klang ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Diese Erfahrung wurde dann durch den Satz von James Tenney ergänzt, dass Tonhöhe nicht ein konkreter Punkt sei, sondern eine Region, ein Bereich, in dem diese Tonhöhe irgendwo stattfinden kann. Und dazu kam dann noch der Schock der Begegnung mit der Musik und der Kompositionstechnik Giacinto Scelsis. Es wurde mir klar, dass es unsere Notenschrift ist, die uns suggeriert, dass die Töne un- verändert für eine festgesetzte Zeit an einem bestimmten Punkt festgenagelt sind. Dass wir diese Methode des Notierens so sehr verinnerlicht haben, dass wir sogar so absurde Dinge tun, wie Tabellen abzuschreiben, Zahlenkolonnen in Notenschrift zu tran- 69 skribieren und uns einbilden, die auf diese Art und Weise lediglich optisch gewonnenen Sinnzusammenhänge seien musikalisch relevant. Oder – allgemeiner formuliert – dass wir darauf vertrauen, dass Sinnzusammenhänge der niedergeschriebenen Musik auto- matisch und per se auch Sinnzusammenhänge der erklingenden Musik bewirken. In dieser allgemeinen Weise konnte Josquin Desprez noch denken. Und Johann Se- bastian Bach. Und Ludwig van Beethoven. Und Arnold Schönberg. Und Gérard Grisey. Leider kann ich es nicht mehr. Hier stehe ich aber erst ganz am Anfang. Es gibt keine Tradition, kompositorische Zusammenhänge zu bilden, die unabhängig von der Notation wirken. Die Zu- sammenhänge schaffen, welche ausschließlich durch die klangliche Realität der Musik gebildet sind. Was ich verwenden kann, ist vergleichsweise elementar – z. B. ist die Analogie von Obertonakkord in der Gitarre und Zwölfteltoncluster als Strukturelement bedauerlicherweise wesentlich primitiver als – sagen wir – ein Proportionskanon. Davor hatte ich viele Jahre lang versucht, Gesetze zu entwickeln, die meine Musik determinieren. Hatte Werke geschrieben, in denen jedes Detail durch mathematische Regeln definiert war, die aber dennoch manchmal emotional wirken konnten, wie etwa das Ensemblestück Nacht-Schatten. Seit mehr als fünfzehn Jahren versuche ich, kompositionstechnisch die Konstruktion durch Intuition zu ersetzen. Frei über das Material zu verfügen. Spektral zu komponieren wäre da keine Alternative. Das Problem der Fremd- bestimmung durch die Resultate der selbst gewählten Konstruktionsprinzipien bliebe erhalten. Ich würde lediglich die Ergebnisse meiner Exponentialgleichungen durch die Ergebnisse der Spektralanalysen ersetzen. Ich will aber zu jedem Zeitpunkt voll- inhaltlich die Verantwortung für das von mir Komponierte übernehmen, ohne diese Verantwortung auf irgendein System zu delegieren. Den Gedanken, man würde selbstverantwortlich, wenn man das System, durch das man fremdbestimmt wird, eigenhändig entwickelt, halte ich (aus eigener Erfahrung) für einen Trugschluss. Mehr noch: für eine Methode sich selbst zu belügen – zumindest sehe ich das von meinem heutigen Standpunkt aus in meinen früheren Arbeiten so. Ich möchte noch auf zwei Eigenheiten meiner Kompositionstechniken hinweisen: 1. Ich glaube nicht an Oktavidentitäten. Ich setze Oktavpositionen mit größter Sorg- falt. Die Transposition eines Teiltones in einem Obertonakkord um eine Oktave (Sie haben richtig gehört: ich spreche von Oktav-Transposition und nicht von Oktavverset- zung) kann die Wirkung dieses Obertonakkordes völlig verändern oder ihn sogar ver- nichten. – Allerdings: Es gibt auch spektrale KomponistInnen, die ähnlich penibel mit Oktavpositionen umgehen. In diesem Punkt unterscheide ich mich nicht grundsätzlich von allen Spektralisten. 2. Ich glaube nicht an die Austauschbarkeit von Horizontale und Vertikale. Einen Akkord zu brechen und daraus eine Melodie zu bilden – das war in den vergangenen Jahrhunderten von der Erfindung der Monodie (in Ansätzen auch schon früher) bis zur Dodekaphonie und zur spektralen Musik möglich und sinnvoll. Mein Zugang ist ein anderer. Für mich gilt: – Ein Ton (ein Instrumentalklang) ist ein Ton (ein Instrumentalklang). – Ein Zusammenklang (ein Akkord, eine Harmonie) ist ein Zusammenklang (ein Akkord, eine Harmonie). 70 – Eine Linie (eine Melodie) ist eine Linie (eine Melodie). Jeweils nach den eigenen Gesetzmäßigkeiten. Einen realen Klang zuerst spektral zu analysieren (oder fiktiv spektral zusammen- zusetzen) und dann aus den Teiltönen horizontale, melodische Gestalten zu bilden – dazu habe ich nicht die geringste Lust. Wie gesagt, ich habe es einmal versucht. Das Ergebnis (perpetuum immobile) hat mich dazu motiviert, es keinesfalls ein zweites Mal zu probieren. Andererseits: Gerne setze ich einen Obertonakkord (oder auch einen anderen Akkord) in den Raum und zeichne in diesen Akkord frei schwebende Melodien hinein, die nichts, aber auch gar nichts mit dem Klangraum zu tun haben, der sie umgibt. So wie jede Frau und jeder Mann, die oder der hier in diesem Saal sitzt, persönlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinerlei formale Verwandtschaft mit den Raumpro- portionen oder den Farbtönen der Wände hat. Akkord und davon unabhängige Melodie – das passt meiner Meinung nach musikalisch gut zusammen – so wie jede(r) Einzelne von Ihnen gut in diesen Saal passt – trotz offensichtlich mangelnder struktureller Beziehung mit der Architektur dieses Raumes. Dazu zeige ich ein Beispiel aus meiner Oper Melancholia, das – als Nebeninformation – auch belegt, wie unterschiedlich der Ausdrucksgehalt eines Obertonakkordes sein kann. Kurz zum Inhalt der Oper: Der Kunststudent und Maler Lars Hertervig verliebt sich in die 15-jährige Tochter seiner Wohnungsvermieterin. Dies wird entdeckt und er wird hinausgeworfen. Nach einem Wirtshausbesuch kehrt er zurück (er hat ja noch den Schlüssel) und spricht mit seiner Geliebten. Mutter und Onkel des Mädchens kommen nach Hause und werfen Lars Hertervig hinaus. In diesem abschließenden Teil der Oper habe ich den Dialog zwischen den Liebenden in der reichen Harmonik dichter mikro- tonaler Akkorde komponiert. Partialtonspektren spielen hier keine Rolle. Der Auftritt von Mutter und Onkel wird dann durch einen statischen Obertonakkord begleitet, der den Kontakt zwischen Lars und Helene brutal niederwalzt. Und in diesen Klang hinein wird gesungen – teils mit Mixturen mit Schlaginstrumenten –, ohne jede Beziehung zum Akkord. Grundlage der vokalen Melodik sind fiktive Sprachmelodien. Allein schon durch meine Weigerung, Melodien aus Klangspektren zu bilden, setze ich einen tiefen Graben zwischen den Spektralisten und mir. An der Tiefe dieses Grabens ändert auch meine gelegentliche Benutzung von Obertonmelodien nichts. In meiner Studienzeit und in den Jahren danach hatte ich – wie schon gesagt – noch an die Gültigkeit abstrakter Konstruktionsprinzipien geglaubt. Ich hatte mathematische Formeln gesucht, mit denen ich die musikalischen Verläufe generierte. Mein Lehrer Friedrich Cerha war da skeptisch. Ich zitiere aus dem Gedächtnis (und in einer Distanz von mehr als dreißig Jahren): »Es ist völlig irrelevant, welche Formel Sie verwenden. Man hört: diese Musik ist nach ab- strakten Gesetzen komponiert. Und ob Sie als Grundlage Ihre schöne Formel verwenden oder die Fortpflanzungskurven peruanischer Heuschrecken – das kommt auf das Gleiche hinaus.« 71 72 73 Abb. 3: Georg Friedrich Haas, Melancholia (2006–07), 3. Teil, T. 178–183 (© Universal Edition, Wien) 74 75 Abb. 4: Baritonsaxophonkonzert (2008), T. 236 ff. (© Universal Edition, Wien) Beim Hören mancher spektraler Kompositionen erinnere ich mich an dieses Zitat von Cerha. Denn diese Musik wird nicht dadurch bestimmt, dass das Ausgangsmaterial ein (durch den Fleischwolf von Computeranalysen gedrehter) realer Klang ist. Sie wird durch die Fantasie und durch die im traditionellen Sinn handwerklichen Techniken des komponierenden Individuums bestimmt. Woher auch immer die Tonhöhen kommen mögen. Ich glaube, dass der Wahl der verwendeten Tonsysteme in der musiktheoretischen Be- handlung eine viel zu große Bedeutung zugemessen wird. Viel wichtiger als die Frage, welches Material man verwendet, ist die Frage, wie dieses Material eingesetzt wird, welche konkreten musikalischen Gestalten daraus gewonnen werden. Ich kann Ihnen ein Beispiel für die offensichtliche Irrelevanz von spektralen Analysen vorstellen. Höflicherweise tue ich dies an Hand einer eigenen Komposition, ein Aus- schnitt aus meinem Konzert für Baritonsaxophon und Orchester (siehe Abb. 4). Es ist dies einer meiner wenigen Ausflüge in das für mich fremde Territorium der spek- tralen Musik. Erst erklingen Multiphonics im Baritonsaxophon und unmittelbar daran anschließend die Transkriptionen dieser Multiphonics in den Streichern. Ich glaubte, hier ganz sicher gehen zu können, der Interpret des Konzertes war ja gleichzeitig jene Person, die die Analyse der Multiphonics veröffentlicht hat, der phänomenale Marcus Weiss.2 Und in der Tat, die Stelle funktioniert gut (zumindest nach meiner Empfindung). Nur leider: Ich höre keinen Zusammenhang zwischen den Multiphonics und den darauf folgenden Streicherakkorden. Vielleicht habe ich die Tabellen falsch abgeschrieben. Vielleicht hat Marcus Weiss doch nicht dieselben Multiphonics gespielt, die er im Buch analysiert hat (und die ich notiert habe). Vielleicht war alles richtig analysiert, abgeschrieben und gespielt – und es ist nur unsere Wahrnehmung so verzerrt, dass wir keine Gemeinsamkeiten mehr erkennen können. Wie auch immer. Heute denke ich, ich habe Glück gehabt. Die Stelle klingt stark (so glaube ich), weil die Klänge unterschiedlich genug sind. Würde das Orchester lediglich die bereits identifizierten Tonhöhen der Saxophon-Multiphonics in für uns wahrnehmbarer Weise wiederholen: die Wirkung wäre schwächer. Friedrich Cerha hatte recht: Hätte ich hier statt der von Marcus Weiss veröffentlichten Tonhöhenanalysen als Grundlage dieser Passage die Fortpflanzungskurven peruanischer Heuschrecken verwendet – das klangliche Ergebnis wäre nicht signifikant anders gewesen. Lassen Sie mich zusammenfassen: Ja, ich verwende ab und zu – und gerne – Oberton- akkorde. Aber deshalb bin ich noch lange kein spektraler Komponist. Erlauben Sie mir einen Vergleich: Olivier Messiaen schreibt immer wieder Zwölftonfelder. Aber er ist kein Zwölftonkomponist. Was ich bin, weiß ich nicht. Es ist nicht mein Job, mir eine Schublade auszusuchen, in die man mich hineinlegen kann. Aber ich protestiere, wenn man mir ein falsches Etikett aufklebt. Vielleicht bin ich ein Eklektiker. Mein künst- 2 Giorgio Netti und Marcus Weiss, The Techniques of Saxophone Playing, Kassel: Bärenreiter 2010; vgl. auch Michael Kunkel, Quasi un attraversimento. Saxophonmehrklänge in Kunst und Forschung von Giorgio Netti, Marcus Weiss und Georg Friedrich Haas, in: dissonance 110, 2010, S. 20–33. 76 lerisches Triebleben würde ich als musikalische Polyamorie bezeichnen. Ich schreibe, was ich will. Nicht mehr und nicht weniger. 77 Mimesis und Mimikry: (Selbst)kritische Anmerkungen zur musiktheoretischen und kompositorischen Anwendung von Sonagrammen von Michel Roth Was Karlheinz Stockhausen bei seiner Studie II (1954) mühselig auf Papier aufzeichnen musste, gelingt mir sechzig Jahre später in Sekundenschnelle mit einer gratis herunter- geladenen Software (Abb. 1). Sonagramme liefern angenehm unkompliziert Resultate in Form von großen Datenmengen und doch anschaulichen Bildern: Die im Allgemeinen schwer greifbare akustische Realität der Musik und ihrer Phänomene lässt sich mimetisch auf den Bildschirm oder ein Blatt Papier transformieren und dort in Ruhe, losgelöst von ihrer zeitlichen Bedingtheit ergründen. Die Frage ist nur, was halte ich da nun genau in meinen Händen? Wozu kann ich es denn gebrauchen? Abb. 1: Karlheinz Stockhausen, Studie II, Beginn, »Studienpartitur« und Sonagramm (Sonic Visualiser) Ich will vorausschicken, dass zweifellos Kunstschaffende und Forschende viel Gutes und Interessantes damit anzufangen wissen. In musikologischen Teilgebieten, die traditionell nicht partiturbasiert agieren oder sich auf Interpretationsanalyse 78 spezialisiert haben, sind diese Mittel seit längerem etabliert und unterliegen einem kon- tinuierlichen Methodendiskurs.1 Die leichte Verfügbarkeit und intuitive Handhabung solcher Applikationen, verbunden mit dem weite Teile der Musikforschung erfassenden »acoustic turn«, machen Sonagramme aber darüber hinaus zu attraktiven Anschauungs- beispielen in musiktheoretischen und pädagogischen Veröffentlichungen – leider nicht immer zu deren Vorteil. In der Folge möchte ich drei Publikationen aus dem Jahr 2011, welche sich argumentativ teilweise auf Sonagramme stützen, kritisch beleuchten. Stefan Jena untersucht in seinem Aufsatz Klangfarbenmelodie. Anmerkungen zu einer Utopie und ihrer Geschichte2 unter anderem Anton Weberns Bearbeitung der sechsstimmigen Fuga (ricercata) von Johann Sebastian Bach. Er begründet Weberns Setzung einer gedämpften Posaune nach einem gedämpften Horn (im T. 5–6) mit Ähnlichkeiten der beiden Instrumentenspektren. Tatsächlich kann dieser Übergang farblich sehr fließend geschehen – dafür braucht man aber keine »psychoakustische[n] Kenntnisse«, wie der Autor sie am liebsten Webern zuschreiben möchte.3 Vielmehr ist hier der Rekurs aufs Sonagramm eine Irreführung, denn zeigt diese Darstellung (Abb.  2) tatsächlich die wesentlichen Faktoren zur Stützung der These einer klangfarblichen Nähe? Zu sehen sind quasi-stationäre Zustände zweier Instrumentalklänge, die zweifellos gestalthafte Ähnlichkeiten aufweisen. Doch bereits Pioniere der Klanganalyse wie Carl Stumpf wiesen auf die viel prägendere Bedeutung von »Klangfarbe im weiteren Sinne«4 hin, also Geräuschkomponenten, den Ausgleichsvorgängen des Ein- und Ausschwingens. Diese signifikanten Eigenschaften sind nicht additiv (und können nur schwer resynthetisiert werden), sondern untrennbar und charakteristisch mit der Klangerzeugung verbunden.5 Ihr großer Einfluss jenseits des einfachen Formantspektrums lässt sich gerade daran er- 1 Grundlegende Überlegungen zur Methodologie und Modellierung finden sich bei Albert S. Bregman, Auditory Scene Analysis. The Perceptual Organization of Sound, Cambridge (Mass.): MIT Press 1990. Eine frühe Zusammenstellung von Anwendungsmöglichkeiten gibt Robert Cogan, New Images of Musical Sound, Cambridge (Mass.): Harvard University Press 1984. Für einen kritischen Überblick siehe Christoph Reuter, Wie und warum in der Geschichte der Klangfarben- forschung meistenteils am Klang vorbeigeforscht wurde, in: Perspektiven und Methoden einer Systemischen Musikwissenschaft, Bericht über das Kolloquium im Musikwissenschaftlichen Institut der Uni- versität Köln 1998, hrsg. von Klaus Wolfgang Niemöller und Bram Gätjen, Frankfurt am Main: Lang 2003, S. 293–302. Eine anwendungsorientierte umfassende Darstellung liefert Olivier Senn, Die Analyse von Tonaufnahmen. Konzepte und Methoden zur musikwissenschaftlichen Analyse von Ton- aufnahmen. Dargestellt an Sarah Vaughans Einspielung des Musicalhits »My Favorite Things« von 1961, Diss., Universität Zürich 2007. Einen Überblick über aktuelle Forschungen und Diskurse findet sich bei: Nicholas Cook, Close and Distant Listening, in: Beyond the Score. Music as Performance, Ox- ford: Oxford University Press 2013, S. 135–175. 2 Stefan Jena, Klangfarbenmelodie. Anmerkungen zu einer Utopie und ihrer Geschichte, in: Klangfarbe. Vergleichend-systematische und musikhistorische Perspektiven, hrsg. von August Schmidhofer u. a., Frankfurt am Main: Lang 2011, S. 329–341. 3 Vgl. ebd., S. 332. 4 Vgl. Hans-Peter Reinecke, Experimentelle Beiträge zur Psychologie des musikalischen Hörens, Hamburg: Sikorski 1964, S. 19. 5 Vgl. Jobst P. Fricke, Klang und Klangfarbe – gestern, heute (und morgen), in: Klangfarbe (s. Anm. 2), S. 9–42, hier: S. 19 f. 79 Abb. 2: Stefan Jena, Vergleich der Formantspektren von Horn und Posaune messen, dass Bläser- und Streicherklänge im Sonagramm nicht selten täuschend ähnlich aussehen, wohingegen wir sie mittels Gehör mühelos zu unterscheiden vermögen.6 Könnte man in so einem Fall die empirisch leicht überprüfbare Erkenntnis, dass sich gedämpftes Horn und gedämpfte Posaune klanglich ähneln, nicht auch einfach apodiktisch voraussetzen? Besaß Webern statt psychoakustischer Kenntnisse nicht vielmehr ein fundiertes Wissen über Klangfarben und instrumentationstechnische Traditionen oder einfach einen entwickelten Gehörverstand? Nun dienen Spektral- analysen ja gerade der kritischen Hinterfragung solcher eingeschliffener Klangvorstel- lungen.7 Dies würde aber erfordern, nicht abstrahierte Instrumentalspektren, sondern konkrete Interpretationen von Weberns Bearbeitung zu untersuchen: Aufgrund Weberns nicht genau spezifizierter Dämpferangabe könnte man dabei zu völlig gegen- teiligen Ergebnissen als Jena kommen, wie ein simpler Vergleich der ersten und zweiten Webern-Gesamtaufnahme von Pierre Boulez deutlich macht. In solcherlei Anwendung von Sonagrammen wird »Mimesis« zur »Mimikry«: Mittels Spektralanalyse wird im auffallend knapp gehaltenen Aufsatz eine vorschnelle und 6 Vgl. Stephen McAdams, Philippe Depalle und Eric Clarke, Analyzing Musical Sound, in: Empirical Musicology. Aims. Methods. Prospects, hrsg. von Eric Clarke, Nicholas Cook, Oxford: Ox- ford University Press 2004, S. 157–196, hier: S. 182. 7 Vgl. ebd., S. 181. 80 bequeme Evidenz vorgetäuscht, die entscheidende Faktoren und Vorbedingungen außer Acht lässt. Misstraut man dem eigenen Hören, dann wären gerade diese nicht unmittelbar aufschlüsselbaren Mechanismen zu ergründen und die Messresultate entsprechend fundiert zu interpretieren – die Feststellung einer schlichten Gestalt- ähnlichkeit zweier Messkurven greift zu kurz. Sonagramme eignen sich weniger als induktiv angewandte Instrumente, da man in der großen Bandbreite ihrer Detektionen oft mühelos das Vermutete finden kann – vielmehr ermöglichen sie, jenseits des aural Offensichtlichen verborgene Komponenten und Zusammenhänge zu eruieren und wei- teren Untersuchungen zuzuführen. Ein zweites Beispiel. Marie-Agnes Dittrich illustriert in ihrem durchaus innovativen Handbuch Musikalische Formen. 20 Möglichkeiten, die man kennen sollte8 formale Prozesse mehrfach mit »Wellenformen«, also nicht Sonagrammen (»spectral representation«) im engeren Sinn, sondern mit zweidimensionalen Amplitudendiagrammen (»temporal representation«), genauer der Darstellung einer Dynamik-Hüllkurve (»temporal envelope estimation«).9 Aus einer solchen Konturlinie von Witold Lutosławskis 3. Sinfonie liest Dittrich heraus, dass der »Höhe- punkt« des Stücks am Schluss sei.10 (Abb.  3) Das mag hier so stimmen, aber ist das zwingend aus dieser Schallanalyse heraus- zulesen? Man stelle sich den Abb. 3: Marie-Agnes Dittrich, Wellenanalyse von einfachen Fall der Tripelfuge Lutosławskis 3. Sinfonie aus Bachs Kunst der Fuge vor: Dem Sonagramm wird man den kunstvollen Höhepunkt der kon- trapunktischen Kombination aller Themen kaum entnehmen können. Hier wird offensichtlich, dass Sonagramme und ähnliche quantisierende Messkurven für qualitative Beschreibungen und vage Etikettierungen wie »Höhe- punkte« nur sehr eingeschränkt geeignet sind. Das wird bei einer anderen Abb. 4: Marie-Agnes Dittrich, Wellenanalyse von Passage aus Dittrichs Buch noch Schnittkes Quasi una Sonata (oben); Vergleich mit dem Beginn von Mozarts Zauberflöte (unten) deutlicher (Abb. 4). Nun schreibt die Autorin: »Hier wird aus 8 Marie-Agnes Dittrich, Musikalische Formen. 20 Möglichkeiten, die man kennen sollte, Kassel: Bärenreiter 2011. 9 Vgl. zu dieser Terminologie Stephen McAdams u. a. (s. Anm. 6), S. 162–172. 10 Marie-Agnes Dittrich, Musikalische Formen (s. Anm. 8), S. 53–57. 81 den disparaten Elementen keine Einheit, sondern eine Konfrontation. Nichts passt zu- einander. […] Die Materialien werden nicht verarbeitet und in einer Entwicklung mit- einander verbunden, sondern, wie die Wellenform etwa der ersten Minute zeigt, durch lange Pausen voneinander getrennt. […] Jeder der fast immer hart attackierten und lauten Klänge wirkt daher als isoliertes Bruchstück.«11 Auch das trifft auf das untersuchte Stück, der Beginn von Alfred Schnittkes Quasi una sonata (1968) für Violine und Klavier, durchaus zu; doch als ich mir spontan dieses Beispiel anschaute, dachte ich: Könnte das nicht auch der Beginn der Ouvertüre zu Mozarts Zauberflöte sein? (Abb. 4 unten) Der Ver- gleich macht sowohl Gemeinsames wie Unterschiedliches deutlich; ein sich organisch entwickelndes Stück von komplett gegenteiligem Formcharakter, aber mit ähnlichem Wellenverlauf, wäre meines Erachtens aber durchaus denkbar. Die Autorin beschreibt immerhin kurz die »disparaten Elemente« – trotzdem geschieht der suggerierte Regress des zerfurchten Wellenbildes auf die brüchige Musik vorschnell und im Kontext eines betont niederschwellig angelegten Handbuchs irreführend. Stattdessen geht Dittrich noch einen Schritt weiter ins Qualitative und zieht gar Vergleiche zwischen dem Opernplot von Giuseppe Verdis Otello und der Wellenform (Abb. 5). Sie schreibt: »Die Wellenform zeigt den letzten Teil des II. Akts (ab K), als Jago erzählt, er habe das Taschentuch, Otellos erstes Geschenk an Desdemona, in Cassios Hand gesehen. Die plötzlichen Ausschläge der Lautstärke zeigen Otellos Wutausbrüche (bei L) und seinen Schrei nach Blut (bei M), das große Crescendo bis zum Schluss bilden Otellos Racheschwüre, in die Jago einstimmt.«12 Immerhin relativiert die Autorin an- schließend ihre mehr erheiternde als erhellende Parallelkon- struktion und fügt an: »Nicht zeigen kann die Wellenform, wie tragisch die heroischen Anklänge bei Otello wirken, der hier wahr- Abb. 5: Marie-Agnes Dittrich, Wellenanalyse von Verdis lich kein Held mehr ist.«13 Auf Otello, Schluss 2. Akt. diese Erkenntnis werde ich später nochmals zurückkommen. Es ist vor allem im pädagogischen Kontext durchaus praktisch und allgemein ver- breitet, unübersichtliche und komplexe Großformen durch grafische Schemata zu re- präsentieren, auch um argumentativ schnell darin navigieren zu können. Das ist schon heikel genug. Hier wird hingegen vorgegeben, diese Stücke mittels akustischer Analyse aus einer hör- und erlebnisnahen Perspektive zu betrachten, was angesichts der Fokussierung auf die Dimensionen Amplitude und Zeit nur sehr eingeschränkt der Fall ist. Diese Problematik wird noch verschärft durch den Anspruch, eine Art Phänomenologie (»Möglichkeiten«) musikalischer Formen daraus abzuleiten. Im 11 Ebd., S. 90. 12 Ebd., S. 49. 13 Ebd. 82 Einleitungskapitel schreibt die Autorin: »Wellendarstellungen [sind] nützlich. Sie geben (wie ein Blick aus dem Flugzeug) immerhin einen Überblick: eine Vorstellung vom Gesamtverlauf eines Satzes oder sogar mehrerer Sätze (in dieser einen Interpretation). […] Wellenform-Darstellungen eignen sich besonders für kontrastreiche Musik.«14 In ihrem Buch finden sogar Sonagramme (genannt »Spektrogramme«) eine Anwendung, motiviert durch den gut gemeinten Versuch, auch die Bedeutung der Klangfarbe in die Beschreibung formaler Vorgänge einzubeziehen. Die viel zu kleine und kontrastarme Darstellung erlaubt aber kaum mehr als das Feststellen durchgehender Frequenzbänder. Nach einem eher unbeholfenen und einem vor allem pädagogisch motivierten Bei- spiel ein dritter Fall, nun verfasst von versierten Autoren auf diesem Gebiet: Christian Utz und Dieter Kleinrath untersuchen Klang und Wahrnehmung bei Varèse, Scelsi und Lachenmann.15 Ausgehend von einer Passage aus Intégrales von Edgar Varèse stützen sie sich auf die Hypothese, dass es sich bei der »Tonhöhenpyramide« auf einer mit »Berlin 1910« datierten Skizze »ganz ohne Zweifel […] um ein ›Klangmodell‹« handle, »um eine paradigmatische Konstellation von Intervallen, der in Hinblick auf die Klangbildungen in Varèses Werken große Relevanz zukommt« (Abb.  6).16 Das mag den normativen Ansatz der Autoren verdeutlichen, der in der doch eher aben- teuerlichen These gipfelt, dieses sich Storchen- schnabel-artig auffächernde chromatische Zwölftonfeld sei als Varèses Versuch anzusehen, sich vom »›willkürlichen paralysierenden temperierten System‹ zu befreien«.17 Utz und Kleinrath möchten nun herausfinden, »wie dieses Klangmodell sich in Varèses Praxis verwandelte und mit welchen wahrnehmungs- relevanten Aspekten es Abb. 6: Varèse, Skizze, datiert mit »Berlin 1910« in Beziehung trat.«18 Ihre 14 Ebd., S. 10. 15 Christian Utz und Dieter Kleinrath, Klang und Wahrnehmung bei Varèse, Scelsi und Lachenmann, in: Klangperspektiven, hrsg. von Lukas Haselböck, Hofheim: Wolke 2011, S. 73–102.. 16 Ebd., S. 79. 17 Ebd., S. 80. 18 Ebd. 83 Methode ist der Vergleich einer Analyse des Notentexts mit der Analyse des Sonagramms, um herauszufinden »wie sich diese Klänge denn tatsächlich im Spektrum darstellen.«19 Die Autoren untersuchen dabei in Intégrales den Übergang eines Klangs a (T. 23) zu Klang b (T. 28–29), in ihrer Lesart ein »prozessartiges ›Transformationsfeld‹«,20 in zwei verschiedenen Aufnahmen, eine von Pierre Boulez (EIC, Sony 45844, 1984), die andere von Riccardo Chailly (ASKO, Decca 00289 460 2082, 1998). Im Aufsatz ist das abge- bildete Sonagramm von Klang a der Chailly-Interpretation, Klang b der Boulez-Auf- nahme entnommen. Das irritiert schon mal gehörig, bei genauem Lesen kann man jedoch schlussfolgern, dass Utz und Kleinrath jeweils beide Klänge von beiden Aufnahmen analysiert und daraus eine Art Schnittmenge abgeleitet haben – wie genau, bleibt offen. Hier zeigen sich erste methodische Probleme, die auch in der Interpretationsforschung immer wieder auftreten: Der Erkenntniswert von Stichproben zweier Interpretationen und ihrer vergleichenden Analyse ist begrenzt. Der einzelne musikalische Moment ist eben nie nur absolut verstehbar, sondern steht in einer Sukzession von Interpretations- entscheidungen.21 So differieren in unserem Fall die zwei Aufnahmen nicht nur in ihrer Aufnahmeästhetik, sondern auch bezüglich ihres Intonationskonzepts und der generellen Interpretationsauffassung markant. In der spektrographischen Untersuchung von Utz und Kleinrath werden nur die 30 stärksten Komponenten berücksichtigt, wobei sie sich mit der psychoakustischen Sone- Skala an der »subjektiven Lautheitsempfindung«22 orientieren. Den Autoren ist dabei bewusst, dass »allgemeingültige Aussagen über die Gewichtung einzelner Spektralkom- ponenten nur mit großer Vorsicht getroffen werden können.«23 Sie stellen in Aussicht, dass auch Versuche mit Hörern nötig wären und räumen später sogar ein, dass diese Methode keinesfalls objektive Resultate generiere, sondern die Messergebnisse behut- samer Interpretation bedürfen.24 Ebenso erstreben sie aber eine »anwenderfreundliche Analyse von Klangspektren«, das bedeutet »einerseits die Reduktion der meist großen Datenmengen auf für die Analyse wesentliche Aspekte, andererseits eine möglichst leicht verständliche und intuitive Darstellung dieser Daten.«25 (Abb. 7) Ich habe versucht, ihre Versuchsanordnung nachzubilden, wobei mich vor allem interessiert hat, was denn nach dieser axiomatischen Herausfilterung der 30 stärksten Klangbestandteile übriggeblieben ist. Obwohl ich mit derselben Software (»Spear«) gearbeitet habe und natürlich die identischen Aufnahmen analysierte, ist mir das nur ungenau gelungen. Es sei hier vorsichtig die Frage gestellt, wie weit bei Sonagrammen ganz generell das wissenschaftlich entscheidende Kriterium der Wiederholbarkeit gegeben ist, vor allem wenn wie hier dazu eine Resynthese-Software benutzt wird, die 19 Ebd., S. 84. 20 Ebd., S. 83. 21 Vgl. ebd., S. 89. 22 Ebd., S. 84 f., Anm. 38. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 89. 25 Ebd., S. 84. 84 Abb. 7: Varèse, Intégrales – von Utz und Kleinrath gefiltertes Spektrum ihrerseits einen interpretativen Übersetzungsvorgang vornimmt, der möglicherweise von vielerlei Faktoren beeinflussbar oder beliebig parametrisch modulierbar ist. Nach dem Anhören dieser für die Analyse herausgefilterten Essenz muss ich Utz und Kleinrath Recht geben, die meinen, das Resultat sei »klanglich noch wenig befriedigend«.26 Dies hält sie jedoch nicht davon ab, normativ-ontologisch vorauszusetzen, dass »die hier dargestellten Spektralverläufe ein wichtiges Gerüst für die Wahrnehmung der Klänge in ihre Strukturierung im Tonraum bilden.«27 Später behaupten sie, man könne eine »spektrale Strukturierung beider Klänge […] durch die dynamisch am stärksten hervor- tretenden Frequenzen«28 durchaus vornehmen. Zunächst fällt beim Hören des Extrakts auf, wie sehr der Gong nach wie vor den Klang a prägt, was aber die Autoren nicht weiter vertiefen, obwohl dessen komplexes Spektrum zweifellos einen großen Einfluss auf die Gesamtwirkung hat. Stattdessen stellen die Autoren fest, dass die Basstöne kaum messbar seien, also nur als »Residua« durch unser Gehör ergänzt werden. Als Folge davon bleiben diese Töne analytisch auf der Strecke. Auch das ist problematisch, denn da es in dieser Untersuchung laut Titel um Wahrnehmung geht, darf meines Erachtens die klangliche Evidenz nicht nur als mess- bare oder bezogen aufs Sonagramm sogar visuelle Evidenz verstanden werden, sondern muss solcherlei gestaltbildende Phänomene wie Residualtöne, die sowohl aufführungs- praktisch wie musikrezipierend sehr bedeutsam sind, berücksichtigen. 26 Ebd., S. 85. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 87. 85 Ebenso verweisen Utz und Kleinrath auf bestimmte Teiltonphänomene, wie dass beim gis2 der fünfte Teilton der Posaune über E mit dem 3. Teilton der Posaune auf cis zusammenfalle, weshalb der Ton mehr hervortrete. Den 3. und 5. Teilton in Über- einstimmung zu bringen, funktioniert aber nur bei entsprechend enger Intonation des Basisintervalls, also der großen Sexte, was zumindest bei der Chailly-Aufnahme sowohl nach meinem Gehörsurteil als auch bei genauem Studium des von Utz und Kleinrath angefertigten Sonagramms nicht der Fall ist. Faktisch lässt sich im Gegenteil herauslesen, dass die deutlich zu groß intonierte Sexte theoretisch gerade beim gemein- samen Oberton gis2 eine rund vierteltönige Reibung erzeugen müsste, die sogar von den Autoren offensichtlich gemessen, aber in ihrer Analyse ignoriert wurde. Sexten in tiefer Lage sind für ihre »raue« Intervallqualität bekannt: Hier wäre also eher zu vermuten, dass Varèse gerade eine temperierte und nicht schwebungsarm intonierte Sexte bevor- zugte, wodurch sich beim besagten gis eine spannungsvolle Reibung ergeben würde. Dass die Autoren mit dem signifikanten Parameter Intonation generell unsensibel umgehen, zeigt sich übrigens auch in ihrer unhaltbaren darstellerischen Zurechtrückung der gemessenen Frequenzen auf das temperierte System. Die nun daraus im Aufsatz gezogenen analytischen Schlussfolgerungen sind trotz meiner Fragezeichen nachvollziehbar, aber tautologisch: Die Autoren stellen beispiels- weise allen Ernstes fest, dass das Spektrum statt der komplexen Dissonanzen im Noten- text nun »eine hohe Relevanz von Oktav-, Quint- und Quartstrukturen aufweise«.29 Das verwundert angesichts der Struktur der Teiltonreihe kaum, zudem ist es ein auch aus dem Partiturstudium bekanntes Klangcharakteristikum der Musik Varèses, dass sie Dis- sonanzen gerne durch danebenliegende vollkommene Konsonanzen zuspitzt.30 Obwohl in ihrem Aufsatz anfänglich vorgezeichnet und sogar im vermeintlichen »Klangmodell« der Varèse’schen Skizze angelegt, scheuen die Autoren folglich den ent- scheidenden Schritt, nämlich die Identifikation qualitativer Faktoren wie Dissonanz- wirkungen, Rauigkeit, Schwebungsanteile, Verschmelzungsgrad und Harmonizität. Stattdessen suchen Utz und Kleinrath nach quantitativen Mustern, oder wie sie es nennen: »Strukturen«, die sie mit den in der Partitur gelesenen Strukturen in Überein- stimmung zu bringen versuchen. Der Absicht, mit ihrer Methode »einen umfassenderen Einblick in die Struktur und Wahrnehmung musikalischer Ereignisse und Prozesse«31 zu gewinnen, werden sie zumindest was letzteres, die Wahrnehmung, betrifft, also kaum gerecht, auch wenn sie – das sei hier nicht unterschlagen – ihren Aufsatz angenehm selbstreflektiert und vorsichtig das Terrain abtastend angelegt haben. Das Sonagramm dient auch Utz und Kleinrath letztlich als aurale Mimikry, als Vorgeben eines Hörens, einer klanglichen Evidenz, deren vielschichtiger Problematisierung man sich aber elegant entzieht. Stattdessen sollen induktiv die Erkenntnisse einer partiturbasierten Analyse bestätigt und bestenfalls verfeinert werden. Pikanterweise sah sich Varèses langjähriger Assistent Chou Wen-chung bei der Veröffentlichung dieses »Klangmodells« genötigt, 29 Ebd., S. 87. 30 Vgl. dazu u. a. Helga de la Motte-Haber, Die Musik von Edgard Varèse, Hofheim: Wolke 1993, S. 111–125. 31 Christian Utz und Dieter Kleinrath, Klang und Wahrnehmung bei Varèse, Scelsi und Lachenmann (s. Anm. 15), S. 99. 86 gerade vor einer einseitig philologischen Interpretation zu warnen: »Seit der Entdeckung des ›Baums‹ habe ich feststellen können, dass er für bestimmte Werke Varèses von Bedeutung ist. Ungeachtet anderer, gültiger Methoden zur Erklärung seiner Tonhöhen- strukturen bin ich sicher, dass der Baum sinnvoll anwendbar ist. Freilich dürfen wir Varèses Ermahnung nicht vergessen, dass ein Komponist, so sehr er einer Theorie oder einem Konzept verpflichtet ist, immer bereit sein sollte, auszubrechen – oder wie er mit Aristoxenos zu sagen pflegte: ›Das Ohr ist der letzte Richter‹.«32 Auf diese kritische Überschau aktueller Anwendungen von Sonagrammen möchte ich einige grundsätzliche Überlegungen folgen lassen. Zunächst erinnere ich an Charles See- gers Hinweis einer prinzipiellen Divergenz zwischen präskriptiver Notenschrift und de- skriptivem Sonagramm.33 Ein direkter Vergleich zwischen beiden ist bekanntermaßen problembehaftet. Seeger hat aber 1958 auch schon erkannt, dass sowohl Partitur wie Sonagramm in verführerischer Weise den Eindruck erwecken, es sei alles in ihnen enthalten, aus ihnen herauszulesen, aus ihnen heraus zu verstehen. Es wird im Spek- trum zwar etwas »sichtbar«, was aber nur unzureichend das Hörbare zu repräsentieren vermag, etwa so, wie wenn man sich in einem Restaurantführer nur auf lebensmittel- chemische Analysen abstützen würde. Bezeichnenderweise soll auch Stockhausens graphische Darstellung der Hüllkurven von Studie II den »Musikern und Liebhabern als Studienpartitur dienen, vor allem in Verbindung mit der Musik«.34 Die unverkennbare Divergenz zwischen Bild und Klang kann man natürlich zur experimentellen Klangforschung nutzen, wie schon in Rainer Maria Rilkes visionärem Text über das Ur-Geräusch35 (1919) dargestellt oder von Künstlern wie Aphex Twin auf seinem Album Windowlicker (1999) praktiziert.36 Entscheidend ist der im weitesten Sinn heuristische Charakter solcher Anwendungen. Zielten die Pioniere der spektralen Musik auf unsere Wahrnehmungsprozesse und die Teiltöne waren nur eines von vielen Vehikeln, um diese offenzulegen und zu manipulieren, besteht heute die Tendenz zum unreflektierten Spektralabsolutismus: Auf der Suche nach interessanten Ergebnissen wird alles mögliche in den Computer gestopft, irgendwie transformiert und erzeugt irgendein Resultat, das dann irgendwie Anwendung findet. Man könnte in Abwandlung eines Diktums von Helmut Lachenmann von einer gegenwärtigen »touristischen Er- schließung« des Spektrums sprechen. Neue Tools, wie die Orchestrationssoftware Orchids aus dem Hause IRCAM, verleiten dazu, das produktive Spiel des Imaginierens, Übersetzens und Transformierens dem Computer zu überlassen und – noch schlimmer 32 Zitiert nach Edgar Varèse. Komponist, Klangforscher, Visionär, hrsg. von Felix Meyer und Heidy Zimmermann, Mainz: Schott 2006, S. 357. 33 Charles Seeger, Prescriptive and Descriptive Music-Writing, in: The Musical Quarterly, Vol. 44, No. 2 (April 1958), S. 184–195. 34 Karlheinz Stockhausen: Studie II, in: ders., Texte zu eigenen Werken, zur Kunst anderer, Aktuelles (Bd. 2), Köln: DuMont Schauberg 1964, S. 37–42 (hier S. 37), Hervorhebung durch den Verf. 35 Vgl. Rainer Maria Rilke, Ur-Geräusch, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, Frankfurt am Main: Insel 1987, insbesondere S. 1089 f. 36 Vgl. Stefan Rieger, Schall und Rauch. Eine Mediengeschichte der Kurve, Frankfurt am Main: Suhr- kamp 2009, S. 59–61. 87 – sich dabei kaum bewusst einer bestimmten Musikästhetik zu unterwerfen.37 Solche Trends bergen die Gefahr, dass uns die Hörintuition, sowohl kognitiv-erfassend als auch kreativ-verfassend, immer mehr abhanden kommt. Während sich Komposition und Musikwissenschaft wohl viel zu lange ans Primat der Notenschrift geklammert haben, geraten sie nun in eine neue Abhängigkeit, sie werden zu Adepten ihrer Klanganalyse- software. Die heranwachsende Generation von Musikschaffenden und -forschenden droht dabei trotz »acoustic turn« noch tauber ihr Metier zu betreiben als nicht wenige ihrer Vorgänger. Dabei gehen gerne zwei Dinge vergessen: Das harmonische Spektrum ist ein physika- lisches Modell, das in freier Wildbahn kaum existiert, und der Reiz vieler sogenannter spektraler Klänge liegt oft gerade im Unspektralen. Die mimetische Nachbildung eines Spektrums mit instrumentalen Mitteln ist daher nie identisch mit dem Original, ist immer künstlich und somit künstlerisch interessant – gerade diese Differenz prägt stark die Werke aus der Pionierzeit des Spektralismus. Anstelle der berühmten Namen sei hier wieder einmal auf eine lokale Basler Größe hingewiesen: das Orchesterstück Die Atmer der Lydia (1979–80) von Christoph Delz nach spektral analysierten Atemgeräuschen einer gebärenden Frau. (Abb. 8) Stattdessen folgt die Lesart von Sonagrammen oft idealisierten akustischen Modellen: Man glaubt darin eine Art Gegenbild zur Partitur gefunden zu haben, welche ja auch nur eine Idee transportiert, deren Realisierung dann den üblichen humanoiden Un- genauigkeiten unterliegt, die vernachlässigbar scheinen. Oder aber man versteht das Sonagramm als Abbild einer klanglichen Realität, dann werden gerade solche omni- präsenten Abweichungen plötzlich relevant und entsprechend hervorgehoben. In beiden, je unterschiedlich normativ geprägten Fällen erweist sich die immanente Tendenz zur Tautologie als Marktvorteil, denn egal was man tut, der gewonnene Datensatz ist immer überwältigend groß und bietet so einen angenehm weiten Interpretationsspielraum.38 Zwei essenzielle wissenschaftliche Grundregeln werden in der Anwendung gerne miss- achtet: Die intuitive Abschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Resultats, etwa seine sinnliche Überprüfung, und – falls diese Wahrscheinlichkeit nicht gegeben ist – eine fundierte Methodenkritik. Es sei hier daran erinnert, dass Pioniere der Klangforschung wie Carl Stumpf oder Erich Schumann ihre Messresultate noch mit dem Gehör zu über- prüfen pflegten! Seien wir ehrlich: Wohl die wenigsten vermögen ein Sonagramm wirklich zu durch- schauen – ich glaube, wir könnten es viel besser durchhören. Gleichsam reziprok zum Sonagramm verhält sich die Sonifikation, wo aus großen Datenmengen Klangverläufe geformt werden, um sie hörenderweise auf Gesetzmäßigkeiten zu durchsuchen. Dabei macht man sich zentrale Fähigkeiten unseres Hörsinns zu nutze: ein hochentwickeltes gestalthaftes Zusammenfassen und Trennen von Ereignissen und deren räumliche und zeitliche Strukturierung. Was hält uns davon ab, Sonifikation nicht auch bei Musik 37 Vgl. Stephen McAdams, Philippe Depalle und Eric Clarke, Analyzing Musical Sound (s. Anm. 6), S. 195. 38 Vgl. dazu Martha Brech, Möglichkeit und Grenzen sonagraphischer Partituren für die Hörinter- pretation, in: Der Hörer als Interpret, hrsg. von Helga de la Motte-Haber und Reinhard Kopiez, Frank- furt am Main: Lang 1995 (= Schriften zur Musikpsychologie und Musikästhetik, Bd. 7), S. 195–210. 88 Abb. 8: Christoph Delz, Die Atmer der Lydia, S. 9 der Partitur (© Stiftung Christoph Delz) 89 selbst zu versuchen? Warum benutzen Erdbebenforscherinnen und Planetologen ihr zu- meist ungeschultes Ohr zur Analyse, während wir als Musikforschende auf unseren Er- kundungen durch die espaces sonores nicht mehr diesem evolutionär hochentwickelten Kompass vertrauen und uns stattdessen durch unübersichtliche spektralanalytische Datenberge quälen? McAdams u. a. schreiben dazu treffend: »there is still a real problem in extracting the salient features from a data representation that contains a potentially overwhelming amount of information, only a tiny fraction of which may be relevant at any moment. The problem is testimony to the extraordinary analytical powers of the human auditory system: in the mass of detail that is presented in a ›close-up‹ view of the sound, the auditory system finds structure and distinctiveness.«39 Zugegeben, die Möglichkeit, ephemere Klangphänomene einzufrieren, zu ver- räumlichen und zu visualisieren ist verlockend. Doch nimmt man den Titel unseres Symposiums, les espaces sonores beim Wort, respektive beim Plural, wird deutlich, dass es eine Vielzahl von Räumen und Raumvorstellungen ist, die gleichzeitig und sich über- lagernd die kognitive Wahrnehmung unserer Aussenwelt prägt40 und die meisten von ihnen lassen sich nicht in der Zwei- bis Dreidimensionalität eines Sonagramms nach- vollziehen. Unser Hören als umfassendste Verbindung zum Raum ist in der Lage, ver- schiedene Gestaltverläufe und Deutungsebenen nicht nur gleichzeitig zu identifizieren, sondern auch problemlos und spontan miteinander zu verknüpfen, ja geradezu multi- dimensional zu agieren. Kaum zufällig sind der Musik die Abstraktion und damit eine gestalterische Mehrdeutigkeit schon immer eigen, sie wird viel früher amimetisch als andere Künste. Die Faszination ihres sinnlichen Erlebens ist gerade eine Polyphonie von Deutungen: Theoretisch pflegen wir zwar das Sprudeln der Töne in normative Ordnungen zu bringen und füllen es in Flaschen wie Kontrapunkt, Harmonielehre, Rhythmustheorie und Instrumentationslehre ab – doch wer vermag das Zusammen- spiel dieser Parameter genau zu umfassen? Man erinnere sich, wie Arnold Schönberg beim Versuch einer umfassenden Satz- und Setzlehre (also einer gemeinsamen Theorie des Kontrapunkts und der Instrumentation) vom Hundertsten ins Tausendste kam und irgendwann das uferlose Unterfangen abbrechen musste.41 Auch in meinem Musiktheo- rielehreralltag bleibt nach jeder Ordnung schaffenden Formgraphik an der Wandtafel oft ein Gefühl von Oberflächlichkeit und Banalisierung zurück – oder wie es Robert Musil so schön im Mann ohne Eigenschaften ausdrückt: »Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über.«42 Dieser Totschlag ist im Fall der Anwendung von Sonagrammen und ihrer Deutung ent- lang akustischer Modelle dann fatal, wenn im Dienste einer vermeintlichen Objektivität 39 Stephen McAdams, Philippe Depalle und Eric Clarke, Analyzing Musical Sound (s. Anm. 6), S. 182 f. 40 Vgl. dazu Karen Gloy, Typologie der Räume – eine Phänomenologie, in: Musik und Raum. Dimensionen im Gespräch, hrsg. von Annette Landau und Claudia Emmenegger, Zürich: Chronos 2005, S. 11–32. 41 Vgl. Arnold Schoenberg, Coherence, counterpoint, instrumentation, instruction in form = Zusammen- hang, Kontrapunkt, Instrumentation, Formenlehre, hrsg. von Severine Neff, übers. von Charlotte M. Cross und Severine Neff, Lincoln u. a.: University of Nebraska Press 1994. 42 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek: Rowohlt 2002, S. 465. 90 (die, wie alle seriösen Forscher einräumen, utopisch ist) ein produktiver Hör- oder besser Hörerdiskurs unterbunden wird. Wenn die Musikforschung anfängt, eine rein technische Hörperspektive einzunehmen, ohne diese empirisch mittels des Gehörs zu hinterfragen oder zu ergänzen, dann gerate ich als am Hören orientierter Musiker und Musiktheoretiker argumentativ ins Hintertreffen. McAdams u. a. schreiben dazu: »Ob- viously one can simply listen and use an aurally based analytical approach, but this restricts the account to the analyst’s own (perhaps idiosyncratic) perceptions: if the aim is to provide a more generalized interpretation, the solution is to use basic principles of auditory perception as tools for understanding the musical process.«43 Eine andere oder zumindest ergänzende Lösung für dieses Problem wäre der Hörerdiskurs, also eine kom- munikative, iterativ immer wieder aus neuer Perspektive ansetzende aurale Erkundung eines Werks in der Gruppe, im Gespräch. Als Gehörbildungslehrer habe ich ein gutes Jahrzehnt solche Höranalysen mit Studierenden gemacht und bin dabei ungemein hell- hörig geworden. Mit großem Genuss nehme ich zudem an interdisziplinären Lehr- und Forschungsmodulen teil und erhalte Einblick in analoge Interpretationspraxen in der Literatur- und Kunstwissenschaft. Dort hat man ein wohltuend weniger verkrampftes Verhältnis zu den eigenen Sinnesorganen als in der Musik und neigt zu bisweilen wagemutigen Formulierungen eigener Rezeptionserfahrungen. Ein Korrektiv zur Idio- synkrasie ist der Diskurs. Warum bleiben wir denn beim Beschreiben von Klangqualitäten nicht im Hörmodus? Wie verlässlich sind denn Resultate, wenn unser Ohr und Gehirn ersetzt werden durch Mikrophon und Computersoftware bzw. eine graphische Reproduktion? Schon die Vorstellung, unser Hören funktioniere wie eine Fourier-Analyse und die Musik bestehe aus quasi-stationären Klängen, ist zu relativieren.44 Auch hören wir bekann- termaßen vielmehr synthetisch statt analytisch, auch mehr vektoriell als punktuell.45 Folglich gelingt es mittels Analyse von Sonagrammen kaum, Klangerlebnisse adäquat zu beschreiben, geschweige denn vorherzusagen. Dies ist letztlich auch nicht deren Sinn und Zweck.46 In vielen Fällen wäre es jedoch aufschlussreich, wenn die mittels Sonagrammen gewonnenen Erkenntnisse auch wiederum hörbar nachvollziehbar gemacht würden, also soweit möglich sinnlich-empirisch überprüft werden könnten, und in wissenschaftlichen Arbeiten akustische Darstellungsformen ganz natürlich neben die bildlichen träten. Gerade eine Resynthese-Software wie Spear würde erlauben, die beschriebenen Zusammenhänge auch als Soundfiles Schicht um Schicht erlebbar zu machen. Damit verfeinerte sich parallel zum argumentativen Voranschreiten auch unser Gehör. Zugespitzt gesagt müsste sich gerade die Klangforschung ausgiebig der Sonifikation bedienen, um die audio-kognitive Signifikanz der sehenderweise eruierten Zusammenhänge zu überprüfen, wobei ich mir vor allem die sich auftuenden 43 Stephen McAdams, Philippe Depalle und Eric Clarke, Analyzing Musical Sound (s. Anm. 6), S. 184. 44 Vgl. Daniel Muzzulini, Genealogie der Klangfarbe, Bern: Lang 2006, S. 463. 45 Vgl. Giorgio Adamo, Single Tone Colour and the ›Sound‹ of Musical Items, in: Klangfarbe (s. Anm. 2), S. 143–158. 46 Vgl. Stephen McAdams, Philippe Depalle und Eric Clarke, Analyzing Musical Sound (s. Anm. 6), S. 192. 91 Inkongruenzen interessant vorstelle. Das Zusammenspiel dieser zwei Betrachtungsper- spektiven könnte nicht nur einer Art Kreuzvalidierung dienen, sondern erlaubte auch spannende Rückübersetzungen in die klingende Praxis, beispielsweise das Erproben der Wirkung verschiedener Intonationsvarianten der zwei Akkorde aus Varèses Intégrales. Doch für dieses unsichere Terrain fehlt den meisten Musikforschenden das gebildete Gehör, eine flexible Methodologie, genügend Mut und die Möglichkeit zum unmittel- baren diskursiven Austausch. Stattdessen versenkt sich lieber jeder für sich in seine Sonagramme. Unverkennbar bemächtigt sich die allgemeine wissenschaftliche Tendenz zu bild- gebenden Verfahren auch der Musikforschung, doch meines Erachtens da noch weniger reflektiert als andernorts. Besonders in der Neurologie, wo Falschfarbenbilder unseres Gehirns und seiner Aktivitäten inflationär angewandt werden, mehren sich kritische Stimmen, welche auch die regelmäßig durch die Presse rauschenden bahnbrechenden Entdeckungen der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) in Frage stellen. Joshua Carp hat 2012 in seiner Metastudie The Secret Lives of Experiments47 bei mehr als der Hälfte der untersuchten Hirnforschungsprojekte methodische Ungereimtheiten, meist ungenaue Angaben zur Versuchsanordnung oder Datenauswertung nach- gewiesen. Überdies scheint oft absolut unklar, welche physiologische, psychologische und philosophische Signifikanz dem kleinen roten Fleck auf dem fMRT zukommt. Eine längst überwunden geglaubte mechanistische Sicht unseres Bewusstseins wird plötzlich wieder salonfähig und in Initiativen wie dem umstrittenen Human Brain Project mit Forschungsmilliarden gefördert. Um auf das etwas skurrile Beispiel von Marie-Agnes Dittrich zurückzukommen, die in der Hüll- kurve von Verdis Otello die innere Tragik nicht herauszulesen vermochte: Neurologisch scheint das Problem gelöst, Otellos Eifer- suchtszentrum wurde dank bildgebendem Verfahren im Jahr 2012 gefunden (Abb.  9). Musikforschende sind zum Glück weniger marktschreierisch, sicher auch nicht unter Abb. 9: Die Lokalisation des Eifersuchtszen- dem Druck, millionenteure Geräte mit trums war der britischen Boulevardzeitung sensationellen Funden zu rechtfertigen. Daily Mail am 17. 2. 2009 eine Story wert. Trotzdem habe ich aufgrund meiner nicht (Quelle: www.dailymail.co.uk/sciencetech/ repräsentativen Meta-Lektüre durch die ak- article-1147525/The-green-eyed-monster- tuelle musikologische Literatur den Eindruck, lives-brain-Scientists-discover-jealousy-lobe. dass blinde Bildgläubigkeit auch in unserer html) Branche verbreitet ist. Ich will abschließend meinerseits bekennen, dass ich allen vorher kritisierten Ver- lockungen sowohl als Musiktheoretiker wie Komponist auch immer wieder erliege, ja 47 Joshua J Carp, The Secret Lives of Experiments: Methods Reporting in the fMRI Literature, in: Neuroimage 63 (2012:1), S. 289–300. 92 meine Faszination für Sonagramme mit dem Verfassen dieses Textes sogar zugenommen hat. Als ich 2012 im Auftrag des Klangforum Wien eine freie künstlerische Ensemble- Transkription einer unveröffentlichten Ondiola-Aufzeichnung von Giacinto Scelsi ver- fasste, waren sie mir jedenfalls sehr hilfreich, auch wenn der ständige Sprung zwischen espace sonore und espace visuel bisweilen irritiert: beispielsweise die arithmetische Skalierung vieler Sonagramme, die im Widerspruch zu meinem logarithmischen Hören steht. Für diese Arbeit verwendete ich bewusst möglichst viele verschiedene Computer- programme, um Scelsis Tonbänder zu analysieren, und freute mich an den jeweils unterschiedlichen Resultaten. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade Scelsi, von dem bekanntermaßen kaum Bilder im Umlauf sind, nun plötzlich mittels seiner vielschichtigen Musik in meinem Computer eine ganze Bilderflut verursacht hat, wie die Abbildungen A–F deutlich machen – alle (in unterschiedlicher Auflösung) basierend auf derselben Musik. Meine begrenzte Fähigkeit, sie zu lesen, erwies sich durchaus als vor- teilhaft für die mehr imaginativen, inspirierenden Anteile des Kompositionsprozesses. Auch die Farben und Darstellungsformen der jeweiligen Resultate haben mich intuitiv stark beeinflusst, zugunsten meiner künstlerischen Arbeit – aber selbiges passiert wohl auch oft zuungunsten einer wissenschaftlichen Anwendung der gleichen Softwares. Vom polnisch-amerikanischen Linguisten Alfred Korzybski stammt der berühmte Satz »A map is not the territory«.48 Das fasst in kürzester Form meine Skepsis gegen- über der Anwendbarkeit von Sonagrammen zusammen. Korzybski führt weiter aus: »Maps are self-reflexive, i. e., we can map our maps indefinitely. Also, every map is at least, whatever else it may claim to map, a map of the map-maker: her/his assump- tions, skills, world-view, etc.«49 Die mimetische Evidenz von Sonagrammen und ihre vermeintliche Objektivität entpuppen sich, wie gesehen, leider oft als Selbst-Mimikry. Sowohl künstlerisch wie musikologisch kann ich auf diese Situation nur reagieren, indem ich nicht ausschließlich das Material betrachte, das ich mir mit meiner Methode generiere, sondern mir auch meines gezielten Eingriffs darein selbst bewusst bin, ihn offenlege, über ihn reflektiere, ihn vielleicht nutzbar mache – und dabei wo nötig den gesunden Gehörsverstand walten lasse. A propos bildgebende Verfahren: Es gehört zu meinen berührendsten Erfahrungen, auf dem erst schemenhaft einen Menschen erahnen lassenden Ultraschallbild meines noch ungeborenen zweiten Sohnes bereits ein Ohr deutlich erkannt zu haben. Ab der 17. Schwangerschaftswoche, wenn eine differenzierte Gehörswahrnehmung nachweislich vorhanden ist, konkretisieren sich im Fötus erste Eindrücke eines Außenraums und zwar allein als espace sonore. Es ist eine musikalisch ungemein inspirierende Vorstellung, sich das Weltbild eines »Nur-Hörenden« vorzustellen. Ich glaube, ab und zu sollten wir komponierend, spielend und forschend unsere Notizen, Noten und Notebooks weglegen und in diesen Zustand zurückkehren – jedoch nun gemeinsam, als hörend-soziale und hörend-kommunikative Menschen. 48 Zitiert nach Robert P. Pula, in: Alfred Korzybski: Selections from Science and Sanity. An Introduction to Non-Aristotelian Systems and General Semantics, Fort Worth: Institute of General Semantics 22010, S. VII. 49 Ebd. 93 Abb. A: Scelsi features in Sonic Visualiser (Version 1.7.2) Abb. B: Scelsi features in lara (Version 2.5.5) 94 Abb. C: Scelsi features in transcribe! (Version 7.51.2) Abb. D: Scelsi features in Praat (Version 5.3.11) 95 Abb. E: Scelsi features in Orchids (Version 0.9.1) Abb. F: Scelsi features in Spear (Version 0.7.4. r. 148) 96 Musiques spectrales Zur »Liminalität« der Musik Debussys und Griseys von Lukas Haselböck Der Begriff »Liminalität« (lat. limen = Grenze, Schwelle) wurde in den letzten Jahr- zehnten in so unterschiedlichen Fachbereichen wie der Ethnologie1 oder der Literatur- und Medienwissenschaft2 diskutiert. Auch im Zusammenhang mit Neuer, insbesondere mikrotonaler Musik ist dieser Terminus relevant, geht das mikrotonale Komponieren doch häufig mit Grenz- und Schwellenphänomenen einher. Dabei ist vor allem auch das Verhältnis zwischen Struktur und Wahrnehmung von Bedeutung. Dort, wo einander die Tonhöhen so weit angenähert werden, dass sie tendenziell ineinander fließen, wird der Hörer – man könnte beinahe sagen – zu einem zweiten Komponisten. Instinktiv oder bewusst findet er (oder sie) sich innerhalb mikrotonaler Schwellensituationen zurecht, trifft Entscheidungen, schafft sich eine individuelle Orientierung, die dann – vom sub- jektiven Standpunkt aus betrachtet – die jeweilige Perspektive auf ein musikalisches Werk konstituiert, die von dessen Grundlegung als Text oder Notat nicht eindeutig zu trennen ist. Als Beispiele könnte man Werke György Ligetis, aber auch spektraler Komponisten nennen. So war etwa Gérard Grisey gegenüber der Etikettierung seiner Musik als »spek- tral« skeptisch. Er bevorzugte die Bezeichnung »musique liminale«3 (liminale Musik), die sich aber im öffentlichen Sprachgebrauch nie durchsetzte. Drei Begriffe waren für seine Musik von Bedeutung: »différen tielle«, »transitoire« und »liminale«.4 Der dritte Begriff, »liminale«, verweist auf ein Spiel an der Grenze der Wahrnehmung. Jenseits eines Denkens in Punkten oder Positionen werden jene Schwellen erforscht, an denen psychoakustische Interaktionen stattfinden.5 Grisey lenkte die Aufmerksamkeit des Hörers also vor allem auf die Schwellen- und Grenzbereiche musikalischer Prozesse, auf die man seiner Ansicht nach in der seriellen 1 Vgl. Victor Turner, The Ritual Process: Structure and Anti-Structure, New York: Aldine 1969. 2 Vgl. Achim Geisenhanslüke, Schriftkultur und Schwellenkunde? Überlegungen zum Zusammenhang von Literalität und Liminalität, in: Schriftkultur und Schwellenkunde, hrsg. von Achim Geisenhanslüke und Georg Mein, Bielefeld: transcript 2008, S. 97–119. 3 Brief Griseys an Hugues Dufourt, in: Gérard Grisey, Écrits ou l’invention de la musique spectrale, hrsg. von Guy Lelong, Paris: Éditions MF 2008, S. 281. 4 Gérard Grisey, La musique, le devenir des sons, in: ders., Écrits (s. Anm. 3), S. 45. 5 Vgl. Gérard Grisey, Écrits (s. Anm. 3), S. 138: »Liminale, parce qu’elle s’applique à déployer les seuils où s’opèrent les interactions psycho-acoustiques entre les paramètres et à jouer de leurs am- biguïtés«. Vgl. auch Lukas Haselböck, Gérard Grisey: Unhörbares hörbar machen, Freiburg i. Br. u. a.: Rombach 2009, S. 57. 99 Musik zu wenig Bedacht genommen hatte. Zugleich war ihm aber bewusst, dass Liminalität in der Musik – sofern man sie nicht auf mikrotonale Phänomene reduziert, sondern im historischen Kontext musikalischer ›Ambiguitäten‹ erörtert – keineswegs eine spektrale Erfindung ist. In diesem Zusammenhang verwies er auf Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Dort findet sich das bekannte Zitat, Musik sei »Zweideutig- keit […] als System«.6 Grisey fügte hinzu, der heutige Komponist liebe es, mit anderen Formen der Ambiguität zu spielen.7 Ausgehend von dieser Aussage Griseys möchte ich den Begriff Liminalität weit fassen und ihn auch auf die Musik des frühen 20. Jahrhunderts (im vorliegenden Beitrag auf die Musik Claude Debussys) beziehen. Dabei soll dargelegt werden, dass Liminalität in der Musik nie ausschließlich an mikrotonale Phänomene gebunden ist. Was aber verbindet die Ambiguität oder – wenn man so will – Liminalität der Musik um 1900 mit jener der mikrotonalen Musik? Obwohl ich hier nicht historische Modelle konstruieren möchte – in dem Sinne, dass Debussy ein ›Vorläufer‹ Griseys gewesen sei –, ist nicht zu übersehen, dass Debussy und Grisey mit Vorliebe wahrnehmungspsychologische Schwellensituationen auskom- ponieren – Situationen, in denen die Wahrnehmung auf die Probe gestellt wird und sozusagen auf der Kippe steht: harmonische Ambiguitäten, melodische Gestaltbildungs- prozesse und vieles mehr. In diesen Situationen modelliert sich der Hörer sozusagen seinen individuellen Zeit- und Erfahrungshorizont. Bei der Erforschung liminaler Phänomene geht es also – egal, ob sie sich in mikro- tonale oder gleichschwebend-temperierte Stimmungssysteme einfügen – stets um das Ausloten der Bedingungen der Wahrnehmung musikalischer Zeit. Nicht zufällig ist für Debussy und für Grisey die Zeit die zentrale Dimension musikalischen Denkens und Hörens. So findet sich in einem Brief an Jacques Durand (1907) Debussys bekannte Aus- sage, Musik bestehe aus Farben und rhythmisierter Zeit.8 Und Grisey legte in seinem letzten Text Vous avez dit spectral? (1998) dar, dass die Bedeutung der musique spectrale nicht in der Verwendung von Spektren, sondern in ihrem zeitlichen Ursprung liege.9 In diesem Sinne sind auch die folgenden Kommentare und Analysen zu verstehen. 6 Thomas Mann, Doktor Faustus, Stockholm: Bermann-Fischer 1947, S. 74; vgl. auch Hans-Peter Haack, Zweideutigkeit als System. Thomas Manns Forderung an die Kunst, Leipzig: Haack & Haack 2010. 7 Gérard Grisey, La musique: Le devenir des sons (s. Anm. 4), S. 49. 8 Claude Debussy, Letters, hrsg. von François Lesure und Roger Nichols, London u. a.: Faber & Faber 1987, S. 184. 9 Gérard Grisey, Vous avez dit spectral?, in: ders., Écrits (s. Anm. 3), S. 121: »Aucun musicien n’a attend u la musique spectrale pour utiliser ou mettre en valeur des spectres sonores pas plus qu’on a attendu le dodécaphonisme pour composer de la musique chro matique mais de même que la série n’est pas affaire de chromatisme, la musique spectrale n’est pas affaire de couleur sonore. Pour moi, la musique spectrale a une origine temporelle«. 100 1. Harmonik Zunächst einige Bemerkungen zur Ambiguität der Harmonik in der Musik um 1900: In der Harmonielehre der Dur-Moll-Tonalität besteht die Tendenz, dass harmonische Phänomene zumeist einem übergeordneten Ganzen funktional zugeordnet werden können. Innerhalb solcher Zuordnungen können Zwei- oder Mehrdeutigkeiten auftreten, wie z. B. jene zwischen Dominantseptakkord und übermäßigem Quintsextakkord. Dies sind Verzweigungen innerhalb eines funktionalen Systems. Im Hörerlebnis bleibt die Erwartungshaltung10 trotz aller Ab- und Umwege immer auf das Ganze bezogen. Im Verlauf der Musik des 19. Jahrhunderts wird diese Bezugnahme auf das tonale Ganze häufig aufs Äußerste gedehnt und ausdifferenziert. Häufig gibt es keine eindeutige Tonika mehr, und Spannungsakkorde werden oft nicht aufgelöst. Als Beispiel könnte man auf den Beginn des Prélude à l’aprés-midi d’un faune (1892–94) eingehen (siehe Abb. 1). Nach dem Flötensolo in Takt 1–3 erklingen in Takt 4 und 5 die Akkorde cis-e-gis-ais und b-d-f-as. In der dur-moll-tonalen Harmonielehre gilt letzterer Akkord als Spannungs- akkord: Man könnte erwarten, dass die Sept as schrittweise weitergeführt werde und den Akkord daher zielgerichtet hören. Zugleich ist es aber ungewiss, ob ein zielge- richtetes Hören hier überhaupt sinnvoll wäre: Eine mögliche Auflösung des as wird durch Wiederholungen und Pausen hinausgezögert. Dadurch rückt die Klangqualität ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Zudem wird der zweite Akkord im Vergleich zum ersten durch Abschattierung quasi in den Hintergrund gerückt, und zwar sowohl in dynamischer (p–pp) als auch in klanglicher Hinsicht (ein rauschendes Harfenarpeggio mündet in zarte Hörnerklänge). Eine Weiterführung des Akkords folgt erst zu Beginn des nächsten Abschnitts in Takt 11. Diese Beobachtungen legen nahe, dass es Debussy weniger um die Dynamisierung und Auflösung von Spannungsakkorden, sondern eher um das Erschließen zeitlicher und räumlicher Tiefenschichten geht. Beim Hören dieser Musik driften chronome- trische Zeit und Erfahrungszeit auseinander, oder, um mit dem Philosophen Jean-Luc Nancy zu sprechen: Aus dem »Vernehmen« (entendre) wird ein »Lauschen« (écouter).11 Hinter dem chronometrischen Ablauf öffnet sich ein Klang-, Zeit- und Erfahrungsraum, in den der Hörer lauschend eindringt, und es wird einsichtig, warum häufig von einem neuen zeitlichen Atem in der Musik Debussys die Rede ist.12 10 Beim Hinweis auf »Erwartungshaltungen« gehe ich hier und auch im Folgenden stets von einem »idealen Hörer« aus, der das Stück zum ersten Mal hört. Hört man ein Stück zum zweiten, dritten oder x-ten Mal, so kann sich dieser Erwartungshorizont nachhaltig verändern. 11 Vgl. Jean-Luc Nancy, Zum Gehör, Zürich – Berlin: Diaphanes 2010, S.  9, 11 und 13. Im Unterschied zu entendre (den Sinn verstehen, ›vernehmen‹) bedeute, so Nancy, écouter (être à l‘écoute) »ganz Ohr sein, auf Empfang sein, so wie man sagt ›auf der Welt sein‹«. Vernehmen und Lauschen sind jedoch nicht strikt voneinander getrennt, sondern durchdringen einander: »In jedem Sagen […] gibt es Vernehmen, und im Vernehmen selbst, an seinem Grunde, ein Horchen.« Écouter heißt »gespannt sein hin zu einem möglichen Sinn, der folglich nicht unmittelbar zugänglich ist«. 12 Ein direkter Hinweis auf inhaltliche Deutungsmöglichkeiten dieses Spiels von zeitlicher und örtlicher Nähe und Ferne findet sich im 1. Akt von Debussys Oper Pelléas et Mélisande (Ziffer 13). Auf die Frage Golauds »Ou êtes vous nées« (»Wo seid ihr geboren?«) antwortet Mélisande: »Loin 101 Abb. 1: Claude Debussy, Prélude à l’aprés-midi d’un faune, Takt 1–4 (New York: Dover Publications, 1981) Zugleich lässt sich die Wahrnehmung dieser Musik aber nicht auf die Hörhaltung des Lauschens reduzieren. Bei Debussy ist die Auflösung von Spannungsakkorden nicht gänzlich abgeschafft, und wir wissen daher häufig nicht, ob und wann wir Spannungs- akkorde zielgerichtet oder stationär hören sollen. In dieser Grenzsituation übernimmt d’ici« (»Fern von hier«), und bei Ziffer 13 findet sich exakt der gleiche halbverminderte Holzbläser- akkord wie zu Beginn des Prélude à l‘aprés-midi d‘un faune, nämlich ais-cis-e-gis. Dieser Akkord ist hier sozusagen ein Signum der Ferne in Zeit und Raum. 102 Abb. 1 (Fortsetzung): Claude Debussy, Prélude à l’aprés-midi d’un faune, Takt 5–10 (New York: Dover Publications, 1981) 103 die Hörerin/der Hörer eine aktive Rolle: Antizipierend und rückblickend komponiert sie/er gleichsam mit und bewegt sich dabei in unterschiedlichen Präsenzschichten des Klanglichen. Hier lässt sich eine direkte Analogie zur Musik Griseys herstellen. Die bei Debussy anzutreffende Tendenz zur formalen Offenheit setzt sich in der Spektralmusik verstärkt fort. Bei Grisey ist die musikalische Form prinzipiell offen, und die Hörerin/der Hörer hat den Eindruck, die Stücke hörten nicht auf. Dies lässt sich auch dadurch begründen, dass – anders als bei Debussy – hier die letzten Reste übergeordneter harmonischer Be- zugssysteme getilgt sind: Jeder Klang ist einmalig, ist Teil einer komplexen, unendlich abgestuften Klangrealität und wird nicht in seiner thematischen Identität und Bezug- nahme auf das Ganze, sondern in seiner Relation zu anderen Klängen gehört sowie in jeweils werkindividuelle zielgerichtete Bezugssysteme eingegliedert: Grisey nennt sie Prozesse. Trotz dieser Stringenz der musikalischen Prozessualität können aber auch hier Zweifel über die Zielgerichtetheit des Ablaufs aufkommen. Diese Ungewissheit, ob die musikalische Zeit fortschreite oder stillstehe, kann der »spektrale« Komponist auf unterschiedliche Weise forcieren. Eine Möglichkeit, liminale Situationen in Bezug auf die Wahrnehmung musikalischer Zeit auszukomponieren, besteht in der Wiederholung und zeitlichen Dehnung von Stationen des Prozesses, eine andere in der prozessualen Bruchlosigkeit und Glätte, die der Wahrnehmung keinerlei Zäsuren oder Hörstationen bereitstellt. Der Eindruck, dass sich die Musik von A nach B bewege, wird dadurch unterminiert. Drittens ist das spektrale Konzept »harmonie-timbre«13 zu nennen, wofür die Mehr- deutigkeit zwischen Harmonik und Klangfarbe, genauer gesagt die sich in der Spek- tralanalyse und Instrumentalsynthese offenbarende unscharfe Trennung zwischen Spektren und Akkorden konstitutiv ist: Ein Spektrum, z. B. in Griseys Partiels das tiefe E einer Posaune, wird als komplexe Konstellation von Teiltönen analysiert und als Or- chesterklang resynthetisiert. Man könnte nun annehmen, dass die einzelnen Teiltöne beim Hören ineinander verschmelzen, dass diese Gebilde also in der Wahrnehmung als Klangfarbe zur Geltung kommen. Zugleich bringen die einzelnen Teiltöne jedoch ihre eigenen Obertöne hervor. Der Hörerin/dem Hörer drängt sich somit auch die Inter- pretation als Akkord auf, dessen dynamisches Potenzial in den Vordergrund rückt. In- strumentierte Spektren sind daher hybride Gebilde, die je nach Situation als Klangfarbe oder Akkord gehört werden können. Die Hörerin/der Hörer schwankt zwischen diesen beiden Hörhaltungen und übernimmt eine aktive Rolle: Sie/Er komponiert gleichsam mit.14 13 Vgl. z. B. Gérard Grisey, Structuration des timbres dans la musique instrumentale, in: ders., Écrits (s. Anm. 3), S. 101: »Enfin, nous venons de créer un être hybride pour notre perception, un son qui, sans être encore un timbre, n’est déjà plus tout à fait un accord, sorte de mutant de la musique d’au- jourd’hui, issu de croisements opérés entre les techniques in strumentales nouvelles et les syn- thèses additives réalisées par ordinateur«. 14 Auch in der Harmonik Debussys oder Messiaens finden sich Akkorde, deren Töne in der Wahrnehmung tendenziell zu einem einheitlichen Komplex im Sinne einer »Klangfarbe« zusammengefasst werden. In der Literatur zu spektraler Musik wird darauf nicht selten 104 2. Melodik In Debussys Syrinx für Flöte solo (1913) lassen sich unterschiedliche melodische Präsenz- schichten herausarbeiten. Im obersten System von Abb. 2 sind die ersten acht Takte von Très modéré "Komprimierte Zeit" "Zeit dehnt sich aus" Intervallvergrößerung siehe auch unten, 3. System -œ ™ nœnœbœ- ™ nœ bœ ™ œbœ ˙ U ,° b b 3 nœ bœ œ - nœ œ œ ™ nœnœb -œ ™ nœ b nœ bœb œ& b4 nœ œ mf Chromatik - - &bbbbb43 œ nœ bœ nœ bœ große Sekund &bb b 3 nœnœ nœnœ b b4 übermä-ßige Sekund &bb nœbœ nœbœ ¢ b bb43 "Komprimierte Zeit" "Zeit dehnt sich aus" Retenu ,3 3 3°4 b j , 3 3 b œ œ b˙ ˙ œ ˙ œ , &b b bb-œ ™ #œ nœ n-œ œ nœfi œœ œ œ œ nœ œ œ b-œ ™ #œnœnœbœ ≈œbœœ bœ ‰™R p p p Chromatik 3 &bbbbbbœ nœ œ œ bœ #œ œbœ œ Intervallvergrößerung große Terz &bbbbbbœ- nœ nœ- œ œ œ œ œ reine Quart b b ¢&b b b œ nœ Abb. 2: Claude Debussy, Syrinx für Flöte solo, Takt 1–8: Original (System 1) und Analyse (Systeme 2–4) hingewiesen, wobei jedoch die Gefahr der Stilisierung Debussys und Messiaens zu spektralen ›Vorläufern‹ besteht. 105 Syrinx in ihrer originalen Gestalt abgebildet. Bei der Analyse und beim Hören erweist sich, dass hinter dieser Linienführung ein chromatischer Abwärtszug verborgen ist. Solche inhärent mehrstimmigen Melodieverläufe sind nicht neu: In anderer, aber ver- gleichbarer Form treten sie zum Beispiel auch in Johann Sebastian Bachs Werken für Soloinstrumente auf.15 Nun könnte man die Frage stellen, welche der beiden melodischen Konstellationen beim Hören präsenter sei: die melodische Oberfläche, so wie sie von Debussy kom- poniert wurde, oder der chromatische Abwärtszug. Ist es die melodische Oberfläche, so könnte man davon ausgehen, dass sich die Chromatik b-a-as-g-ges auf den ersten beiden Vierteln im Hintergrund befinde und auf der dritten Viertel als ges-f-e und in Takt 2 als c-ces-b in den Vordergrund rücke (dies ist durch strichlierte Linien angedeutet). Wird aber der chromatische Abwärtszug im Vordergrund gehört, so wären diesem die großen Sekunden (siehe Abb. 2, 3. System) vorerst im Hintergrund beigeordnet. In Takt 2 änderte sich dies: In der melodischen Wendung b-c rückte die große Sekund in den Vordergrund. Die übermäßigen Sekunden auf den ersten beiden Vierteln von Takt 1 befänden sich ebenfalls im Hintergrund (siehe Abb. 2, 4. System, zudem verhindert die Bogenziehung eine direkte melodische Bezugnahme zwischen h und as bzw. a und ges). Erst mit den letzten beiden Tönen von Takt 1 rückte die übermäßige Sekund in den Vordergrund. Beide Hörweisen legen nahe, dass hier unterschiedliche Präsenzschichten einander überlagern und in ihrer Vorder- und Hintergrundwirkung ablösen. Dabei ist nicht ohne Weiteres klar, was als Vorder- oder Hintergrund16 empfunden wird – die Hörerin/der Hörer komponiert mit und interpretiert die Abstufung der einzelnen Schichten. Aus der Perspektive der Wahrnehmung könnte man demnach von einer Art Wellenbewegung mit mehreren Graden von Diffusität und Konkretheit sprechen. Inner- halb der Intervallkonstellation des Beginns wird ein diffuser Hintergrund konkretisiert, gleichsam scharfgestellt. Darauf folgt die Wiederholung des Beginns. In den ersten drei Takten steigt somit die Redundanz des Materials. Die Hörerin/der Hörer muss nicht viel Energie aufwenden, um die Informationen in Takt 3 zu verarbeiten, und gewinnt daher den Eindruck, die Zeit »dehne sich aus«. Dies ändert sich in Takt 4: Infolge der Komplexität der Intervallkonstellation und der erhöhten rhythmischen Dichte wird die Erfahrungszeit der Hörerin/des Hörers komprimiert, ehe die rhythmische Verlang- samung und Tendenz zur Diatonik in Takt 6–8 wieder für eine Dehnung der Erfahrungs- zeit sorgen. 15 Zu derartigen Melodieverläufen schreibt Ernst Kurth in seinen Grundlagen des linearen Kontra- punkts, Bern: Drechsel 1917, S. 258 f.: »Man strebt in der Tonvorstellung nicht nur voraus, sondern zugleich über andere Kurventeile hinweg; indem sich also derartige Krisenpunkte verbinden, entsteht der doppelspurige Hörverlauf, auf die augenblickliche Teilkurve und auf die übergreifende Kettung gerichtet.« Vgl. auch Clemens Fanselau, Mehrstimmigkeit in J. S. Bachs Werken für Melodie- instrumente ohne Begleitung, Sinzig: Studio 2000, S.  161: »Unter Zügen sind diatonische Abstiege zu verstehen. Dies dürfte die zwingendste Form eines Resultatstimmenverlaufs sein, da der Ab- wärtssog in der Musik wie in der durch Gravitation beherrschten Natur eine elementare Zwing- kraft hat.« In diesem Zusammenhang verweist Fanselau auf das Preludio BWV 1006/1, T. 136 f. 16 Die Begriffe »Vorder- und Hintergrund« sollen hier nicht im Sinne Heinrich Schenkers ver- standen werden. 106 Für die Hörerin/den Hörer erweist sich der Beginn von Syrinx als Spiel von Nähe und Ferne: Sie/Er kann die melodischen und zeitlichen Tiefenschichten dieser Passage aus- loten, wobei die Grenze zwischen Vorder- und Hintergrund unscharf ist: In Bezug auf die Wahrnehmung entsteht ein liminales Spiel. Unterschiedliche, in Wellenbewegungen auskomponierte Präsenzschichten finden sich auch bei Grisey. Im Gegensatz zum theorieskeptischen Debussy hat Grisey das da- durch im Hörer ausgelöste Zeitempfinden verbalisiert. Er spricht vom »Grad der Voraus- hörbarkeit«,17 der die Ausdehnung bzw. Komprimierung der Zeit beeinflusse. Versuchen wir dies anhand von Griseys Prologue für Viola solo (1976) zu konkretisieren (siehe Abb. 3 und 4).18 Permutationsschlüssel [1-3-2-4-5] [2-3-1-4-5] Permut. 2 1 3 5 4 2 3 1 5 4 2 1 3 5 4 1 3 2 5 4 3 2 1 5 4 Obertöne 9 7 9 7 10 7 9 7 10 8 Iambus Iambus B œ #œ Kœ ™™ œ #œ #œ#œ œ #œ Kœ #œ œ Kœœ œ œ œ #œ #œ #œ Kœ œ #œ œœ [2-5-1-3-4] 2 1 3 5 4 1 4 2 3 5 4 5 1 2 3 5 3 4 1 2 3 2 5 4 1 11 8 7 10 5 7 4 6 9 5 Iambus Iambus Iambus µœ œ µœ œB #œ œ œ œ œ Kœ #œ #œ Kœ œ #œ Kœ #œ œ œ œ #œ œ œ œ #œ Abb. 3: Gérard Grisey, Prologue für Viola solo, Permutation der fünftönigen Figur (analytische Skizze) Zu Beginn von Prologue formt sich auf der Grundlage der Kontur 2-1-3-5-4 eine fünf- tönige melodische Wendung. Das Prinzip, das hier verwirklicht wird, könnte man »figural« nennen – Grisey spricht bewusst von einer »Gestalt«,19 die nicht auf fest- gelegten Tonpositionen basiert, sondern flexibel dehnbar ist. Durch eine zweimalige Wiederholung prägt sie sich der Hörerin/dem Hörer ein: Der Informationsgrad ist niedrig, die Voraushörbarkeit hoch, die Erfahrungszeit dehnt sich aus. Auf der Grund- lage des Verfahrens der symmetrischen Permutation (vgl. Abb. 3) wird diese Figur in der Folge einem Spiel ausgesetzt – dies aber nur par tiell. Der Permutationsschlüssel (in der 17 Vgl. Gérard Grisey, Zur Entstehung des Klanges, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik 17 (1978), S. 76. 18 Zum Folgenden vgl. Lukas Haselböck, Gérard Grisey (s. Anm. 5), S. 73 ff. 19 Vgl. Anm. 25. 107 Folge in eckigen Klammern) umfasst nur die jeweils ersten drei Töne jeder Figur, und die Kontur der jeweils letzten beiden Töne bleibt erhalten: [1-3-2-4-5] und [2-3-1-4-5]. Auf dieses Bruchstück [4-5], das immer weiter aufsteigt und zugleich sein melodisches Profil bewahrt, richtet sich nun die Aufmerksamkeit. Erst mit der Entscheidung, den Permutationsschlüssel auf alle Positionen auszudehnen [2-5-1-3-4], geht das Profil dieses figuralen Fragments verloren (alle Töne werden nun in die Nicht-Voraushörbarkeit des Spiels hineingezogen). Diese Spannung zwischen Voraushörbarkeit und Nicht-Voraus- hörbarkeit hat eine grundsätzliche Dehnbarkeit der Erfahrungszeit zur Folge. Ähnliches gilt dann später auch für den Bereich der siebentönigen Figur (vgl. Abb. 4). Permutationsschlüssel [2-3-1-4-5-6-7] Permut. 2 1 3 6 5 7 4 1 3 2 6 5 7 4 3 2 1 6 5 7 4 #œ œ œ µ œ µ œB Kœ µ œ K œ #œ œ œ œ œ œ K œ œ œ #œ #œ#œ #œ [7-1-4-2-3-6-5] [5-7-4-2-3-6-1] 2 1 3 6 5 7 4 4 2 6 1 3 7 5 3 5 1 2 6 7 4 œ #œ K œ Echo#œ œ #œ Iambus B #œ œ œ µ œ #œ K œ #œ µ œ œ œ œ œ œ #œ K œ Abb. 4: Gérard Grisey, Prologue für Viola solo, Permutation der siebentönigen Figur (analytische Skizze) Im Vergleich zwischen Debussys Syrinx und Griseys Prologue wird deutlich, dass der Wahrnehmungsprozess in beiden Werken auf einem Spiel zwischen Präsenzschichten beruht. Zugleich werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede offenbar: Im Gegensatz zu Debussy werden die Wellenbewegungen zwischen Vorder- und Hintergrund bei Grisey durch strukturelle Verfahren bewerkstelligt, die sich beinahe durch das ganze Stück ziehen. Die Konsequenzen für die Wahrnehmung, die Grisey in seinen Schriften beschreibt, erinnern zwar an Debussy – es entsteht ein liminales Spiel zwischen Dehnung und Stauchung der Erfahrungszeit –, im Unterschied zu Debussy ist Grisey aber der Überzeugung, dass es anthropologische Grundlagen gebe, auf deren Basis man die Wahrnehmung der Zeit beeinflussen oder gar steuern könne. 3. Sinn und Sinnsubversion Wenn wir also feststellen, dass in Werken Debussys und Griseys ein liminales Spiel mit der Wahrnehmung getrieben wird, drängt sich eine weitere Frage auf: Welchen Sinn erfüllt dieses Spiel? 108 Kehren wir noch einmal zu Debussys Syrinx zurück: Befragen wir die Linienführung des Beginns nach ihrem semantischen Gehalt, fallen zunächst »naturhafte«, anti- subjektive Aspekte auf, die eine Interpretation dieses Beginns als individuell-cha- rakteristisches »Thema« abwegig erscheinen lassen. Die Anfangstakte von Syrinx folgen scheinbar passiv der Abwärtstendenz der Schwerkraft, verstärkt durch den chromatischen Zug – ähnlich wie der Beginn des Prélude à l’aprés-midi d’un faune, wo eine chromatisch abwärtsführende Linie durch eine diatonische Gegenbewegung aus- gependelt wird.20 Dass man eine solche Linienführung nicht als Thema im traditionellen Sinne bezeichnen kann, war auch Debussy klar. Im Rahmen seiner bekannten Ausführungen zur »Arabeske« stellte er fest: »Mit dieser ornamentalen Konzeption gewinnt die Musik die Sicherheit eines mechanischen Ablaufs, der den Hörer beeindruckt und mancherlei Vorstellungen in ihm auslöst.«21 Das zunächst irritierende Wort »mechanisch« soll »hier offenbar die Depersonalisierung der ornamentalen Konzeption gegenüber dem sub- jekthaften Ausdruck einer (thematisch gebundenen) Klangrede andeuten«.22 Zugleich ist es jedoch mehr als zweifelhaft, ob man eine semantische Konnotierung des Beginns von Syrinx generell ausschließen könne, wird doch die abwärtsführende Chromatik traditionell mit Trauer assoziiert. Zugleich erinnert der punktierte Rhythmus an die französische Ouvertüre.23 Was die Semantik des Beginns von Syrinx betrifft, ist daher eine Unentschiedenheit zwischen abstrakter Reinheit und semantischem Kon- notationsreichtum festzustellen, wobei letzterer durch eine Ambiguität zwischen punktiertem Rhythmus und Chromatik gekennzeichnet ist. Außerdem geht die Unentschiedenheit zwischen Abstraktion und Konkretion in Syrinx bereits aus der Wahl des Instruments und dem Titel hervor. Der Flötenklang steht für das Spiel des Hirtengottes Pan. Dieser möchte mit seinem Spiel den Wind nach- ahmen, der durch das Schilf streicht und bezaubernde Töne hervorbringt – sie sind des- halb so bezaubernd, weil im Schilf eine verwandelte Nymphe steckt. Selbst als Spiel des Pan erscheint die Musik somit »in doppelter Weise mittelbar als (enthumanisierter) Naturlaut: als Spiel eines Naturgottes, der […] Naturlaute nachahmt.«24 Anti-subjektive, also quasi »naturhafte« Aspekte finden sich auch in den Anfängen der Spektralmusik, den siebziger Jahren. In seiner Werkeinführung zu Prologue schreibt 20 Vgl. Ulrich Mahlert, Die ›göttliche Arabeske‹. Zu Debussys ›Syrinx‹, in: Archiv für Musikwissen- schaft 43 (1986), S. 186. 21 Claude Debussy, Monsieur Croche. Sämtliche Schriften und Interviews, hrsg. von François Lesure, Stuttgart: Reclam 1974, S. 33. 22 Ulrich Mahlert, Die ›göttliche Arabeske‹ (s. Anm. 20), S. 188. 23 Ebd., S. 183. 24 Ebd., S. 188. Auch im Prélude à l’aprés-midi d’un faune ist eine vergleichbare Unentschiedenheit spürbar: Einerseits verweist die Flöte auch hier auf die Hirtenwelt, und der Raum, der sich zu Beginn des Stücks öffnet, entsteht auch durch die inhaltlichen Assoziationen, die sich mit der Klanglichkeit dieser Takte verbinden: Harfe und Horn stehen traditionell für Raum, Ferne und Natur. Andererseits bleiben die Bilder, die uns diese gleichsam »archetypischen Klangelemente« (ein Harfenarpeggio und Sekundintervalle des Horns) vermitteln, eher vage. Die Suche nach einer konkreten Bildhaftigkeit verliert sich hier beinahe zwangsläufig in der Rätselhaftigkeit des Klanglich-Repetitiven. 109 Grisey, man könne eine Melodie auf zwei Arten verfassen und sich merken: als An- sammlung von Tönen oder als Gestalt. Prologue folge der zweiten Art.25 Diese flexibel dehnbare Konzeption kommt – ebenso wie die Steigerungsanlage 2-1-3-6-5-7-4, die auf den Höhepunkt der vorletzten Position abzielt und somit einen langen Spannungsaufbau und kurzen -abbau konstituiert – der Wahrnehmung entgegen. Zudem verstärkt die me- trische Ungebundenheit den Eindruck, es werde hier kein individuell-charakteristisches Gebilde, sondern ein melodischer »Archetyp«26 dargeboten. Trotz dieser ästhetischen Prämissen findet Grisey in seinem letzten vollendeten Werk, den Quatre Chants pour franchir le seuil (1996–98) zu einer neuen Unbestimmtheit zwischen »Archetypik« und semantischem Assoziationsreichtum. Dies legt u. a. seine gewandelte Einstellung gegenüber der Semantik instrumentaler Klangfarben nahe. In der »recherche musicale« der siebziger Jahre war man der Überzeugung gewesen, dass die traditionelle Instrumentierung obsolet sei. Den Raum als Konstituens der Klangfarbe, wie er im Orchester Debussys angekündigt sei, könne man ohne Künstlich- keiten wie z. B. Echo-Hörner oder Trompeten hinter der Bühne27 verwirklichen, indem Spektren von Instrumentalklängen im Orchestersatz in imaginäre Instrumente ver- wandelt werden. Dieser den Begriff Instrumentierung ad absurdum führende Orchester- satz ist prinzipiell ahistorisch und folgt dem Anspruch einer wissenschaftlichen, nicht semantisch konnotierten Reinheit. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass in den Quatre Chants Erinnerungen an die traditionelle Semantik wachgerufen werden: So gemahnt z. B. die dunkle Instrumentierung des ersten Liedes an ein Requiem, und im letzten Lied stehen, wie Grisey in den Skizzen bestätigt, mächtige Klänge der Basstuba für Elefantenschreie.28 25 Gérard Grisey, Écrits (s. Anm. 3), S.  135. Den Begriffen »Kontur« und »Gestalt« kommt in der Musikpsychologie entscheidende Bedeutung zu. So legt etwa eine viel beachtete Theorie von W. Jay Dowling »nahe, daß die psychologische Wirklichkeit von Mel odien durch zwei Kom- ponenten begründet wird: zum ersten durch die Tonskala, also den Vorrat an kategorial zu- einander gehörenden Tonhöhen, zum zweiten aber auch durch die sog. Kontur einer Melodie. Unter Melodiekontur wird im allgemeinen das Auf und Ab der Tonbewegungen im zeitlichen Verlauf ohne Be rücksichtigung der konstituierenden Intervalle zwischen den einzelnen Tönen bezeichnet. Die Tonfolgen C-E-C und C-F-C besitzen somit eine identische Kon tur«. (Gunter Kreutz, Melodiewahrnehmung: Funktionen von Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeit, in: Musik- psychologie, hrsg. von Helga de la Motte-Haber und Günter Rötter, Laaber: Laaber 2005 [= Hand- buch der systematischen Musikwissenschaft, Bd. 3], S. 201). Vgl. auch W. Jay Dowling und Diane S. Fujitani, Con tour, interval and pitch recognition in memory for melodies, in: Journal of the Acoustic Society of America 49 (1971), S. 524–531. 26 In seinem letzten Text Vous avez dit spectral? hebt Grisey die Bedeutung des Begriffs »Archetyp« und die formalen Konsequenzen dieser Terminologie für seine Musik hervor: »Consé- quences formelles: […] Utilisation d’archétypes sonores neutres et souples facilitant la perception et la mémorisation des proces sus«. (Gérard Grisey, Vous avez dit spectral? [s. Anm. 9], S. 123). 27 Gérard Grisey, Écrits (s. Anm.  3), S.  154: »L’orchestration à deux dimensions est abolie et l’espace comme constituant du timbre annoncé par l’orchestre de Debussy est enfin poss ible sans effets théâtraux ni artifices d’écriture tels les trompettes en coulisse ou les cors en écho!« 28 Auf einem der in der Paul-Sacher-Stiftung Basel aufliegenden Skizzenblätter notiert Grisey zur Textstelle »Héca tombe«: »Épaisseur éléphantesque des 2 tubas«, vgl. Lukas Haselböck, Gérard Grisey (s. Anm. 5), S. 324. 110 Dieses Ineinander zwischen der Reinheit der recherche musicale und Erinnerungs- fragmenten an den semantischen Assoziationsreichtum der Tradition lässt sich auch anhand des Vokalparts und der instrumentalen Linien des ersten Liedes verfolgen. Einerseits legt Grisey unmissverständlich dar, dass er in den Quatre Chants keine Syn- these äußerer Handlungsschichten mit der inneren Klanglichkeit anstreben wollte.29 Die Figuren des Vokalparts folgen jener Gestaltungsweise, die ich anhand von Prologue beschrieben habe. Andererseits gibt es in diesem Lied Aspekte der Melodiegestaltung, die semantisch konnotiert sind: So steht die absteigende Chromatik der Instrumental- linien der traditionellen Auslegung gemäß für Trauer.30 Die Reinheit des Vokalparts und die semantische Aufladung der Instrumentalstimmen sorgen somit für ein Ineinander von Sinn und Sinnsubversion. 4. Kontexte Anhand der Aspekte Harmonik, Melodik und Sinn/Sinnsubversion ist demnach nach- zuvollziehen, dass die Musik Debussys und Griseys auf jeweils unterschiedliche Weise einem liminalen Spiel an der Schwelle der Wahrnehmung folgt. Es bleibt nun die Frage offen, in welche historischen Kontexte dieses Spiel einzuordnen ist. Dazu ein paar kurze Denkanstöße. Zur Zeit Debussys erlebten die Geistes- und Naturwissenschaften eine Krise. Angesichts der Einsicht in die unermessliche Komplexität der Realität drängten sich die Fragen auf: Ist das überlieferte Wissen obsolet? Können wir überhaupt wissen? Der daraus resultierende Versuch, sich der Realität empirisch und möglichst voraus- setzungslos anzunähern, hatte Auswirkungen auf die Kunst: Für die Maler des so- genannten Impressionismus wurde zentral, was der Künstler sieht und nicht was er weiß. Nähert man sich der Realität aber in dieser radikalen Konsequenz an, so stellt sie sich als beständiger Wechsel in einer Fülle von Erscheinungen dar. Als Claude Monet 1892–94 (also zur gleichen Zeit, als Debussy das Prélude à l’aprés- midi d’un faune komponierte) die Kathedrale von Rouen malte, erkannte er, dass sie sich von Stunde zu Stunde in anderem Licht und anderer Atmosphäre zeigte, abhängig von vielen Faktoren, nicht zuletzt auch der Verfassung des Wahrnehmenden selbst. Dies brachte eine radikal empirische Haltung mit sich, die auch für die Musik Debussys kennzeichnend ist: »Thanks to the incessant movement of particles of sound, whether large or small, something in this music is always happening; something lives and dies there – takes shape, renews itself continually and flashes in every direction without ever having any definite meaning.«31 Der Sinn, den diese Musik vermittelt, ist niemals fest- 29 Vgl. Gérard Grisey, Tagebucheintragung vom Juli 1996, in: ders., Écrits (s. Anm. 3), S. 326: »En composant la structure et la forme du mouvement ›De qui se doit …‹ des Chants de Mort et d’Éternité… [Dies ist der ursprünglich geplante Titel der Quatre Chants] Voir s’il est possible de dissocier la mélodie ou le geste vocal du texte qu’elle met en son.« Vgl. Lukas Haselböck, Gérard Grisey (s. Anm. 5), S. 265. 30 Lukas Haselböck, Gérard Grisey (s. Anm. 5), S. 269. Vgl. den Beginn von Syrinx (s. oben). 31 Stefan Jarociński, Debussy. Impressionism and Symbolism, London: Eulenburg 1976, S. 59 f. 111 geschrieben, sondern stets in Bewegung und konstituiert sich in jedem Augenblick des Wahrnehmungsprozesses immer wieder aufs Neue. Auch nach 1945 rückte die Wahrnehmung in den Mittelpunkt des Interesses, wobei man nun allerdings auch die Fähigkeit des Menschen, Bedeutung und Sinn des Realen wahrnehmend zu erschließen, immer mehr hinterfragte. Daraus resultierte eine Frage, die auch strukturalistische Denker beschäftigte: Können wir überhaupt wahrnehmen? Gemäß der Überzeugung vieler Strukturalisten sind Bedeutung und Sinn nicht Ergebnis individueller Sinnfindung, sondern ein nachweisbares Resultat von Prozessen, die unserem Denken zu Grunde liegen. Infolge dieser Reduktion des Sinns auf die Ergeb- nisse struktureller Prozesse konvergieren die Thesen vieler Strukturalisten auch in Bezug auf eine wichtige Kernfrage: die Konstitution des Subjekts, die sich von der Auffassung des Menschen als Sinnstifter zum Teil auf diejenige der Struktur als Sinnträger verlagert, die ihrerseits wiederum im Poststrukturalismus hinterfragt wurde. Vor diesem Hintergrund ist die Position Griseys zu interpretieren. Bei ihm wirkten zweifellos das wissenschaftliche Erbe und die durch Pierre Boulez mitgeprägten musika- lischen Implikationen des Strukturalismus nach. Er versuchte, anthropologische Grund- lagen des Hörens herauszuarbeiten und musikalisch umzusetzen. Dabei war ihm aber stets bewusst, dass sich die Hintergründigkeit der Realität letztlich nicht durchleuchten lasse. Alle Mittel, die zum Einsatz kamen, dienten letztlich dazu, die Ungreifbarkeit des Realen immer exakter zu dokumentieren. In Bezug auf die künstlerische Einstellung zur Realität besteht somit nur ein gradueller Unterschied zwischen der Zeit Debussys, Griseys und unserer heutigen Gegen- wart: Auch wir sehen uns mit einer Realität konfrontiert, die uns nicht selten fremd, ungreifbar und irreal anmutet. Daher rührt der Versuch von Künstlern, über ein sinn- haftes Vernehmen hinaus auch auf dasjenige hin zu lauschen, was uns passiv begegnet. Man möchte gleichsam die Welt selbst sprechen lassen und auf diese Weise das Sinnfeld des Menschen erweitern, wobei sich ein Ineinander zwischen sprechendem Menschen und sprechender Welt nicht anders abspielen kann als in Grenzbereichen: Wer spricht hier? Die Flöte des Pan oder der Wind, der durch das Schilf streicht? Die subjektive Innerlichkeit des Komponisten oder die sprachlose empirische Natur, das Fremde, Nicht-Greifbare, Nicht-Darstellbare? Diese Frage, die wir uns beim Hören von Syrinx stellen, ist entscheidend, denn im Bewegen durch solche liminalen Bereiche wird die Hörerin/der Hörer ermächtigt, neue Sinnregionen zu erschließen. 112 Skelett der Zeit. Körper des Klanges Die organische Metapher in Schriften und Werk von Gérard Grisey von Ewa Schreiber »Im 20. Jahrhundert haben zahlreiche Komponisten die Natur in ihrer Rohform als Klangmaterial genutzt«, schreibt Pierre Albert Castanet. »In den frühen 1970er Jahren jedoch übte ein anderer Aspekt der Natur – die organische, lebendige, akustische Natur des Klangs – einen starken Einfluss auf einige wissenschaftlich orientierte Musiker aus.«1 Unter ihnen war u. a. Gérard Grisey (1946–1998). Auch Tristan Murail, Michael Levinas, Roger Tessier und Hugues Dufourt gehörten zu dieser Gruppe französischer Komponisten, die sich den Namen L’Itinéraire (›die Route‹, ›der Weg‹) gab. Dufourt betont, dass es in der 1960er Jahren im Zusammenhang mit der Entwicklung der Informatik zu einer wichtigen Revolution in der Musik kam. Informationstheorie und Kybernetik hatten für die Komponisten eine ebenso große Bedeutung wie zuvor die Entwicklung der elektroakustischen Technik, wenngleich diese Frage auch in Dis- kussionen zur zeitgenössischen Musik gern vernachlässigt wird.2 Aber gerade die neuen Computertechnologien und akustische Untersuchungen waren es, die die genannten französischen Komponisten nachhaltig prägten. Der wichtigste Ansatz der Gruppe L’Itinéraire bestand darin, den einzelnen Klang als eine lebendige und komplexe Einheit zu betrachten. Psychoakustischen Untersuchungen (u. a. von Jean-Claude Risset und David Wessel)3 zufolge stellt der Klang eine heterogene, instabile Struktur dar, und seine Komponenten wie Klangfarbe, Tonhöhe und Tondauer, bis dahin als separate Größen betrachtet, bilden ein Netz vielfältiger Interaktionen. Die durch die Computertechnik ermöglichten präzisen Analysen führten nicht zu- letzt auch zu einem veränderten Maßstab der Klangwahrnehmung: »Die Unter- suchungsgegenstände der zeitgenössischen Musik sind keine makroskopischen Größen mehr«, so Dufourt. »Die akustischen Parameter, mit denen wir arbeiten, die Details 1 »In the 20th century numerous composers have made use of nature in its raw form, as musical material. However, in the early seventies a different aspect of nature – the organic, living, acous- tic nature of sound – strongly influenced a few research-minded musicians.« (Pierre Albert Cas- tanet, Gérard Grisey and the Foliation of Time, in: Contemporary Music Review 19/3 [2000], S. 29–40, Zitat S. 29). 2 Hugues Dufourt, Gérard Grisey. La fonction constituante du temps, in: Musicae Scientiae – Discussion Forum 3 (2004), S. 47–69, Zitat S. 55. 3 Vgl. Jean-Claude Risset und David L. Wessel, Exploration of Timbre by Analysis and Synthesis, in: The Psychology of Music, hrsg. von Diana Deutsch, San Diego: Academic Press 1982, S. 25–58, und Jean-Claude Risset, Timbre et synthèse des sons, in: Timbre, métaphore pour la composition, hrsg. von Jean-Baptiste Barrière, Paris: Christian Bourgois 1991, S. 239–260. 113 der von uns aufgezeichneten und kontrollierten Signale bewegen sich in Größen- ordnungen von Millisekunden.«4 Der Wandel im Klangverständnis führte zur Schaffung neuer Kategorien des musikalischen Denkens, sowohl in Bezug auf das Verständnis des musikalischen Materials als auch der Rolle des Komponisten, der dieses Material gestaltet.5 Ende der 1970er Jahre schlug Dufourt den Namen Spektralmusik vor, der sich fort- an zur Bezeichnung des musikalischen Schaffens im Umfeld der Gruppe L’Itinéraire einbürgerte. Das Spezifische der von Dufourt vorgestellten Spektralmusik betrifft nicht die Kompositionstechnik, sondern die ästhetische Grundhaltung, die sich von der Ästhetik der seriellen Musik unterscheidet.6 Die Spektralmusik bringt instabile, sich entwickelnde Klangformen hervor, die bis dahin in der europäischen Musik ver- nachlässigt worden waren. In der Spektralmusik erhalten all jene Merkmale einen be- sonderen Platz, die in der seriellen Musik abgelehnt worden waren. Kontinuierliche, fließende Klangprozesse treten an die Stelle einer diskontinuierlichen, kontrastierenden und dynamischen Struktur. Die Einheit des Werkes resultiert aus der Kohäsion seines Klanges und nicht aus einer verborgenen Logik und Kalkulation von Klangparametern. An die Stelle der bisherigen Abgeschlossenheit des Werkes tritt ein sich ausdehnender und innerlich differenzierter Klang. Die Spannungen werden letztlich nicht entladen, sondern unterliegen einer unablässigen Gradation.7 Die Kompositionen von Grisey gehören zu den hervorragendsten Errungenschaften des Spektralismus, und die Schriften des Komponisten bilden deren unentbehrlichen Kontext und eine wichtige Ergänzung. Grisey verknüpft in seinen Texten die zwei wesentlichsten Fragestellungen der zeitgenössischen Musik, denn das Nachdenken über den Klang und über seine innere Struktur wird darin stets zu einem Element des Nachdenkens über das Thema Zeit in der Musik. Und gerade all jene Klangmodelle, die zugleich Zeitmodelle – Spektrogramme – darstellen, besitzen im Schaffen Griseys einen besonderen Stellenwert. Grisey unterscheidet einerseits die beiden Modelltypen voneinander, findet jedoch andererseits in ihnen viele gemeinsame Elemente, vor allem jene, die mit der auditiven Wahrnehmung zu tun haben.8 Das Problem von Klang und 4 »Les objets de la musique moderne n’appartiennent plus à la physique des objets macros- copiques. Les paramètres acoustiques sur lesquels on opère, les détails du signal codé que l’on contrôle sont de l’ordre de la mili-seconde.« (Hugues Dufourt, Gérard Grisey [s. Anm. 2], S. 49). 5 Hugues Dufourt, Musique, pouvoir, écriture, Paris: Christian Bourgois 1991, S. 291. 6 Erwähnung verdient, dass die ersten Werke und die theoretischen Manifeste der Gruppe L’Itinéraire ausgerechnet in Darmstadt präsentiert wurden, somit in einem stark vom Serialismus geprägten Zentrum. Die Notizen Griseys enthalten eine Reihe von ironischen soziologischen Be- obachtungen hinsichtlich der Rolle Darmstadts als Institution, hinsichtlich der dort herrschenden Geschmacksrichtungen und Verhaltensmuster. Die Bedeutung, die Griseys bei den Ferienkursen geäußerte Gedanken für Darmstadt hatten, lässt sich am besten mit den Worten eines seiner Kommentare umreißen: »L’Itinéraire in Darmstadt, das ist wie Tim in Amerika!« (Gérard Grisey, Autoportrait avec l’Itinéraire, in: ders., Écrits ou l’invention de la musique spectrale, hrsg. von Guy Lelong, Paris: Éditions MF 2008, S. 191–202, Zitat S. 197). 7 Hugues Dufourt, Musique, pouvoir (s. Anm. 5), S. 293 f. 8 Vgl. Jean-Marc Poissenot, Éléments de la liaison son-temps chez Gérard Grisey, in: Le temps de l’écoute. Gérard Grisey ou la beauté des ombres sonores, hrsg. von Danielle Cohen-Levinas, Paris: 114 Zeit kann so auch als eine Verallgemeinerung des Problems vom Material der kom- positorischen Form aufgefasst werden. Durch Änderungen in der Klangwahrnehmung kommt es dazu, dass beide Begriffe einander durchdringen. Der Klang ist nicht der bloße Baustoff der Form, sondern auch deren Bild und Ursprung. Griseys Schriften sind eine anspruchsvolle Lektüre. Er thematisiert darin die Psycho- akustik, analysiert Klangspektren und typische Verfahren zur digitalen Aufbereitung akustischer Signale (u. a. Frequenzmodulation, Klangfilterung, Nachhall). Zugleich jedoch zeichnen sich seine Texte durch große Stringenz und Klarheit aus. Erreicht wird beides u. a. durch die konsequente Nutzung von Metaphern.9 Griseys Äußerungen sind reich an Metaphern für das Leben und die Körperlichkeit, in ihnen geht es um Dinge, die dem Zuhörer vertraut sind: um Zeiterfahrung, um Wahrnehmungsm öglichkeiten und um den Kontakt mit der Musik. Die organische Metapher Die organische Metapher gehört zu den wichtigsten und ältesten Metaphern in der europäischen Kultur. In ihren verschiedenen historischen Abwandlungen hat sie das Denken in Geschichte, Soziologie, Ästhetik, Philosophie und Kosmologie geformt. Aristoteles stellt in seiner Poetik fest, dass zu einem literarischen Werk Einleitung, Erzählung und Schluss gehören, die miteinander so verknüpft sein müssen, dass jeder Teil für das Funktionieren des Gesamtwerkes als unabdingbar erscheint. Diese Ideen wurden dann von Thomas von Aquin in die Ästhetik des Mittelalters überführt. Wie Umberto Eco betont, werden in der Metaphysik des Thomas von Aquin die Dinge im konkreten Akt ihrer Existenz wahrgenommen, und erst in diesem Kontext können Kriterien von Schönheit hervortreten. »Der menschliche Körper ist schön, weil er gemäß einer harmonischen Anordnung seiner Teile aufgebaut ist […]. Im menschlichen Organismus besteht eine komplexe Ordnung von Beziehungen zwischen den Kräften der Seele und denen des Körpers, zwischen den niedrigen und den höheren Vermögen, so daß jedes Merkmal unseres Organismus einen Grund und eine präzise Zweckhaftigkeit im Hinblick auf das Ganze hat.«10 Ruth Solie zufolge ist die Sprache der Musiktheorie vor allem von einer Spielart der organischen Metapher beeinflusst worden, wie sie sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert herausbildete.11 Zu ihren Schöpfern gehörten neben Samuel Taylor Coler- idge auch die deutschen Philosophen und Dichter Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Für die Philosophen Harmattan 2004, S. 137–158. 9 Vgl. Ewa Schreiber, Metaphor and the concept of sound in contemporary music, in: Metaphor and Communication, hrsg. von Elisabetta Gola und Francesca Ervas, Amsterdam: John Benjamins 2016, S. 265–284. 10 Umberto Eco, Kunst und Schönheit im Mittelalter, übersetzt von Günter Memmert, München: dtv 52000, S. 134. 11 Vgl. Ruth A. Solie, The Living Work. Organicism and Musical Analysis, in: 19th Century Music 4/2 (1980), S. 147–156, Zitat S. 147. 115 des deutschen Idealismus war das Organische kein Synonym für physische Merkmale. Es bedeutete ein Leben, das sich nicht auf biologische Funktionen beschränkt, sondern seine Grenzen unablässig im Streben nach der Sphäre des Geistes überschreitet.12 Verknüpft man ästhetische Kriterien mit dem Begriff des Organischen, bedeutet das vor allem eine Einheit, die sich auf die Integrität und die Unabdingbarkeit sämtlicher Elemente eines Werkes gründet. In diesem Sinne erfordert das Organische kein einheitliches Material, sondern resultiert aus der Kohäsion vielfältiger Elemente, aus der Spannung zwischen dem Ganzen und seinen Teilen.13 Eero Tarasti drückt das folgendermaßen aus: »Das grundlegende Problem der organischen Musik besteht nicht darin, wie man sie in kleinere Teile gliedern kann, sondern vielmehr darin, wie diese Bestandteile zusammenwirken.«14 Die organische Metapher verdeutlicht zudem eine für Lebensfunktionen typische Dynamik, sie akzentuiert die Physiologie auf Kosten der Anatomie, den Prozess auf Kosten der Struktur.15 Ein Bild dieser Dynamik in der Musik ist z. B. der Wechsel von Anspannung und Entspannung, der an biologische Rhythmen des Organismus denken lässt: an die Atmung, an die Fortbewegung usw.16 In den einem Musikwerk innewohnenden Prozessen ist jedoch deren Richtung, die Orientierung auf ein ganz bestimmtes Ziel am wichtigsten.17 Der Eindruck einer solchen Zielgerichtetheit entsteht beispielsweise, wenn wir erwarten, dass ein bestimmtes musikalisches Ganzes eine in sich abgeschlossene Vollendung findet.18 Mit Spitzer, der an kognitive Vor- stellungsschemata anknüpft, die als iterative, dynamische Muster einer vorbegrifflichen sinnlich-motorischen Erfahrung beschrieben werden, ist es das Schema WEG, das die organische Metapher am besten wiedergibt. Der WEG fungiert als Sinnbild vielstufiger Prozesse, die sich durch Zielgerichtetheit und Dynamik auszeichnen.19 Für Tarasti ist die organische Vorstellung von Musik eine von zwei miteinander im Widerstreit stehenden Verstehensweisen dieser Kunst. Demnach könne man Musik als System von arbiträr, nach den Regeln einer bestimmten Syntax angeordneten Zeichen verstehen oder aber als ein bestimmtes Muster, als ein ganzheitliches Gebilde.20 Ver- fechter der letztgenannten Interpretation waren u. a. August Halm, Adolf Bernhard Marx, Rudolph Réti, Heinrich Schenker, Ernst Kurth, Boris Assafjew. 12 Ebd., S. 150. 13 Ebd., S. 148. 14 »The basic problem of organic music is not how the music can be divided into smaller parts but rather how these parts cohere.« (Eero Tarasti, Signs of Music. A Guide to Musical Semiotics, Berlin – New York: Mouton de Gruyter 2002, S. 98). 15 Ruth A. Solie, The Living Work (s. Anm. 11), S. 150. 16 Eero Tarasti, Signs of Music (s. Anm. 14), S. 100. 17 Ebd., S. 95. 18 Ebd., S. 97. 19 Michael Spitzer, Metaphor and Musical Thought, Chicago: University of Chicago Press 2004, S. 58 f. 20 Eero Tarasti, Signs of Music (s. Anm. 14), S. 93 f. 116 Gérard Griseys Konzeption der musikalischen Zeit »Die wahre musikalische Zeit ist lediglich ein Ort des Austausches und des Zu- sammentreffens einer unendlichen Menge unterschiedlicher Zeiten«21 – schreibt Grisey am Schluss eines seiner wichtigsten Texte (Tempus ex machina, 1987). Aus Griseys Gedankengängen wird klar, dass die organische Metapher ein großes Potenzial besitzt. In Griseys Verständnis kann die musikalische Zeiterfahrung sich in verschiedenen Kon- texten vollziehen und verschiedene Formen annehmen. Der Körper stellt – analog zur musikalischen Zeit – einen komplexen und vielschichtigen Organismus dar. Man kann ihn aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlicher Genauigkeit betrachten, seine Funktionen auf verschiedenen Ebenen untersuchen. Einige dieser Bilder sind eher statischer, andere eher dynamischer Natur. Die Idee der Vielgestaltigkeit und des Austausches der Zeiten kommt besonders deutlich in dem wohlstrukturierten Bild der musikalischen Zeit zum Ausdruck, das sich aus drei Grundschichten konstruiert. Zum Skelett der Zeit gehören die vom Kom- ponisten zwecks einer Ordnung der Klänge vorgenommenen zeitlichen Gliederungen. Während unter dem Fleisch der Zeit die psychologischen und phänomenologischen Aspekte eines Musikwerkes verstanden werden, betrifft die Haut der Zeit die Sphäre der privaten Erfahrung auf Seiten des Zuhörers. Erörterungen zum Thema der musikalischen Zeit sind stets auf das engste mit der Art und Weise des Klangverständnisses verbunden, daher bildet auch der mit konkreten Klängen ausgefüllte Körper der Zeit das zentrale Element in Griseys Überlegungen. Ein als abstrakte Form verstandenes Skelett bleibt ein totes Gebilde, solange es darin keine Materie gibt. Aus Griseys Darstellung lassen sich herleiten: eine statische Anatomie der Zeit, eine dynamische Physiologie des Klanges sowie eine unvorhersehbare Wechsel- wirkung zwischen der Musik und dem Organismus des Zuhörers. Dem polnischen Sprachwissenschaftler und Übersetzer Tomasz P. Krzeszowski zu- folge kann durch Metaphern eine Stärkung der axiologischen Ladung eines Begriffes herbeigeführt oder aber die in einem Begriff schlummernde Aufgeladenheit aktiviert werden. Viele Metaphern denotieren bestimmte positive Werte oder evozieren positive Assoziationen.22 Die in den Schriften Griseys spürbare axiologische Botschaft kommt vor allem in der Verwendung antonymischer Begriffspaare zum Ausdruck. All diese Paare verdeutlichen den Wert des Organischen in der Konfrontation mit dem Nicht- organischen. Das Organische steht höher als das Mechanische, das Aktive steht über dem Passiven, die Bewegung über dem Stillstand, das Natürliche über dem Künst- 21 »Le veritable temps musical n’est que le point d’échange et de coincidence entre un nombre infini de temps différents« (Gérard Grisey, Tempus ex machina. Réflexions d’un compositeur sur le temps musical, in: ders., Écrits [s. Anm. 6], S. 57–88, Zitat S. 88; übersetzt von Gero Lietz. Die ursprüng- liche Fassung dieses Aufsatzes erschien in englischer Sprache: Tempus ex Machina. A Composer’s Reflection on Musical Time, in: Contemporary Music Review 2/1 [1987], S. 239–275). 22 Vgl. Tomasz Paweł Krzeszowski, Angels and Devils in Hell. Elements of Axiology in Semantics, Warszawa: Energeia 1997; ders., The Axiological Parameter in Preconceptual Image Schemata, in: Conceptualization and Mental Processing in Language, hrsg. von Richard A. Geiger und Brygida Rudzka-Ostyn, Berlin: Mouton de Gruyter 1993, S. 307–329. 117 lichen. Die antonymischen negativen Werte dienen der Charakterisierung der seriellen Ästhetik. Über das axiologische Element ist die organische Metapher nicht nur hilfreich bei der Vermittlung und Formulierung der ästhetischen Präferenzen des Komponisten, sondern auch bei der Begründung und Untermauerung dieser Präferenzen.23 Zeit und Raum »Um Griseys Musik zu verstehen, muss man bedenken, dass seinem gesamten Schaffen nicht der Begriff des Spektrums, sondern der der Dauer zugrunde liegt«, schreibt Dufourt.24 Im Weiteren legt er dar, dass die Kunsttheorie Griseys diesbezüglich etwas »zutiefst Bergson-haftes«25 beinhaltet. Bergson zufolge entdecken wir die Natur der Zeit erst dann, wenn wir sie erleben. »Sogar die tägliche Erfahrung im wachen Zustande müßte uns lehren, einen Unterschied zwischen der qualitativen Dauer, der nämlich, die das Bewußtsein unmittelbar erfaßt […], und der sozusagen materialisierten Zeit zu machen, der Zeit, die durch eine Entfaltung in den Raum zur Quantität geworden ist.«26 Die wahrgenommene und erlebte Zeit erscheint unteilbar und kontinuierlich. »Einzig daher also rührt die offensichtliche Diskontinuität unseres psychologischen Lebens«, so Bergson an anderer Stelle, »daß unsere Aufmerksamkeit sich ihm in einer Reihe diskon- tinuierlicher Akte zuwendet: wo nur sanfter Abhang ist, glauben wir, der gebrochenen Linie unserer aufmerkenden Akte folgend, Stufen einer Treppe zu gewahren.«27 Eben deshalb unterscheidet sich der Übergang von einem Zustand in einen anderen nicht so sehr vom Verbleiben in demselben Zustand, und die Diskontinuität wird möglicher- 23 Ausführlicher dazu in meinem Aufsatz The Value of a Living Sound. The Axiological Component of Gérard Grisey’s Organic Metaphor, in: Music: Function and Value. Proceedings from the 11th International Congress On Musical Signification. Kraków, Poland, October 2, 2010, hrsg. von Teresa Malecka und Małgorzata Pawłowska, Kraków: Akademia Muzyczna w Krakowie und Musica Iagellonica 2013, Bd. 1, S. 475–486. 24 »Pour comprendre la musique de Grisey, il faut se rappeler que ce n’est pas la notion de spectre mais la notion de durée qui est au principe de toute l’œuvre.« (Hugues Dufourt, Gérard Grisey [s. Anm. 2], S. 57). 25 Hier sei angemerkt, dass der Name Bergson in den Schriften Griseys kein einziges Mal genannt wird. Grisey hatte jedoch am Pariser Konservatorium – das wird von Lukas Haselböck betont – die Möglichkeit, Vorlesungen von Olivier Messiaen zu besuchen und sich so mit dem philosophischen Denken Bergsons bekannt zu machen, vgl. Lukas Haselböck, Gérard Grisey. Unhörbares hörbar machen, Freiburg – Berlin – Wien: Rombach 2009, S. 138. Zum Einfluss von Berg- sons Denken auf die ästhetische Grundhaltung Griseys äußert sich übrigens nicht nur Dufourt, sondern auch Haselböck selbst und Angelo Orcalli. 26 Henri Bergson, Zeit und Freiheit. Nachdruck der 1949 im Westkulturverlag Anton Hain (Meisenhain am Glan) erschienenen 2. Auflage der Übersetzung des Verlages Eugen Diederichs [Jena 1920], Hamburg: EVA 1994, S. 96. 27 Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, übersetzt von Gertrud Kantorowicz, Jena: Eugen Diederichs 1921, S. 9. 118 weise nur durch die Kontinuität des Hintergrundes offenbar.28 Im Gegensatz zur Dauer, die eine Qualität darstellt, stellt sich die Zeit als ein Maß dar, das die Abstände zwischen den einzelnen Momenten angibt. Nach Bergson ist die räumlich als Maß begriffene Zeit einerseits eine die soziale Verständigung ermöglichende Konstruktion, andererseits aber auch eine wichtige, der Metaphysik und der Wissenschaft der Neuzeit eigene Idee.29 Grisey tendiert ähnlich wie Bergson zu einer Akzentuierung der Zeiterfahrung und nicht so sehr der Zeitmessung. Er gesteht ganz offen, dass ihn nicht die chronome- trische, sondern die phänomenologische und die musikalische Zeit interessiert. Die räumliche Sichtweise der Zeit sieht er als abstrakte Kompositionsmethode an, die sich hinsichtlich der Rezeptionssituation als inadäquat erweist. »Einem Musikwerk gegen- über sind wir nämlich nicht, wie etwa einem Raum gegenüber, passiver Beobachter auf einem unbeweglichen Punkt. Der Standpunkt der Wahrnehmung ist im Gegenteil seinerseits ständig in Bewegung, da es sich ja um die Gegenwart handelt. Ich vermute im übrigen, daß wir die Zeit eines Musikwerkes von einer anderen Zeit aus erfahren, die der Rhythmus unseres Lebens ist.«30 Ein Inbegriff des räumlichen Zeitverständnisses ist für Grisey der Serialismus, sowohl in seiner dodekaphonischen Spielart als auch später im Zusammenhang mit der elek- tronischen Musik. Gemeinsames Merkmal verschiedener Komponisten dieser Art von Musik ist es, dass sie ihr Werk im mathematischen Geist verstehen, als Kombination bereits existierender Elemente.31 Dufourt betont, dass es sich bei Messungen, Eintei- lungen und Zahlen um typische Elemente der Raumorganisation handelt.32 In der Haltung Griseys spiegelt sich auch die Notwendigkeit, der musikalischen Zeit ihre Kontinuität zurückzugeben. Die Erfahrungen mit der Spektralmusik fasst der Komponist folgendermaßen zusammen: »Diese Musik ist seit ihren Anfängen gekenn- zeichnet durch eine hypnotische Verlangsamung der Zeit, durch eine wahre Besessenheit in Sachen Kontinuität, Schwellenüberschreitungen, fließende Übergänge und dyna- mische Formen.«33 Zu seinem eigenen Schaffen schreibt er: »Die verschiedenen Pro- zesse, die bei der Veränderung eines Klangs in einen anderen oder einer Klanggruppe in eine andere auftreten, bilden die eigentliche Basis meiner musikalischen Schreibweise, die Idee und den Keim jeder Komposition.«34 28 Vgl. ebd.: »Damit ist gesagt, daß zwischen Übergehen aus einem Zustand in den anderen und Verharren im selben Zustand, kein Wesensunterschied besteht.« 29 Vgl. Barbara Skarga, Czas i trwanie. Studia o Bergsonie, Warszawa: Państwowe Wydawnictwo Naukowe 1982, S. 181, 200. 30 Gérard Grisey, Zur Entstehung des Klanges, in: Ferienkurse ’78, hrsg. von Ernst Thomas, Mainz: Schott 1978 (= Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik 17), S. 73–79, Zitat S. 78. 31 Hugues Dufourt, Gérard Grisey (s. Anm. 2), S. 47. 32 Ebd., S. 53. 33 »Dès son origine, elle se caractérise par une hypnose de la lenteur et par une véritable ob- session de la continuité, du seuil, du transitoire et des formes dynamiques.« (Gérard Grisey, Vous avez dit spectral ?, in: ders., Écrits [s. Anm. 6], S. 121–124, Zitat S. 122. Die ursprüngliche Fassung des Textes erschien in englischer Sprache: Did You Say Spectral?, in: Contemporary Music Review 19/3 [2000], S. 1–3). 34 Gérard Grisey, Zur Entstehung des Klanges (s. Anm. 30), S. 73. 119 In der Philosophie Bergsons ist es die mechanistische Weltsicht, die der Konzeption der messbaren, physikalischen Zeit zur Seite gestellt wird. Die Vorstellung einer ver- schiedene Formen annehmenden und äußeren Einflüssen unterliegenden toten, passiven Materie stammt aus der antiken Philosophie. Im Zentrum der klassischen Metaphysik standen Ideen, d. h. das Unabänderbare und das Widerspruchsfreie. Das Primat der Idee vor der vergänglichen Sinneswirklichkeit entschied letztlich darüber, Veränderlichkeit und Bewegung in den Kategorien des Stillstands, der Stetigkeit und des Identischen zu interpretieren. Diese Denkweise sollte sich als sehr hartnäckig erweisen und erfasste u. a. auch die cartesische Naturphilosophie der Neuzeit. Das wichtigste wissenschaftliche Modell, das die Prämissen der metaphysischen Tradition respektierte, war die klassische Mechanik, in der Veränderlichkeit und Bewegung in den Kategorien des Identischen und des Widerspruchsfreien erklärt werden.35 Bergson indes merkt Folgendes an: »Mehr, so sagten wir, ist in einer Bewegung als in der Folge von Lagen, die man dem bewegten Körper zuschreibt, mehr in einem Werden als in den Stück für Stück durchmessenen Formen, mehr in der Entwicklung der Form als das Nacheinander der verwirklichten Formen.«36 Das »eigene Leben der Dinge« stellen dem französischen Philosophen zu- folge nicht die von ihrer Veränderlichkeit abstrahierten Formen dar, »weil der Faden, der sie der Zeit verknüpfte, durchschnitten ist«.37 Die faktische und grundlegendste Wirk- lichkeit besteht im Dauern und im Werden. Grisey repräsentiert Dufourt zufolge eine ähnliche Haltung, denn er schätzt das Werden höher als die Formen. »Was letztlich zählt, ist die innere Bewegung des Werkes. Formen sind lediglich Orte des Übergangs, wesentlich ist die Bewegung, die sich in ihnen vollzieht.«38 Grisey selbst, auf der Suche nach der treffendsten Bezeichnung für sein Schaffen, spricht von einer »Musik des Übergangs« (musique transitoire). Der Übergangscharakter der Musik resultiert aus einem dynamischen Verständnis des Klanges. Die Gestaltung der Form in Griseys Werken erfolgt durch Sublimierung des Klangmaterials. Auf diese Weise strebt der Komponist danach, ein »reines klangliches Werden« [pur devenir sonore] zu demonstrieren.39 Angelo Orcalli stellt fest, dass man die Grisey’sche Konzeption des Klangmaterials im Rahmen des Konflikts interpretieren kann, wie er zwischen dem mechanistischen und dem organischen Verständnis von Naturerscheinungen besteht. Diese zwei mit- einander konkurrierenden Sichtweisen der neuzeitlichen Wissenschaft inspirieren seit etlichen Jahrhunderten auch das musikalische Denken.40 Im Rahmen antimecha- 35 Barbara Skarga, Czas i trwanie (s. Anm. 29), S. 183. 36 Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung (s. Anm. 27), S. 319. 37 Ebd., S. 320. 38 »Grisey valorise le devenir, non les formes. Ce qui compte, c’est le mouvement intérieur de l’œuvre. Les formes ne sont que des lieux de passage et l’important est le mouvement qui les tra- verse« (Hugues Dufourt, Gérard Grisey [s. Anm. 2], S. 48). 39 Gérard Grisey, La musique: le devenir des sons, in: ders., Écrits (s. Anm. 6), S. 45–56, Zitat S. 45. 40 Vgl. Jamie C. Kassler, Music, Science, Philosophy. Models in the Universe of Thought, Aldershot: Ashgate 2001, S.  223. Der Autor beschreibt das mechanistische Musikverständnis am Beispiel von Ansichten des Musiktheoretikers William Jones of Nayland aus dem 18. Jahrhundert und konfrontiert diese mit der organischen Musiksicht von Heinrich Schenker. 120 nistischer Wissenschaftskonzeptionen wird die Welt nicht als Maschine begriffen, sondern als eine Art unsichtbarer Organismus, und an die Stelle der Vorstellung von passiven Atomen und Teilchen tritt die Vorstellung von einem Kraftfeld.41 »Es ist mir nicht länger möglich, die Töne als festgesetzte und untereinander permutierbare Objekte aufzufassen«, so Grisey. An anderer Stelle erklärt er: »Sie leben wie Zellen, haben eine Geburt und einen Tod und tendieren vor allem zu einer ständigen Transformation ihrer Energie.«42 Fleisch und Skelett Griseys Äußerungen kann man entnehmen, dass der Ausgangspunkt für seine kom- positorische Arbeit nicht das Klangmaterial, sondern der Prozess ist. Ein Klangpro- zess wird mit der Metapher des Lebens beschrieben, denn mit dem zeitlichen Verlauf eines Klanges lassen sich Geburt, allmähliches Wachstum und Tod assoziieren. Jeder Organismus, und ein solcher ist der Klang, erfüllt grundlegende Lebensfunktionen. Die natürliche Atmosphäre des Klanges ist und bleibt die Zeit, ohne die das Atmen nicht möglich wäre. »Die Annäherung an Klänge jenseits der Zeit, jenseits der Luft, dank der sie atmen, wäre wie das Sezieren einer Leiche«,43 so Grisey, und er erläutert diese Frage an einer anderen Stelle weiter: »Gestützt auf die Ökologie der Klänge, betrachtet der Spektralismus die Zeit nicht als ein äußeres, dem ›überzeitlichen‹ Klangmaterial überge- stülptes Element, sondern als einen der Grundbestandteile des Klanges selbst.«44 Gliederungen und Zeitmaße haben immer wieder im Mittelpunkt des Interesses moderner Komponisten gestanden. Genannt seien hier u. a. Olivier Messiaen, Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis. Das Experimentieren auf diesem Gebiet war besonders vielversprechend für Komponisten, deren Interesse sich auf das chronometrische, quantitative Verständnis von musikalischer Zeit konzentrierte. In der organischen, von Grisey repräsentierten Sichtweise der musikalischen Zeit werden die Unterglie- derungen, die von den Komponisten zum Ordnen der Klänge aufgestellt worden sind, zu Teilen des Skeletts der Zeit.45 Die Metapher des Skeletts und die damit verknüpften Fragestellungen lassen uns an unbewegliche, anatomische Modelle des menschlichen Körpers denken. Und ein Skelett, dem das dazugehörige Fleisch genommen wurde, stellt zugleich ein unvollständiges Bild des menschlichen Organismus dar. Unschwer kann man erkennen, dass Grisey durch die Verwendung dieser Skelett-Metapher seine Kritik an einem quantitativen Verständnis der musikalischen Zeit untermauert. Grisey stellt 41 Angelo Orcalli, »Durée Réelle« and Expansion of Tempo in Music. The Experience of Gérard Grisey, in: Sonus: Contemporary Music Materials – Special Issue (1993), S. 48–67, Zitat S. 49. 42 Gérard Grisey, Zur Entstehung des Klanges (s. Anm. 30), S. 75. 43 »Traiter les sons hors du temps, hors de l’air qu’ils respirent reviendrait à disséquer des ca- davres.« (Gérard Grisey, La musique [s. Anm. 39], S. 45). 44 »Forte d’une écologie des sons, elle intègre le temps non plus comme une donnée extérieure appliquée à un matériau sonore considéré hors-temps, mais comme une donnée constituante du son lui-même.« (Gérard Grisey, Vous avez dit spectral ? [s. Anm. 33], S. 122). 45 Gérard Grisey, Tempus ex machina (s. Anm. 21), S. 57. 121 einerseits den Stillstand, die Bewegungslosigkeit heraus, als Bild für einen Mangel an Leben und Aktivität, andererseits die Unvollständigkeit, d. h. den Mangel an organischer Einheit. Die Sinnlosigkeit des spekulativen, mathematischen Charakters der Unterglie- derungen der musikalischen Zeit begann laut Grisey in dem Moment, in dem die Künstler »die Landkarte mit dem Territorium verwechselten«.46 Die Kontrastierung von Landkarte und Territorium betrifft die Beziehung zwischen einem Gegenstand und seiner Repräsentation.47 In diesem Zusammenhang erhält die Skelett-Metapher noch eine weitere Funktion. Durch eine übermäßige Konzentration auf das Skelett der Zeit läuft man Gefahr, den lebendigen Körper mit seinem anatomischen Bild zu verwechseln – und die willkürliche Untergliederung der Zeit mit ihrer wahren Erfahrung. Das, was eine Komposition ausfüllt und sie materialisiert, sind die Klänge. In dem von Grisey aufgezeigten Bild des musikalischen Organismus fügen sie sich zum Fleisch der Zeit zusammen und spielen so eine zentrale Rolle im Denken des Komponisten. Das Fleisch der Zeit, d. h. die schwer fassbaren qualitativen Aspekte einer Komposition, lässt sich vollständig nur durch Rückgriffe auf die Phänomenologie oder die Psychologie beschreiben.48 Die mit dem Fleisch der Zeit verknüpften Metaphern sind sehr zahlreich, und deren Charakteristik ist äußerst detailliert. Grisey beschreibt den Klang in Kategorien von Lebensfunktionen und physiologischen Prozessen. Damit will er sagen, dass das eigentliche Leben sich erst dort abspielt, wo »die Klänge, wie lebendige Zellen, mit ihrer Dichte und Komplexität das Skelett der Zeit ausfüllen und umhüllen«.49 Die Kon- zentration auf den einzelnen Klang hat auch eine Änderung der Wahrnehmungsskala zur Folge, wie bereits von Dufourt festgestellt. Grisey macht den Schritt weg von der makrophonischen Ebene des zeitlichen Aufbaus eines Werkes hin zur mikrophonischen Dimension des konkreten Klanges. Aus dieser neuen Perspektive heraus wird eine kleine Zelle zu einem großen Organismus und offenbart alle ihre Details, wodurch sich neue Klangdimensionen wie die Tiefe oder der Grad der Nähe herauskristallisieren.50 Das Instrument des veränderten Maßstabs, erleichtert durch neue Technologien, muss man sich wie eine Lupe oder ein Mikroskop vorstellen. Grisey selbst schreibt darüber wie folgt: »Alles spielt sich so ab, als ob der ›Zoomeffekt‹, der uns die innere Struktur der Klänge nahebringt, nur auf Grund eines Umkehreffekts funktioniert, der die Zeit betrifft: eine Art Zeitlupe. Je mehr wir unsere Hörschärfe erweitern, um die mikropho- nische Welt zu erfahren, desto mehr schränken wir unser Zeitgefühl ein, so daß wir 46 Ebd., S. 60. 47 Autor dieser Unterscheidung ist der polnisch-amerikanische Ingenieur, Philosoph und Logiker Alfred Korzybski. Korzybski wendet diese Unterscheidung in erster Linie auf die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit an, vgl. Alfred Korzybski, Science and Sanity. An Introduction to Non-Aristotelian Systems and General Semantics, Englewood (NJ): The International Non-Aristotelian Library Publishing 1996 (EA 1933), S. 59. 48 Gérard Grisey, Tempus ex machina (s. Anm. 21), S. 75. 49 »[…] les sons, comme des cellules vivantes, viendront charger et envelopper le squelette tem- porel de leur densité et de leur complexité« (ebd., übersetzt von Gero Lietz). 50 Ebd., S. 79. 122 relativ große Zeitwerte brauchen.«51 Und eben in solchen Fällen treten das Klangmodell und das Zeitmodell in eine Wechselwirkung miteinander. Die Qualität des Klanges und das Gefühl der musikalischen Zeit werden zum Derivat der Wahrnehmung. »In meiner Musik kann der Klang niemals für sich selbst betrachtet werden«, so Grisey, »sondern er ist immer durch den Filter seiner Geschichte gegangen.«52 Castanet hingegen merkt an, dass »die Werke Griseys aus den Jahren 1970–1980 sowohl auto- generierende Phänomene als auch autodestruktive Elemente enthalten«.53 Hier denkt der Autor an musikalische Prozesse, die zu einer allmählichen Bereicherung oder Ver- zerrung der ursprünglichen Klangstruktur führen. Im Lichte der organischen Metapher lassen sich Prozesse des Erschaffens und des Zerstörens, des Übergangs vom Chaos zur Ordnung und umgekehrt als Ausdruck der Physiologie des Klanges interpretieren, als Ausdruck seiner Geburt aus dem vorausgehenden Klang, seiner nachfolgenden Alterung und seines Todes. Grisey selbst betont die Gerichtetheit seiner Musik: »Meine Musik gehört zunächst einmal generell zum Typus der zeitlichen Gerichtetheit: der unumkehr- baren Zeit der Biologie, der Geschichte und des Dramas.«54 Der Komponist oszilliert beim Gestalten musikalischer Prozesse zwischen extremen Klangqualitäten. Der fließende Charakter der Wandlungsprozesse hat einen engen Zu- sammenhang mit der Idee der Schwellenmusik, in der geringfügige Modifikationen von Parametern dazu führen, dass der Zuhörer die Änderungen als kontinuierlich wahr- nimmt. Castanet hat den Versuch unternommen, die für das Werk Griseys typischen Dichotomien einmal zusammenzustellen. Zu diesen zählt er u. a. die Begriffspaare Homogenität vs. Heterogenität des Klangmaterials, konsonierende vs. dissonierende Intervalle, klare vs. »verschmutzte« Klänge, Klangmodell Spektrum vs. Cluster.55 Sehr oft bedient sich Grisey der Methode der allmählichen Verwischung der harmonischen Struktur eines Spektrums, was rauschende Klangphänomene zur Folge hat. Zu be- obachten ist dies u. a. zu Beginn von Partiels (1975), des dritten Teils des Zyklus Les espaces acoustiques. Die zeitliche Entsprechung des Harmonischen ist das Periodische. Baillet zu- folge werden beide Kategorien im Schaffen Griseys mit Stabilität und Beruhigung in Verbindung gebracht. In Griseys Werken geht der Prozess des Übergangs vom Harmo- nischen zum Disharmonischen sehr oft Hand in Hand mit dem Prozess des Strebens vom Periodischen zum Aperiodischen.56 Das Bemühen, regelmäßige Erholungsphasen einzuschalten, kann als Geste an den Zuhörer verstanden werden: »Das Wiegenlied«, so Baillet, »bildet bis hin zu den letzten Werken eine bevorzugte Stilfigur.«57 Denn es ist der wiegenliedartige, periodische Aufbau eines Werkes, der die Wahrnehmung der 51 Gérard Grisey, Zur Entstehung des Klanges (s. Anm. 30), S. 77. 52 Ebd., S. 73. 53 Pierre Albert Castanet, Gérard Grisey (s. Anm. 1), S. 31. 54 »La musique que je compose s’inscrit, jusqu’à présent, dans un type de temps essentielle- ment directionnel: le temps irréversible de la biologie, de l’histoire et du drame.« (Gérard Grisey, La musique [s. Anm. 39], S. 52). 55 Vgl. Pierre Albert Castanet, Gérard Grisey (s. Anm. 1), S. 35. 56 Jérôme Baillet, Gérard Grisey. Fondements d’une écriture, Paris: Harmattan 2000, S. 11. 57 »La berceuse sera même une figure de style privilégiée jusque dans les œuvres ultimes.« (ebd., S. 12). 123 musikalischen Form erleichtert.58 Zum einen stellt das Wiegenlied das einfachste, am leichtesten voraussehbare Zeitphänomen dar, zum anderen steht es der menschlichen Zeiterfahrung sehr nahe. Wiederholbare Rhythmen des menschlichen Organismus sind jedoch nie im engeren Sinne periodisch. Griseys Interesse gilt so auch in erster Linie dem natürlichen, organischen Aspekt der Periodizität. Er führt den Begriff der ›weichen Periodizität‹ (périodicité floue) ein und beschreibt mit seiner Hilfe Strukturen, die sich durch geringfügige Abweichungen von der strikten Periodizität unterscheiden und dabei an die Rhythmen des Herzschlags, des Atmens oder des Schreitens denken lassen.59 Die weiche Periodizität ist eine Zwischenform zwischen dem Fehlen von Periodizität und ihrer mechanischen Version. Eingesetzt hat Grisey dieses Modell u. a. in Périodes (1974). Teil der Partitur ist ein aus- führlicher Kommentar – zugleich das erste Manifest der ästhetischen Grundpositionen des Komponisten. Das Werk setzt sich aus vier dreiphasigen Zyklen zusammen. In jedem von ihnen empfindet Grisey den Prozess des Atmens nach: Einatmen, Ausatmen und die Erholungsphase am Ende. Die Erholungsphase hat einen stabilen Charakter, sowohl im Bereich der Harmonien (die Intervalle setzen sich zu einer Reihe von Obertönen zu- sammen) als auch des Rhythmus (Periodizität). In der Phase des Einatmens ist eine all- mähliche Abkehr von der harmonischen Struktur des Spektrums zu beobachten – hin zu zunehmender Verzerrung, Komplexität und Spannung. In der Phase des Ausatmens vermittelt die Rückkehr zur ursprünglichen harmonisch-rhythmischen Einfachheit den Eindruck von Entspannung. Licht und Schatten Im System der von Grisey verwendeten Metaphern tauchen auch Bezeichnungen auf, die den Rahmen der organischen Metapher sprengen, obwohl sie eine originelle Ergän- zung dieser Metapher darstellen könnten. Grisey versucht die charakteristische, un- verwechselbare Aura eines jeden Klanges mit Hilfe von Ausdrücken zu erfassen, die mit Licht und Schatten im Zusammenhang stehen: »Jeder Klang, jedes Klanggefüge besitzt einen ihm eigenen Grad an Helligkeit oder Dunkelheit.«60 Als Ergänzung der individuellen Natur von Klängen betrachtet Grisey den Schatten. Er entsteht infolge von Kombinationstönen, die sich – anatomisch im Ohr bedingt – durch die Verzerrung von Schallwellen während des gleichzeitigen Erklingens unterschiedlicher Töne heraus- bilden: »Jedes Intervall und jeder Klangkomplex ist von einer Aura von Differenztönen und Summationstönen umgeben […]; Klänge haben einen Schatten.«61 »Bestimmte Intervalle haben keinen Schatten, da die Kombinationstöne in diesen Fällen lediglich das Licht ihrer 58 Vgl. Gérard Grisey, Tempus ex machina (s. Anm. 21), S. 64. 59 Ebd. 60 »Chaque son et chaque ensemble de sons possède un degré d�ombre et de luminosité qui lui est propre« (Gérard Grisey, La musique [s. Anm. 39], S. 51). 61 »[…] autour de chaque intervalle et de chaque complexe de sons, se trouve une aura de sons differentials et additionnels […]; les sons ont une ombre« (Gérard Grisey, Structuration des timbres dans la musique instrumentale, in: ders., Écrits [s. Anm. 6], S. 89–120, Zitat S. 103). 124 Obertöne unterstreichen. Ganz anders verhält es sich mit anderen Intervallen, die ein ungemein komplexes Netz von Kombinationstönen generieren, deren Frequenzen sehr weit von den Frequenzbereichen entfernt sind, die den das Intervall konstituierenden und den dazugehörigen Obertönen eigen sind.«62 Die angeführten Äußerungen Griseys lassen sich auf zweierlei Weise interpretieren. Sie betreffen zunächst einmal faktische Klangeigenschaften, denn Bezeichnungen wie Helligkeit und Dunkelheit finden in der psychoakustischen Forschung Verwendung, wo sie zur Beschreibung der Klangfarbe dienen.63 Wenn Grisey jedoch vom »Schatten« und vom »Licht der Obertöne« schreibt, regt er damit die Phantasie des Lesers an und gibt der Sprache der Technik ihr metaphorisches Potenzial zurück. Die Licht-Schatten-Metapher wird, obgleich sie in Griseys Schriften keine her- vorstechende Rolle spielt, zu einer wichtigen Inspiration in seinem Schaffen. Erst die Konfrontation mit Griseys kompositorischen Werken erlaubt es uns vollständig zu ver- stehen, dass diese beiden Begriffe auf das engste mit dem Nachdenken über die Zeit ver- bunden sind. Helligkeit und Schatten stellen nicht nur visuelle Qualitäten dar, sie sind auch Zeugnis von Wandlungsprozessen in der Natur: der Aufeinanderfolge von Tag und Nacht, von Leben und Tod. In diesem Zusammenhang wird die Aufeinanderfolge von Licht und Dunkelheit zu einem Ausdruck von Wiederholbarkeit, Periodizität. Auf die Nacht folgt ein weiterer Tag, und der Tod wird – im religiösen und rituellen Verständnis – zum Anfang neuen Lebens. Am konsequentesten findet die Idee des Schattens ihren Niederschlag in dem Werk Jour, Contre-jour (1979) für elektronische Orgel, 13 Musiker und Vierspur-Tonband.64 Grisey selbst bezeichnet diese Komposition als »sekretes Echo einer unvergesslichen Lektüre« und denkt dabei an das Ägyptische Totenbuch. Das Werk verbildlicht die ganz- tägige Wanderung der Sonne am Himmel. Im alten Ägypten wurde die Sonne vom Sonnengott Re verkörpert, der am Tage in seiner Sonnenbarke über den Himmel zog und in der Nacht das Totenreich besuchte. Der Aufbau eines kontinuierlichen musikalischen Prozesses erfolgt hier bei Grisey mittels einer Technik, die die instrumentale Entsprechung der Funktion eines Ringmodulators darstellt65 und darauf beruht, dass den Ausgangsintervallen ständig neue Kombinationstöne beigegeben werden. Die Komposition besteht aus zwei sym- 62 »Certains intervalles sont sans ombres parce que les sons résultants ne font que renforcer la lumière de leurs harmoniques. D’autres au contraire produisent un réseau infiniment complexe de sons résultants dont les fréquences sont fort éloignées de celles contenues dans les sons généra- teurs et leurs harmoniques.« (ebd.) 63 Methoden zur Beurteilung der Klangfarbe sind u. a. das semantische Differential und die mehrdimensionale Skalierung von Eindrücken, vgl. Edward Ozimek, Dźwięk i jego percepcja. Aspekty fizyczne i psychoakustyczne, Warszawa – Poznań: Wydawnictwo Naukowe PWN 2002, S. 268–272. 64 Im Grisey-Werkverzeichnis findet sich auch noch eine andere, sehr ähnliche Komposition, betitelt Sortie vers la lumière du jour (1978) für elektronische Orgel und 14 Musiker. Jour, Contre-jour stellt die endgültige Fassung dieser Komposition dar. 65 Vgl. François Rose, Introduction to the Pitch Organization of French Spectral Music, in: Perspectives of New Music, 34 (1996), S. 6–39, hier S. 20. 125 metrischen Phasen.66 In der ersten Phase erleben wir die allmähliche Aufschichtung von Akkorden durch die Hinzufügung von Kombinationstönen zu den Ausgangsklängen. Je größer die Anzahl der Akkordbestandteile wird, desto größer wird auch die Anzahl der Kombinationstöne, und die weitere Akkordentwicklung gestaltet sich in Form einer fallenden melodischen Linie. Dank der Generierung von Kombinationstönen und gering- fügigen Verschiebungen der einzelnen Klänge befindet sich im Zentrum des Werkes das reine harmonische Spektrum des Tones g. In der zweiten Phase des Werkes vollzieht sich ein symmetrischer Prozess. Die dem harmonischen Spektrum vorausgehenden Akkorde erklingen jetzt in umgekehrter Reihenfolge und gehen in immer tiefere Register über. Auf diese Weise wandern die Klänge – fließend und sehr langsam, fast unbemerkt – vom grellen Licht hin zur völligen Dunkelheit, von den höchsten zu den tiefsten Registern. Im Zuge der durch ihre Struktur bedingten Annäherung oder Entfernung der Akkorde vom Modell des harmonischen Spektrums kommt es außerdem zu rhythmischen und dynamischen Wandlungen. So oszilliert der Rhythmus zwischen Aperiodizität am An- fang und am Ende des Werkes und Periodizität in seinem Zentrum, und die Dynamik reicht von ppp bis fff. Obgleich sich die Gesamtkonzeption des Werkes auf eine feinsinnige Metapher stützt, kommt gerade in Jour, Contre-jour der Naturalismus Griseys sehr wörtlich zum Ausdruck. So sind im Tonbandpart, durch den zusätzliche Rausch- und Klangeffekte ermöglicht werden, der menschliche Atem – mal ruhig, mal beschleunigt – sowie das Schlagen eines Herzes zu hören. Eine weitere Anknüpfung an das Ägyptische Totenbuch ist die Komposition Anubis, Nout (1983) für Bassklarinette.67 Anubis ist ein ägyptischer Gott mit dem Kopf eines Schakals, der – in schwarzen Farben dargestellt – in Verbindung mit Mumifizierungs- riten und dem Leben im Jenseits gebracht wird. Nut (franz. Nout) ist die Himmelsgöttin, betrachtet als die Mutter der Gestirne, die jeden Morgen neu das Licht gebiert. Das Werk besteht aus zwei Teilen. Der erste stellt das unterirdische Totenreich dar, der zweite Teil zeigt das Reich des Himmels und der Gestirne. Da Anubis, Nout ein Solo- werk ist, werden hier die »Schatten der Klänge« mit anderen Mitteln ausgedrückt.68 Anubis besteht aus vier Abschnitten, in denen abwechselnd Arpeggien und Repetitionen erklingen. Das Material der fallenden und steigenden Arpeggien ist das invertiert ge- zeigte harmonische Spektrum. Dank der Umkehrung der Intervallanordnung im tiefen Register, was im Falle der Bassklarinette ein sehr reiches klangliches Timbre zur Folge hat, lässt sich eine große chromatische Verdichtung im Obertonbereich beobachten. In Anubis wird die Struktur des Spektrums zudem durch Intervallwechsel verzögert, die im verlangsamten und beschleunigten Tempo präsentiert werden. In den Abschnitten 66 Vgl. die detaillierte Analyse des Werkes bei Jérôme Baillet, Gérard Grisey (s. Anm.  56), S. 157–166. 67 Es existiert auch eine andere Fassung dieses Werks aus dem Jahr 1990, und zwar für Bass- oder Bariton-Saxophon. Die ursprüngliche Fassung für Klarinette besitzt jedoch die interes- santesten Klangeigenschaften, so Thierry Alla, Ombre et lumière dans Anubis (et) Nout, in: Iannis Xenakis, Gérard Grisey. La métaphore lumineuse, hrsg. von Makis Solomos, Paris: Harmattan 2003, S. 245–259, dort S. 248. 68 Ebd., S. 250–256. 126 mit wiederholten Klängen entscheiden über die Klangfarbe die reichen, differenzierten Artikulationsmöglichkeiten. In Nout lassen sich durch Multiphonics auf dem Instrument diverse Obertöne produzieren. Kunst und Natur Forscher, die sich mit dem Schaffen Griseys beschäftigen, haben in seinen Kom- positionen immer wieder aus der Natur stammende Modelle beobachtet – nicht nur organische, sondern auch physische und astronomische. Der »Naturalismus« in der Musik Griseys erscheint jedoch recht problematisch, denn die naturinspirierten Modelle haben in seinen Kompositionen einen sehr vagen Charakter, mal werden sie bereichert, umgestaltet, zuweilen verzerrt. »Grisey versteht eine Komposition als Übernatur«,69 so Dufourt. Baillet zufolge haben die von Grisey angewendeten Modelle den Status von Metaphern. Sehr treffend hat diesbezüglich auch Dufourt die Position Griseys charakterisiert, indem er das herausstellte, was eine Metapher am besten beschreibt, d. h. das Zusammenspiel von Ähnlichem und Unterschiedlichem: »Die Frage, warum Grisey bestätigt, dass die Musik eine differenzierende Kunst ist. Wenn das Komponieren eine rationale Rekonstruktion akustischer, natürlicher oder künstlicher Modelle ist, so wird sie zu ebendieser gerade durch das Abrücken vom Modell, durch die Distanz ihm gegenüber.«70 Und Grisey erklärt, dass das natürliche Klangmodell für ihn kein Gegen- stand zur Nachahmung oder Vervollkommnung ist, sondern der Ausgangspunkt für das Wirken der Phantasie.71 Das zentrale und wichtigste aus der Natur entlehnte Modell bleibt der Klang samt seiner inneren Struktur. Diese innere Struktur wird von Grisey sehr oft unter Zuhilfe- nahme der sog. instrumentalen additiven Synthese gezeigt. Pierre Boulez unterstreicht in seinen Ausführungen zu kompositorischen Möglich- keiten im Bereich der Klangfarbe, dass Artikulation und Fusion (Verschmelzung) zwei diametrale Möglichkeiten zur Klangfarbengestaltung in der Instrumentalmusik dar- stellen. Während die Artikulation am ehesten über eine kleine Anzahl an Instrumenten erreicht werden könne, erfordere die Fusion ein großes Orchester. Ein Kammermusik- ensemble eignet sich zur Analyse und ausgeklügelten Gestaltung des Klangmaterials, mit einem Orchester hingegen könne man es vervielfältigen, akkumulieren und syn- thetisieren. Ein Komponist assoziiere Artikulation und Fusion mit spezifischen Mustern der Wirklichkeitswahrnehmung. Somit eignet sich ein Orchester in besonderer Weise zur Schaffung von Illusionen und zur Anregung der Phantasie, ein Kamermusik- 69 »Grisey conçoit l’écriture musicale comme une surnature« (Hugues Dufourt, Gérard Grisey [s. Anm. 2], S. 58). 70 »Voilà pourquoi Grisey affi rme que la musique est un art différentiel. Si l’écriture est une re- construction rationnelle des modèles acoustiques naturels ou artificiels, elle ne s’institue préci- sément comme telle que par une rupture avec le modèle, dans la distance qu’elle prend avec lui.« (ebd.) 71 Vgl. Gérard Grisey, La musique (s. Anm. 39), S. 53. 127 ensemble hingegen stärkt die Verbindung mit der konkreten, genauestens analysierten Wirklichkeit.72 Die instrumentale additive Synthese ist ein ideales Beispiel für eine durch ein größeres Orchesterensemble geschaffene Illusion, Dufourt nennt sie gar eine schier »unmögliche Synthese«.73 Muster für die Instrumentalsynthese ist die digitale additive Synthese, bei der der Klang durch Hinzufügen sinusoidaler Signale zusammengestellt wird. Das Orchester imitiert diese Prozedur dadurch, dass den einzelnen Instrumenten bestimmte Obertöne eines konkreten Klangspektrums zugeordnet werden. Dabei berücksichtigt das Orchester nicht nur die Frequenz der Obertöne, sondern auch ihren zeitlichen Ver- lauf und die dynamische Ebene.74 Auch Grisey selbst war sich der Deformation der Wirklichkeit, die sich auf diese Weise vollzieht, bewusst: »Die musikalische Form lässt – im menschlichen Maßstab – eine Projektion des natürlichen mikrophonischen Raumes auf einem imaginären und künst- lichen Bildschirm erscheinen; dieser Bildschirm ist ein Zerrspiegel, der zugleich kon- zentriert, vervielfacht, selektiert, verformt.«75 Grisey ist sich auch im Klaren darüber, dass die über die Synthese erhaltene Struktur Hybridcharakter besitzt und unterstreicht, dass eine Rekonstruktion des natürlichen Klangaufbaus ohne Unterstützung durch moderne Technologien nicht möglich wäre. »Wir haben ein hybrides Wesen für unsere Wahrnehmung geschaffen, einen Klang, der, obwohl er keine Farbe mehr ist, streng genommen auch noch kein Akkord ist, sondern eine Art Mutant der heutigen Musik, entstanden durch Kreuzung neuer Instrumentaltechniken und computergestützter additiver Synthesen.«76 Die zyklischen Rhythmen der Natur, die als Inspiration u. a. dem Modell der weichen Periodizität dienten, sind nicht nur mit den im menschlichen Organismus ablaufenden Prozessen verbunden, sondern ebenso mit großen kosmischen Erscheinungen. So sind in Le Noir de l’étoile (1990) die Rhythmen entfernter Gestirne zu einem Element der Komposition geworden. Grisey hat sich immer wieder von der zeitlichen Dynamik der sich im Weltall vollziehenden Wandlungsprozesse inspirieren lassen. Unter dem Aspekt musikalischer Prozesse hat der mit Grisey zusammenarbeitende Astrophysiker Jean-Pierre Luminet eine allgemeine Klassifikation kosmischer Wandlungsprozesse vorgelegt. Er unterteilt solche Prozesse wie folgt: durch gewaltige Einzelereignisse hervorgerufene Übergangsprozesse; aleatorische Prozesse; periodische Prozesse, die 72 Pierre Boulez, Timbre and Composition – Timbre and Language, in: Contemporary Music Review 2/1 (1987), S. 161–171, hier S. 167. 73 Hugues Dufourt, Gérard Grisey (s. Anm. 2), S. 60. 74 François Rose, Introduction to the Pitch Organization of French Spectral Music (s. Anm. 65), S. 8. 75 »Dès lors, la forme musicale devient la révélation à l’échelle humaine, la projection d’un es- pace naturel microphonique sur un écran artificiel et imaginaire; mieux encore, cet écran est à la fois miroir déformant, focalisateur, multiplicateur, sélecteur« (Gérard Grisey, La musique [s. Anm. 39], S. 53). 76 »Nous venons de créer un être hybride pour notre perception, un son qui sans être encore un timbre, n’est déjà plus tout à fait un accord, sorte de mutant de la musique d’aujourd’hui, issu de croisements opérés entre les techniques instrumentales nouvelles et les synthèses additives par réalisées par ordinateur.« (ebd., S. 50 f.). 128 allerdings im Weltall relativ selten anzutreffen sind.77 Zu den periodischen Wandlungs- prozessen zählen z. B. die von Pulsaren ausgesandten Impulse elektromagnetischer Strahlung (meistens im Frequenzbereich von Radiowellen). Eben diese Strahlen waren bei Grisey auf stärkstes Interesse gestoßen. Seine Überlegungen, wie man diese Pulsar- Signale nutzen könnte, führten letztlich zu der Entscheidung, »sie ohne Manipulationen in das Musikwerk einzubinden, ihnen zu erlauben, als Bezugspunkte im Schoße der Musik zu ruhen, die für sie eine Art Schatulle oder Bühne sein würde, ja letztlich ihre Frequenzen als Tempi zu nutzen und Ideen für Rotation, Periodizität, Verlangsamung, Beschleunigung sowie Störfelder zu entwickeln, d. h. für Phänomene, denen auch Astrophysiker bei der Erforschung der Pulsare begegnen.«78 Resultat dessen ist eine Komposition in mehreren Teilen für sechs Schlagzeuger, Tonband und astronomische Signale, die während der Aufführung übertragen oder abgespielt werden. Begleitet wird die Aufführung außerdem von Lichteffekten.79 In Le Temps et l’écume (1989)80 für vier Schlagzeuger, zwei Synthesizer und Kammer- orchester wird eine einzelne musikalische Geste, die sich auf aufeinanderfolgende Ab- schnitte eines rauschenden, gepulsten und stabilen harmonischen Spektrums gründet, in drei Zeitdimensionen dargestellt. Der Standarddimension von Zeit und der aus der Darstellung der mikrophonischen Klangstruktur im makrophonischen Maßstab resultierenden Verlangsamung stellt Grisey noch die Dimension der kondensierten Zeit zur Seite. Er gibt jeder dieser Dimensionen einen Namen, die verschiedene Arten der Zeitwahrnehmung nahelegen. Grisey spricht von der Zeit der Menschen, der Zeit der Wale und der Zeit der Vögel.81 Die Zeit der Menschen basiert vor allem auf der 77 Jean-Pierre Luminet, Le Noir de l’étoile. La musique des pulsars, in: Le temps de l’écoute. Gérard Grisey ou la beauté des ombres sonores, hrsg. von Danielle Cohen-Levinas, Paris: Harmattan 2004, S. 159–182, hier S. 162. Ein zweifelloser Vorzug der Ausarbeitung von Luminet ist dessen Fähig- keit, seine wissenschaftliche Kompetenz populärwissenschaftlich zu vermitteln, was auch den Kontakt zu Grisey erleichtert haben dürfte. 78 »[…] les intégrer dans une œuvre musicale sans les manipuler, les laisser exister simplement comme des points de repère au sein d’une musique qui en serait en quelque sorte l’écrin ou la scène, enfin utiliser leurs fréquences comme tempi et développer les idées de rotation, de pério- dicité, de ralentissement, d’accéleration et de ›glitches‹ que l’étude des pulsars suggère aux astro- nomes.« (Gérard Grisey, Le Noir de l’étoile, in: ders., Écrits [s. Anm. 6], S. 154–156, Zitat S. 155). 79 Trotz Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung der Komposition erlebte Le Noir de l’étoile dennoch zahlreiche Aufführungen, u. a. in Brüssel, Straßburg, Huddersfield, Grenoble, in Portugal, den Niederlanden und Österreich. 80 Das Werk ist Beleg für Griseys wissenschaftliches Interesse. Es bezieht sich auf die mikroskopische Welt der Quantenphysik. Der Werktitel »Zeit und Schaum« knüpft an die Hypothese der Theorie der sog. Quantengravitation an. Von den Wissenschaftlern wird diese Hypothese mit Hilfe der Metapher von Meereswellen dargestellt. Die Gravitationswellen sind Wellen auf dem Meer von Raum und Zeit, die kleineren Quantenwellen hingegen stellen den be- weglichen Schaum auf den Wellenkämmen dar, vgl. John Archibald Wheeler und Kenneth Ford, Geons, Black Holes and Quantum Foam. A Life in Physics, New York: W. W. Norton 1998. 81 Baillet meint, die Erwähnung der Zeit der Vögel gehe auf die Kompositionsstudien bei Olivier Messiaen zurück, vgl. Jérôme Baillet, Gérard Grisey (s. Anm.  56), S.  25. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Grisey in seinem Werkkommentar nicht von der Zeit der Vögel, sondern von der Zeit der Insekten schreibt, wahrscheinlich weil diese im Verhältnis zur 129 Artikulation der menschlichen Sprache, während die Zeiten der Wale und der Vögel aus der Perspektive der menschlichen Wahrnehmung heraus als unverständlich erscheinen. In Griseys Werk L’Icône paradoxale (1992–94) für zwei Frauenstimmen und großes Orchester in zwei Gruppen kommen gleich vier Zeiten zum Einsatz, die einander an den Kulminationspunkten der Komposition überlagern. Die erste Zeit ist maximal ver- dichtet, die zweite steht der Zeit der Menschen, der sprachlichen Zeit, nahe. Die dritte Zeit erscheint etwas langsamer als die zweite, während die vierte Zeit extrem verlang- samt ist. Komponiert wurde das Werk zu Ehren von Piero della Francesca und enthält Anknüpfungen an Messungen des Raumes: der Perspektive und der Proportionen in dessen weltberühmtem Fresko Madonna del Parto (Madonna der Geburt).82 Ebenfalls drei Zeiten liegen der Komposition Vortex Temporum I – II – III (1994–96) für fünf Instrumente und Klavier zugrunde. Krzysztof Kwiatkowski, der das Werk analysiert, verweist auf wesentliche Änderungen, die für das Spätwerk Griseys cha- rakteristisch sind.83 Durch die immer größere Kompliziertheit des Materials verlieren sich der Fluss und die Verständlichkeit der Komposition. Griseys Musik ruft auch andere Hörerfahrungen hervor, in ihrer lebendigen Pulsation nähert sie sich der Minimal Music. Bezüge zu akustischen Mustern haben einen abstrakteren Charakter. Als Modell dienen nicht mehr faktisch klingende Obertöne, sondern beispielsweise die graphische Gestalt eines Spektrums (Sinusoid oder Sägezahnwellen), die durch Intervallbeziehungen imitiert werden. Wie schon in L’Icône paradoxale zeigt Grisey auch in Vortex Temporum deutlich, dass die Reflexion über die musikalische Zeit raumtypische Kalkulationen nicht ausschließen muss. Grisey nutzt z. B. Algorithmen, u. a. die Fibonacci-Folge, von der er sich in seinen früheren Texten so sehr distanziert hatte. Die Lektüre von Griseys Texten und die Beschäftigung mit seinem kompositorischen Schaffen erlauben die Feststellung, dass die Wirkung der metaphorischen Phantasie sich auf zwei Ebenen entfaltet. Metaphern zur Beschreibung von Musik dienen als Modelle, die in der Musik eine weitere Umgestaltung erfahren. Die hier untersuchten Metaphern erweisen sich als Hilfe und Inspiration, zugleich sind sie jedoch weder die einzige noch die letztgültige Interpretation von Griseys Schaffen. Die in den Texten verankerten ästhetischen Dichotomien wie Skelett und Körper, Raum und Zeit, Abstraktheit und Natürlichkeit, Technologie und Biologie, sind keine Quelle von Geboten und Verboten, sie dienen vielmehr als Pole, um die herum die kompositorischen Ideen oszillieren. Bei seiner schöpferischen Umgestaltung von Modellen vermag es Grisey, Spannungen und Uneindeutigkeiten auszunutzen, wie sie zwischen der Welt der Kunst und der Welt der Natur existieren. Die Umwandlungen der Modelle vollziehen sich in Überein- stimmung mit dem Prinzip der Differenzierung, der fließenden Umgestaltung und der subtilen Wandlungen. In diesem Zusammenhang sei an die Worte von Leo Treitler er- Zeit der Menschen noch mikroskopischer erscheint, Gérard Grisey, Le Temps et l’écume in: ders., Écrits (s. Anm. 6), S. 153 f., Zitat S. 154. 82 Vgl. Pierre Albert Castanet, Gérard Grisey (s. Anm.  1), S.  36 und Gérard Grisey, L’Icône paradoxale, in: ders., Écrits (s. Anm. 6), S. 156–158. 83 Krzysztof Kwiatkowski, Vortex Temporum, in: Res Facta Nova 11 (20), 2010, S. 229–236, hier S. 229. 130 innert, der über die Musik Folgendes schreibt: »Die Musik gewinnt an Bedeutung, wenn evident getrennte, ja inkompatible Sphären zusammengebracht werden und dadurch ein so mächtiger metaphorischer Effekt generiert wird, wie er im Bereich der Sprache unvor- stellbar ist. Die Metapher ist eine für die Bedeutung der Musik normale Quelle in ihrem ureigenen Bereich, so wie sie es für die Sprache in deren Bereich ist.«84 (Übersetzung aus dem Polnischen: Gero Lietz) 84 »The music gains meaning by bringing together recognizably disjunct or even incompat- ible realms, producing as powerful a metaphoric effect as any that I can think of in language. Metaphor is as normal a source of meaning for music in its own domain as it is in language in its domain.« (Leo Treitler, Language and the Interpretation of Music, in: Music and Meaning, hrsg. von Jenefer Robinson, Ithaca – London: Cornell University Press 1997, S. 23–56, Zitat S. 48). 131 Influence de la musique spectrale sur la composition du temps musical par Xavier Dayer L’importance des modèles de spectres harmoniques ou inharmoniques est souvent évo- quée pour comprendre les particularités de la musique spectrale. Je ne conteste pas que cet aspect soit central, mais il me semble parfois occulter l’approche originale du temps musical qu’a opéré, dès les années 1970, ce courant musical. En effet, à l’extrême, je peux concevoir une musique spectrale sans harmonie spectrale, mais à condition de faire ap- pel aux notions que je tenterai de définir. Pour cela, j’aimerais proposer une mise en perspective historique des notions de « hors du temps » et « dans le temps » en plaçant la musique spectrale comme un point déterminant de cette évolution. 1. Composer « hors du temps » ou « dans le temps » – tentative de définition Distinguons le « hors du temps » et le « dans le temps » en partant du constat que notre culture musicale européenne a favorisé une grande capacité de concevoir le phénomène sonore « hors du temps ». Cela a été possible au travers de la présence forte de techniques abstraites, très puissantes, mais non contraignantes dans leur lien au déroulement tem- porel. Un exemple emblématique peut illustrer mon propos : l’accord dit « classé ». En ef- fet, si je pense à un accord de dominante, je pense à une abstraction absolue du point de vue temporel. Pourtant, sa durée peut influencer son sens et ses éventuelles résolutions tonales. Si cela est évident pour un accord de dominante, je soutiens que c’est aussi le cas pour les notations rythmiques occidentales. Cela peut paraître paradoxal car le rythme semble être, par définition, lié au temps, puisqu’il implique des proportions et des du- rées qui en découlent. Je constate, pourtant, qu’il est, dans notre approche occidentale, une catégorie « hors du temps » dans la mesure où, d’une part, il s’altère dans l’acoustique réelle et que, d’autre part, la puissance de notre système de représentation symbolique permet de le contrôler « hors du temps ». Ainsi, si on pousse la réflexion jusqu’au bout, toute la musique écrite s’appuie sur un mode de représentation « hors du temps » et entre- tient avec le temps une relation particulière : l’incarnation. D’une certaine manière, pour le musicien, le temps est la matière. Avant d’éprouver le temps, la musique est une idée pure. Tentative de définition : – Le « hors du temps » désigne l’ensemble des manipulations opérées lors de la composi- tion musicale grâce à des règles intelligibles concevables hors de l’expérience réelle du temps. 132 – Le « dans le temps » désigne ce qui n’a de réalité qu’à partir du moment où on s’inscrit dans le déroulement temporel réel. Exemple : un accord de dominante est un structure « hors du temps », le son est une réalité « dans le temps ». Le lien qu’entretiennent ces deux notions peut être observé de manière unique dans la question de la forme. Certes, celle-ci peut être représentée de manière « hors du temps » grâce à des graphiques, des durées ou des courbes, mais ces éléments ne sont jamais véri- tablement transposables d’une pièce à l’autre avec la même force qu’une analyse harmo- nique, par exemple. Depuis l’existence de l’écriture musicale, il est révélateur qu’aucun système n’ait permis de donner une représentation abstraite du temps ayant la même puissance que ce dont nous disposons pour les hauteurs. Pourtant, notre perception des styles, propre aux différentes époques de notre passé européen, est très liée à la relation qu’entretiennent certaines idées « hors du temps » avec leur réalisation « dans le temps ». 2. Paradigme A : La Renaissance Commençons cette réflexion au XVIe siècle, c’est-à-dire à un moment où la composi- tion musicale ne se concentre pas sur une succession harmonique, mais où cette succes- sion résulte de déroulements horizontaux contrôlés par des règles de superposition. En d’autres mots, les accords entendus (majeurs, mineurs ou diminués) ne sont pas com- posés « hors du temps » mais sont la conséquence de la superposition de petites entités mélodiques. Cela pourrait être représenté de la manière suivante : Structure locale Structure globale Conséquence Soumis au « hors le temps » → « hors du temps » → « dans du temps » Phrase baroque ← Formes codifiées Incarnation Remarquons que la maîtrise des petites entités mélodiques évoque un idéal. Ce serait même l’idéal fondateur de notre patrimoine musical. Il s’agirait de cet instant où le com- positeur engloberait l’ensemble des paramètres qu’il gère lui permettant ainsi de créer « dans le temps ». Mais, lorsqu’on observe cela de plus près, il est indéniable que la créa- tion, ne serait-ce que d’une simple ligne mélodique, implique, déjà à ce niveau, la maî- trise d’un code symbolique « hors du temps ». Il s’agit donc surtout d’une attirance plus que d’une réalité objective. 3. Paradigme B : La période baroque La pratique du continuo baroque implique que l’accord soit conçu comme une entité. La grande force de cette notion réside dans la fusion de plusieurs intervalles pour être saisis comme une globalité. Il est révélateur que cette conception harmonique soit contem- 133 poraine d’une définition de plus en plus stricte de la forme (je pense à l’essor de formes baroques : aria da capo, forme suite, etc.). On peut estimer que l’ivresse de la découverte de la notion abstraite de l’accord a eu des conséquences sur l’ensemble des processus créatifs : on désire avoir, du point de vue formel, un équivalent à cette force de classi- fication harmonique. Ainsi, le local commence a être contrôlé par un « hors du temps » global codifié. Par exemple : un motif instrumental d’une suite de danse est quasi pré- destiné pour être inséré dans la forme qui lui convient. La forme n’est plus seulement la conséquence d’idées locales : elle conditionne également ces idées locales. Nous aurions, par comparaison avec la Renaissance, le schéma suivant : Structure locale Structure globale Conséquence Soumis au « hors le temps » → « hors du temps » → « dans du temps » Phrase baroque ← Formes codifiées Incarnation Puis, au cœur de cette période baroque, on observe une prise de liberté de la part des compositeurs. Cette liberté s’exprime souvent par la modification des rythmes harmo- niques. De nombreuses œuvres baroques rallongent, par exemple, les fonctions harmo- niques de tonique ou de dominante. Le phénomène sonore commence ainsi à dominer la structure « hors du temps » codifiée. Ces moments ont une fonction stratégique (je pense, par exemple, aux notes pédales dans les fugues baroques ou certaines ouvertures, comme celle de la Passion selon Saint Matthieu de J. S. Bach). Ainsi, la volonté du composi- teur agit sur une notion abstraite, « l’accord », et en modifie la durée originelle tributaire des conventions de l’époque. Cela donne à l’accord une nouvelle signification et annonce le paradigme de l’époque classique dans laquelle cette action « dans le temps » sera de plus en plus fréquente. Cette évolution à l’intérieure de la période baroque correspondrait au schéma suivant (phase intermédiaire baroque/classique) : Structure locale Structure globale Conséquence Soumis au « hors le temps » → « hors du temps » → « dans du temps » Phrase baroque ← Formes codifiées Incarnation Ainsi, avec cette phase intermédiaire, le compositeur anticipe le résultat sonore puis in- tervient sur les structures musicales locales, le plus fréquemment par l’élargissement de certains rythmes harmoniques. 4. Paradigme C : dès le XIXème siècle Dès le XIXe siècle, j’observe une évolution vers un renforcement de plus en plus impor- tant de l’action du compositeur sur les structures « hors du temps ». Ainsi, si on prend l’exemple du développement du premier mouvement de la troisième symphonie de Beethoven, l’élargissement temporel des harmonies est tel qu’il n’affecte plus seulement 134 les proportions locales mais remet en question la forme générale elle-même. Je propose de considérer que l’ampleur de cet élargissement affecte la structure globale (et pas seule- ment locale) dès lors que la perception de l’auditeur est orientée pour perdre la mémoire du point initial et semble emportée vers un nouvel espace sonore. En d’autres mots, ce nouvel espace sonore s’autonomise du point de départ. Évidemment, cela peut dépendre de la force cognitive de l’auditeur (un musicien qui a interprété de nombreuses fois une œuvre conservera plus facilement en mémoire le point de départ qu’un auditeur écou- tant l’œuvre pour la première fois). Remarquons également que la reproduction méca- nique des œuvres intervient dans cette problématique : le fait de pouvoir réécouter une œuvre fixe les éléments dans la mémoire et, pour produire cet effet d’oubli, le compo- siteur devra certainement, à l’heure de la reproduction mécanique, amplifier les durées. Depuis le début du XIXe siècle, il devient fréquent de transformer les structures « hors du temps » par le biais de l’anticipation du temps perceptif de la musique. La volonté du compositeur peut ainsi modifier, à tout moment, tant les structures locales que les struc- tures globales. Ainsi, sa créativité intervient pour dissimuler le « hors du temps » en le reléguant à l’arrière plan perceptif. Structure locale Structure globale Conséquence Soumis au « hors le temps » → « hors du temps » → « dans du temps » Phrase ← Formes codifiées ← Incarnation Cette approche du temps musical englobe le XIXe et le XXe siècle, à de rares exceptions. En effet, si le début du XXe siècle a pu produire des chocs auditifs saisissants, c’était le plus souvent en modifiant les structures locales « hors du temps » (dodécaphonie, bitona- lité, etc.). Les compositeurs du début du XXe ont ainsi produit des sonorités nouvelles, mais la manière de penser le temps musical reste inscrite dans le schéma ci-dessus. Plusieurs attitudes vont remettre en question cette conception. Je m’attacherai ici à deux démarches qui me semblent significatives : – La recherche d’une « méta œuvre ». Je placerai ici le compositeur Eliott Carter comme la figure emblématique. – Le son « dans le temps » comme point de départ du processus de composition. Je placerai ici l’école spectrale, avec Tristan Murail et Gérard Grisey comme figures emblématiques. Je n’aborderai volontairement pas ici les deux autres directions prises dans les années 1950 (le sérialisme intégral et les structures du hasard de John Cage) car, dans ces deux cas, il s’agit d’un renoncement de l’action du compositeur « dans le temps » et donc d’une valorisation des structures « hors du temps ». Du point de vue de ma réflexion, ces atti- tudes n’impliquent pas une nouvelle manière de concevoir le couple « hors du temps / dans le temps ». En expérimentant l’annulation de la volonté d’action « dans le temps », elles renoncent à cette relation qui est ici le point central de ma réflexion. 135 5. Paradigme D : La « méta œuvre / Eliott Carter » L’approche d’Eliott Carter est singulière car elle définit un espace sonore qui se situe au delà du perceptif. Cela tient au fait que les œuvres tissent des liens entre elles et semblent produire une nouvelle œuvre qui est, elle, « hors du temps ». Le réseau de significations, les modifications structurelles, entrent en contact par dessus les œuvres individuelles et mènent à un temps qui est « hors du temps » car inaccessible pour l’oreille humaine : Structure locale 1 Structure globale 1 Conséquence 1 Soumis au « hors le temps » → « hors du temps » → « dans du temps » Phrase ← Formes ← Incarnation Structure locale 2 Structure globale 2 Conséquence 2 Soumis au « hors le temps » → « hors du temps » → « dans du temps » Phrase ← Formes ← Incarnation Etc.          ↑                    ↑                  ↑ Méta œuvre « hors du temps » On pourrait certes intégrer à ce paradigme d’autres compositeurs plus anciens (on trouve déjà des liens de ce type chez Johann Sebastian Bach ou Gustav Mahler) mais cette conception semble se renforcer chez Elliott Carter. Notons qu’il ne s’agit pas d’une re- mise en question fondamentale du paradigme précédent, mais d’une progression vers la dimension d’une prise de conscience d’une « méta œuvre ». 6. Paradigme E : La musique spectrale On peut s’intéresser au fait que le point de départ pour l’élaboration d’une œuvre spec- trale n’est pas une idée abstraite, mais véritablement le son dans sa globalité. Ainsi, à la manière de la basse continue au début de l’époque baroque (qui avait fusionné plusieurs paramètres pour considérer l’accord comme un tout), la musique spectrale fusionne les paramètres verticaux et temporels afin de créer une entité qui est considérée comme un « objet sonore ». On peut y voir une analogie avec les arts visuels lorsqu’on lit la défini- tion de la couleur telle que la propose Pierre Soulage : « en peinture, les couleurs n’exis- tent pas en tant que telles, il n’y a que des relations. Parler du noir, parler du bleu, parler du rouge, quand on dit ces choses-là on ne parle pas de peinture, on extrait une des caractéristiques de la peinture, on ne parle pas de la forme, de la dimension. Un carré 136 blanc, jaune ou rouge de 10 cm, ce n’est pas la même couleur que la même couleur sur 3 m, 2 m … Une chose qui change également la couleur c’est la forme »1. Cette conception de la couleur par Soulage est adaptée pour définir l’objet sonore à la base de la pensée du temps issue de la musique spectrale : il ne s’agit plus de penser avec l’aide d’une notion « hors du temps » comme l’accord mais à partir « d’une sonorité pré- cise ayant telle durée et tel timbre ». D’ailleurs, cela explique pourquoi la musique spec- trale fait appel, dans les œuvres mixtes, à une écriture visant une fusion entre les sons électroniques et l’écriture instrumentale. En effet, il ne faudrait pas qu’en se détachant de l’écriture instrumentale, l’électronique acquiert une autonomie du point de vue per- ceptif et dessine ainsi un discours risquant de devoir être contrôlé avec des techniques « hors du temps ». La pensée spectrale pourrait être représentée par le schéma suivant : Structure locale Structure globale Conséquence « dans le temps » → « dans du temps » → « dans du temps » Fusion – Objet sonore ← Processus linéaire ← Incarnation On observe, dans ce schéma, l’intervention de la notion de « processus » au lieu de « dé- veloppement » pour contrôler les structures globales. En effet, par le « processus », il s’agit de penser le temps musical comme une transformation progressive d’un élément vers un autre. La technique la plus efficace pour réaliser cela est de procéder par interpolation. Cette technique révèle les phases intermédiaires lors du passage linéaire d’un rythme vers un autre, d’un accord vers un autre. Les exemples historiques de György Ligeti et de Giacinto Scelsi ont été précurseurs dans cette démarche. L’emploi de ce procédé est absolument cohérent, car si le point de départ est un « objet sonore » pris comme la fusion de l’ensemble de ses attributs, le « processus » est le seul moyen pour conserver l’objet de départ tout en le faisant évoluer. En effet, dans le cas où le traitement de cet objet sonore initial ferait appel aux techniques « hors du temps » anciennes (renversement, imitations, superpositions etc.), la nouveauté d’approche serait superficielle. En d’autres mots, l’objet musical étant considéré comme un objet fusionné, il est essentiel que son traitement formel se produise sur un niveau supérieur en l’affec- tant comme un tout. Dans la perspective de la musique spectrale,le lien à l’enregistre- ment est aussi très différent puisqu’à partir du moment ou la musique est conçue « dans le temps » pour s’incarner « dans le temps », sa réalité sur un support sonore ne sera pas une « photographie » de l’œuvre, mais l’œuvre elle-même. En effet, dans le paradigme né au XIXe, l’enregistrement n’est pas l’œuvre, il n’est qu’une image de l’œuvre qui a son existence par ses structures « hors du temps ». La partition est l’œuvre puisqu’elle contient toutes les relations « hors du temps » telles que définies par la volonté du com- positeur. Par contre, pour la musique spectrale la partition n’est qu’un moyen : seule la réalité sonore est l’œuvre. 1 Pierre Soulages – La lumière comme matière. Interview réalisée par Patrick Vauday le 15 août 2002, in Le matériau, voir et entendre, éd. par Patrick Vanday et al., Paris: PUF 2002 (= Rue Descartes, n° 38), p. 112–117. 137 Il est aussi significatif, à cet égard, d’observer qu’au moment historique où apparaît la musique spectrale, dans le domaine de la pop-rock,les pièces se singularisent de par leur « sound design » : la qualité sonore devient de plus en plus importante et l’identité de l’œuvre n’est plus uniquement liée aux aspects mélodiques et harmoniques, mais au son. L’habillage sonore devient tout aussi important que les idées mélodiques et rythmiques. Cela me semble aller dans le sens de la conception d’un objet sonore présente dans la musique spectrale, idée qui intègre la globalité des paramètres. 7. Conséquences et évolution de la musique spectrale L’emploi des interpolations a comme conséquence naturelle la présence d’un haut niveau de prévisibilité. De manière subtile, car il s’agit de ne pas renier l’impulsion d’origine, on observe différentes stratégies visant l’intégration d’une forme moins linéaire dans les œuvres plus récentes des compositeurs dits de l’école spectrale. Mais, à partir du moment où la musique spectrale tente d’intégrer une dimension d’imprévisibilité, ne bascule-t-elle pas vers le paradigme du début du XIXe siècle ? La musique spectrale, telle que définie ici, serait-elle condamnée à se situer dans une forme de progression par « processus » afin de ne pas revenir à l’ancien paradigme ? Si oui, elle répondrait donc à une forme d’utopie, féconde car liée à une certaine radica- lité. Cette radicalité a permis de recentrer l’enjeu de la musique contemporaine autour du son. Ainsi, en 1978, Tristan Murail écrivait dans la notice de son œuvre Ethers pour six instruments : « de même que l’espace n’existe que par rapport aux masses des astres qui, en le déformant, lui donnent son existence, le temps musical, les durées et les tempi d’une partition n’existent que par rapport aux événements sonores eux-mêmes. Les évé- nements sonores déforment le temps, influencent les tempi. » On ne peut mieux illustrer l’importance donnée aux événements sonores comme ge- nèse du temps musical. 138 La conscience du lieu où l’on est Ulrich Mosch en conversation avec Hugues Dufourt, Jean-Luc Hervé et Marcin Stanczyk Ulrich Mosch : Mesdames, Messieurs, bonsoir. Avant d’entrer en conversation, j’aimerais souhaiter la bienvenue à mes trois interlocuteurs et les présenter brièvement. Hugues Dufourt, formé comme philosophe, comme musicologue et comme compo- siteur, a travaillé dans ces trois domaines très divergents mais liés étroitement. Il a en- seigné la philosophie pendant un certain temps à Lyon et à Paris, et est très étroitement lié avec l’ensemble L’Itinéraire dont il faisait partie pendant plusieurs années. Il est donc, pour ainsi dire, un compagnon de chemin de ce mouvement, nommé spectralisme – pour autant que l’on accepte ce terme. Jean-Luc Hervé, 17 ans plus jeune, formé à Paris au Conservatoire national supérieur, a étudié entre autres chez Gérard Grisey lorsqu’il en était le professeur de composition. Il a donc une perspective tout à fait différente de celle de Hugues Dufourt. Marcin Stanczyk, 17 ans plus jeune encore, a étudié la composition d’abord dans ville natale, Łódź, puis en Italie. Il a travaillé trois ans à Rome entre 2007 et 2010, puis à Paris, où il a rencontré Jean-Luc Hervé à l’IRCAM. Il y a donc des liens directes, mais une pers- pective encore une fois différente : pour lui ce n’était pas la présence de Gérard Grisey lui-même comme personnage qui était importante mais plutôt l’écoute de sa musique dans des concerts en Pologne, et plus tard l’étude de ses partitions. La première question que j’aimerais vous poser est la suivante : Est-ce que vous pour- riez essayer de définir, en quelques phrases, votre position aujourd’hui envers ce mou- vement du spectralisme. Bien sûr, chacun de vous a eu sa propre évolution, a suivi son propre chemin de compositeur. Monsieur Hervé ? Jean-Luc Hervé : Alors… Je me doutais un petit peu de la question… je peux dire, histori- quement, que j’ai rencontré la musique spectrale – et la musique de Grisey en particulier – alors que j’étais jeune compositeur. Cela m’a beaucoup marqué et ça fait maintenant un certain temps. À l’époque, dans les années 80–90, ce qui m’avait marqué, c’était une sonorité. Une sonorité inouïe. Et c’est ce qui m’a attiré vers cette musique. Et puis en- suite, aujourd’hui, je dirais que, ce que je retiens de ce courant musical, c’est quelque chose d’un peu plus général il me semble. Je crois, c’est comme cela que je le comprends, que c’est une esthétique qui se situe par rapport à l’environnement, on va dire, au sens large. D’abord par rapport au son. Le modèle acoustique finalement, c’est d’utiliser, dans son matériau, la trace ou en tout cas quelque chose qui a une relation avec le monde des sons objectifs qui nous entourent. Mais c’est pas seulement ça. Il y a dans cette musique quelque chose qui a une relation au temps, quelque chose que j’ai trouvé chez Gérard 139 Grisey mais aussi dans la musique de Hugues, par exemple. Moi je m’attache beaucoup, surtout ces derniers temps, à l’idée d’un temps directionnel. Et pourquoi ? Parce que c’est un temps qui existe dans la nature. Et travailler avec un temps directionnel, c’est encore une fois se situer par rapport à ce qui existe autour de nous. Et la dernière chose que je retiens, c’est une idée qui a existé dans certaines œuvres de Gérard Grisey, que j’ai, moi, beaucoup développée : c’est la situation par rapport au lieu dans lequel nous écoutons la musique. Par exemple dans Le Noir de l’étoile, qui est une pièce pour six percussions de Grisey, il y a l’intervention d’un son de l’espace. Et donc il y a un effet qui m’a toujours marqué, c’est que tout d’un coup, on se rend compte qu’on n’est pas dans une salle de concert isolée du monde. On prend conscience de l’endroit où on est, en fait, on prend conscience du lieu où on est. Aujourd’hui, c’est cette idée-là que je retiens le plus, l’idée de situer son propre travail dans le monde, dans notre monde, dans le monde d’ici mais également dans le monde un peu plus lointain. Ulrich Mosch : Peut-être peut-on revenir à toutes ces questions ou ces aspects plus tard quand on parlera de votre pièce, qui sera jouée dans le concert qui suit. Monsieur Du- fourt, même question, assez compliquée, semble-t-il… Hugues Dufourt : Oui compliquée, mais pas tant que ça. Avec le recul, j’estime que ces années 70 ont été marquantes à divers titres… C’est l’époque de l’explosion de l’informa- tique musicale, qui change absolument toutes les données de la perception. Car l’infor- matique musicale a développé certains éléments, disons, d’affinement de la perception, ou des perceptions artificielles, avec les sons paradoxaux par exemple. Donc, il y a eu ce mouvement, et la musique dite spectrale est contemporaine de ce mouvement sans lui être directement liée. Elle marque un tournant. Alors comment qualifier ce tournant ? On ne peut pas igno- rer qu’il y a eu des polémiques esthétiques à l’époque, et assez vives, assez tendues. D’ailleurs ça n’est pas fini, puisque maintenant, la polémique s’est déplacée du terrain de la musique, de la production musicale, au terrain de la musicologie, qui est votre af- faire. Et donc, comment qualifier ce tournant ? Je dirais que nous étions ce qui a fait que nous nous sommes, au fond, cooptés. Ce n’étaient pas des rapports de camaraderie ou de bonne amitié, c’était vraiment une cooptation sur des bases musicales. Le fond, c’était la recherche d’un temps substantiel, alors que nous vivions vraiment sous la prédo- minance du temps de l’artifice. L’artifice, mais sous toutes ses formes, et je ne veux pas être péjoratif dans cet exposé. L’artifice parce que, au fond, toute la période qui a suivi immédiatement la guerre, a été une période de reconstruction à tous égards, et notam- ment, évidemment, en musique. Mais cette reconstruction a eu des lois et s’est fondée très largement sur une pensée formaliste ou constructiviste. Mais pas simplement en musique : c’était vrai de la logique, c’était vrai des mathématiques, de l’axiomatique, à l’époque, qui était tout à fait prédominante. Et, par conséquent, il y a tout un esprit du temps dans lequel s’insère la musique dite post-sérielle – qui était arrivée d’une certaine manière, dans les années 70, à son point culminant, à son apogée, mais aussi au début de son déclin. Et nous aspirions à autre chose, donc à un temps plus substantiel, plus continu, plus proche, Jean-Luc vient de le dire, des rythmes de la nature, des éléments de la respiration. 140 Mais alors, comment qualifier philosophiquement ce tournant ? On peut penser à Aristote… au fond il y avait deux esthétiques : une esthétique de la musique en acte, et puis nous sommes passés à l’esthétique de la musique en puissance. Et ce que nous avons fait, c’est finalement d’introduire une conception du temps où toutes les articula- tions entre les structures sont potentielles, ne sont jamais complètement explicitées, ja- mais thématisées, ce qui permet un art de la transition continue, un art des gradations imperceptibles. Et en même temps, c’est un art, effectivement, qui s’oppose à l’art de la pleine explicitation et de la pleine formalisation de l’époque qui nous a précédé. Donc nous avons changé de cap, mais nous avons aussi changé de niveau, d’articu- lation et d’expression. Au fond, nous sommes passés, un peu collectivement, un étage plus bas. Nous avons exploré des couches de l’expression d’ailleurs plus inconscientes. Je veux dire par là que l’élément emblématique de la musique dite spectrale, c’est le pro- cessus. Mais le processus n’est précisément pas une déduction linéaire, monotone et tranquille. Au contraire, le processus, c’est un compromis permanent entre des tensions contraires, si bien qu’il n’y a jamais de passage à l’acte puisque l’acte est toujours différé et fait finalement la pièce. Donc je dirais là que nous sommes passés d’une esthétique formelle – qui était celle qui nous précédait – à une esthétique du processus, mais tout en sachant que le processus est, comme en psychanalyse, un processus laborieux, un processus plein de contradictions rentrées, et qui peu à peu parviennent à leur vérité et à leur explicitation. Et c’est précisément cela qui fait la forme et le déploiement de l’œuvre : c’est cet espèce d’avènement de la conscience à elle-même. Ulrich Mosch : Monsieur Stanczyk, même question… Marcin Stanczyk : En Pologne, on a eu un retard avec la perception de la musique dite spectrale. Si je me souviens bien, la première pièce que j’ai écoutée, c’était en 2003, pen- dant L’Automne de Varsovie. C’était Quatre chants pour franchir le seuil de Gérard Grisey. Je n’ai pas assisté au concert, je l’ai écouté à la radio. Ça m’a beaucoup touché pour deux raisons. L’une, c’est le temps, et l’autre c’est le traitement des voix. La première chose que j’ai pensée a été: « ça c’est de la musique spectrale ». Mais après, je me suis rendu compte que cette pièce est un peu à l’écart de la musique spectrale orthodoxe. Et puis j’ai com- mencé à écouter de plus en plus des pièces, aussi les premières pièces de la musique spec- trale. Et pour moi, maintenant, cela reste toujours un grand point de référence. Peut-être pas pour tous les paramètres, mais un point de référence pour découvrir d’autres choses. Ulrich Mosch : Et quelle sorte de choses ? Marcin Stanczyk : Je m’intéresse beaucoup aux sons, au traitement des sons comme uni- tés, sans différencier fréquences, articulations, temps, harmonies, mais en ayant une pensée d’unité du son. Je suis en train d’essayer la transition entre la musique spectrale et la musique, peut-être plus connue dans le monde germanique, que l’on appelle la mor- phologie des sons, la morphologie musicale. On peut la rencontrer dans les pièces de Claus-Steffen Mahnkopf, par exemple. Ulrich Mosch : Ce qui me frappe, et ce n’est peut-être pas une surprise, c’est que la notion de temps était le point commun des vos trois interventions. Et c’est, je crois, dans le col- loque entier, le point le plus évoqué. Bien qu’il soit très difficile d’en discuter, nous allons continuer la conversation autour de cet aspect. 141 J’aimerais aborder cette question à l’aide de quelques exemples, à commencer, Mon- sieur Dufourt, par votre pièce qui sera jouée dans le concert de tout à l’heure : L’Afrique d’après Tiepolo. C’est une pièce qui se réfère aux fresques de Jean-Baptiste Tiepolo qui se trouvent à Wurtzbourg. Il y a donc une inspiration visuelle, non d’une toile mais d’une peinture d’un certain genre. Votre pièce commence par un grand solo de piano avec des agrégats, des accords qui sont répétés et articulés de différentes manières. Mais ce qui me frappe quand je l’écoute, c’est qu’il n’y a pas seulement une suite d’accords, mais il y a une logique, pour ainsi dire, harmonique. Et cela est lié à votre conception du temps, je suppose. Peut-être pourriez-vous nous dire quelque chose sur cet aspect ? Hugues Dufourt : Très volontiers. C’est ce en quoi les musiciens, compositeurs et musico- logues m’ont toujours distingué, sinon expulsé de la musique spectrale – ce qui est para- doxal, mais c’est un peu comme ça que ça s’est passé. La raison en est, et vous allez au cœur du problème, que j’ai tenté de traiter l’harmonie un peu différemment de sa struc- ture, disons, reçue par les travaux de Gérard Grisey et de Tristan Murail. Alors, pourquoi ai-je fait ça ? Parce que j’avais une vision un peu distincte. Ce que je voulais n’était pas d’abord d’explorer les détails du son (bien que je l’aie fait dans Saturne), les paradoxes, les grandes structures paradoxales, les rapports également de l’harmonicité et de l’inhar- monicité ; tout cela est intégré dans mon programme, dans ma musique, dans la réalité même de ma musique. Mais j’ai voulu, en sus, superposer ou intégrer, ça je ne sais trop, une harmonie complexe, progressive, qui soit capable de supporter des tensions à très très grande échelle. Le but, par exemple dans le Tiepolo, était de proposer une construc- tion harmonique qui dure quand même une demi-heure, qui suggère la grande immobi- lité de l’Afrique, cet espèce de continent écrasé sous un soleil non pas de plomb mais un soleil sulfureux, à la manière de ce qu’on voit d’ailleurs aujourd’hui à la télévision dans la guerre d’Irak ; c’est un continent écrasé, et écrasé par une lumière blafarde, donc c’est une Afrique très particulière. J’ai voulu traduire ce sentiment d’éternité, d’immobilité, d’écrasement. Et en même temps, il y a malgré tout un mouvement, un mouvement insi- dieux, un mouvement latent, un mouvement des profondeurs qui est donné précisément par la progressivité des structures harmoniques. Et alors, là, les techniques ne sont pas si différentes de celles de Grisey, par exemple, mais les exigences ou les contraintes le sont un peu. Probablement parce que, beaucoup plus qu’eux, je descends de l’école de Boulez, alors que Tristan et Gérard étaient dans la classe de Messiaen. Et quand même, la logique profonde des deux éducations est très très différente. Et si nous nous sommes rencontrés, c’est sur la base d’insatisfactions. Mais finalement, le projet commun était cette harmonie, cette harmonie-timbre, cette harmonie qui soit capable d’intégrer les différences, d’intégrer le bruit, d’intégrer les distensions, les distorsions harmoniques. Et j’ajoute le point que vous avez souligné, le décalage : je ne suis pas parti pour cela du spectre, mais plutôt des mêmes idées de distensions, de distorsions harmoniques, mais avec un travail proprement harmonique. Ulrich Mosch : Puis-je vous poser également une question liée au temps, Monsieur Hervé ? Lorsqu’on voit votre partition, c’est bien clair qu’il y a aussi le mouvement du son, pas seu- lement, pour ainsi dire, dans son espace sonore, mais aussi dans l’espace réel. C’est très important pour cette pièce, portant comme titre Ein/Aus, on/off. Ce qui est intéressant, c’est que dans votre conception, les mouvements internes, dans les espaces sonores, sont 142 liés à un mouvement à travers le public. Aujourd’hui, on aura l’ensemble sur la scène, créant l’impression d’un mouvement allant de gauche à droite ou inversement. Peut-être pourriez-vous commenter cet aspect ? Jean-Luc Hervé : Il faut que je dise quelques mots déjà sur les termes. Parce que le titre de votre symposium, c’est « les espaces sonores », et en général je n’utilise pas le terme « espace ». Je reviens à ce qu’a dit Hugues tout à l’heure sur la charnière historique entre la musique sérielle et la musique spectrale, avec cette idée, si j’ai bien compris, du temps des années 50 qui était un temps avec une certaine abstraction, et du temps plus orga- nique de la musique spectrale. Et là, il y a un petit peu la même chose, il me semble, sur les notions d’espace, que moi j’oppose à celles de lieu. L’espace, c’est une abstraction ma- thématique qui est un support d’opérations où tout est possible, mais où, quelque part, rien n’est réel. Surtout, tout est neutre dans un espace. Et j’oppose ça à la notion de lieu qui est l’endroit, un endroit qualifié, qui est mesurable (l’espace n’est pas mesurable), et qui est plus proche en fait de notre… le lieu, c’est le lieu où on vit. D’ailleurs, il y a Thierry Blondeau dans la salle et on avait fait une initiative, en 2006 je crois, à Berlin, qui s’appelait Biotop(e), qui réunissait trois compositeurs : Thierry Blondeau, Oliver Schneller et moi-même. L’idée de base, justement, était de penser la musique par rapport au lieu de vie, le lieu où l’on est. Le lieu, c’est une notion qui m’inté- resse beaucoup. Aussi, j’avais lu un livre d’un anthropologue, Marc Augée, qui s’appelle Non-lieux, où il décrit la disparition des lieux dans notre univers, dans notre quotidien, où les endroits s’uniformisent. J’ai réfléchi à ça par rapport à mon travail, et je me suis attaché à essayer de restaurer un peu cette conscience du lieu. Alors, dans la pièce que l’on va entendre tout à l’heure, Ein/Aus, effectivement, c’est un dispositif qui est extrême- ment simple, en fait. Ce sont deux ensembles qui sont disposés à deux coins de la salle, soit en avant et en arrière du public, soit, comme on va le faire ce soir, sur la gauche et la droite de la scène. Et c’est une écriture en antiphonie on pourrait dire, avec un geste très simple qui se répète, mais qui est organique. On retrouve un petit peu cette idée du ma- tériau qui est toujours en train de changer. L’idée est très simple, c’est l’idée du son qui, en quelque sorte, mesure l’espace, le son qui arpente la salle, va de droite à gauche assez rapidement. C’est la première chose. La deuxième chose, c’est qu’avec ce son, cette mu- sique qui passe de droite à gauche ou d’avant en arrière dans le lieu du concert, j’essaie de donner aussi l’impression que la salle de concert devient elle aussi organique. Qu’elle respire en quelque sorte, qu’elle vibre, de droite à gauche comme ce soir ou bien d’avant en arrière. Et donc finalement, nous ne sommes plus dans un espace neutre pour ac- cueillir la musique mais nous sommes dans un lieu qui devient un peu organique grâce à la musique. Voilà, c’est un petit peu le propos de la pièce. On m’avait demandé l’an dernier une phrase pour qualifier mon travail. C’est toujours très difficile. Et j’ai proposé une chose… c’est assez vague mais c’est assez ouvert : on dit souvent que l’art nous permet de nous faire découvrir d’autres mondes. Je préfère dire que la musique, enfin mon travail, tente de nous faire entendre notre monde différem- ment, autrement. Ulrich Mosch : Juste une remarque en ce qui concerne l’espace : l’espace, vous l’avez com- pris, ou décrit, comme catégorie très générale de la perception, mais il existe aussi, dans la théorie de l’espace, la sociologie de l’espace. Et ça correspond exactement à ce que 143 vous décrivez, c’est-à-dire comment l’espace sera défini par les mouvements des gens, des sons, ou de n’importe quoi, du point de vue des hommes. Il y a des études très in- téressantes sur cet aspect-là. Par exemple sur l’usage de la Piazza San Marco à Venise : pourquoi les gens ne traversent-ils pas la place n’importe où, mais sur quelques chemins seulement ? C’est très intéressant, votre idée de décrire ou de transformer une salle qui est utilisée pour beaucoup de genres de musique, en une salle pour ainsi dire musicale à travers votre œuvre. Une question maintenant à Monsieur Stanczyk, aussi liée à sa pièce. Je n’ai pas encore eu la possibilité de l’écouter, alors ce sera pour moi aussi une nouvelle expérience. Mais quand on regarde la partition, c’est bien clair qu’il y a un ensemble qui ne réalise pas plu- sieurs couches de mouvements différents qui se réalisent en même temps. Il s’agit plutôt d’une sonorité assez complexe définie par l’ensemble des instruments qui produisent des sons. Ce qui est très intéressant aussi, c’est que chaque musicien ne produit pas des sons seu- lement sur son instrument. Il y a aussi une deuxième ou troisième manière de produire le son. C’est décrit comme « percussion », avec des mouvements des pieds, par exemple. C’est une sonorité assez complexe, peut-être pourriez-vous décrire un peu vos idées au sujet du travail avec le son dans votre œuvre ? Marcin Stanczyk : J’ai écrit cette pièce pour l’ensemble américain Bang On a Can All Stars. Je savais qu’ils voulaient s’amuser pendant qu’ils jouaient, comme les américains le veu- lent toujours… Alors j’ai essayé de faire ma musique, mais avec la possibilité de s’amu- ser. C’était en 2009 et en ce temps-là je n’avais pas les moyens techniques pour analyser le son. Je connaissais simplement la série des harmoniques. Alors j’ai pris simplement l’ « échelle de grand temps » et j’ai pris toutes les séries harmoniques de chacun des sons. Et j’ai vu que certains sons se répétaient toujours. Alors j’ai essayé d’utiliser cette sé- rie harmonique superposée, de faire des choses très simples en changeant la percep- tion pour changer le son fondamental. Voilà ce qu’il en est plus ou moins par rapport à l’harmonie. Mais, en même temps, je travaille sur cette idée de morphologie musicale qui m’intéresse beaucoup. Cette pièce raconte une nécessité : la nécessité de découvrir, qui est présente à chaque époque. L’autre référence, c’est un livre de Vassily Kandinsky, Point et ligne sur plan. Il y a beaucoup de lignes mélodiques qui se répètent tout le temps mais toujours avec une articulation un peu différente. D’abord seulement peut-être un mouvement théâtral, puis un petit peu plus de son, jusqu’à un son très « bruit », très jazz ou rock. J’ai essayé de tenir mon esthétique, tout en construisant la pièce pour que les musiciens s’amusent. Ulrich Mosch : L’amusement des musiciens qui jouent votre musique, c’est un aspect très important. Mais, il y a aussi toujours l’autre question : comment articuler temporelle- ment ce que vous avez dans la tête comme idée de la pièce ? Un son se développe, et c’est bien clair dans les descriptions de tous les trois : ce qui vous intéresse, c’est le processus, les mouvements internes, pour ainsi dire, dans la sonorité. Mais comment réalise-t-on cette forme temporelle sans que cela ne soit seulement une suite arbitraire ? Derrière, il y a, je suppose, des idées de ce que c’est, le temps. 144 Marcin Stanczyk : Moi, je commence toujours par une description de ce que je veux faire. Ma description est en paroles. Je ne commence jamais par le calcul des structures qui pour moi est la dernière phase de la composition. J’ai alors pratiquement toute ma pièce, et je désigne dans la carte beaucoup de signes différents qui pour moi ont quelque si- gnification – pour les autres, c’est moins clair. On peut dire alors que c’est un travail qui ressemble un peu à un puzzle, mais chaque son est combiné à différentes articulations et différents sons. J’aime bien enregistrer toutes sortes de choses, aussi maintenant à Bâle, je fais beaucoup d’enregistrements, et j’écoute beaucoup ces enregistrements… Ulrich Mosch : Des sonorités de l’ambiance ? De l’environnement ? Marcin Stanczyk : Oui, comme les sons sans le contexte de réalité, seulement comme une énergie. Ça peut me donner beaucoup d’idées pour travailler sur la pièce. Ulrich Mosch : On revient alors à cette notion d’énergie que vous avez aussi utilisée. Le temps comme temps substantiel, pas seulement comme un temps qui est à la surface. Monsieur Dufourt, quand j’ai écouté votre pièce, ce qui m’a frappé, pour revenir à l’as- pect harmonique, c’est aussi un changement au cours de la pièce : quelques fois il y a une sonorité qui ne permet plus de l’analyser comme harmonie. Cela a affaire avec le choix des hauteurs par rapport à un spectre. Et il me semble qu’il y a un travail, un changement entre les deux mondes, pour ainsi dire entre, d’une part l’aspect harmonique de chaque ensemble de sons, et de l’autre part aussi ces possibilités « par le choix spécifique » de créer une nouvelle sonorité. Et c’est pour moi, à l’écoute, un aspect important pour l’arti- culation du temps dans cette pièce. Hugues Dufourt : Tout à fait, c’est le cas dans la plupart de mes pièces, et c’est ce qui me rattache, qu’on le veuille ou non, à l’école spectrale qui a travaillé principalement sur tous les phénomènes de transitions insensibles entre des catégories qui avaient été jusque-là jugées irréductibles entre elles. L’harmonie et le timbre en est l’exemple le plus banal. Mais si vous introduisez un peu de saturation ou de distorsion, alors le timbre deviendra un bruit coloré. Un bruit, parfois même un rythme, parfois un rythme para- doxal. Et c’est une espèce de voyage de Gulliver. C’est un voyage, en tout cas, entre des dimensions de la sonorité qui étaient jusque-là jugées tellement irréductibles, qu’on en faisait des disciplines d’écriture à part : contrepoint, harmonie, écriture mélodique, etc. Tous ces éléments me semblent… non pas réductibles, mais ce qu’il y a d’intéressant, pour moi, c’est de se situer à la frontière et de créer des objets hybrides, d’explorer des zones mitoyennes où on peut basculer d’un ordre à un autre dans une sorte de va-et- vient, et puis parfois d’expliciter un ordre par un autre, comme une attaque et une réso- nance. Vous vous situez dans un ordre, par exemple harmonique, eh bien la résonance sera un timbre ou une texture. Pour prendre l’exemple le plus célèbre, Jean-Claude Risset avait su, le premier, transformer des sons de cloches en texture fluide. Et il y avait pour cela des techniques de programmation très précises que nous avons tous véritablement transposées, appliquées, reprises. Et votre question est vraiment centrale parce que, au cours de toutes ces années 80, jusqu’à 90, où j’étais physiquement présent à l’IRCAM tout le temps – j’avais l’exercice d’un métier à y accomplir – j’étais très au courant de tout, et notamment des recherches, qui ont été très poussées à l’époque, de psycho-acoustique et psychologie cognitive, en 145 particulier des travaux de McAdams, qui ajoutaient d’une certaine manière, indirecte- ment, les bases de la nouvelle théorie de la musique. Parce que toutes ces catégories, il les a formalisées, explicitées. Et j’en viens au concept le plus fondamental de cette époque, qui est le concept de catégorisation de la perception. On s’est rendu compte que si les signaux acoustiques physiques sont tous continus, notre perception est disconti- nue ; c’est notre perception qui découpe quelque chose de repérable dans la continuité indiscernable du réel. Et alors, ça c’était très intéressant parce qu’il y a donc des caté- gories de perceptions de la hauteur, de l’harmonie, mais il y a également des catégories presque irréductibles du timbre. Et si vous faites se chevaucher ces catégories percep- tives, à ce moment-là, vous créez une sorte de trouble dans l’audition qui n’est pas un trouble pathologique, mais une incertitude esthétique. Ulrich Mosch : Pour conclure notre conversation, j’aimerais m’adresser de nouveau à Jean- Luc Hervé : le titre « Ein/Aus » ? C’est peut-être aussi pour dire « aus » à cette conversation. Jean-Luc Hervé : Alors c’est très simple, en fait la pièce est dédiée à Thierry Blondeau… je cherchais un titre qui évoquait cette idée de va-et-vient, en fait, et à l’époque j’habitais Berlin, donc je cherchais un titre en allemand. Et j’avais, moi, trouvé quelque chose mais qui ne voulait rien dire. Et ce terme « Ein/Aus » est intéressant parce qu’il est polysé- mique et qu’il met bien en valeur cette idée de va-et-vient, d’aller-retour, d’opposition d’un ensemble, qui est la première proposition, et l’autre, qui est un peu la réplique à l’envers de ce premier ensemble. Donc le titre vient de là, tout simplement, et ça sonne pas mal il me semble en Allemand. Ulrich Mosch : Wir sind jetzt an dem Punkt, wo es «aus» heißt – on est arrivé au point où l’on a terminé. Merci à vous pour cette conversation, merci au public, et je vous souhaite un bon concert. 146 Verzerrte Spektren Fausto Romitelli : An Index of Titles par Alessandro Arbo Dès la première écoute, la musique de Fausto Romitelli (1963–2004) frappe par son éner- gie éblouissante et sa manière originale de retenir notre attention. Habitée par le désir d’explorer les trajectoires de dégradation d e la matière sonore, imprégnée des atmos- phères du rock psychédélique et des gestes obsessionnels de la techno, elle est directe, visionnaire, savoureuse et en même temps savante jusqu’à la moelle, admirablement écrite. L’intéressante redécouverte de Golfi d’ombra, pour percussions,1 sera pour nous l’occasion de chercher à entrer dans son monde en nous livrant à un petit exercice d’ana- lyse d’un élément qui contribue, à sa manière, à faire des œuvres de ce compositeur talentueux de formidables dispositifs esthétiques : le titre. Nous commencerons par quelques réflexions générales sur les fonctions et la signification que celui-ci peut as- sumer dans une œuvre musicale, pour passer ensuite au cadre plus particulier qui nous intéresse ici. 1. Titres Qu’est-ce qu’un titre ? La question peut de prime abord paraître oiseuse : nous en connaissons tous la réponse, ou du moins croyons la connaître, lorsque nous écoutons de la musique. On dira que c’est un nom, une courte phrase ou plus généralement une dénomination qui accompagne l’œuvre et nous permet de l’identifier. On compose une pièce et on lui met un titre. Il est vrai que parfois celui-ci existe avant même que l’œuvre ne soit créée : il en est alors l’idée inspiratrice, parfois même le plan qu’un compositeur peut avoir à l’esprit. Quand on a dit « Scherzo », ou « Nocturne », on sait que l’on pourra difficilement échapper à certaines contraintes. Il n’empêche que le titre nous apparaît comme une marque « extérieure » : dans la mesure où il n’est pas constitué de notes ou de sons,2 il s’ajoute à une composition et l’accompagne d’une manière plus ou moins conventionnelle ou originale. 1 La reprise de cette œuvre a eu lieu à la Hochschule für Musik de Basel le 22 avril 2012 : Golfi d’ombra : Reconstructing an unedited score for percussion solo by Fausto Romitelli. L’exécution de Simone Beneventi, qui a également édité la partition, a été accompagnée d’une présentation et d’un débat réunissant Veniero Rizzardi, Alessandro Arbo, Andrea Agostini et Stefano Trevisi. 2 La musique se distingue en cela d’autres arts performatifs, comme le théâtre et surtout le ci- néma, où le titre, intégré dans le générique, peut faire partie de la séquence d’ouverture. 149 Cette impression est assez juste tant qu’elle a pour objet une entité qui coïncide avec un morceau de musique – c’est-à-dire, pour aller vite, un ensemble de structures so- nores commandées par un set d’instructions pratiques, la partition. La situation change, comme l’ont fréquemment fait remarquer les philosophies de l’art au cours de ces der- nières décennies, lorsque l’entité que nous visons est (considérée comme) une « œuvre ». En effet, quelle que soit la nature que nous sommes disposés à accorder à un tel ob- jet – en en faisant par exemple une entité abstraite, ou mi-abstraite, ou un universel instancié, un type, ou encore une entité individuelle concrète – il faut à première vue reconnaître qu’elle comprendra nécessairement non seulement des propriétés physiques ou structurelles mais aussi des propriétés esthétiques spécifiques. Dans cette dernière classe prennent place des propriétés expressives (une œuvre est « tendre », « endiablée », « morne », « criarde » etc.) mais aussi des propriétés sémantiques (c’est le « Lamento d’Arianne ») et contextuelles (c’est un extrait du « deuxième opéra de Monteverdi, mis sur scène quelques mois après la Favola di Orfeo »). Notons que ces affirmations ne nous obligent pas forcément à aborder l’épineuse question de savoir si, en elle-même ou par ses seuls moyens, la musique a le pouvoir de signifier des contenus représentationnels : du moment qu’elle est accompagnée d’un texte ou d’une image – ne serait-ce que celle évoquée par le titre – une œuvre musicale a le pouvoir d’orienter sur eux notre attention et de provoquer de cette manière ce que l’on a coutume d’appeler aujourd’hui la « surve- nance » de ses propriétés esthétiques. Ainsi, lorsque nous écoutons une Sonate de Beethoven, disons, pour prendre un exemple bien connu, l’op. 31 n. 2, le fait de connaître son titre « La tempête » (qui à son tour reprend le titre d’une autre œuvre, une pièce de Shakespeare) ou le fait de l’igno- rer ou encore de lui donner un autre titre (« Vie de Michelangelo ») modifie ipso facto ses propriétés et, avec elles, le jugement que nous portons sur elle. Et si, au lieu d’évoquer la tragédie de Shakespeare à laquelle Beethoven avait explicitement pensé, dans son contenu dramatique mais aussi mythologique, nous nous concentrons seulement sur le phénomène naturel, nous pourrions ne pas saisir entièrement son caractère dramatique. Dans une bonne mesure, un discours similaire semble valoir pour d’autres propriétés contextuelles, comme celles concernant l’origine de l’œuvre3 : celle-ci ne sera plus la même lorsque nous savons que ce que nous venons d’écouter n’a pas été composé par Johann Sébastian Bach à Köthen en 1720, mais, par exemple, 15 ans plus tôt à Ohrdruf par son frère Johann Christoph : car les mêmes sons – ou la même structure sonore – as- sumerait alors une signification artistique bien différente. S’il semble opportun d’expri- mer quelques doutes sur l’opportunité d’inclure toutes ces composantes contextuelles dans la base de survenance des propriétés esthétiques de l’œuvre,4 le titre semble en bonne mesure se soustraire à ces doutes, au moins lorsqu’il a été explicitement choisi par 3 C’est la thèse contextualiste de Kendall Walton (« Categories of Art », Philosophical Review, 66, 1970, p. 334–367) qui a été appliquée à la musique de la manière la plus exhaustive par Jerrold Levinson (Music, Art, & Metaphysics. Essays in Philosophical Aesthetics, Ithaca – London: Cornell Uni- versity Press, 1990, p. 68–73). 4 Cette position a fait l’objet des critiques de P. Kivy, « Platonism in Music : Another Kind of Defense », American Philosophical Quarterly, vol. 24, n. 3, 1987, p. 246. 150 l’auteur. Voilà pourquoi il convient de reconnaître ouvertement, avec Jerrold Levinson5 et d’autres philosophes contextualistes, que dans le cas des œuvres d’art – contrairement aux apparences et, surtout, au rebours de la manière dont nous utilisons les étiquettes pour désigner les objets naturels – un titre ne constitue pas une simple marque exté- rieure à l’œuvre mais fait partie intégrante d’elle (il en constitue pour ainsi dire un de ses éléments, voire une strate). Notons que ce constat vaut pour toutes sortes de titres, y compris ceux qui nous semblent les plus neutres. En effet, même une dénomination comme « Concerto » ou « Étude », peut favoriser la saisie de certaines propriétés du dispositif (on pourra mieux comprendre des situations musicales contrastées, ou, à l’inverse, s’interroger sur le fait que le compositeur ait souhaité ne pas faire émerger de contrastes, en se situant peut- être à contre-courant d’une convention, ou encore apprécier l’originalité d’une écriture capable de « poser » un problème musical avec pertinence, etc.). Cela dit, il existe toute une typologie de titres d’œuvres musicales, dans laquelle nous pourrions repérer de mul- tiples fonctions : de l’indication d’une forme (« Sonate », « Rondeau », etc.), à celle d’un genre (« Toccata », « Symphonie » etc.), de l’évocation d’un contenu expressif, symbolique ou imaginaire, jusqu’à la présentation d’un programme. Or, un auditeur de musique contemporaine un peu expérimenté parviendrait facile- ment à la conclusion que les œuvres des compositeurs d’aujourd’hui se situent dans une région centrale de cette échelle : sans refuser l’utilisation de dénominations formelles, les compositeurs ont néanmoins une certaine tendance à s’adresser à des images ou à des références symboliques tirées souvent d’autres œuvres picturales, littéraires ou mu- sicales, sans cependant chercher à en faire un véritable programme. Les œuvres de Faus- to Romitelli, loin de faire exception, amplifient même cette tendance : aucune d’entre elles, à ma connaissance, ne porte la dénomination d’une forme ou d’un genre ;6 toutes s’accompagnent d’un nom ou d’une image. Ceux-ci semblent au premier abord avoir été dictés par une imagination extravagante : Professor Bad Trip, Trash TV Trance, Domeniche alla periferia dell’impero, Cupio dissolvi… Mais lorsque nous écoutons, ils n’ont plus rien d’anodin : ils nous intriguent, ils interpellent notre imagination. Souvent ils nous défient avec une énigme ; parfois ils nous adressent d’entrée de jeu un sibyllin clin d’œil. La ten- tation est forte de se demander quel rapport ils entretiennent avec les autres éléments de l’œuvre, comment ils fonctionnent, de quoi ils sont révélateurs. 2. Citations/références Remarquons d’abord qu’il s’agit souvent de citations de titres, noms, expressions, vers, etc. empruntés à d’autres œuvres et à d’autres contextes, surtout littéraires ou picturaux. Ces références nous permettent de délimiter le périmètre d’une sorte de médiathèque personnelle baroque et visionnaire. Parmi ses thématiques centrales, celle du voyage 5 Jerrold Levinson, « Titles », The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 44 (1985), pp. 29–39 (repris in Music, Art & Metaphysics [cf. note 3], p. 159–178). 6 La seule exception est peut-être constituée par Suites, une toute première œuvre de jeunesse pour orchestre de chambre, présentée en avril 1982 à un concert organisé par l’A.Gi.Mus de Udine. 151 onirique ou hallucinatoire, mise en avant par son œuvre maîtresse, Professor Bad Trip (1998–2000), pour ensemble et électronique, qui reprend le pseudonyme sous lequel l’ar- tiste graphique underground italien Gianluca Lerici (1963–2006) signait ses bandes dessi- nées (même si d’autres suggestions littéraires et artistiques sont évoquées par Romitelli lui-même, notamment les poèmes d’Henri Michaux et les tableaux de Francis Bacon).7 Mais le motif du voyage onirique où les profils de la réalité s’estompent apparaît déjà dans The Nameless City (1997), pour orchestre à cordes et cloche ad libitum, tiré d’une horror story de Howard Phillips Lovecraft (1890–1937), un parcours au milieu des ruines d’une ville fantôme dans le désert d’Arabie. Conviennent à ce propos les images de la dégradation, de la distorsion ou de l’anamorphose, tirées du peintre que le compositeur considérait comme le plus proche de sa propre sensibilité, Francis Bacon (Blood on the Floor, Painting 1986, 2000, pour ensemble) ou d’un film du réalisateur canadien David Cronenberg, le maître du body horror, (Videodrome, modifié en Dead city radio. Audiodrome, 2002, pour orchestre), et les figures de la mort (comme dans Cupio dissolvi, 1996, pour ensemble, inspiré de l’épître aux Philippiens 1, 23–24 de Saint Paul ; mais il y a aussi le Bardo Thödol, ou Livre tibétain des morts qui a suscité le texte de En-Trance, pour soprano, ensemble et électronique, 1995–96). D’autres travaux mobilisent des références poétiques. C’est le cas d’Invita la sua ninfa all’ombra (1986), une œuvre pour soprano et violoncelle qui date de la période de forma- tion et a été créée sur un poème de Giovan Battista Marino, de L’azur des déserts, 1992, pour mezzo-soprano et ensemble, dans le cycle Mediterraneo, qui reprend un vers de Charles Baudelaire,8 ou de Golfi d’ombra (1992), pour percussions, tiré d’un des plus cé- lèbres sonnets d’Arthur Rimbaud. Mais il faudrait également mentionner Lost, pour voix et 15 instruments, une œuvre fondée sur un poème de Jim Morrison, et surtout The Poppy in the Cloud (1999), pour chœur d’enfants ou de femmes et ensemble, qui nous fait entrer dans l’imaginaire d’Emily Dickinson. Dans d’autres morceaux encore, les icônes sont musicales : Amok Koma (2001), pour neuf instruments et électronique, titre en forme de palindrome, cite le premier album d’Abwärts, édité en 1980 (un post punk tournant au- tour de lignes de basse rondes et massives) ; Flowing down too slow (2001), pour ensemble à cordes, percussion et échantillonneur, est une œuvre hypnotique qui tend l’oreille vers Aphex Twin, en reprenant dans son titre le dernier vers de « Ibiza bar » des Pink Floyd (1969) ; An Index of Metals emprunte le titre de la deuxième partie d’un album de Robert Fripp et Brian Eno de 1975 (Evening Star). Quant à En-Trance, c’est un titre original qui, en dépit de sa magnifique ambiguïté, ne dissimule pas son hommage à Trans (1971) de Stockhausen, une œuvre que Romitelli appréciait pour sa force visionnaire. 7 « Ce cycle est issu de la lecture des œuvres qu’Henri Michaux a écrites à la suite de son expé- rience avec les drogues et les hallucinogènes, notamment la mescaline : L’infini turbulent, Connais- sances par les gouffres et Misérable miracle […] La Trilogie s’inspire sans vergogne des Triptyques de Francis Bacon, notamment de la série substantielle des Trois études pour un autoportrait des années 70 » (Fausto Romitelli, « Professor Bad Trip : présentation », Le corps électrique. Voyage dans le son de Fausto Romitelli, éd. par Alessandro Arbo, Paris: L’Harmattan 2006, p. 135–136. 8 Dans Les Fleurs du mal, le sonnet Avec ses vêtements ondoyants et nacrés, deuxième quatrain : « Comme le sable morne et l’azur des déserts, insensibles tous deux à l’humaine souffrance, elle se développe avec indifférence » (le sujet est la figure allégorique de la femme stérile). 152 Comment expliquer un aussi fréquent recours à des citations ? La culture (classique et moderne) dans laquelle baignait le compositeur (qui fut toujours un lecteur insatiable), sa passion pour le rock progressif et sa prédilection pour un cinéma enclin à mettre en scène des formes de violence plus ou moins exaspérées (Orange mécanique de Stanley Ku- brick était son cult movie préféré) expliquent évidemment en partie ce phénomène. Sans doute a-t-il aussi voulu imiter une pratique bien attestée chez certains compositeurs qui lui étaient proches (nous songeons d’abord à Hugues Dufourt, mais aussi, d’une manière peut-être plus indirecte mais significative, à Tristan Murail) et ainsi placer sa propre mu- sique au cœur d’un circuit de résonances symboliques. D’entrée du jeu, la citation ouvre sur un monde ; elle nous interpelle avec une image essentielle, souvent énigmatique, por- teuse de significations latentes. Pensons au début de The Nameless City : en nous plongeant dans les espaces déserts d’une ville sans nom, ce titre contribue à charger l’atmosphère raréfiée, engendrée par une sorte de lente respiration des cordes dans le registre aigu, d’une sensation d’inquié- tude et d’attente. Rien ne bouge, mais un événement menace. The Poppy in the Cloud est une icône poétique qui nous signale l’irruption soudaine d’une image susceptible d’ex- primer la dissolution du temps dans un contexte ordinaire. Cette image révèle aussi une certaine fascination – déjà perceptible dans les goûts littéraires de Romitelli – pour un imaginaire lié à un sentiment de sublime, y compris dans les situations existentielles ex- trêmes, cruelles ou transgressives (de la tragédie ancienne aux aphorismes amers d’Emil Cioran, jusqu’à l’érotisme perverti de George Bataille). Plusieurs de ces titres/citations peuvent être mis en relation avec la façon originale dont Romitelli faisait briller les processus de dégradation de la matière sonore (des dé- rives incontrôlées ou alors des processus dilatés, projetés à grande échelle, parfois sur une composition entière), pour introduire une fissure verticale dans le temps (également apparente dans les œuvres pourvues d’un titre original, comme Nell’alto dei giorni immo- bili 1990, pour ensemble, ou Domeniche alla periferia dell’impero, pour quatre instruments, 1996–2000). D’autres, comme les images violentes des tableaux de Francis Bacon, ont le mérite de polariser notre attention sur un événement présent dont ils nous incitent à cap- ter les dérives. Ces suggestions sollicitent en nous une sorte de réactivité bien concentrée, comparable à celle mise en scène par certaines situations de Kafka, où le protagoniste se heurte à des résistances imprévisibles cachées dans la réalité la plus quotidienne. Mais cette constatation ne peut évidemment pas être généralisée outre mesure, car les straté- gies pour capter l’attention de l’auditeur varient selon les cas. 3. Du naturel au psychédélique Il est néanmoins peut-être possible de mettre en lumière quelques stratégies liées à la maturation progressive de la poétique musicale romitellienne. Notons que dans les pre- mières œuvres les titres tantôt tendent, grâce à des suggestions poétiques, à des images naturelles, tantôt sont empruntées à la mythologie. Ils nous dévoilent, dans une logique quasi-symboliste, un fond métaphorique généralement en interaction avec la musique. C’est le cas de Solare (1983), pour guitare, ou La Lune et les eaux (1991) pour deux guitares, Ganimede (1986), pour alto, Nell’alto dei giorni immobili, Natura morta con fiamme, pour qua- 153 tuor et électronique, La sabbia del tempo, Mediterraneo 1 et 2 : Les idoles du soleil, L’azur des déserts, Seascape (1994), pour flûte à bec contrebasse. Et il en va jusqu’à un certain point de même avec la sonorisation du film de Lászlo Moholy-Nagy, Ein Lichtspiel, schwarz- weiss-grau (1997) ou de la vidéo de danse dans Green, yellow and blue (2003), pour en- semble. Notons la prédominance de deux figures : celle de l’immobile (ou du presque immobile) et celle de la lumière. Ainsi, La sabbia del tempo nous suggère, à travers un symbolisme qui n’est pas sans rappeler celui de Tristan Murail, de prêter attention aux changements de masse et de profil qui, dans le temps, procèdent des plus petites méta- morphoses du son. Dans les œuvres postérieures à l’adoption de l’écriture spectrale, on assiste à une vo- lonté plus explicite de déformation de l’image naturelle. Le registre psychédélique est au centre de cette mutation. Il est vrai que cette tendance est également détectable, peut- être sous une forme plus latente, dès les premières œuvres (notamment avec Have your trip, 1988–89, pour harpe, guitare et mandoline) ; mais elle est mieux perceptible à partir de la deuxième moitié des années 90, avec, par exemple, Acid Dreams & Spanish Queens (1994), pour ensemble. Un tel horizon se cache aussi derrière les Domeniche alla periferia dell’impero, dont le titre, qui implique encore une situation (presque) immobile, demeure cependant plus énigmatique.9 Dans la présentation de Professor Bad Trip, Romitelli dé- crira les processus de dérive des matériaux avec ces mots particulièrement significatifs : « des couleurs non naturelles, des temps non physiologiques ».10 Le psychédélisme est synonyme d’une temporalité hypnotique, hallucinatoire ; c’est un signal qui nous invite à suivre les anamorphoses du son – souvent très subtiles, comme celles qui proviennent de la modification du grain d’une ligne mélodique presque imperceptiblement suggérée au moyen d’un instrument « pauvre » comme le kazoo, ou de sa liquéfaction grâce à un sifflement apparié à la sonorité du piano. Les titres psychédéliques s’expliquent encore par un désir de focaliser l’attention de l’auditeur sur les « ouvertures latentes » du son, en stimulant son désir de suivre ses vec- teurs symboliques au-delà de l’image acoustique traditionnelle. Ils expriment le désir d’exacerber jusqu’au paroxysme la sensibilité perceptive. On voit encore se manifester ici un principe incontournable de la poétique de Romitelli : fuir comme la peste l’idée que le son est quelque chose de figé, une sorte de palette de couleurs que la tradition nous a laissée en héritage pour que l’on puisse les combiner d’une manière plus ou moins origi- nale, pour le considérer à l’inverse comme une matière vive, brûlante, dont on cherche à capter les vecteurs dynamiques. L’exploration du registre hallucinatoire est au centre de la recherche romitellienne dans les années 90. Elle caractérise une œuvre fondamentale comme En-Trance ; mais nous la trouvons déjà in nuce dans une pièce beaucoup moins connue mais tout aussi ré- vélatrice, Golfi d’ombra. Le poème des correspondances de Rimbaud qui a inspiré ce titre 9 Pour comprendre ce titre, il faut peut-être avoir à l’esprit une certaine symbolique existentielle propre à Gorizia, ville natale du compositeur : un microcosme situé à la périphérie de l’ancien em- pire autrichien, dont elle garde encore aujourd’hui le souvenir et des traces indubitables. 10 Fausto Romitelli, « Professor Bad Trip : présentation » in A. Arbo (éd.), Le corps électrique, Paris: L’Harmattan, p. 136. 154 nous invite à associer la voyelle A avec la couleur noire, indiquée ici par une image forte et décadente : A, noir corset velu des mouches éclatantes Qui bombinent autour des puanteurs cruelles, Golfes d’ombre (…). Ici, c’est surtout, me semble-t-il, l’idée de l’avènement d’espaces obscurs, et donc une sensation de crainte, qu’il convient d’avoir en tête.11 Les percussions engendrent un flux sonore homogène et l’effet d’obscurité est lié au mouvement global qui s’appuie, harmo- niquement, sur des notes graves. Le son du gong d’opéra chinois joue un rôle important, en introduisant des moments de saturation et de liquéfaction sonore que l’on peut consi- dérer comme de véritables empreintes stylistiques de la poétique romitellienne. Dans sa rotation hypnotique, cette composition, comme d’autres de la même période, se présente comme une exploration de l’immobile. En travaillant sur les résonances des percussions, elle tente de fissurer le temps, d’ouvrir une brèche dans le mystère de l’instant.12 4. Ironie Les titres de la fin des années 90 comportent également, nous l’avons déjà remarqué, une bonne dose d’ironie. Celle-ci fait ressortir l’incapacité de la sensibilité à ne pas déborder hors de ses rails. Sa présence conditionne nos manières d’écouter, comme le montre bien l’exemple de Professor Bad Trip, à nouveau emblématique : ce professeur est, certes, un provocateur de premier ordre. Sa pose professorale ne peut pas faire illusion ; mais son enseignement n’est pas négligeable, puisqu’il passe à travers l’exemple. En effet, ces trois « leçons » nous indiquent quelle relation le compositeur ambitionne d’entretenir avec la tradition musicale : c’est l’enseignement que la culture « underground », avec son énergie directe, donne à la musique savante, et plus précisément à un son devenu anémique et inerte. Cette musique devient ainsi, en accord avec l’œuvre de Lerici, une réaction on the road aux poétiques formalistes. Mais c’est un remède dont on percevra justement, après avoir écouté, l’intonation ironique (et même peut-être auto-ironique), plutôt que (néo-) futuriste : car les sonorités underground, dans cette œuvre, ne sont jamais saisissables 11 Est-il possible de penser aussi au corps féminin, comme dans certaines interprétations de ce sonnet ? Je crois que le compositeur aurait aimé que nous ne trouvions pas ici qu’une seule clef de l’énigme, et que nous laissions à l’auditeur le plaisir d’interroger ses sensations (voir Fausto Romitelli, « Produire un écart », in: Eric Denut, Musiques actuelles, musiques savantes, quelles inte- ractions ?, Paris: L’Harmattan 2001, p. 76: « L’écoute ne doit pas être une écoute intellectuelle. Peu importe que la musique soit ou non comprise par l’analyse : la musique ne doit pas être comprise, au contraire elle doit être énigmatique »). Il est en tout cas assuré que, dans cette composition comme dans beaucoup d’autres de Romitelli, le clair et le « normal » sont par moments d’une obs- curité inquiétante. Des golfes d’ombre, justement. 12 Il en va de même pour Nell’alto dei giorni immobili (1990) ou Your time is over (1993), et plus tard Chorus (2001) ou Flowing down too slow (2001). 155 au premier degré, mais brillent à l’intérieur d’une écriture très minutieuse qui n’oublie jamais la construction et la forme. Plus directe, provocatrice et jubilatoire est la « leçon » que nous pouvons tirer de Trash TV Trance, une œuvre d’une virtuosité spectaculaire, où les effets visionnaires de la gui- tare de Jimi Hendrix alternent avec le bruit produit par le contact du jack d’amplification, emblème décomposé de l’immense poubelle médiatique qui nous entoure. Une ironie d’un autre genre encore imprègne Audiodrome (2003, pour orchestre), où un motif des- cendant extrait de l’Alpensinfonie de Strauss dérape sur une brusque métamorphose de la masse symphonique. Les modifications de la perception dues à l’emploi d’un moyen technologique – un thème déjà au centre du film de Cronenberg – se manifestent ici à travers la violence infligée à l’image sonore traditionnelle. C’est comme si dans les so- norités symphoniques s’ouvrait une brèche : nous voici projetés dans ses perspectives altérées, que l’écriture continuera à poursuivre comme si elle voulait nous guider dans l’extraordinaire découverte d’un monde en ruines. 5. Œuvre ultime An Index of Metals (2003), pour soprano, ensemble, multi-projection et électronique oc- cupe une place à part dans l’œuvre du compositeur. Cette étiquette faussement neutre – on pourrait penser avoir affaire à un simple catalogue de métaux – réunit en effet en une seule image une grande partie des motifs que nous avons vu à l’œuvre dans les compositions précédentes. Il s’agit avant tout, nous l’avons déjà rappelé, de la citation d’un disque. Le clin d’œil à la drone music de Fripp et Eno est une invite à tendre l’oreille vers des traitements électroniques explicitement situés au-delà des territoires balisés par l’avant-garde savante (on pense notamment au loop engendré par des longues notes de guitare avec distorsion). L’image la plus immédiatement évocatrice est celle des métaux : ils constituent la matière de cette œuvre, une matière compacte, résistante mais aussi, à l’occasion, plastique, modifiable, fluide (contrairement aux objets en bois ou en céra- mique, les objet métalliques peuvent faire l’objet d’une fusion – un processus qui, d’un point de vue perceptif, s’apparente à une métamorphose interne). En outre, les métaux, dans notre expérience la plus ordinaire, réfléchissent la lumière avec des effets de co- loration, d’éblouissement, de saturation visuelle. Tous ces caractères émergent dans la vidéo de Paolo Pachini, entièrement fondée sur le matériel concret, mais où néanmoins l’image, un peu à cause des effets macros, un peu à cause du traitement informatique, semble liquider tout contenu représentationnel (avec peut-être la seule exception de la séquence finale).13 Ces suggestions sont avant tout une invite à suivre les transformations du son, à se laisser capturer par la manière dont il a été sculpté. Mais il faut peut-être aussi rappeler 13 Sur les multiples convergences entre la vidéo et la musique dans cette œuvre, voir les inté- ressantes remarques de S. Vallauri, « La temporalità in musica e nel video astratto », Estetica del desiderio, éd. par Erasmo S. Storace, Milan: Mimesis 2011, p. 170–172. 156 qu’An Index of Metals est une œuvre ultime qui a valeur de témoignage.14 Dans cette œuvre constellée de citations musicales de la culture rock et pop (à commencer par le début, qui met en scène l’accord initial de Shine On You Crazy Diamond des Pink Floyd), le titre lui-même pourrait être compris comme une sorte de vaste auto-citation, qui convoque la plupart des motifs déjà énumérés : du détachement du naturalisme percep- tif à l’éloge de l’impureté, de l’idée de sculpter le son à la volonté de suivre jusqu’au bout les processus de sa corrosion interne, de sa liquéfaction. Cette œuvre constitue en elle-même un geste ironique : une sorte d’exorcisme face à l’inéluctabilité des processus de dégradation de la matière, dont elle cherche à faire ressortir l’énergie et la beauté paradoxales. L’utilisation de procédés de répétition joue ici un rôle important. Car d’en- trée de jeu, comme dans Professor Bad Trip, nous devrons nous laisser entraîner dans des mises-en-boucle ou des mises-en-abîme – autrement dit, dans des séquences marquées par une forte sensation de cyclicité temporelle qui n’est pas sans nous rappeler une fois de plus l’univers de la popular music.15 L’image « naturelle » (comme au début d’Audio- drome) nous exhibe son double. La répétition devient le signe ironique de la présence de la mort dans le vivant : c’est le moment où nous perdons nos repères, où ce qui nous rassure commence à se défaire. Évoquons encore, pour finir, un autre titre : celui du premier recueil d’articles consacré au compositeur, Il corpo elettrico (Le corps électrique).16 Il est vrai qu’il ne s’agit pas d’une œuvre musicale ; c’est cependant à tout point de vue un titre romitellien. Voici son his- toire. En 2003, Carlo De Incontrera, directeur d’une collection de livre publiés par le théâtre de Monfalcone (I) m’a demandé de consacrer un livre à la musique de Romitelli. Plutôt que de réaliser seul le projet, je décidai de demander l’aide d’amis et de collègues qui avaient déjà eu l’occasion d’étudier son travail. Le livre fut achevé pendant l’hiver et, au début de 2004, il lui manquait seulement un titre. J’y ai réfléchi avec Fausto pendant plusieurs semaines, mais sans succès (seul le sous-titre nous semblait acquis, car nous voulions faire découvrir son œuvre par un voyage à travers ses sonorités), jusqu’à ce que celui-ci m’appelle un jour au téléphone : « j’ai une idée, “Il corpo elettrico” qu’en penses- tu ? ». J’ai été immédiatement séduit, tant cela sonnait juste. Mais il m’a fallu du temps pour prendre conscience que ce titre était vraiment consubstantiel à son œuvre. C’est bien entendu encore une citation, et même une double, ou, si l’on veut, une cita- tion au deuxième, voire au troisième degré, qui nous ouvre un vaste univers poétique. « I sing the body electric », titre du deuxième album du groupe de jazz fusion Weather Report (1971–72), est emprunté à un recueil de nouvelles de Ray Bradbury (1969) qui avait quant à lui repris le premier vers d’un poème homonyme de Walt Whitman (1867): I sing the body electric, The armies of those I love engirth me and I engirth them, 14 Cf. Alessandro Arbo, « Journal d’un très mauvais, sublime voyage dans la matière. Sur An Index of Metals de Fausto Romitelli », Œuvre ultime, Strasbourg: Université Marc Bloch 2005, p. 187–194. 15 S. Vallauri, « La temporalità in musica e nel video astratto » (cf. note 11), p. 166. 16 Il corpo elettrico. Viaggio nel suono di Fausto Romitelli, éd. par Alessandro Arbo, Monfalcone: Il teatro 2004. 157 They will not let me off till I go with them, respond to them, And discorrupt them, and charge them full with the charge of the soul. Was it doubted that those who corrupt their own bodies conceal themselves? And if those who defile the living are as bad as they who defile the dead? And if the body does not do fully as much as the soul? And if the body were not the soul, what is the soul? […] À l’origine, dans le recueil Leaves of Grass (1855), ces vers constituent une admirable apo- logie de la sensualité, une exaltation du corps et du monde matériel. Vouloir « chanter le corps électrique » est aussi le dessein affiché par le titre du disque des Weather Report (cet album expérimental qui utilise pour la première fois le synthétiseur marque une étape décisive de l’évolution musicale de ce groupe). Comme miroir de la poétique de Romitel- li, l’expression est tout aussi parfaite, au point de nous faire oublier l’emprunt. En effet, sa réhabilitation de l’univers des sonorités des musiques actuelles se fonde sur l’idée que le corps doit nécessairement être placé au centre de l’expérience musicale.17 Le « corps électrique » suggère que le naturel est l’artificiel : que le son amplifié s’avère, malgré les apparences, être le plus proche de nos réactions physiologiques. D’autres compositeurs qui appartiennent à peu près à la même génération ont poursuivi un objectif similaire, même s’ils ont suivi des stratégies différentes. On peut penser à Luca Francesconi, qui a développé d’une manière originale le projet de capter les énergies des musiques actuelles en se débarrassant des clichés et des frontières qui les avaient traditionnellement sépa- rées de la culture savante, et qui, en 2006, reprendra l’idée des Weather Report dans une œuvre pour violon, live electronics et double ensemble.18 Placer au centre de l’attention un corps électrique implique d’ailleurs aussi que notre corps et notre sensibilité peuvent désormais difficilement être pensés sans la médiation de la technologie : qu’il est faux de considérer celle-ci comme un « corps étranger », alors qu’elle n’est au fond rien d’autre qu’un prolongement de nous-mêmes. Et aussi, peut-être, que c’est bien dans ce son élec- trifié, saturé, susceptible de porter notre sensibilité à son paroxysme, que se reflète notre image d’hommes du XXIe siècle. 17 « La musique, c’est aussi et avant tout peut-être les réactions physiologiques du corps » (Faus- to Romitelli, « Produire un écart » [cf. note 11], p. 76). 18 Electric Body (2006). Francesconi a aussi donné le titre « The electric body » à un campus Enparts, de la Biennale de Venise en 2009 (http://www.labiennale.org/it/mediacenter/video/ body2.html). 158 Spektrale Spuren in Werken der jungen polnischen Komponisten von Jan Topolski Vorbemerkungen Es gab ein besonderes Konzert, das vieles in der polnischen Musik geändert hat. Es war am 25. September 2003 beim Warschauer Herbst, das Ensemble Court-Circuit führte mit Sylvia Nopper und Pierre-André Valade das letzte Werk von Gérard Grisey auf. Wie viele meiner Kollegen und Freunde damals bestätigten, hinterließ diese ausgezeichnete Interpretation von Quatre chants pour franchir le seuil dauerhafte Spuren bei polnischen Komponisten. Einige wie Paweł Mykietyn bekannten gar, dieses Werk habe buch- stäblich ihr Komponieren beeinflusst; andere, wie auch ich selbst, widmeten der spek- tralen Musik sehr viel Aufmerksamkeit. Wir waren alle beindruckt und entzückt: Dieses Werk Griseys schien einerseits so natürlich oder traditionell, andererseits war klar, dass es das Ergebnis lebenslanger Erfahrung und Klangforschung war. Was ist also passiert, warum in Polen und warum gerade zu diesem Zeitpunkt, bald dreißig Jahre nach Auf- kommen dieser Strömung? Um das zu ergründen, muss man einen Blick in die Vergangenheit werfen, besonders auf zwei Momente in der Geschichte der polnischen Musik des 20. Jahrhunderts. Der eine fällt in die Jahre um 1960, es ist der Höhepunkt der sogenannten polnischen Schule. Es ist die Zeit der Klangkompositionen von Penderecki, Górecki, Serocki und Szalonek – zusammen mit ähnlichen Werken von Ligeti, Xenakis und Cerha. Für den Stil charakteristisch sind unkonventionelle Instrumentation oder Artikulations- weise, erschütternde Kontraste und Kombinationen, manchmal auch der Mangel an systematischem Denken und kohärenter Form. Einer der Komponisten, die Schritt für Schritt und jahrzehntelang ihre eigene innovative musikalische Sprache entwickelt haben, war Witold Szalonek, leider seit 1980 in Berlin tätig und dadurch in Polen nicht mehr so einflussreich. Die anderen sogenannten großen Drei (oder bösartiger: die Heiligen Drei), Krzysztof Penderecki, Henryk Górecki und Wojciech Kilar, wandten sich Mitte der siebziger Jahre von dieser Richtung ab. Wie im Westen Minimal Music oder Neue Einfachheit, kam auch in Polen die ästhetischen Wende, aber sie kam in Gestalt der sogenannten Neuen Romantik: tonale und quasitonale Harmonik, sinfonische Musik und klassische Formen, ewige Themen und Gefühle. Diese Wende erfasste die gesamte polnische Musikwelt; mit Ausnahme von Komponisten wie Szalonek (wie erwähnt, seit 1980 im Ausland) oder Kazimierz Serocki (er starb 1981) oder vielleicht dem marginalisierten Bogusław Schaeffer gab es keine Alternative, Opposition oder neue Avantgarde. Auch wenn der prominente Nachwuchs, etwa die in den Fünfzigern geborenen Eugeniusz Knapik oder Paweł Szymański, sich gegen die alte polnische 159 Schule zunächst auflehnte, fand er letztlich jedoch ebenfalls zu diesem Stil, und am Ende fanden sich alle auf derselben Seite. Dieser Zustand dauerte bis in die neunziger Jahre an und etablierte sich mit Unter- stützung der Kritik und der Festivals, nicht zuletzt auch durch den begrenzten Zugang zu Auslandsstipendien oder -aufenthalten, zu Partituren und Aufnahmen. Nach der politischen Wende 1989 und noch viel mehr nach dem EU-Beitritt Polens 2004 änderte sich alles. Das Musikleben wurde dezentralisiert, neue Festivals und Zeitschriften wurden gegründet, eine neue Generation von Komponisten und Kritikern kam auf. Endlich konnte man frei in den Westen reisen und dort studieren, und bald kam ans Tageslicht, dass es weit mehr Strömungen gab, als in Polen bekannt waren oder hier adaptiert wurden. Das bedeutet nun nicht, dass Stücke wie Périodes von Gérard Grisey oder Ethers von Tristan Murail zuvor in Polen nie gespielt wurden – beide waren beim Warschauer Herbst 1981 zu hören –, aber sie wurden nie verstanden, analysiert oder erarbeitet. Wenn ich die Schuldigen benennen sollte, so wären dies vor allem die sehr konservativen Musikhochschulen (mit Ausnahme von Wrocław und von Zeit zu Zeit Katowice und Kraków). In dieser Zeit gewann die spektrale Musik in Polen besondere Bedeutung. Ich vermute hierfür drei Gründe: Erstens, sie setzt die Tradition der polnischen Schule und der Klang- komposition mit neuen Mitteln fort, mit Hilfe der Spektralanalyse und des Computers. Zweitens, sie appelliert, selbst wenn oberflächlich, an die Vorlieben der polnischen Komponisten für Naturalismus und ihren Widerwillen gegen Spekulatives – deswegen begrenzen sich leider viele unserer spektralen Werke auf die Nutzung einer einzigen, unveränderten Obertonreihe als Basis ihres Klangsystems. Und drittens scheint diese Strömung nicht so radikal wie beispielsweise die Neue Komplexität, musique concrète instrumentale oder postkonzeptuelle Ideen. Seit 2003 wurden in Polen viele Texte, Ab- schlussarbeiten, Vorträge und Konferenzen der spektralen Musik gewidmet, unter anderem in den Zeitschriften Glissando, Nowamuzyka und Res Facta Nova oder an den Hochschulen in Warszawa, Kraków, Gdańsk, Poznań, Wrocław. Es ist symptomatisch, dass in einem der ersten polnischen Komponisten, die mit Spek- tren experimentierten, Paweł Mykietyn (geboren 1971), seit seinem Debüt Anfang der neunziger Jahre der Nachfolger der postmodernen, quasitonalen und repetitiven Musik von Paweł Szymański gesehen wurde. Mykietyn sagte damals, das schon erwähnte Konzert mit Quatre chants pour franchir le seuil sei für ihn ein ästhetischer Schock gewesen und zugleich unmittelbarer Anreiz, seine Musiksprache neu zu formulieren. Im ersten Schritt begann er, mit vierteltönigen Reihen zu arbeiten – entgegen Griseys Methoden –, aber auch mit überzeugenden Effekten wie in Ładnienie (Schönerwerden) von 2004. Dieses mikrotonale Stück für Bariton, ein verstimmtes Cembalo und Streicher in Skordatur nutzt eine sehr spezifische vokale Technik: die Verlangsamung der Stimme. Jedes Phonem ist betont, sowohl Konsonanten als auch Vokale, manchmal auf sehr ko- mische Weise – das steht im Einklang mit der Aussage des Textes von Marcin Świet- licki, der durchsetzt ist von ironischen Metaphern über das Sterben und das Paradies. Diese Verlangsamung steht Griseys Zeitlupe in Vortex temporum sehr nahe, wo dasselbe Objekt in vielen verschiedenen Zeitebenen vorgestellt wird. Später bestätigte Paweł Mykietyn, dass Mikrotonalität für ihn keine vorübergehende Tendenz sei, sondern eine neue Etappe in seinem Komponieren eröffnete. Er bindet drei 160 Strategien zusammen: Modi, Akkorde und Skordatur. Beispielhaft für die erste sind das Streichquartett (2007) und Passion nach St. Markus (2008) mit einer Folge von 3/4-, Ganz-, 3/4-Ton. In Ładnienie dagegen nutzt Mykietyn eine ganze Matrix von Akkorden, die spätromantischen diminuierten Vier- und Fünfklängen nachgebildet sind. Und die letzte Strategie, die der Skordatur, kann man in der Cellosonata (2006) oder der Passion beobachten: In der Sonate sind die vier Saiten auf 71.3, 87.3, 160.1 und 196 Hz gestimmt, und in der Passion sind die Streicher dreigeteilt, mit a1 auf 405, 429 und 442 Hz. Während alles das nur indirekt mit Griseys Werk in Beziehung steht, sind die zwei Tuben in der Passion ein klarer Verweis auf Quatre chants pour franchir le seuil. Auch hier gewinnt dieses Abb. 1: Paweł Mykietyn, Passion (© Polskie Wydawnictwo Muzyczne, Warschau) 161 Abb. 1 (Fortsetzung): Paweł Mykietyn, Passion (© Polskie Wydawnictwo Muzyczne, Warschau) 162 seltsame Instrument eine prominente Rolle und der Komponist nutzt Interferenzen zwischen den Grundtönen. Den stärksten Einfluss hat der Spektralismus aber auf Mykietyns Zweite Sinfonie (2007). Ihre Form beruht auf dem Goldenen Schnitt und dem Möbiusband. Mykietyn ver- meidet hier ebenso wie Grisey in Les espaces acoustiques Linearität durch vielschichtiges Denken: Wenn in der Agogik die Werte wachsen, sinken sie in der Dynamik; während sich der Vordergrund verdichtet, dünnt der Hintergrund aus. Alle Prozesse sind sehr Abb. 2: Paweł Mykietyn, 2. Sinfonie (© Polskie Wydawnictwo Muzyczne, Warschau) 163 Abb. 3: Dobromiła Jaskot, Hagalaz (© Dobromiła Jaskot) 164 Abb. 3: Dobromiła Jaskot, Hagalaz (© Dobromiła Jaskot) 165 Abb. 4: Andrzej Kwiecinski, Umbrae (© Stichting Donemus Beheer, Rijswijk) 166 Abb. 4 (Fortsetzung): Andrzej Kwiecinski, Umbrae (© Stichting Donemus Beheer, Rijswijk) 167 systematisch geordnet, z. B. sind die Tempi ansteigend: 54,7 – 59,9 – 63,6 – 67,6 – 71,8 … Griseys Idee der musique liminale scheint hier durch, das Überschreiten der kleinsten Schwelle der Wahrnehmung und der Übergang von punktualistischer Textur zu Clustern. Man sollte auch zwei kammermusikalische Momente hervorheben, wenn sich die Klarinette in Obertönen bewegt und die Posaune den Grundton unterstreicht, was Assoziationen an Griseys Solo pour deux weckt. Die Spektren werden durch Dämpfer und Artikulationstechniken verfärbt, und alles mündet in die charakteristischen Farben der Hammondorgel. Für jüngere Komponisten war die spektrale Musik nicht mehr die zweite oder dritte Sprache oder der Anreiz, ihr Kompositionssystem zu reorganisieren, sondern ein Ini- tiationserlebnis und eine Selbstverständlichkeit. Ein zusätzlicher Zauber steckte darin, dass diese Studenten, die nicht an ausländischen Hochschulen studierten, sich diese Techniken selbst erarbeiten mussten, denn die Ausbildung in Polen endete oft bei der seriellen Musik oder im besten Fall bei der Minimal Music. Ich erinnere mich, als ich auf Einladung von Mykietyn spektrale Musik an der Warschauer Hochschule für Musik unterrichtete, dass wir uns nach der Arbeitszeit in einem kleinen Saal trafen, als wären wir eine Untergrundbewegung. Und ich bin sicher, dass es noch 2004 in ganz Polen nur zwei oder drei Partituren von Grisey gab, die wir leidenschaftlich kopierten. Des- halb waren die ersten Versuche von jungen Komponisten oft auf die einfachste Technik der synthèse instrumentale beschränkt. Das ist z. B. der Fall in den ersten Stücken von Dobromiła Jaskot (1981 geboren) und Andrzej Kwieciński (1984 geboren). Hagalaz (2004) für Cello, Klarinette und Posaune (siehe Abb. 3) und Ingwaz (2005) für Ensemble wurden nach skandinavischen Runen benannt, die für Jaskot damals eine wichtige Inspirationsquelle waren. Die beiden Werke zeigen eine enge Verwandt- schaft mit Giacinto Scelsis Kontemplation über einen Ton: Die Musik entwickelt sich sehr organisch, der Klang quillt und wächst, und das Material wird in Hagalaz durch das Spektrum von E determiniert. Dieser Grundton – so wichtig für Gérard Griseys Les espaces acoustiques – wurde auch von Kwieciński in seinem Streichquintett Umbrae (2004) genutzt. Er selbst sagte: »Während des Komponierens erfuhr ich, was ein Spek- trum ist und experimentierte. Ich dachte, das sei doch ganz einfach, Material nur bis zum sechzehnten Oberton. Die oberen klingen so gut: umgestimmt, aber gleichzeitig ganz diatonisch und quasitonal, aber etwas knirschte, etwas war nicht richtig.« Die mikrotonale, jammernde Harmonik und die hypnotische, repetitive Rhythmik greifen ineinander und bilden einen sehr spannenden ersten Teil. Er will nicht enden, be- schleunigt immer weiter und schlittert in eine fünfstimmige Heterophonie. Nach etwa zwei Dritteln des Stücks gibt es einen Bruch, und aus der Dichte bleibt nur noch eine brüchige Monodie übrig. Glücklicherweise beendeten weder Dobromiła Jaskot noch Andrzej Kwieciński ihre spektralen Abenteuer mit diesen ersten, etwas naiven Stücken. Jaskots Meisterarbeit Echeveria für Orchester (2009–10), nach Wüstenrose und mexikanischem Steinkaktus benannt, offenbart das ausgereifte Talent. Obwohl die Harmonik meist auf den Tönen G, Fis und H beruht, sind dies keine Simulationen der konkreten Klänge, sondern Spek- tren, die am leichtesten instrumental zu behandeln sind, wie die Komponistin selbst zugibt (z. B. ermöglicht der Ton G die Nutzung der leeren Saiten der Streicher). Sie haben 168 Abb. 5: Andrzej Kwiecinski, No. 27, 1950 (© Stichting Donemus Beheer, Rijswijk) 169 auch viele gemeinsame Obertöne, was Zwischenmodulation oder Zusammensetzung erleichtert. In Echeveria nutzt Jaskot auch viele andere spektrale Techniken wie Filterung, Dysharmonisation, Modulationen der Amplitude und Frequenz oder akustische Simulation des Nachhalls, umgekehrten Nachhall, Delay, Reibung oder Morphing. Während Jaskot von Scelsi beeinflusst ist, hat sich Andrzej Kwieciński von Sciarrinos Zauber beeindrucken lassen. In No. 27, 1950 (2006) für Ensemble (siehe Abb. 5), inspiriert durch Jackson Pollocks Gemälde, überlagern sich zwei Schichten: eine statische mit langsamem Glissando und eine dynamische mit Sechzehntel-Figuration. Ihr Material kommt aus Kleinterz-Flageoletten und dem Spektrum des Tons E, ganz wie in Vortex temporum von Gérard Grisey. Wenn man die Zeitstruktur analysiert, wird klar, dass Kwieciński sehr präzise Prozesse der Verlangsamung und Beschleunigung entwickelt, die durch laute Eruptionen markiert werden. Musikalische Gesten fallen auf vielen Ebenen auf, etwa das Arpeggio – am Anfang nur ein Effekt, später fast ein Hauptthema, und am Ende unterliegt es der Erosion. Im Streichquintett mural (2010) nutzt der Kom- ponist das Spektrum des Tons B. Aber es ist verzerrt: Die acht Hauptakkorde werden durch frequency distortion berechnet und danach wie in der seriellen Musik beliebig ausgewechselt. Die zwei letzten Komponisten, Marcin Stańczyk (geboren 1977) und Mateusz Ryczek (geboren 1985), haben trotz ihres Altersunterschieds etwas gemeinsam, nämlich dass sie seit Beginn ihrer Karriere keinen direkten Einflüssen erlegen sind und ihre eigene Musiksprache entwickelt haben. Stańczyk nutzt die harmonische Reihe und ihre Deri- vate in vielen Stücken, das erste Mal wohl in Geysir-Grisey (2006) für Klavierquartett (siehe Abb. 6). Trotz der scheinbaren Vielfalt und des Reichtums enthält das ganze fünfzehnminütige Stück nur den einen Ton E in vielen mikrotonalen Abweichungen, Klavierarpeggien und Artikulationsvarianten. Stańczyk glaubte aber nach ein paar Jahren nicht mehr an das Spektrum als magisches Mittel oder Zweck an sich, sondern betrachtete die spektrale Musik als eine notwendige, noch nicht beendete Etappe seiner Entwicklung. Bedeutend ist für ihn nicht die Obertonreihe, sondern die Konsequenzen, die man aus dem spektralen Denken ziehen kann: die dynamische Natur der Klanges, seine Totalität. Deshalb kann der Komponist durchaus als ein Postspektralist bezeichnet werden, ähnlich wie in der Geschichte der seriellen Musik nach ein paar puristischen Werken viele freiere oder offenere kamen. Aber so wie die serielle Revolution das kom- positorische Bewusstsein veränderte, denkt man auch nach der spektralen Musik anders über Klang. Marcin Stańczyk nutzt also nur Fragmente der abstrakten Obertonreihe als Materialquelle in Stücken wie Laterna (2008), Three Afterimages (2008) für Kontra- bass, Suggested music (2010) für Saxophon, Klarinette und E-Gitarre. Nibiru (2009) für Ensemble ist nach alten südamerikanischen Inschriften über einen geheimnisvollen zehnten Planeten benannt. Wie viele andere Stücke von Stańczyk kann man auch dieses als Spannungsfeld zwischen einzelnen Instrumenten und ihren verschiedenen Farben betrachten, aber besonders zwischen Dauern und Bewegung. Letzteres nimmt hier viele Gestalten an: Tremolo, Frullato, Ostinato, zerstörte Rhythmen der Sechzehntel und Pausen. Die komplexe Partitur mit vielseitiger Einführung und Darstellung der umfang- reichen Artikulationstechniken dient wie immer dem einen Zweck: die Interpreten nicht 170 171 Abb. 6: Marcin Stanczyk, Geysir-Grisey, S. 5 (© Marcin Stanczyk) 172 Abb. 7: Marcin Stanczyk, Niribu (© Marcin Stanczyk) für die perfekte Realisation, sondern für eine spezifische Expression und Anstrengung zu gewinnen, an der Grenze des Unmöglichen (siehe Abb. 7). Mateusz Ryczek ist ein etwas anderer Fall. Der Komponist sagte einmal, dass er nicht-existierende Klangmodelle schaffe durch die Arbeit an reinen Frequenzen in Hertz. Inspiration sei für ihn Tristan Murails frequency modulation, die er in der Instru- mentalmusik einsetze. Der Komponist unterstreicht nicht nur die Untrennbarkeit von Harmonik und Farbe, sondern auch von Tonhöhe und Dauern. Ryczek ist vielleicht einer der ersten in Polen, die im eigentlichen Sinne mit Frequenzen und ihren mathematischen Beziehungen wie Proportionen, Potenzen, Wurzeln arbeiten, und er glaubt dabei an die pythagoräische Idee der Musik. Wie aber klingt diese Harmonie der Sphären im Realen? In zwei miteinander verbundenen Stücken, Metasonora (2010) für Ensemble und Infrasinfonie (2012) für Orchester, macht Ryczek extensiven Gebrauch von Infraklängen, die er aber sehr spezifisch behandelt, etwa wie Stockhausen dies in dem berühmten Text »… wie die Zeit vergeht …« postuliert. Alle Frequenzen unter 20 Hz werden ständig im Tempo Viertel = 60 gespielt. Zum Beispiel nutzt der Komponist am Beginn der Infrasinfonie die synthèse instrumentale der Tonhöhe 2 Hz, gespielt von der Großen Trommel, hinzu kommt das Klavier mit Fis, 94 Hz. Das gesamte Diptychon ist ein ausgezeichnetes Modell der spektralen Struktur, es nutzt die Obertöne Nr. 11, 13, 17, 19, 23, 29, 31, 41, 47, 53 – also Primzahlen. Die Form der beiden Stücke beruht auf der sogenannten Lucas- Folge, die den Goldenen Schnitt enthält, sie steuert aber auch die Grundtöne des Stückes – 2, 1, 3, 4, 7, 11, 18, 29, 47 Hz –, sie kann sich in der Rhythmik wie in der Harmonik offenbaren, aber auch in melodischen Reihen (als Proportionssystem) und in der Zeit- organisation (fraktale Form). Das ist eine neue Realisation dieser Kohärenz, nach der Grisey schon in Les espaces acoustiques gesucht hat. Spektrale Spuren in den Werken der polnischen Komponisten finden sich also seit Beginn des 21. Jahrhunderts, und sie bilden ein besonderes Phänomen: Dreißig Jahre nach Geburt der musique spectrale wird sie von jungen Komponisten in einem anderen Land wiederentdeckt. Sie werden aber keine strengen Spektralisten oder Fetischisten, sondern nutzen die Gelegenheit, um ihre Musiksprache zu überdenken, sich von post- modernen Tendenzen zu befreien und westeuropäische Technik nachzuholen. Das hat viel zu tun mit dem Generationswechsel und dem Widerstand gegen das damalige Musikleben (besonders das akademische System), aber auch mit einer Rückkehr zur Tradition der Klangkomposition. Alle diese Komponisten – Paweł Mykietyn, Dobromiła Jaskot, Andrzej Kwieciński, Marcin Stańczyk und Mateusz Ryczek – haben sich seit ihrem ersten Kontakt mit der spektralen Musik weiterentwickelt, von einfacher syn- thèse instrumentale zu mikrotonalen Reihen, Vielfalt der Techniken, verzerrten Spektren, Infraklängen. Welche Richtung sie noch einschlagen werden und welche Impulse noch aus der spektralen Musik für die Zukunft erwachsen, darauf bin auch ich gespannt. 173 Abb. 8: Mateusz Ryczek, Metasonora (© Mateusz Ryczek) 174 Abb. 8 (Fortsetzung): Mateusz Ryczek, Metasonora (© Mateusz Ryczek) 175 Dispositive von Natur Deutungszusammenhänge für Enno Poppes Salz von Björn Gottstein Enno Poppe, Jahrgang 1969, gehört zu den Komponisten, für die mikrotonale Verfahren nicht mehr zwangsläufig mit einem ideologischen Programm verknüpft sind. Wie viele andere Errungenschaften der Nachkriegsavantgarde ist auch die Mikrotonalität im 21. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit geworden, ähnlich wie erweiterte Spieltech- niken und Geräuschklänge auch. Für Poppe spielen mikrotonale Verfahren seit den neunziger Jahren in seinen Werken regelmäßig eine zentrale Rolle. Auch wenn damit keine bestimmte Haltung oder gar Ideologie verbunden ist, gehen mit diesen Verfahren doch immer bestimmte Bedeutungszusammenhänge einher. Im Folgenden soll Poppes wichtigstes mikrotonales Verfahren und mögliche Deutungen der daraus resultierenden musikalischen Situationen anhand des Werks Salz beschrieben werden. Die Komposition Salz Salz entstand 2005. Als Ensemblewerk ist es mit Flöte, Oboe (auch Englischhorn), Klarinette (auch Bassklarinette), Saxophon (Sopran und Alt), Schlagzeug, Keyboard (Sampler), Violine, Viola und Violoncello besetzt. Für den Sampler ist eine spezielle Software notwendig, die in engem Zusammenhang mit der mikrotonalen Disposition des Werks steht. Das Werk dauert ca. 15 Minuten. Die Komposition Salz kann auch als zwölfter, letzter Satz von Schrank aufgeführt werden, einem Zyklus kammermusika- lischer Miniaturen, die zwischen 1989 und 2009 entstanden sind. Uraufgeführt wurde Salz am 21. August 2005 im Rahmen der Salzburger Festspiele; der Titel des Werks lässt sich auch auf den Uraufführungsort zurückführen; es gehen aber weitere Implikationen von diesem Titel aus. Der Titel gibt z. B. auch Aufschluss über eine Werkidee. Eine bestimmte Menge Salz ist für den Menschen lebensnotwendig; aber eine zu hohe Menge Salz ist unver- träglich. Oder wie Enno Poppe den Zusammenhang in seinem Werkkommentar im Programmheft der Salzburger Festspiele 2005 zusammenfasst: »Salz ist lebenswichtig. Aber im Meer verdursten wir.« Der darin angedeutete Widerspruch, dass eine über- triebene Steigerung eines an sich existenziellen Stoffes zu einem Kollaps führt, ist für die Form und den Verlauf des Werks bestimmend. Im Prinzip werden auf verschiedenen Ebenen Steigerungen durchgeführt, die über den Verlauf des gesamtes Werks eine große Gesamtsteigerung beschreiben. Wichtigster Ausgangspunkt beim Komponieren waren eine Metrums- und eine Akkordmatrix. Im Falle der rhythmisch-metrischen Ebene des Werks wird ein sich 176 zusehend verästelndes Verfahren angewandt, in dem auch das Steigerungsprinzip des Werks wirksam wird. Am Anfang steht die Zahlenreihe 16 12 8 6 4, eine Reihe, in der eine 4er- und eine 3er-Reihe je alternierend halbiert werden. Diese Verkürzung der Zahlenwerte wird von Abschnitt zu Abschnitt fortgeführt, indem jeweils die höchste Zahl getilgt wird und am anderen Ende der Reihe durch die Hälfte des vormals vor- letzten Glieds ersetzt wird. Gleichzeitig werden die so gewonnenen Zahlenreihen nicht nacheinander angewandt, sondern je fünferweise, um dann zum vormals zweiten Ele- ment der Reihe zurückzukehren. So ergeben sich für die ersten 15 Abschnitte des Werks die folgenden Werte: Länge der Takte in Vierteln Abschnitt Dauer (in Vierteln) 16 · 12 · 8 · 6 · 4 1 46 12 · 8 · 6 · 4 · 3 2 · 6 33 8 · 6 · 4 · 3 · 2 3 · 7 · 11 23 6 · 4 · 3 · 2 · 1,5 4 · 8 · 12 16,5 4 · 3 · 2 [1,5 · 1] 5 · 9 · 13 11,5 3 · 2 [1,5 · 1] · 0,75 10 · 14 8,25 2 · 1,5 · 1 · 0,75 · 0,5 15 4,75 … Der letzte, 125. Abschnitt ist dann aufgrund der zunehmenden Verkürzung nur noch 3/16 lang. Jedem Taktmaß dieser Reihe liegt je ein Akkord der Akkordmatrix zugrunde, so dass in jedem Abschnitt fünf Akkorde zu hören sind. Die Fünfzahl ist gewissermaßen die logisch-formale Basis des Werks. Steigerung ist also zunächst Beschleunigung, die Konstruktion steuert auf eine Raserei zu. Dem Prinzip nach hätten auch im letzten Abschnitt von nur 3/16 Dauer fünf Akkorde zu erklingen. Das derart für den gesamten Verlauf des Werks beschriebene Steigerungs- prinzip ist auf weiteren Ebenen zu beobachten, zum Beispiel in der Dynamik und in der Besetzungsdichte, die ebenfalls gesteigert werden. Das Steigerungsprinzip wird aber selbst rekursiv ausdifferenziert, so dass die große Steigerung, die sich über das ganze Werk hinweg beobachten lässt, sich in vielen kleinen Steigerungen ereignet. Im Prinzip ist jeder Abschnitt eine Steigerung für sich, die jeweils am Ende eines Abschnitts abbricht und – so die salzsche Logik – auf einer nächsthöheren Stufe als der letzte Beginn wieder ansetzt. An Schlüsselpunkten, an denen die Matrix besonders prägnante Zäsuren setzt, nämlich bei Exponenten der Zahl fünf (also alle 25 und mehr noch alle 125 Takte), ist der Steigerungsgrad und die Zurücknahme von Steigerung besonders deutlich zu hören. Poppe spricht von einem »fraktalen Steigerungssystem«.1 Die Steigerung hat System; sie erfolgt zwangsläufig. Poppe steigert in Salz das Steigern. Der Ausbruchscharakter 1 Wenn nicht anders angegeben stammen alle Zitate aus Gesprächen des Verfassers mit dem Komponisten, die zwischen April 2003 und November 2012 geführt wurden. 177 nimmt von Passage zu Passage zu. Die Ordnung bricht regelmäßig zusammen, ganz offensichtlich dann am Ende des Stückes, wo nur noch einzelne Schläge im vier- und fünffachen Forte erklingen. Der Witz daran ist, dass Poppe ein System erfunden hat, das seinen eigenen Zusammenbruch bedingt. Diese zunehmend chaotischen Zustände am Ende der einzelnen Abschnitte wären, erklärt Poppe, nicht denkbar, ohne eine Ord- nung, welche die Musik auf diesen Zustand zusteuert: »Die Ordnung selbst führt das herbei.« Natürlich führt die Steigerung nicht zwangsläufig zum Chaos, wohl aber führt die Logik der Steigerung an ein Ende, an dem sie ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit nicht mehr Folge leisten kann. (Es sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass die Verfahren, die Poppe hier anwendet, nicht explizit bzw. nicht ausschließlich auf die Steigerungs- idee von Salz zurückzuführen sind. Schließlich hat Poppe ähnliche Prinzipien – das gilt sowohl für metrische Reihen als auch für fraktale Verästelungen – in anderen Werken angewandt, denen wiederum eine ganz andere Formidee zugrunde liegt.) Zentrale Gliederungspunkte der Akkordmatrix, ihre Nahtstellen, sind Dur-Akkorde. Das Werk beginnt mit einem C-Dur-Akkord, es folgt als nächster Zäsurakkord G-Dur (Nr. 126 aus der unten abgebildeten Matrix), dann ein E-E-A-Akkord (Nr. 251), dann Fis-Gis-B (Nr. 376) sowie C-D-Gis (Nr. 501). Zwischen diesen Akkorden bewegen sich die drei zentralen Stimmen (1, 2, 3) allmählich auf den nächsten Zäsurakkord zu (siehe Abb. 1). Die Bewegung, die von dieser harmonischen Bewegung beschrieben wird, hat Poppe als Grundbewegungsmuster aller harmonischen Schritte definiert. In der Art einer fraktalen Reiteration reproduziert sich diese Bewegung also auf verschiedenen Ebenen des Werks. Der Schritt von einem Takt auf den nächsten gleicht im Idealfall dem Schritt von einem Dur-Akkord zum nächsten. Man kann sich die Verästelung des Stimmver- laufs im harmonischen Gefüge also in etwa wie folgt vorstellen: Die Bewegung, die die fünf Basisakkorde beschreiben, wird dann zwischen je zwei dieser Akkorde wiederholt, so dass in einem sich selbst wiederholenden, fraktalen Verfahren aus fünf Akkorden 25 Akkorde werden. Dieses Verfahren wird zwei wei- tere Male angewandt, so dass eine dritte Ebene mit 125 und eine letzte Ebene mit 625 Akkorden entsteht. Jedem der 125 Abschnitte liegen also fünf Akkorde zugrunde, jedem Takt eines Abschnitts ein Akkord. Der erste Akkord erklingt 16/4 lang, der zweite Akkord 12/4, der dritte 8/4 und so fort. Harmonik und Mikrotonalität in Salz Entscheidend für die Ausführung der Akkorde in der Partitur ist deren harmonische Erweiterung. Poppe greift in Salz ein Verfahren auf, das er bis dahin bereits vielfach angewandt hat und das darauf beruht, dass die Frequenzen eines zentralen Ausgangs- intervalls je addiert und voneinander subtrahiert werden, so dass je neue Tonhöhen 178 ° 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 & 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 32+3 bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ Bœ bœ Bœ nœ & 3 3 3 2 2 2 2 2 3 3 31+3 nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ μœ nœ μœ nœ nœ 3 3 2 2 2 2 2 2 2 2 1+2 & nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ & 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 3 3 3 3 23 nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ #œ #œ #œ #œ #œ ? nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ2 nœ2 nœ2 nœ2 nœ2 nœ21 μœ μœ μœ μœ μœ μœ #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 ? 2 2 2 2 2 2 2 nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ ? 2 2 2 2 2 3 3 3 3 3 3 1-2 nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ μœ μœ μœ μœ μœ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ ? 2 2 2 2 2 2 2 2 3 3 1-3 nœ nœ nœ nœ nœ μœ nœ nœ nœ nœ μœ μœ nœ nœ nœ μœ μœ nœ nœ μœ μœ #œ μœ #œ nœ 2-3 ¢? nœ 3 nœ3 nœ3 nœ3 nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ3 nœ3 nœ3 nœ3 nœ nœ nœ nœ nœ nœ2 μœ nœ3 μœ nœ3 nœ2 = ° 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 2+3 & nœ nœ nœ nœ nœ μœ μœ μœ μœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ μœ nœ nœ nœ nœ nœ & 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 31+3 #œ #œ #œ #œ #œ μœ μœ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ & 3 3 3 3 3 3 3 2 2 2 2 3 3 3 31+2 nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ μœ μœ μœ μœ bœ bœ bœ bœ #œ #œ #œ & 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 3 3 3 3 23 nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ #œ ? #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ2 #œ2 #œ21 ˜œ ˜œ ˜œ ˜œ nœ3 nœ3 nœ3 nœ nœ nœ nœ nœ2 nœ2 nœ2 μœ μœ ? 3 3 3 3 3 2 2 μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ ? 2 2 2 2 2 3 3 3 2 2 2 3 1-2 #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ Bœ Bœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ μœ μœ μœ μœ bœ bœ 3 bœ bœ ? 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 2 3 2 3 2 3 1-3 nœ nœ nœ nœ μœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ Bœ bœ bœ μœ μœ nœ nœ bœ nœ μœ nœ nœ ¢? Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ #œ 2 #œ2 #œ2 #œ2 #œ2 Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ #œ2 #œ2 #œ2 #œ2 #œ2 #œ3 μœ #œ3 #œ3 nœ2 2-3 Abb. 1: Die Akkord-Matrix zu Salz, S. 1 (© Enno Poppe, Berlin) 179 4 ° 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 3 3 3 3 2+3 & #œ #œ #œ #œ #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ #œ #œ #œ #œ & μœ μœ μœ μœ μœ nœ 3 nœ3 nœ3 nœ3 nœ3 nœ3 nœ3 nœ3 nœ3 nœ3 nœ nœ nœ nœ nœ nœ2 nœ2 nœ2 nœ2 μœ 1+3 & 3 3 3 3 3 2 2 2 3 3 3 2 21+2 Bœ Bœ Bœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ μœ μœ μœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ 3 & bœ bœ bœ bœ bœ bœ2 bœ2 bœ2 bœ2 bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ bœ2 bœ bœ2 bœ2 bœ2 bœ2 bœ2 bœ2 Bœ ? #œ2 #œ2 #œ2 #œ2 Bœ Bœ Bœ nœ3 nœ3 nœ3 nœ nœ nœ2 nœ2 nœ2 μœ μœ bœ3 bœ3 bœ3 bœ bœ bœ bœ2 bœ2 1 ? 3 3 3 3 3 2 2 μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ μœ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ ? 1-2 μœ μœ #œ3 #œ3 #œ3 #œ #œ #œ2 #œ2 Bœ nœ3 nœ3 nœ nœ nœ2 μœ μœ μœ bœ3 bœ3 bœ bœ bœ2 bœ2 Bœ ? nœ3 nœ3 nœ3 μœ μœ nœ3 μœ μœ μœ nœ2 nœ nœ nœ nœ3 nœ3 nœ3 nœ3 Bœ Bœ Bœ nœ3 nœ3 Bœ Bœ Bœ 1-3 2-3 ¢& nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ 2 nœ2 nœ2 nœ2 nœ2 = ° 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 & Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ2+3 #œ3 #œ3& #œ 3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ3 #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ #œ2 #œ2 #œ2 #œ2 #œ2 #œ2 #œ2 #œ2 #œ2 #œ2 #œ2 1+3 & 3 3 3 3 2 2 2 3 3 21+2 Bœ Bœ Bœ Bœ Bœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ μœ μœ μœ μœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ 3 & nœ nœ nœ nœ nœ nœ3 nœ3 nœ3 nœ3 nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ nœ3 nœ nœ nœ3 nœ3 nœ3 nœ3 nœ3 nœ3 ? 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Praktiziert man Poppes Verfahren mit einem einfachen Intervall, so ergeben zwei Ausgangstonhöhen zwei zu- sätzliche Tonhöhen. Aus dem zweistimmigen Akkord wird ein vierstimmiger Akkord. Addiert und subtrahiert man alle Töne eines dreistimmigen Akkords, errechnet man sechs weitere Tonhöhen, sodass ein neunstimmiger Akkord entsteht. Das Stück, in dem Poppe dieses Verfahren am stärksten beansprucht hat, ist Rad für zwei Keyboards. In jeder Keyboardstimme werden zehn Töne angeschlagen; ein Computer errechnet aus diesem Zehnklang qua Addition und Subtraktion einen Hundertklang. Es erklingen also 200 Tonhöhen gleichzeitig, zum Teil mit einem engen Ambitus und äußert kleinen Intervallen bis zu Zwanzigsteltönen. Es sind im Bezug auf dieses Verfahren sechs Dinge anzumerken. Erstens lässt sich eine Parallele ziehen zu einem frühen Verfahren der elektronischen Musik, nämlich dem der Ringmodulation, wo ja ebenfalls zwei Eingangssignale miteinander kom- biniert werden, so dass je zwei neue Mischklänge entstehen. Zweitens entsprechen die Summen und Differenzen, die Poppe errechnet, nicht immer temperierten Tonhöhen, sondern weichen mitunter signifikant davon ab. Hier entsteht also, drittens, eine arithmetische Mikrotonalität, die weder auf einer bestimmten Teilung des Ganztons beruht noch auf Obertonreihen und harmonischen Vielfachen. Das Klangempfinden dieser Intervalle lässt sich nicht mit dem Klangempfinden von Intervallen vergleichen, die auf eine natürlich-physikalische Verwandtschaft zurückgehen. Dennoch ist das Ohr aber offenbar bereit, eine gewisse Verwandtschaft unter den Tönen zu erkennen. Poppe selbst hat angesichts dieser Quasiorganizität einer derart ermittelten Harmonik von einer »verbeulten« Natur gesprochen, auch wenn er ja eigentlich nicht eine natürliche Konstellation verbeult, sondern vielmehr ein in sich geschlossenes, stimmiges, naturhaftes Phänomen schafft, dass den Charakter einer künstlichen Natur oder gar einer zweiten Natur hat. Viertens sei auf eine kompositionstechnische Konsequenz aus diesem Verfahren hingewiesen. Insbesondere im niedrigen Frequenzbereich ist es erheblich, ob die Ausgangstöne nah beieinander oder weit voneinander entfernt liegen. In seinen frühen Werken, berichtet Poppe, habe es im Bassregister oft große Sprünge in der Stimmführung gegeben, z. B. in der Violoncellostimme zu Holz. Bei den Vorarbeiten zu Salz hat Poppe hingegen schon bei der Architektur der Ausgangsakkorde sorgfältig darauf geachtet, dass die Differenztöne je angemessen liegen. Fünftens ist dabei auch die Frage nach der akustischen Imagination nicht irrelevant, die Frage also, ob sich die Rechenergebnisse vorhersehen und vorstellen lassen. Poppe gibt an, die harmonischen Konsequenzen gut vorhersehen zu können; er werde aber auch immer noch »über- rascht«, wodurch sein Interesse an diesem Verfahren erhalten bleibe. Sechstens ist anzumerken, dass die Umsetzung der Tonhöhen in der Partitur nicht frequenzgenau ge- schieht, sondern qua Notation von Viertel- und Dritteltönen nur ungefähr erreicht wird. Allerdings ist häufig, so auch bei Salz, ein elektronisches Instrument bzw. ein digitales Instrument involviert, das in der Lage ist, die exakten Frequenzen zu produzieren. In Salz ist dies die Hammond-Orgel. (In der Partitur ist zur besseren Nachvollziehbarkeit sowohl der Griff als auch das klingende Resultat notiert.) Gegenüber diesen genauen Orgeltönen sind die Instrumentaltöne nur Annäherungen, wobei aber die Unschärfen im Zusammenklang von elektrischer Orgel und traditionellem Instrument natürlich 182 183 Abb. 2: Enno Poppe, Salz für Ensemble, Partitur S. 1 (© Ricordi, Berlin) auch Teil des kompositorischen Kalküls sind. Gleichzeitig ist die Orgel ein aufführungs- praktisches Leitinstrument, an dem sich die Instrumentalisten orientieren können. Matrix Poppe hat die Akkordmatrix mit 625 dreistimmigen Akkorden nach diesem Verfahren durchgerechnet und ist so zu 625 neunstimmigen Akkorden gekommen. Am Anfang des Werks lässt sich auch ein hoher Übereinstimmungsgrad zwischen Matrix und Par- titur feststellen. Im ersten Takt spielt die Orgel einen C-Dur-Akkord, der digital zur Neunstimmigkeit ergänzt wird. Rein rechnerisch stellt sich dieser Sachverhalt wie folgt dar: 1 c ~ 130,8 1+2: 172 ~ f↓ 1-2: 89,6 ~ F↑ 2 E ~ 41,2 1+3: 326,8 ~ e↓ 1-3: 65,2 ~ C 3 g ~ 196 2+3: 237,2 ~ b↓ 2-3: 154,8 ~ Es↓ In der Partitur sind von diesen neun Tonhöhen die Ausgangstöne und die Summen so nachvollziehbar, während die Differenzen im ersten Klang ausgespart bleiben. Die Bratsche umspielt diesen Akkord (siehe Abb. 2). Die Orgel ist in Salz das zentrale Instrument. Sie gibt die Harmonien vor und gliedert das Werk. Sie ist beinahe das gesamte Werk über präsent. In dem Maße, in dem sie sich vom harmonischen Gerüst der Matrix befreit, verliert das Werk seinen Halt und steuert auf die im Formkonzept angedeutete Raserei zu. Höhepunkt dieser Entwicklung ist ein wildes Orgelsolo, das das gesamte vierte Fünftel des Werks (Abschnitte 76–100, Takte 243–287) beherrscht. Poppes Orgel ist ein elektrisches, der Hammond-Orgel nachempfundenes, digitales In- strument, wie es auch in Arbeit (2006/07) für virtuelle Hammond-Orgel zu hören ist. Die Hammond-Orgel ist in der Neuen Musik nicht obsolet. Karlheinz Stockhausen hat sie beispielsweise bereits in Mikrophonie II für die Neue Musik erprobt – interessanterweise gemeinsam mit einem Ringmodulator. Der Klangsemantik nach aber assoziiert man mit der Hammond-Orgel das Schummrige und Halbseidene oder aber eine religiöse Aura, die sich zunächst von der Gospel-Musik herleitet und sich dann aber auch – als Instru- ment von Ekstase und Entgrenzung – im Jazz entfaltet. Enno Poppe bekannte einst in einem Gespräch mit Michael Iber, beim Komponieren »mit diesem historischen Klang der Hammond-Orgel« zu spielen.2 Es liegt also nahe, dem Instrument über die Harmonik hinaus eine bedeutungstragende Funktion zuzuweisen. Gerade das Instrument, dem Poppe das harmonische Konzept des Werkes anvertraut, bricht am Ende am stärksten aus diesem Konzept aus. Die anderen Stimmen genießen von Anfang an eine gewisse Freiheit. Die Rebellion aber vollzieht das »angepasste« oder eher das »eingesperrte« In- 2 Vgl. Michael Iber, Virtual Machines. Radiomanuskript. Westdeutscher Rundfunk Köln, WDR3, Sendung am 9. November 2008, nach http://www.michael-iber.de/scripts/Virtual_Machines/ body_virtual_machines.html (25. 10. 2016). 184 strument. Die Bratsche hat Poppe »die große Verführerin« genannt, sekundiert wird sie von weiteren Instrumenten, insbesondere dem Englischhorn. Sie weisen der Orgel gewissermaßen den Weg. Die rauschhafte Befreiung der Orgel, die sich in ihrem Solo manifestiert, ist auch des- halb bemerkenswert, weil Poppe von sich selbst behauptet, »kein rauschhafter Typ« zu sein und beim Komponieren eher bedächtig zu arbeiten, mit Umsicht und vielen Pausen. Es ist deshalb wohl eher nicht statthaft, in der Orgel einen Stellvertreter des Kom- ponisten zu sehen, der den Akt der Befreiung an des Künstlers statt vollzieht. Arbeitsökonomien Poppe hat im Gespräch über seine Kompositionsverfahren mehrfach den Aspekt der Ökonomien hervorgehoben. »Die Akkorde sind immer neuntönig, aber ich musste nur drei Töne erfinden«, kommentiert er einen Vorteil des harmonischen Systems von Salz. Letztlich ist diese Arbeitsersparnis aber nur einer von vielen Schritten in einer Reihe sich selbst generierender Verfahren, die jeweils eine Verästelung der Ereignisse zur Folge hat und dabei jeweils auf eine automatische Weise Töne erzeugt. Eine zentrale Idee des Stücks sei es gewesen, »dass ich eigentlich nur sechs Töne erfinden musste pro Stimme«. Dies sind jene sechs Ecktöne, die dann fraktal interpoliert wurden. Alles Weitere ließ sich aus den auf diese Grundkonstellation angewandte Gesetzmäßigkeiten errechnen. Und noch ein anderer Aspekt ist im Zusammenhang mit dieser kompositorischen Strategie nicht unerheblich. Im Zuge seiner Vorarbeiten isoliert Poppe die Parameter. Zu Salz beispielsweise existiert eine Vorpartitur, in der nur Rhythmen notiert und die da- zugehörigen Akkorde nur in Form von Nummern hinzugeschrieben worden sind. Die Isolierung der Parameter ermöglicht es Poppe, »zügig arbeiten zu können, weil ich nicht über alles gleichzeitig nachdenken muss«. Er komme »nicht ins Stocken«, weil er, wenn er die metrische Ebene des Werks ausarbeitet nicht gleichzeitig noch über alle weiteren Ebenen wie Tonhöhen, Form oder Werkdramaturgie nachdenken müsse. Der Aspekt des zügigen Arbeitens ist auch eine Frage der kompositorischen Ökonomie, aber es gibt der Arbeit, so Poppes eigene Beobachtung, darüber hinaus »eine Klarheit«, die sich wohl auch als charakteristisches Merkmal seiner Musik nennen ließe. Konsekutivästhetik Dass von der Matrix eine gewisse Verbindlichkeit ausgeht, sie für den Komponisten nicht aber zwingend bindend ist, gehört zu den grundlegenden Prämissen, unter denen Poppe komponiert. »Ich möchte, dass der Prozess verstanden wird«, erläutert er die Bedeutung der formalen Vorüberlegungen und ergänzt dann: »Andererseits ist das Orgelsolo etwas, was ich nicht absehen kann. Deshalb müssen die Pläne hinreichend Offenheit besitzen, damit das, wenn ich mit dem Stück weiter und vertrauter bin, immer möglich ist.« Es geht darum, »dass ich nicht meinen Plan abarbeite, sondern dass solche Stellen auch ent- stehen.« Die Klanggesten der einzelnen Instrumente sind, wie Poppe weiterhin erklärt, »ganz frei geschrieben«. Zwar orientieren sich die Tonfiguren, anfangs mehr, gegen Ende 185 dann weniger, an den von der Orgel vorgegebenen Akkorden. Sie bewegen sich »um die Akkorde« herum. Aber Poppe schreibt eben auch Töne, die sich nicht aus dem System herleiten lassen. Diese Abweichungen, die im Laufe des Stücks zunehmen, sind Aus- druck von Emanzipation und Befreiung. »Das ist auch ganz schön, weil ich weiß, dass ich die Gesten frei schreiben kann. Es geht ja eher um das Ganze, wie es sich als Ganzes bewegt.« In einem Gespräch vom April 2003 unmittelbar nach der Uraufführung des Stückes Wand (Öl 2) betonte er, dass er nicht Sklave seiner Konzepte sein wolle: »Ich erfinde ja die Konzepte, das heißt ich bin auch in der Lage, meine Konzepte noch einmal zu ändern. Ich finde eigentlich nur das an Konzepten interessant, dass ich teste, was sie können. Also ich würde niemals sagen, ich erfinde ein Konzept und dann bin ich nur noch Sklave meiner selbst, indem ich diesen Plan ausführe. Das könnte auch jemand anderes für mich machen.« Im November 2012, bei der Durchsicht der Skizzen zu Salz fiel am Ende der Ausführungen die Bemerkung, dass die gesamte Vorplanung zum Werk im wesentlichen »Absichtserklärungen« seien und von den Akkorden der Matrix weniger als ein Drittel Eingang in das Werk gefunden haben. Dass sich das harmonische Gerüst am Anfang des Werks zwar gut verfolgen lasse, es sich aber im Verlauf des Werks immer mehr auflöse. So ist zum einen festzuhalten, dass die strenge Logik, die die Vorüberlegungen zum Werk dominiert, nicht zu einer Konsekutiv- oder Konsequenzästhetik führt, wie man sie aus den wenigen streng seriell gearbeiteten Stücken der fünfziger Jahre und aus der prozessualen US-amerikanischen Musik, etwa von Steve Reich, Alvin Lucier oder James Tenney, kennt. Die Entscheidung des Komponisten, nicht ›Sklave des eigenen Systems‹ zu werden, führt zu bisweilen signifikanten Abweichungen zwischen dem ursprüng- lichen Plan und der tatsächlich komponierten Musik. Für den analysierenden Musik- wissenschaftler ist das natürlich eine Enttäuschung. Diese Abweichungen wären aber einmal daraufhin zu untersuchen, was beim eigentlichen Kompositionsakt vorgeht, wie vom Plan ausgehende Vorschläge dann aufgegriffen, verwandelt und schließlich umge- setzt werden. Wichtiger ist in dem hier dargestellten Zusammenhang die Tatsache, dass die Verbindlichkeit insbesondere der harmonischen Matrix – die Metren-Matrix bleibt im gesamten Werk gültig – allmählich abnimmt. Gerade das verleiht Salz ja den Cha- rakter der zunehmenden Auflösung, eines Kontrollverlusts, der dem oben erwähnten eigentlichen Sujet des Werks, dem Exzess und dem Exitus, den Weg bahnt. In gewisser Weise könnte man also sagen, dass Salz auch ein Stück über Poppes Verhältnis zu seinen eigenen Systemen ist, über sein Komponieren selbst. Poppe schließt seinen Salzburger Einführungstext zu Salz mit den Worten: »Salz ist lebenswichtig. Aber im Meer ver- dursten wir.« Die Musik verdurstet gewissermaßen an ihrer eigenen Fülle. Das System, das Poppe entworfen hat, macht sich am Ende selbst unmöglich. Mit Salz komponiert er den Zusammenbruch als eine Befreiung. Schlussfolgerungen Mit Salz vollzieht Poppe eine Befreiung hin zur und eine Befreiung weg von der Natur. Einerseits ist der Wunsch offensichtlich, eine eigene, künstliche Natur zu erschaffen, 186 eine Welt, in der eigene Naturgesetze gelten, wo die organischen Prinzipien walten, um dieser künstlichen Natur musikalisch Ausdruck zu verleihen. Andererseits beschreibt Salz die Befreiung, die Emanzipation von den Bedingungen des Systems. Die Natur diktiert die Bedingungen, unter denen der Mensch zu leben hat, der Mensch befreit sich, indem er sich über diese Bedingungen hinwegsetzt. Kunst ist in ihrem Verhältnis zur Natur immer Ausdruck dieser Sehnsucht nach und der Befreiung von Natur. Auch die Feststellung, dass wir Salz brauchen, um zu überleben, im Meer aber ver- dursten müssen, ist Ausdruck eines doppelten und in sich widersprüchlichen Bedürf- nisses. Wir brauchen die Natur und müssen uns trotzdem vor ihr hüten. Wir brauchen Systeme und müssen uns – auch vor ihnen – hüten. Als theoretische Position müsste sich dieser Gedankengang den Vorwurf des Relativismus gefallen lassen. Als ästhetischer Prozess hingegen, der dem Widerspruch standhält, erschließt sie ein Reich der Möglich- keiten, in dem das Geordnete und Sittsame genauso seinen Platz hat wie das Wilde und das Zügellose, wie Rausch, Anarchie und Freiheit. Unter den vielen Akkorden, die in Salz nicht erklingen, weil die Orgel sich dem System verweigert, ist einer, der auf eine besondere Weise nicht erklingt. Es ist der 626. Akkord. Denn um auch der Strecke der Akkorde von 500 bis 625 eine Richtung zu geben, muss diese auf einen imaginären Endpunkt zulaufen. Der Logik der Matrix folgend wäre dies ein D-Dur-Akkord. Dass dieser Akkord nicht erklingt, hat damit zu tun, dass das Stück ein Takt vorher zu Ende geht. Es hat aber auch damit zu tun, dass der musikalische Zustand in Abschnitt 125 keinen weiteren Ton mehr möglich macht. Die Erschöpfung der letzten Akkordschläge ist endgültig. Auch wird in der Hörerwartung nichts geweckt, was diesen D-Dur-Akkord erwarten lässt. Dennoch schwebt die Latenz seiner Gegenwart ungut über dem Ende. Wäre er nach dem letzten Takt zu hören, wäre die Anstrengung der Hammond-Orgel umsonst gewesen, das Vorangegangene würde durch dieses D-Dur hinfällig. Wir können uns darüber freuen, dass er nicht erklingt. Die Orgel erliegt am Ende dem Exitus, sie verdurstet gewissermaßen im Meer, aber es bleibt die Gewissheit, dass die Rückkehr zur Ordnung des Systems keine Alternative gewesen wäre. 187 188 Abb. 3: Enno Poppe, Salz für Ensemble, Partitur S. 56 (© Ricordi, Berlin) Methoden angewandter Klanganalyse Klingende Geschichte Tondokumente als Grundlage musikwissenschaftlicher Interpretationsforschung von Lena-Lisa Wüstendörfer Interpretationsforschung befasst sich als einer der jüngeren Zweige der Musik- wissenschaft mit Interpretationen musikalischer Werke in ihren verschiedenen Erscheinungsformen. Seit jeher zählen zum Interpretationsbegriff in der Historischen Musikwissenschaft hermeneutische, wortsprachlich ausgedrückte Auslegungen einer Komposition. Klangrealisierungen hingegen etablierten sich erst in den 1990er Jahren als Untersuchungsgegenstand, sei es live als performativer Akt oder als Ton- und Video- dokument. Eine eigentliche, umfassende Theorie der musikalischen Interpretation, die einen Standard an Analysemethoden darlegen würde, existiert bislang nicht. Vielmehr präsentieren einzelne Analysen ganz unterschiedliche methodische Vorgehen zur Er- forschung etwa von stilistischen Merkmalen eines Interpreten, von Interpretations- traditionen oder zur Erfassung einzelner Parameter wie Tempo oder Dynamik in einem bestimmten Umfeld. Grundsätzlich lassen sich bei den verschiedenen Analyseansätzen zwei Tendenzen festmachen. Diese unterscheiden sich in der verschiedenen Priorisierung der Quellen. Die unterschiedliche Gewichtung von textlichen und klanglichen Quellen resultiert aus einem jeweils anderen Verständnis des Begriffs Interpretation. Die erste Tendenz ver- steht Interpretation in Hermann Danusers1 hermeneutischem Sinne als Resultat eines Verstehensprozesses, an dessen Ende die klangliche Umsetzung zwar stehen kann, aber nicht stehen muss. Sie berücksichtigt in ihrer Analyse demzufolge vorrangig text- liches Quellenmaterial. Hierzu zählen als Texte neben schriftlich fixierten Aussagen von Interpreten und Zeitzeugen sowie bestehenden musikwissenschaftlichen Beur- teilungen etwa auch mündliche Äußerungen oder Partituren. Die klangliche Mani- festation der musikalischen Umsetzung auf Tondokumenten wird, wenn überhaupt, nur am Rande kommentiert. Den Forschenden interessiert hier viel mehr die aus dem Kon- 1 Danuser versteht in seinem 1992 erschienenen Überblicksband zur musikalischen Inter- pretation den Interpretationsbegriff »wie bei allen darstellenden Künsten« dualistisch und unterscheidet zwischen »theoretisch-hermeneutischer« Interpretation, die sich verbalsprach- lich ausdrückt, und »aufführungspraktischer« Interpretation, die sich als Klangrealisation mani- festiert. Erstere konzentriert sich auf »die verbalsprachliche Deutung von Musikwerken durch Analyse ihrer Texte, Kommentar ihrer Gehalte und Kritik ihrer Reproduktionen«. Letztere zielt auf »eine diese Deutungsproblematik aufgreifende Klangrealisation« ab. (Hermann Danuser, Einleitung, in: Musikalische Interpretation, hrsg. von dems., Laaber: Laaber 1992 [= Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 11], S. 57). 191 text herzuleitende Absicht, die hinter einer Klangrealisation steht, als die tatsächliche Beschaffenheit der Klanggestalt, wie sie sich dem Hörer präsentiert. Im Gegensatz dazu versteht die zweite Tendenz die klangliche Umsetzung als hauptsächliches Endprodukt von Interpretation und befasst sich dementsprechend mit Tondokumenten, die zunächst unabhängig von textlichen Quellen einer eingehenden Analyse unterzogen werden. Die daraus gewonnenen Ergebnisse werden dann in jeweils unterschiedlichem Maße unter Berücksichtigung anderer Quellen kontextualisiert. Zur systematischen Erfassung möchte ich daher zwischen einer textbasierten und einer klangbasierten Interpretationsanalyse unterscheiden. Da hier die Klanganalyse im Mittel- punkt stehen soll, möchte ich nur ein illustrierendes Beispiel zur textbasierten Inter- pretationsanalyse geben. Danuser veranschaulicht ein textbasiertes, hermeneutisches Vorgehen in seiner frühen Arbeit zur Interpretation von Gustav Mahlers Dritter Sym- phonie.2 Das methodische Vorgehen mit dem Ziel, für den untersuchten ersten Satz »spezifische Formprinzipien im Hinblick auf mögliche daraus ableitbare Regeln der Auf- führungspraxis«3 zu erlangen, besteht hier aus drei Schritten: Als erstes werden Form und Struktur des Notentextes eingehend analysiert sowie hermeneutisch interpretiert. Die daraus gewonnenen Eindrücke werden anschließend in aufführungspraktisch relevante Größen wie Temporelationen oder charakteristische Eigenschaften einer adä- quaten Umsetzung umformuliert. Diese gelten dann als Urteilsmaßstab im Hinblick auf »eine Beurteilung der Grundkonzeption dieses Satzes«4 und werden für die an- schließende vergleichende Interpretationskritik der zu untersuchenden Tondokumente verwendet.5 Ein solches Analyseverfahren liegt dem traditionellen philologischen Arbeiten der Historischen Musikwissenschaft nahe. Obwohl die hermeneutische Inter- pretation der Quellen zweifellos wichtige Erkenntnisse zum Werk zutage fördert, birgt ein textbasiertes, insbesondere auf die Analyse des Notentextes fokussiertes Vorgehen gerade bei der Verortung verschiedener Klangrealisierungen auch Gefahrenpotenzial: Der Analytiker schafft sich (wie zuvor notabene auch der Interpret) sein eigenes »sub- jektives« und durch seinen soziohistorischen Kontext geprägtes Bild des Werkes und somit seinen persönlichen Urteilsmaßstab – und ein solcher kann weder »objektiv« sein, noch kann er alle plausiblen Interpretationsmöglichkeiten umfassen. Eine Interpretationsanalyse, die hingegen das Tondokument als Ausgangspunkt nimmt, bemüht sich darum, die Interpretation in gleicher Weise zu verstehen, wie eine Kompositionsanalyse das kompositorische Werk zu erfassen versucht. Dies kann gelingen, indem sie sich in erster Linie aus Rezipientenperspektive mit dem klingenden Endprodukt einer Interpretation befasst. Eine klangbasierte Analyse vermeidet es, vom Notentext ausgehend den möglichen Gedankengang des Interpreten bis zur klingenden Umsetzung nachzuverfolgen, um so eine Beeinflussung der Ergebnisse durch die per- 2 Hermann Danuser, Schwierigkeiten der Mahler-Interpretation. Ein Versuch am Beispiel des ersten Satzes der Dritten Symphonie, in: Schweizer Beiträge zur Musikwissenschaft, Bd. 3, Bern: Paul Haupt 1978, S. 165–181. 3 Ebd., S. 166. 4 Ebd., S. 174. 5 Als Grundlage zur Beschreibung der einzelnen Klangrealisationen diente wohl der Hörein- druck; Tempi wurden als »Annäherungswerte« mit dem Metronom gemessen. 192 sönliche Textinterpretation des Forschenden möglichst zu umgehen. Selbstverständlich kann auch ein klangbasierter Ansatz keineswegs Garant für einen »objektiven« Diskurs über interpretatorische Entscheidungen sein: Denn wie spätestens seit Philip Bohlmans wissenschaftskritischem Aufsatz Musicology as a Political Act6 offensichtlich ist, prägt jedes analytische Vorgehen immer auch die Art seiner Ergebnisse. Nicht nur eine per- zeptive Höranalyse, sondern selbst quantifizierbare Daten aus einer rechnergestützten Analyse von Tondokumenten hängen schlussendlich von deren Auslegung durch den Forschenden ab, und dies schließt eine ideologiegeprägte Deutung nicht aus. Ebenso wenig befreien rechnergestützte Messungen von einer eingehenden historischen Kon- textualisierung der Resultate, um einen interpretationshistorisch relevanten Erkenntnis- gewinn daraus zu erlangen. Ein klangbasierter Ansatz erlaubt jedoch einen möglichst unvoreingenommenen Blick auf die klanglich manifestierte Interpretation, für die die Textanalyse des Wissenschaftlers vorerst irrelevant ist. Bei den Arbeitsweisen, die sich auf den Quellentypus des Tondokuments stützen, liegt zum einen der perzeptive Ansatz, also die bloße Hörwahrnehmung, auf der Hand. Eine der ersten umfangreichen Studien zur musikalischen Stilgeschichte an- hand von Tondokumenten, die auch heute noch ihren Einfluss auf Interpreten ausübt, befasst sich mit der Aufführungspraxis im frühen 20. Jahrhundert und wurde 1992 von Robert Philip7 publiziert. Sie gewinnt ihre Ergebnisse zu Rhythmus, Agogik, Vibrato und Portamento – abgesehen von Tempomessungen8 – maßgeblich rein perzeptiv aus dem Höreindruck und vergleicht sie dann mit weiteren Zeugnissen aus der zu unter- suchenden Zeitperiode. Einer der Knackpunkte eines rein hörenden Verfahrens ist, dass sich Beobachtungen aus dem auditiven Vergleich von einer zweiten Person nicht ohne weiteres nachvollziehen lassen. Dies hat mehrere Gründe: Der Eindruck, den das »Klangobjekt«9 hinterlässt, ist einerseits beeinflusst durch die Tonanlage, den Raum oder die Kopfhörer und andererseits durch die Leistungsfähigkeit des Gehörs, die von dessen 6 »[M]usicology not only describes but prescribes through its acts of interpretation. Musics, like the symbols of musical texts, are not just products that are around us and among us, objects crafted by Beethoven or Madonna meant for us to gaze upon and decode. Rather, musics are also within us, within the experiences we embody through listening, performing, and inter- preting music in order to situate it in the public spaces created by the interpretive actions of the musician.« (Philip Bohlman, Musicology as a Political Act, in: The Journal of Musicology 4 [1993], Nr. 11, S. 411–436, hier S. 432. 7 Robert Philip, Early Recordings and Musical Style. Changing Tastes in Instrumental Performance 1900–1950, Cambridge u. a.: Cambridge University Press 1992. 8 Wie hier gemessen wurde, ist nicht angegeben. Es ist daher anzunehmen, dass Philip die Messungen mit dem Metronom vornahm. 9 Der Terminus »Klangobjekt« benennt nach Olivier Senn nicht einen Gegenstand im ontologischen Sinn, sondern meint eine »kausale Folge von Prozessen«, die das Analyseobjekt darstellt. Im Fall von Robert Philip ist es der untersuchte Stückausschnitt, der sich in der Auf- führung des jeweiligen Interpreten auf einer Schallplatte manifestiert und durch Abspielen auf der vom Wissenschaftler verwendeten Abhöranlage in dessen Bewusstsein dringt. Jedes Klang- objekt bedarf jedoch eines materiellen Trägers, dessen Eigenschaften für das Klangobjekt ent- scheidend sind. So ist die Aufnahmequalität etwa abhängig von der Beschaffenheit der für die Aufnahme verwendeten Apparaturen. Ich übernehme den Terminus und verwende ihn im wei- teren Text ohne Anführungszeichen. (Olivier Senn, Die Analyse von Tonaufnahmen. Konzepte und 193 Schulung und Anlage abhängig ist. Zudem handelt es sich beim Perzeptionsvorgang – beim »Weg, den das Klangobjekt zwischen Trommelfell und Bewusstsein zurücklegt« – nicht um einen »linearen Prozess«. Denn »Hören« ist »kein rein rezeptiver Vorgang«: Das bereits Gehörte provoziert im Zuhörer Reaktionen und hat selbst wiederum Aus- wirkungen auf das, was nachfolgend auditiv rezipiert wird. Eine Höranalyse liefert somit unweigerlich »subjektive« Daten. Zuverlässig und detailliert kann man sich über das Gehörte erst unterhalten, wenn eine visuelle »Repräsentation«10 vorliegt. Ein Tran- skript beispielsweise in traditioneller Notenschrift kann das Gehörte optisch festhalten und so als wissenschaftliche Vergleichs- und Diskussionsgrundlage dienen. Problemhaft an dieser Form der visuellen Repräsentation ist der Prozess der Transkription, da die »psycho- und physiologischen Vorgänge«, die sich beim Analytiker während des mehr- fachen Anhörens und Verschriftlichens abspielen, äußerst komplex und kaum durch- schaubar sind. So können verschiedene Transkribierende leicht zu unterschiedlichen Endresultaten gelangen.11 Analysen, deren Ergebnisse hingegen weitestmöglich quantifiziert sind, genießen daher mein größeres Vertrauen. Gerade Parameter wie etwa das Vibrato, das höranalytisch und transkriptiv nur sehr ungenau beschreibbar ist, ge- schweige denn Aussagen über Amplitude, Geschwindigkeit und deren Entwicklung über die Zeit zulässt, bedürfen zur Differenzierung einer exakten Quantifizierung. In der Historischen Musikwissenschaft ist ein wachsendes Interesse an computer- gestützten Verfahren (erst) während der letzten knapp zehn Jahre zu beobachten. Verfahren, die das Klanggeschehen »objektiv« erfassen, beruhen »zwangsläufig auf der digitalen Signalverarbeitung« und gestatten präzise12 Einsicht in verschiedene Dimensionen des Klangobjektes. Und vor allem lässt sich – im Unterschied zum per- zeptiven Vorgehen – der Analyseprozess hier lückenlos dokumentieren.13 Zwei frei zugängliche Audioanalyseprogramme sind explizit auf musik- wissenschaftliches Arbeiten ausgerichtet. Das bekanntere ist der Sonic Visualiser,14 der als Produkt des Center for Digital Music an der Londoner Queen Mary University in Zusammenarbeit mit CHARM (Centre for the History and Analysis of Recorded Music) Methoden zur musikwissenschaftlichen Analyse von Tonaufnahmen, Zürich: Studentendruckerei 2007 [Univ. Diss.], S. 54–61). 10 Der Begriff »Repräsentation« ist hier im Sinne von Olivier Senn verwendet. Senn unterscheidet grundsätzlich zwischen »subjektiven« (basierend auf auditiver Analyse) und »objektiven« (basierend auf digitaler Signalverarbeitung) Repräsentationen, vgl. ebd., S. 63–83. 11 Ebd., S. 307 f. 12 Natürlich ist diese Präzision nicht beliebig, sondern jeweils durch die technischen Möglich- keiten des verwendeten Computerprogramms definiert. 13 Ebd., S. 309 f. 14 Chris Cannam, Christian Landone und Mark Sandler, Sonic Visualiser: An Open Source Application for Viewing, Analysing, and Annotating Music Audio Files, in: Proceedings of the 18th Interna- tional Conference on Multimedia 2010, New York: ACM 2010, S.  1467 f. Einen detaillierten Über- blick über die zahlreichen Möglichkeiten des Sonic Visualiser gibt Nicholas Cook, Methods for analysing recordings, in: The Cambridge Companion to Recorded Music, hrsg. von Nicholas Cook, Eric Clarke, Daniel Leech-Wilkinson und John Rink, Cambridge: Cambridge University Press 2009, S. 221–245. 194 entstand. Dieses Programm zielt als erstes15 für die Musikforschung entwickeltes Ana- lysewerkzeug auf umfassende Betrachtung eines Klangobjektes ab, die alle musikalisch relevanten Parameter berücksichtigen will. Die gleiche Zielsetzung hat das in Luzern entwickelte Programm LARA (Lucerne Audio Recording Analyser).16 Der folgende Streifzug durch die wichtigsten interpretationsrelevanten Parameter will Stärken und Schwächen der computergestützten Analyse aufwerfen. Tempo ist der mit Abstand am eingehendsten untersuchte Parameter. Einerseits auf- grund seiner Relevanz als interpretatorischer Faktor, andererseits aufgrund seiner ver- gleichsweise einfachen Quantifizierbarkeit. Sowohl in Sonic Visualiser als auch in LARA werden die einzelnen Pulse (Takte oder auch kleinere Einheiten) traditionel- lerweise17 zuerst durch Mitklopfen auf der Computertastatur eingetippt. So gesetzte Tempomarkierungen können unmöglich präzis sein, da aus der Reaktionszeit des Einge- benden sowie durch die Tastenmechanik Ungenauigkeiten resultieren. Daher wird die Musik zur Korrektur abermals abgespielt, wobei jetzt die gesetzten Markierungen als »Klicks« hörbar sind und bei Fehlplatzierung manuell korrigiert werden können. Aus den Tempomarkierungen kalkuliert der Rechner auf den gewünschten metrischen Ebenen die Tempoverläufe in BPM-Werten und gibt sie in Sonic Visualiser meistens als Kurven über die Zeit wieder. Die Messung von Tempoverläufen eines bestimmten Stückes ist etwa gerade für den Vergleich zahlreicher Aufnahmen über einen größeren Zeitraum zur Erforschung möglicher Traditionsbildungen interpretationsgeschichtlich relevant. Grundlegend verschieden von der Darstellung als Tempoverläufe bildet LARA die temporelevante Information als Tempostruktur in einem Balkendiagramm auf ver- schiedenen Ebenen ab, wobei die einzelnen Balken jeweils den metrischen Einheiten entsprechen, die als Quadrate mit der Seitenlänge ihrer realzeitlichen Dauern in Milli- sekunden abgebildet werden. So werden Abweichungen auf kleiner metrischer Ebene besser sichtbar, ermöglichen das Erfassen von interpretenspezifischen agogischen 15 Programme, die vor Sonic Visualiser zur Erfassung, Darstellung und analyserelevanten Manipulation der Tonaufnahmen verwendet wurden und teilweise auch heute noch alternativ dazu verwendet werden, stammen aus den Gebieten der Tontechnik (z. B. Amadeus oder Adobe Audition), der Phonetik (z. B. Praat). Zur Entwicklung methodischer Ansätze hierzu haben Arbeiten aus der Psychologie, Kognitionswissenschaft und Ethnomusikologie maßgeblich beigetragen, vgl. zu Letzterem etwa Nicholas Cook, Methods for analysing recordings (s. Anm. 14), S. 228 f.; vgl. zur musikwissenschaftlichen Verwendung von Amadeus und Praat Olivier Senn, Die Analyse von Tonaufnahmen (s. Anm. 9), S. 154 f. Siehe zur Analyse mit Adobe Audition etwa Rainer J. Schwob, Konstanten und Entwicklungen in Einspielungen der letzten drei Sinfonien Mozarts (KV 543, KV 550 und KV 551), in: Mozarts letzte drei Sinfonien. Stationen ihrer Interpretationsgeschichte, hrsg. von Joachim Brügge, Wolfgang Gratzer und Thomas Hochradner, Freiburg i. Br.: Rombach 2008 (= Klang- Reden, Bd. 1), S. 209–239. 16 Aufgrund eines noch ausstehenden Manuals wird LARA momentan vor allem im Um- kreis der Hochschule für Musik in Luzern angewandt. Das Programm LARA ist frei zugänglich: http://www.hslu.ch/musik/m-forschung-entwicklung/m-musik-imps/m-forschung-lara.htm (13. 1. 2013). 17 Der Sonic Visualiser bietet zwar Plugins an, durch die die Markierungen automatisch gesetzt werden sollten. Die Instrumente sind aber noch nicht ausgereift und liefern – besonders wo es über Klaviermusik hinausgeht – keine verlässlichen Ergebnisse. 195 Mustern und lassen bestenfalls Aussagen über die Wirkung solcher Muster auf den Zu- hörer zu.18 Ebenfalls häufig untersucht ist der Parameter Dynamik. Die Erfassung von Dynamik ist besonders in ihrer Relation zu Tempo interessant, um die strukturelle Gesamtgestaltung des Klangobjektes genauer beschreiben zu können und interpretenspezifische Aussagen treffen zu können.19 In der Regel wird die Stärke des Audiosignals in Dezibel gemessen und als Verlauf in Kurvenform dargestellt. Im Zusammenhang mit der Dynamik- messung weisen Nicholas Cook und Daniel Leech-Wilkinson im Leitfaden20 zum Sonic Visualiser darauf hin, dass im Sonagramm die Dezibelwerte der einzelnen Frequenzen zwar objektiv genau abgebildet werden,21 unser menschliches Ohr bei gleichbleibendem Schallpegel aber nicht alle Frequenzen als gleich laut wahrnimmt. So müssen besonders tiefe oder auch hohe Töne einiges lauter erklingen als solche einer mittleren Lage, um die Empfindung gleichbleibender dynamischer Stärke zu erwecken.22 Fachsprach- lich wird daher die subjektiv empfundene und in der psychoakustischen Einheit Sone erfasste Lautheit (loudness) vom objektiv in Dezibel gemessenen Schallpegel (sound level) unterschieden. Erstaunlicherweise sprechen die beiden Autoren dennoch von »loudness«, wenn es um Werte in Dezibel geht. Eine offensichtliche Verwechslung liegt sogar vor, wenn Leech-Wilkinson in seinem Aufsatz zu Alfred Cortot zu seiner Ana- lyse mit Sonic Visualiser kommentiert, der Betrachter würde hier in der Darstellung die Lautheit (»loudness […], as perceived by the listener«) mitverfolgen können, obwohl das Programm – was für eine Interpretationsanalyse jedoch durchaus sinnvoll wäre – gar keine psychoakustischen Größen vorsieht.23 Dieses Beispiel sowie der Umstand, dass auf dem Gebiet der Interpretationsforschung Dynamik in aller Regel kommentarlos 18 Anhand solcher Untersuchungen kann in Martha Argerichs Interpretation von Fréderic Chopins Prelude op. 28/4 etwa festgestellt werden, dass die Interpretin bei gleichmäßigem Ganz- takt-Tempo auf untergeordneter metrischer Ebene gegen Taktende das Tempo jeweils deutlich zurücknimmt. Dieses agogische Muster hat zur Folge, dass trotz konstantem übergeordnetem Tempo die Wirkung einer Entschleunigung erzeugt wird, vgl. Olivier Senn, Lorenz Kilchenmann und Marc-Antoine Camp, A Turbulent Acceleration into the Stretto. Martha Argerich Plays Chopin’s Prelude op.  28/4 in E minor, in: Dissonance 120, 2012, S.  31–35. Besonders zum Tragen kommen solche Aspekte auch im Bereich Jazz oder der Populärmusik, wo ein genaues Erfassen der Zeit- gestaltung im Bereich der Mikrorhythmik zusätzliche Relevanz gewinnt, vgl. Marc-Antoine Camp, Lorenz Kilchenmann, Thomas Volken und Olivier Senn, On measuring and interpreting microtiming, in: Five Perspectives on »Body and Soul«. And Other Contributions to Music Performance Studies, hrsg. von Claudia Emmenegger und Olivier Senn, Zürich: Chronos 2011, S. 95–110. 19 Etwa zu Alfred Cortots Personalstil vgl. Daniel Leech-Wilkinson, Making Music with Alfred Cortot: Ontology, Data, Analysis, in: Gemessene Interpretation. Computergestützte Aufführungsanalyse im Kreuzverhör der Disziplinen, hrsg. von Heinz von Loesch und Stefan Weinzierl, Mainz: Schott 2011 (= Klang und Begriff. Perspektiven musikalischer Theorie und Praxis, Bd. 4), S. 129–144. 20 Nicholas Cook und Daniel Leech-Wilkinson, A musicologist‘s guide to Sonic Visualiser, http:// www.charm.rhul.ac.uk/analysing/p9_1.html (13. 1. 2013). 21 Aufgrund des Sonagramms, das den Frequenzverlauf in Hertz über die Zeit darstellt, können auch differenzierte Aussagen zum Parameter Tonhöhe wie etwa zum Stimmton getroffen werden. 22 Ebd., Abschnitt Hearing through spectrograms. 23 Daniel Leech-Wilkinson, Making Music with Alfred Cortot (s. Anm. 19), S. 142 f. 196 in Dezibel gemessen wird, zeigen, dass bislang erst wenig Sensibilisierung für diesen grundlegenden und interpretationsanalytisch maßgebenden Unterschied stattgefunden hat.24 Nicht ganz ohne Vorbehalte bleibt jedoch auch eine Dynamikmessung in psycho- akustischen Größen, zumal es sich dabei immer um genormte Werte einer durchschnitt- lichen Hörwahrnehmung handelt.25 Anhand eines Spektrogramms, das den spektralen Frequenzgehalt der akustischen Signale über die Zeit sichtbar macht, lassen sich Aussagen zur Art und Weise der Ver- wendung von Vibrato oder Portamento machen. Bei einzelnen Instrumenten oder Gesangsstimmen sind Amplitude und Geschwindigkeit des Vibratos genau bestimmbar. Je größer besetzt die zu untersuchende Musik jedoch ist, desto ungenauer wird das Bild, sodass sich bei Orchesterbesetzung die Amplitude etwa des Streichervibratos nur noch als Bandbreite ersehen lässt, innerhalb derer die einzelnen Instrumente der betreffenden Stimme vibrieren. Neben Aussagen zu Vibrato und Portamento kann die Spektralana- lyse auch zur besseren Erfassung von Klangfarben beitragen, die beispielsweise bei der Betrachtung eines spezifischen Orchesterklangs und dessen Vergleich mit anderen interessant ist.26 Das Spektrogramm macht deutlich, welche Anteile eines Klanges zu einem bestimmten Zeitpunkt dominieren und lässt so anhand der instrumentspezifisch relevanten Formanten auf bestimmte Instrumente(ngruppen) schließen. Da ein Spek- trogramm jedoch immer das Audiosignal als Ganzes verarbeitet und sich die Signale der einzelnen Klangquellen darin überlagern, ist bei größerer Besetzung nicht mit Sicherheit eruierbar, welchem Instrument bestimmte Klanganteile zuzuordnen sind.27 Die menschliche Perzeption zeigt hier trotz des undurchschaubaren, individuellen auditiven Analysevorgangs bei der Differenzierung und Priorisierung von akustischen Signalen gegenüber rechnergestützten, »objektiven« Verfahren ihre Stärke. Während exakte Methoden eine Klangaufzeichnung gesamthaft als ein Audiosignal lesen und die einzelnen Klangquellen – im Orchesterstück die einzelnen Instrumente – nicht auseinanderhalten können, vollbringt die menschliche Wahrnehmung diese Leistung bei entsprechender Schulung problemlos.28 Ähnlich verhält es sich etwa auch bei der Unterscheidung zwischen dem Klanganteil, den ein Instrument produziert, und dem sich raumabhängig ergebenden Nachhall sowie bei Fragen der Balance und Artikulation. Ganz allgemein ist anzunehmen, dass ein auditorisches System die »Ursachen von 24 Im Gegensatz zu Sonic Visualiser kennt LARA eine Darstellung, die Phon-Werte anstatt Dezibel angibt. In der Literatur findet diese jedoch kaum Verwendung. 25 Vgl. für einen Überblick über die physikalischen und psychoakustischen Größen etwa Donald E. Hall, Musikalische Akustik. Ein Handbuch, hrsg. von Johannes Goebel, Mainz: Schott 1997, S. 89–128. 26 Vgl. hierzu etwa Rainer J. Schwob, Konstanten und Entwicklungen in Einspielungen der letzten drei Sinfonien Mozarts (s. Anm. 15), S. 227–230; oder auch ders., Nikolaus Harnoncourt und die Wiener Symphoniker, in: Ereignis Klangrede. Nikolaus Harnoncourt als Dirigent und Musikdenker, hrsg. von Wolfgang Gratzer, Freiburg i. Br.: Rombach 2009 (= Klang-Reden, Bd. 3), S. 81–105, hier S. 94–99. 27 Unterscheidungen sind hier nur bei ganz kleinen Besetzungen möglich, deren Instrumente sich in Frequenzbereich und Klangbeschaffenheit eindeutig unterscheiden – wie etwa Klavier und Gesangsstimme. Aus diesem Grund beschäftigen sich die allermeisten rechnergestützten Analysen auch mit Werken für Klavier solo oder Klavier mit Singstimme. 28 Olivier Senn, Die Analyse von Tonaufnahmen (s. Anm. 9), S. 240. 197 Abb. 1 (LARA): Gustav Mahler, 4. Symphonie, 2. Satz, Takte 121–125. Spektrogramm der Aufnahme von Bruno Walter mit den Wiener Philharmonikern von 1950. Die Solovioline klingt einen Ganzton höher als notiert. Die weißen vertikalen Linien zeigen die Taktanfänge an. Die roten Markierungen entsprechen den aufgrund der Partitur zu erwartenden Frequenzbereichen. Merkmalsausprägungen« besser erfasst, da es Bezüge zwischen einzelnen Merkmals- ausprägungen herstellen oder »unvollständige Muster ergänzen« und diese in Relation zur »Kenntnis typisch menschlicher bzw. musikalischer Gestaltungsweisen« setzen kann.29 Ein Beispiel verdeutlicht dies: Im Scherzo aus Mahlers 4. Symphonie ist sowohl in der Partitur als auch in allen von mir gehörten Aufnahmen die Solovioline – nach Art der alten Scordatura um einen Ganzton höher gestimmt – deutlich exponiert und spielt »wie eine Fiedel« in ungewohnter Klangfarbe ihre bizarre Tanzmelodie. Da die 29 Hans-Joachim Maempel, Musikaufnahmen als Datenquellen der Interpretationsanalyse, in: Gemessene Interpretation (s. Anm. 19), S. 157–171, hier S. 168 f. 198 verschiedenen Aufnahmen dieses Satzes sich stark in der Artikulation unterscheiden, liegt ein Blick ins Spektrogramm nahe, mit der Absicht, daran die Beschaffenheit des Einschwing- und Ausklingvorgangs der einzelnen Töne zu ersehen. Das Spektrogramm gibt, wie Abb. 1 zeigt, jedoch ein diffuses Bild: Die hörbar hervortretende Solovioline ist vom Auge nicht nachvollziehbar. Selbst die rot markierte Eingrenzung der jeweiligen Frequenzbereiche der einzelnen Töne der Solovioline macht die gesuchte Stimme nicht wesentlich besser erkennbar. Die Partitur in Abb. 2 erklärt das unscharfe Bild des Spektrogramms: Die Solovioline wird einerseits teilweise von der Oboe verdoppelt, andererseits von Horn, 2. Violinen und Violen in enger Lage umspielt und gekreuzt. Im untersuchten Abschnitt über- lagern sich so nicht nur – wie in mehrstimmigen Stücken unausweichlich der Fall – die Obertonspektren der verschiedenen Instrumente, sondern auch die Grundtöne. Abb. 2: Gustav Mahler, 4. Symphonie, 2. Satz, Takte 121–125, Ausschnitt aus der Partitur Die rechnergestützte Klanganalyse schafft hier – zumindest mit Hilfe der zugäng- lichen Programme – im Hinblick auf Erkenntnisse zur Artikulation keinen Mehrwert. Es erstaunt daher nicht, dass Untersuchungen zur Artikulation bislang sehr spärlich sind. Insbesondere bei Orchestermusik werden die Parameter Klangfarbe und Artikulation vorläufig noch aussagekräftiger auditiv analysiert. Letztere können anhand eines tra- ditionellen Notentranskripts oder durch graphische Repräsentationen mit Symbolen für unterschiedliche Artikulationsweisen besser beschrieben werden. Rechnergestützte Analyse ist ein Weg, eine Umgebung zu schaffen, die durch tech- nische Hilfsmittel das Hören erleichtert und effektiver macht und somit die Möglich- keiten der auditiven Wahrnehmung erweitert.30 Die exakte Analyse großbesetzter Musik steht etwa bei der Unterscheidung verschiedener Klangquellen im Hinblick auf eine detaillierte Betrachtung von Fragen zu Vibrato, Portamento oder Klangbalance jedoch noch vor großen Herausforderungen. Um solche Parameter beschreiben und in 30 Nicholas Cook, Methods for analysing recordings (s. Anm. 14), S. 222. 199 die Analyse mit einbeziehen zu können, müssen die exakten Messungen unbedingt durch eine auditive Analyse komplettiert werden. Nicht-quantifizierbare Parameter aus- zuschließen und das geschulte Ohr als Werkzeug zu vernachlässigen, würde zu einer mindestens ebenso großen Verzerrung der Analyseresultate führen wie der Verzicht auf technische Hilfsmittel.31 Anschließend an eine Klanganalyse ist für das Erkennen von rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhängen die Kontextualisierung durch schriftliche Quellen unabdingbar. Die im Mittelpunkt des Interesses stehenden Interpretationen werden so gleichsam von verschiedenen analytischen Zugängen her eingekreist. Nur so lassen sich breit abgestützte relevante Aussagen zu einer klingenden Geschichte treffen. 31 Vgl. hierzu auch Gernot Gruber, Praktische und theoretische Interpretation am Beispiel der »klassischen« Instrumentalmusik, in: Beiträge zur Interpretationsästhetik und zur Hermeneutik-Diskussion, hrsg. von Claus Bockmaier, Laaber: Laaber 2009 (= Schriften zur musikalischen Hermeneutik, Bd. 10), S. 203–211. 200 Navigating Sample-Based Music Immediacy and Musical Control in Recent Electronic Works by Alexander J. Harker Abstract This article outlines some of the technical processes used to exert musical control over sampled material in my recent compositional work. The pieces in question make use of custom software that facilitates a more musically meaningful interaction with comput- ing technology. As well as addressing issues of appropriate musical representation, these processes also afford the composer a greater degree of immediacy than when working solely within the familiar context of the Digital Audio Workstation. The article first addresses the context within which the work has taken place, as well as the issues that motivated the development of new technical tools. Techniques of sample selection using audio descriptor matching and systems of gestural representation are then discussed, along with less novel methods of musical control. Finally, the com- positional implications of the various proposed approaches are explored. Context My background is as a composer of instrumental and electronic works, and in recent years an increasing number of works combining instrumental and electronic media. Much of my earlier electronic work centred around dense and intricate layerings of large sets of samples and employed a Digital Audio Workstation (DAW) as the primary tool for composition. In this article I discuss my use of custom software tools designed to allow more desir- able methods of interacting with and controlling music based on recorded samples. Programming and Creative Work Programming has been a part of my creative practice for the last nine years. Initially, my interest in programming, and particularly digital signal processing, was born of a desire to support my own creative work. Alongside the necessary software to realise realtime pieces, I also began to feel that the possibilities of newer more complex technologies could, in my case at least, be best harnessed and customised for my artistic purposes by taking responsibility for programming lower level tools. Whilst such tools are rooted in my own creative aims, I also aim to make tools that might serve the needs of other 201 practitioners. Thus, the underlying technologies for the pieces presented here (a set of externals for MaxMSP) is now available for download.1 Pieces Discussed This article discusses the approaches taken in two more recent electronic works. Flu- ence (2010) for clarinet and MaxMSP utilises a large bank of around 1600 dry clarinet samples to construct a realtime accompaniment to the composed instrumental part. This electronic part is to a large extent pre-determined in terms of musical shaping, but varies in exact realisation between performances. This is analogous to the manner in which the score for the clarinet pre-determines the sequence of notes and rhythmic events, but not exact details of phrasing, timbre, etc. Fractures (2011) for fixed media employs custom processing tools (in MaxMSP) in con- junction with recordings of electric guitars and various small household objects. The technology developed for both pieces was designed to enable more immediate and musically relevant levels of control than I had previously been able to achieve with- in the context of working within a DAW. Recordings of both pieces discussed are avail- able for streaming and download online.2 Problems and Motivations Problems Three main issues with working with a DAW motivated the development of custom software for use in both Fluence and Fractures. Firstly, the process of constructing fixed media pieces from large sets of samples is overly time-consuming and non-immediate. Navigating long lists of sample names is unwieldy, and locating an appropriate sample to realise a given musical gesture often requires a lengthy process of trial-and-error auditioning. In extreme cases, the process of dealing with the placement and choice of individual samples in dense textures can result in such a slow rate of generating material (perhaps less than 15 seconds in a week) that constructing longer pieces in this manner is totally impractical. More importantly, this process is a misdirection of time resources, and one that takes the composer away from dealing with more important concerns of shaping larger-scale musical structures. A lack of immediacy affects not only the practical speed of composition, but also the ability of the composer to effectively deal with the musical flow, always drawing atten- tion towards the fixing (or non-realtime ›performance‹ of) details within the music. Secondly, fixed realisations are not always desirable. When combining instrumental and electronic media it is often preferable to allow the performer(s) a level of flexibility that cannot be afforded by a static electronic part. In a piece such as Fluence, in which 1 Alexander Harker, AHarker Externals, http://alexanderjharker.co.uk/Software.html. 2 Alexander Harker, Fluence, Ergodos Records; digital release 2011, https://ergodos.ie/shop/ records/fluence/. 202 the rhythmic materials are generally fluid and flexible in nature, it makes little sense to make the performer suffer the inflexibility of fixed media. Thirdly, and finally, existing software tools often make use of modes of interaction and representation ill-suited to the task of musical composition. This can be partially attributed to the fact that commercially available DAWs are most commonly based on a tape recorder/mixing desk paradigm, two tools which are suited well to the task of re- cording, but not necessarily the representation and manipulation of musical ideas. This issue is perhaps more complex than the preceding two and requires a more detailed explanation. Appropriate Representation of Musical Ideas In The C++ Programming Language,3 Bjarne Stroustrup states that a programming lan- guage »provides a set of concepts for the programmer to use when thinking about what can be done«. In order to achieve this, it should »ideally [be] … ›close to the problem to be solved‹ so that the concepts of a solution can be expressed directly and concisely.« Whilst his discussion concerns programming, this idea can be generalised to any human – computer interaction in which the goal is to instruct the computer to perform a spe- cific task. In a compositional context, this means expressing ideas in a manner ›close to the music‹. Ideally, I wish to interact with the computer using representations that map closely to my ways of thinking about the important aspects of the music, rather than through representations that are simply convenient or appropriate. Fig. 1: Screenshot from Ad Lucem (2006) To illustrate how this issue manifests itself in the context of a DAW, fig.  1 shows a screenshot of part of an earlier fixed media composition (Ad Lucem [2006]). Here we see 3 Bjarne Stroustrup, The C++ Programming Language, Boston: Addison-Wesley 2010. 203 that the graphical representation of blocks of audio and audio waveforms conveys some- thing about when blocks of sound are present (or not), and perhaps some information about the dynamic envelope of each sound, but nothing (or almost nothing) about pitch content, timbre, frequency range or countless other potentially crucial musical concerns. Aims In response to these issues four main aims emerge: – to replace manual auditioning and sample selection with an automated, but musi- cally relevant sample selection procedure; – to exert meaningful control over the musical shapes created through abstract percep- tual elements of sound; – to achieve variability and flexibility in performance; – to allow immediacy in the studio. These aims imply certain musical values and ways of thinking. Unsurprisingly, they encapsulate my personal preoccupations as a composer, and as such the solutions pro- posed will be of most relevance to composers with a similar set of interests. The idea that details of sample choices may be automated within a given framework implies that, given a large set of samples, these samples may be musically, or perceptu- ally equivalent in a given context. This is to say that a sample would be chosen in or- der to fulfil given criteria and any sample fulfilling this set of criteria would be equally valid. This rejects the idea that it is the absolute and concrete nature of a sample that is of most interest. Rather, it places an emphasis on the perceptual qualities that might be abstracted from a sound. Clearly, the second stated aim reveals that my interest is in creating musical structure through the manipulation of such perceptual qualities, ei- ther by forming suitable sequences of samples, or by processing samples such that these qualities can be directly controlled. Proposed Approaches Audio Descriptor Matching In seeking to replace manual auditioning, it is necessary for samples to be accompanied by relevant metadata regarding their contents, such that an algorithm can be devised to select samples in a musically meaningful manner. Such metadata is known as an audio descriptor. In part, such metadata can be human-assigned as part of the editing process. This does not remove the initial need for audition, but after suitable labels have been assigned, samples can be found through a search procedure, without needing to repeat- edly reaudition. However, whilst this technologically simple approach has strong potential to allow selection based on the most obvious categorisations of samples, or descriptive tags, it is impractical to tag samples according to a large number of categorisations. This approach is also most suited to sonic characteristics that are easily divided into discrete catego- 204 ries. Where perceptual qualities are more continuous (such as the qualities of bright- ness or loudness) it is preferable to use an algorithmic machine listening approach. In this field, a large number of computable audio descriptors are available with which to analyse audio content.4 In the AHarker Externals package, the descriptors’ object allows for samples to be analysed using over twenty different numerical descriptors. Typically, values are calculated for small blocks of samples, and then averaged over the duration of the sample to produce a final value. However, it is also possible to derive values from the range, standard deviation, or to locate the frames with the largest (or smallest) values5, in order to derive useful perceptual data about the behaviour of a sample over time. For example, one might locate the highest estimated fundamental frequency over the dura- tion of a sample, or look at the rate of change in the loudness of a sample. Ideally, for a compositional approach aiming to control perceptual qualities of sound, the most useful descriptors are those that map well to human perception. Pitch and loudness (meaning the perceptual loudness, rather than amplitude) are two obvious and tangible examples. However, there are other effective descriptors that deal with less traditional aspects of sound quality. The spectral centroid is a measure of the central tendency of energy within the frequency spectrum. This maps well to the perceived relative frequency levels of unpitched sounds. In the case of Fluence this descriptor is used throughout to select appropriate transient sounds (key clicks, etc.) to fit a particular frequency contour. The spectral flatness measure maps well to the perceived noisiness of a sound, and can be used to select more or less noisy samples. In future we can expect to see new, more musically orientated descriptors, such as Thomas Grill’s recent work to derive a set of descriptors relating to perceptual qualities of textural sounds.6 Sample Selection by Matching Once a set of samples has been analysed and/or labelled to form a related set of audio descriptors it is then possible to perform a matching procedure to select an appropriate sample for use. This involves specifying a set of target values that the sample should match, as well as an optional required level of closeness to the desired values (outside of which a sample will not be deemed to have matched). This is essentially a search for any samples within a specified portion of an N-dimensional Euclidean space, in which the dimensions represent each descriptor used in the matching procedure. A wide vari- ety of criteria are possible. If the search is well-constructed and appropriate descriptors employed, the resulting chosen sample will match well to a set of desired perceptual qualities. This approach is inspired by the CataRT software by Diemo Schwarz.7 4 Geoffroy Peeters, A Large Set of Audio Features for Sound Description (Similarity and Classifica- tion) in the CUIDADO Project, IRCAM, Technical Report, 2004, http://recherche.ircam.fr/anasyn/ peeters/ARTICLES/Peeters_2003_cuidadoaudiofeatures.pdf (15. 5. 2015). 5 To detail but a few possibilities. 6 Thomas Grill, Constructing high-level perceptual audio descriptors for textural sounds, in: Proceedings of the 9th Sound and Music Computing Conference (SMC 2012), Copenhagen 2012, http://grrrr.org/ pub/grill-2012-smc.pdf (15. 5. 2015). 7 Diemo Schwarz, Catart (version 1.2.3 for ftm 2.6), 2010, http://imtr.ircam.fr/imtr/CataRT (15. 5. 2015). 205 In Fluence no audio samples are specified directly, rather they are always selected using a matching procedure according to the musical needs of the moment. Thus, in a giv- en texture, parameters may be specified so as to match high, noisy sounds, or perhaps short sounds with a high central spectral tendency. Whilst these textual descriptions are relatively vague, in practice a high degree of precision is possible when specifying the exact levels of loudness, spectral centroid, noisiness or any other parameter. Matching is near enough instantaneous, so realtime realisation is possible. The matching objects in the AHarker Externals package are specifically designed to suit the purpose of making sample selections based on the direct audio descriptors, rath- er than those systems that employ normalised values. This means that the user (and in this case composer) can think in familiar and tangible units such as frequency and dBFS. Each descriptor can be matched in an independent manner with a search (e. g. loudness below -10dBFS and with a fundamental frequency within an octave of 400Hz). Importantly, the closest N matches may also be returned and the result chosen using a pseudo-random process, thus allowing for the notion that any of the closest matches may be equally valid as a selection. This is notably different to a system where the clos- est match is always returned, and thus the same input parameters always produces the same choice. Auto-Segmentation Audio descriptors can also be used to perform automatic segmentation of audio, break- ing it into salient chunks for further organisation. In the main processing patch for Frac- tures it is possible to segment samples using several schemes, including segmentation at amplitude peaks, or at moments of increased spectral change (moments that indicate a change of timbre, or underlying fundamental frequency). After the segmentation is performed, each chunk is analysed with a further set of descriptors that can be used to select appropriate samples over time. Gestural Representation and Realisation in Fluence Having described a method of automated sample selection, the question remains as how to shape musical gestures effectively over time. Fluence employs a custom system of gestural representation and realisation to allow for the creation and control of meaningful control curves. As this system is one that creates generic numerical outputs, it can be used to drive any given parameter over time (be it a filter centre frequency, playback amplitudes, or the distance between sample on- sets). In the piece this is used in a variety of ways, including as the input to a descriptor matching procedure. Thus, short samples (such as recordings of individual key clicks) can be selected in realtime so as to have a perceptible organisation clearly related to a specified abstract shape. The two systems together remove the need for lengthy proc- esses of trial-and-error auditioning, and place the focus entirely on creating the desired gestural shaping. 206 Design Criteria The system employed in Fluence for dealing with gesture embodies four main design criteria: – Control in Terms of Shape Parameters: As my primary interest is in controlling the shape of musical gestures, the parameters of the gestural system are designed to re- late directly and logically to the resultant shape. – Wide Range of Output Shapes / Low Parameter Count: As a generalised system, it should ideally be possible to create almost any conceivable output, with a relatively small number of parameters. A compact representation is effi cient in offering only a few variables for the composer to specify in order to achieve the desired result. – Controllable Variability of Realisation: From both performance and compositional viewpoints, it is desirable to be able to realise a specifi ed gesture in a number of dif- ferent ways. In the former case this is to emulate the variation between instrumental performances of the same material. In a compositional context it is a tool for creating variation on a single idea. This criterion demands that low levels of variation main- tain the overall contour of the specifi ed shape, whereas higher levels of variability allow more dramatic changes. Thus, the level of variability becomes a parameter of the system. – Hierarchical Stacking of Shapes: Musical gestures are often complex/multi-layered in their shaping. Instead of requiring the user to chain many curves together to create more elaborate shapes, it makes sense to introduce at least two levels, one for the large scale shape, the other for internal infl ections. flat System Outline Full details of the gestural system are outside of the scope line of this article. However, a rough outline of important as- pects for the system is given below. More detail can be found in the helpfi le for the gesture_maker object.8 line_flat – Named linear kernel shapes can be specifi ed (see fi g. 2) flat_line – The timing and target values of the segments is specifi able triangle_return – Parameter specifi cation is numerical (and reasonably compact) triangle – Linear segments can be curved to achieve a) variable steepness of curve plateau_return b) s-curvature in a variety of rotations – All numerical parameters can be specifi ed in one of plateau three ways a) exactly (the fi nal value) return b) as a numbered band (representing a predetermined range of values) with randomisation general Fig. 2: Named linear kernel 8 Alexander Harker, AHarker Externals (see note 1). shapes 207 c) as a range of possible bands (again randomised) – There are two hierarchical layers a) A main layer (with one kernel) b) An inflections layer (with multiple kernels – either similar or heterogenous as desired) Figure 3 shows a visual example of three realisations of the same gestures specification. Here the parameters have been specified in such a way as to preserve the general con- tour and behaviour between realisations, but with noticeable variation in timing and the amplitude of inflections. Value Time Value Time Value Time Fig. 3: Gestural variability Further Methods of Control Controlled Randomisation Tightly bounded and limited pseudo-random processes are a useful tool for creating variability whilst maintaining some sense of predictability. This is already built into the system of gestural realisation for Fluence, in terms of the final choice of shape pa- rameters when realising a gesture. The processing patches for Fractures also utilise con- trollable probability distributions to allow a finer level of specification than a simple equal probability distribution will allow. The chosen method here is to select between multiple windowed Gaussian distributions with a weighted probability such that prob- ability distributions of varying levels of complexity are possible given a relatively simple interface. This is more clearly understood by looking at Figure 4, in which three win- dowed Gaussian distributions are combined to produce a final probability distribution (the green curve). Each of these is controllable via a graphical user interface in terms of its mean, deviation (or width), and weighting (or height). More or less complex distribu- tions are possible by adding or removing windowed Gaussian curves. 208 This system allows for engaging complex textures to be created with a fi ne degree of control. For instance, one patch may be used to granulate a sound such that each grain is fi ltered at a different frequency. Using bandpass fi lters of reasonably narrow width (high Q), it is possible to randomise the cutoff frequency parameter using such a distribution. Thus, different frequency areas of the input sound may be emphasised or selected by placing windowed Gaussians at the desired frequencies, and these elements can be balanced both spectrally and temporally by the weighting of these curves. This is quite a different effect to simply EQ’ing the output of a granular process. Probability Value Fig. 4: Windowed Gaussian probability distribution Control using Hardware / Audio Analysis In order to achieve immediacy in the studio, the processing patches for Fractures are de- signed to allow realtime control of all parameters (alongside options for randomisation). Two options for control are available, the fi rst of which is via a wacom graphics tablet. This offers 3 dimensions of simultaneous control (x, y and pressure) and maps well to the idea of visual shapes as a metaphor for musical shapes (as in the gestural system in Fluence). In addition to this, parameters can be controlled via audio analysis. Here, an au- dio input (typically from a microphone) is analysed in realtime to yield a range of audio descriptors. These can be mapped to any parameter of the processing. Thus, particu- larly with more direct mappings (such as mapping input loudness to gain) it is possible to simply vocalise the gestural shapes one wishes to impose on the material, without the need for the composer to deal with an intermediate representation (such as a visual shape, or set of numbers). Here, the idea was very much to create a playable ›instrument‹ for use in the studio. Compositional Implications Focus on Higher-Level Control and Representation Dealing with the formalisation of sample selection procedures, or gestural shapes, means that time and attention is moved away from details of realisation, and onto high- er-level concerns of content and behaviour. Of course, this has both advantages and disadvantages. Consideration of large-scale timings and fl ow becomes easier. However, if one has a strong desire to place samples in specifi c time relation to one another, then the extremely fi ne audio placement and editing possible in a DAW are likely to be more appropriate. This is an aesthetic question, in that it depends on the music one wishes 209 to write, and how much it can be shaped by over-arching processes, rather than very fine manipulation of materials. Importantly, all musical shapes and intentions must be expressed formally. If one cannot derive a set of principles, or criteria for creating a texture or gesture, then automating the process is impossible. In my case, this suits my predisposition towards strong compositional frameworks, but doubtless some compos- ers would find this requirement musically limiting. Improved Representation of Musical Ideas Whilst the systems of gestural representation and descriptor matching presented here are by no means perfect, in terms of offering an easier and more transparent interaction with technology, they do place the composer closer to more musical ways of thinking about sound. Addressing sample content through matching means that it is trivial to perform tasks such as constructing specific harmonic structures (simply search for sam- ples with the desired pitches), or to create a texture of only breath sounds, given that the samples are appropriately labelled. Changing the entire texture to include only loud or noisy samples is again merely a matter of changing the matching criteria, and all the time the descriptions are in terms very close to perceptual, musical qualities. Likewise, the processes of controlled randomisation and realtime control used in Fractures place one as a composer directly in connection with issues of prime musical concern. In order to create a musical gesture that moves jerkily between high and low frequency content it is simply necessary to map a suitable parameter (perhaps transposi- tion level or filter centre frequency) to the graphics tablet and perform the desired, jerky behaviour in realtime. Alternatively, a suitable probability distribution can be rapidly constructed graphically (assuming that the temporal behaviour is relatively static). In either scenario the logistics of realising musical ideas are significantly reduced. Rapid Prototyping and Realisation Sample matching criteria can be generated very quickly, and audio realisation is imme- diate. Thus, it becomes trivial to prototype complex textures built from many tens or hundreds of samples. In a DAW, constructing such textures would take a considerable time to produce. With the proposed approaches multiple different textures, or gestures (or variations on these), can be designed and auditioned in a relatively short space of time. This allows for a higher rate of rejection and more time for fine tuning the behav- iour of materials to an appropriate degree. Implied Notion of Perceptual Equivalence The notion of perceptual equivalence applies not only to the idea of one or more sam- ples being considered equivalent in a specific context (as discussed earlier), but also to the idea that variability of control shapes can be allowed without altering the funda- mental musical structure. In other words, this variability is simply a matter of flexible 210 performance realisation.9 This is the case throughout Fluence where I consider the ges- tural specifications in the piece to be analogous to the musical score, in that they deter- mine the important shapes of the piece. Different realisations of each gesture perform the same function within the piece, even though the details vary. It is necessary to carefully consider which perceptual qualities of a sound will be most important within a particular musical texture or gesture, especially when one considers that, often it is practical to match only a handful of audio descriptors. Whilst controlling some qualities of the sound, others remain completely uncontrolled. Appropriate Levels of Variability Different musical contexts will allow different amounts of variability whilst maintain- ing perceptual equivalence. Alternatively, there may be times where it is appropriate to re-use gestural specifications so that the variation is perceivable and important to creat- ing musical structures. Thus, the level of variability must be chosen carefully as appro- priate to the context and musical intention. For example, strongly directional/gestural material may require tighter levels of control in order to maintain important aspects of the musical shape with each realisation. Textural material may be generated by repeat- edly re-using a gestural specification with a much higher level of variability, as a means of creating complexity through a straightforward procedure. Descriptor Matching Requires Large Samples Sets When the set of available samples becomes small the audio descriptor space becomes quite sparse. This means that any given part of the descriptor space (the area in which a match might be sought for instance) is more likely to be empty. As it therefore becomes increasingly likely that a given set of target parameters for matching will return either few or no samples, descriptor matching becomes less and less practical as a powerful tool for selecting and structuring sampled materials. Of course, auditioning fewer sam- ples is conversely more practical, but there may well be a mid-ground in which neither algorithmic matching, nor manual audition is particularly efficient. It is also necessary to be wary of sparse areas in the descriptor space. Matching in these areas is likely to return many repeated samples, which may be highly undesirable, especially where the intention is to create dynamic gestural or textural materials. 9 I will refrain from using the word interpretation, as this implies a level of musical consideration not built into the system. 211 Zwischen Anwendung und Konzept: Perspektiven der Sonifikation in Wissenschaft und Kunst von Torsten Möller Autogeräusche sind beredt: Einen Keilriemen erkennt man am charakteristischen Quietschen. Fehlen wummernde Tiefen, handelt es sich wohl um einen Kleinwagen mit wenig Hubraum. Höranalysen solcher Art sind nur auditive Annäherungen eines Laien, sprich: des gewöhnlichen Nutzers. Der Profi hört viel mehr. Im frühen 20. Jahrhundert gab es schon den Automechaniker, der mehr Hintergrundwissen hatte und daher klang- liche Deutungshoheit für sich beanspruchen durfte. Hörende Spezialisten waren sich darüber im Klaren, dass selbst fabrikneue Autos vor hundert Jahren atypische Laute von sich gaben – wohlgemerkt nicht erst in späten Lebensjahren ihres Gefährts, sondern schon beim »Einrollen«, also vom ersten bis zum 2000sten Kilometer. Über solch ungewöhnliche Nebengeräusche ihres neuwertigen Automobils machten sich manche Fahrer schon mal Sorgen. In den Werkstätten, in denen sich mit der Anerkennung des Kfz-Handwerks im Jahr 1932 eine gewisse Hybris breit machte, war mitunter von einem »Geräuschfanatiker« die Rede, der wegen Bagatellen in die Werkstatt kommt. Seinen Gegenpol gab es auch. Und zwar in Form des »Geräuschphlegmatikers«, über den ein Mechaniker mal gesagt haben soll: »Ihn stört es nicht, wenn sein Fahrzeug an allen Ecken und Enden rattert und quietscht und die Karosse in trautem Verein mit dem Motor ein Freikonzert gibt.«1 Die von Stefan Krebs überlieferte Geschichte sagt vieles. Sie sagt etwas über sonifikatorischen Alltagsgebrauch, über die Kunst und Erlernbarkeit des Hörens, aber auch über das heikle Eigenleben von Klängen und Geräuschen. Nimmt man die von Gregory Kramer ins Spiel gebrachte und anerkannte Definition der Sonifikation als »use of non speech audio to convey information« ernst,2 dann wird im Fall der zu analysierenden Motorgeräusche zumindest das Prinzip genutzt, wenn auch zu unterscheiden wäre zwischen »unbewusster« und nicht »gebrauchsorientierter« Pro- duktion nichtsprachlicher Laute. Mit anderen Worten: Der Ottomotor wäre zu trennen vom Menschen, der bewusst Klänge oder Geräusche ins Spiel bringt, um Informationen zu transportieren. Letzteres kann sowohl eine akustische Bearbeitung in Form einer Verstärkung sein – man denke an das Stethoskop, mit dem der Arzt das Herz abhört –, als auch ein »Fakten-Transfer« von ursprünglich nicht Hörbarem in Form des Geiger- 1 Stefan Krebs, Automobilgeräusche als Information. Über das geschulte Ohr des Kfz-Mechanikers, in: Das geschulte Ohr. Eine Kulturgeschichte der Sonifikation, hrsg. von Andi Schoon und Axel Volmar, Bielefeld: transcript 2012, S. 95–110, Zitat S. 104 2 Vgl. http://sonification.de/son/definition (14. 4. 2014). 212 zählers, der radioaktive Zerfälle anhand von Tickdichten widerspiegelt. So fein diese Unterscheidung klingt, so gravierend sind die Konsequenzen. Zumindest tendenziell obliegt die symbolische Repräsentationsform der Kunst, während die Wissenschaft meist die direktere Anbindung sucht. Die Trennung von Wissenschaft und Kunst klingt problematisch. Zugegebenermaßen lässt sie einige Ansätze außen vor, die sich – Stichwort: Kunst als Forschung – mit weit reichenden Perspektiven gerade die viel be- schworene Transdisziplinarität zu Nutze machen. Aber die Separierung künstlerischer wie wissenschaftlicher Standpunkte scheint bei allen »Reibungsverlusten« letztlich sinnvoll, ja in gewisser Weise unabdingbar, um zumindest Schneisen zu schlagen in ein Gebiet, das wild wuchert und schon nach knapp zwanzig Jahren droht, undurch- schaubar zu werden. 1. Wissenschaft als Anwendung Seit 1992 treffen sich Sonifikations-Wissenschaftler bei der ICAD, der International Community of Auditory Display. Diskutiert werden Grundlagenforschungen, medizi- nische Anwendungen oder auch akustische Trainingsanwendungen für Eisschnellläufer.3 Bei der ICAD ist Thomas Hermann vom Bielefelder CITEC (Cognitive Interaction Tech- nology – Center of Excellence) des Öfteren dabei. Zu Recht hält Hermann die »auditive Gestaltbildung aus […] analogen oder subsymbolischen Informationsströmen« für einen »spannenden Prozess« und nutzt ihn zur Entwicklung von Sonifikationsanwendungen für Blinde, um an einem so genannten I-Chair zur Verhinderung von Haltungsschäden zu forschen oder um Geiger vor Haltungsschäden zu schützen.4 Ob es sich um solche Entwicklungen handelt oder um Kooperationen mit dem Fachbereich Sport, wo Ruderer ihre bestmögliche Taktung per Audiosignal erfahren – immer handelt es sich um anwendungsorientierte Forschungen. Volker Straebel, Leiter des elektronischen Studios der TU Berlin, beäugt solche Ausrichtungen kritisch, zumal er auf die Kehrseite jeglicher technischer Innovation verweist. Die Avantgarde ist nicht selten das Militär, das zum Beispiel für die Optimierung von Kampfboot-Steuerplätzen durchaus im Eigennutz forschen lässt.5 Zurück zu Thomas Hermann: 2008 hat er die oben genannte Definition der Sonifikation von Gregory Kramer spezifiziert: »Sonification is the data-dependent generation of sound, if the transformation is systematic, objective and reproducible, so that it can be used as scientific method.«6 Hinter solcher Ausrichtung steht ein traditionelles Wissen- schaftsverständnis, das wiederum, paradoxerweise, durch Sonifikation in Frage gestellt wird. Oft geht es um nicht mehr und nicht weniger als um eine Kritik des Visuellen generell, somit auch um eine neue Wissenschaftskultur, die nicht mehr von Zahlen, Graphen und Texten lebt, sondern durchs Hören. Doch Fragen bleiben: Wie exakt kann 3 Vgl. http://www.icad.org/ (14. 4. 2014). 4 Gespräch des Verfassers mit Thomas Hermann in Bielefeld, April 2011. 5 Gespräch des Verfassers mit Volker Straebel in Berlin, November 2011. 6 Vgl. Anm. 2. 213 Hören sein? Kein Zweifel besteht an riesigen Informationsmengen, die auditiv über- tragen werden können. Eine »akustische Umweltfotographie« – wie beispielsweise in Luc Ferraris Musique anecdotique aus den sechziger Jahren – verrät in Sekundenschnelle, wo man steht: In der Stadt oder am Meer, im Regen, im lauen Lüftchen oder im Sturm. Doch solche eher weichen Faktoren reichen in der Wissenschaft kaum aus. Andi Schoon und Axel Volmar fassen die Skepsis zusammen: »Der Nachweis, dass wissenschaftliche Sonifikationen zukünftig den Stellenwert von Visualisierungen einnehmen können, steht allerdings noch aus – so ist die Sonifikationsforschung gegenwärtig noch auf der Suche nach einer ›Killerapplikation‹, die die wesentliche Bedeutung der Sonifikation für die Wissenschaften schlagend beweisen könnte.«7 Kunst als Konzept In der Kunstsphäre ist der Rechtfertigungsdruck geringer. Schon Alvin Lucier bot nicht nur mit seinem Music for Solo for Performer (1965) Einblicke in Hirnaktivitäten des Menschen, sondern zeichnet im 1993 entstandenen Panorama für Posaune und Kla- vier ein gemaltes Alpenpanorama nach. Dabei bezieht er sich auf eine Zeichnung des Schweizer Malers Fritz Morach und überträgt die Höhen der Bergspitzen in Tonhöhen, die in der Posaunenpartie mikrotonal, also mit Glissandi verbunden sind. Lucier trans- ponierte die realen Höhen nach unten, um in den Hörbereich zu gelangen. Ist der Berg in Morachs Panorama 3200 Meter hoch, so teilte der amerikanische Komponist die Höhe durch acht, um auf 400 Hertz zu kommen. Volker Straebel macht im Fall von Panorama auf zwei Dinge aufmerksam: Luciers Interesse ist nicht der Datentransfer. Er versteht sich als Alchemist, der gewöhnliche Metalle in Gold verwandele. Die ästhetische Stoß- richtung zielt demnach auf einen durchaus romantischen Naturbezug, der die Schönheit der Natur ästhetisch vermittelt – ohne konkreteres Fakteninteresse. Zweitens verweist Straebel darauf, dass sich bei vielen Künstlern, die elektronische Klangproduktion pflegen, die Frage stelle, welche Inputs sie in ihre Systeme hineingeben sollten.8 Beide Argumente berücksichtigend ist zu folgern: Alvin Lucier wird den Definitionen Kramers und Hermanns kaum gerecht. Florian Dombois, Klangkünstler und studierter Geophysiker, geht einen Schritt weiter. Er hat unter anderem das verheerende Tohoku-Erdbeben in Japan vom 11. und 12. März 2011 sonifiziert. Eine ›direkte‹ Sonifikation in Form einer abbildenden Audifikation war auch hier nicht möglich. Die Erdschwingungen wurden enorm komprimiert, um 7 Andi Schoon und Axel Volmar, Informierte Klänge und geschulte Ohren, in: Das geschulte Ohr (s. Anm.  1), S.  14. Meines Erachtens liegen die fruchtbarsten Perspektiven im Bereich der Audifikation, das heißt im Rahmen der direkten (analogen) Umsetzung von Messwerten oder Informationen. Das Problem einer notwendigen Etablierung standardisierter Übertragungen mittels genormter Software wäre damit ausgeschaltet. 8 Volker Straebel, The sonification metaphor in instrumental music and sonification’s romantic implications, in: Proceedings of the 16th International Conference on Auditory Display, Washington DC: George Washington University DC 2010; Text als pdf-Download abrufbar unter http://www. straebel.de/praxis/ (8. 5. 2015). 214 aus tiefsten Infraschallbereichen auf eine hörbare Verklanglichung von zweieinhalb Minuten zu kommen.9 Dombois ist grundsätzlich misstrauisch, was das Vertrauen in sogenannte »Fakten« betrifft. Kaum sieht er Unterschiede von akustischen zu visuellen Darstellungen, wo, wie er sagt, »ja auch Daten getrimmt werden«. Überspitzt könnte man sagen, es geht um einen Positivismus-Streit zweiter Ordnung, um eine künst- lerische Kritik an heutiger, von visuellen Daten dominierter Wissenschaftskultur. Dombois sieht das als »Sand im Getriebe«; er habe schon ein »hinterhältiges Interesse« an der Sonifikation, das zum Beispiel darin bestehe, dass man verstärkt über Media- lität nachdenkt, oder über alternative Zugriffe auf Natur.10 Tatsächlich sind manche Fragen und Argumente verständlich: Was sagen schon Richterskalen oder Moment- Magnituden über die enorme Gewalt von Erdbeben aus? Und: Liegen Milliarden oder Billionen nicht ohnehin jenseits menschlichen Vorstellungsvermögens? Dombois betont noch einen Aspekt, der von grundsätzlicher Bedeutung ist. Es könnte sich herausstellen, dass andere Arten der Reflektion, die beim Hören geschehen, auch andere Handlungen zeitigen. Bei vielen Naturwissenschaftlern mag man auf skeptisches Achselzucken stoßen. Aber es bleibt doch ein entscheidender Punkt, dass man hören muss, dass man gezwungen ist, sich einzulassen, sich Zeit zu nehmen, um sich Natur- oder Alltags- phänomenen zu nähern. Am Ende bleiben Fragen, Konjunktive, aber auch eine gewisse Zuversicht. Sie resultiert aus den überragenden Qualitäten, die das Ohr mitsamt seines akustischen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsapparats hat. 9 https://www.youtube.com/watch?v=3PJxUPvz9Oo (10. 6. 2016). 10 Gespräch des Verfassers mit Florian Dombois in Berlin, November 2011. Zum Verhältnis des wissenschaftlichen Erkenntniswerts von Visuellem und Akustischem vgl. Andi Schoon und Axel Volmar, Informierte Klänge und geschulte Ohren (s. Anm. 7), S. 14 f. 215 Sonifikation der menschlichen Stimme durch note~ for Max Ein Experiment von Thomas Resch Einleitung Additive Klangsynthese und Frequenzanalysen von Audiosignalen gehen auf den französischen Mathematiker Jean Baptiste Joseph Fourier zurück. Das nach ihm benannte Fourier-Theorem besagt, dass jedes noch so komplexe Signal als Überlagerung von Sinus-Schwingungen dargestellt werden kann. In der Realität, also der diskreten Be- rechnung der Fourier-Analyse im Computer, ist die Auflösung leider nur endlich. Daher liegen die erklingenden Frequenzen häufig genau zwischen zwei von der Fourier-Ana- lyse erfassten Bändern. Daraus resultierend erhalten Frequenzen, die physisch gar nicht erklingen, in der Analyse Energie zugeteilt. Hinzu kommen psychoakustische Effekte, die unmittelbare Rückschlüsse beispielsweise von einem mittels der Fourier-Analyse erstellten Sonagramm auf die tatsächlich erklingenden Frequenzen und Töne noch weiter erschweren. Ein Beispiel dafür sind Obertonstrukturen, bei denen die meisten Obertöne gut hörbar vorhanden sind, der Grundton aber nur sehr leise oder gar nicht zu hören ist. In diesem Fall errechnet unser Gehirn aus der Obertonstruktur den fehlenden Grundton, einen sog. Residualton, den wir dann tatsächlich auch hören, obwohl er rein physisch gar nicht vorhanden ist. Daher wurden Algorithmen entwickelt, die keine reine Fourier-Analyse durchführen, sondern versuchen, von dieser auf die tatsächlich erklingenden Töne zu schließen, unter anderem das sogenannte Partial Tracking. Mittels Partial Tracking der Software SPEAR und note~ for Max1 sollte nun innerhalb eines 25-minütigen Vortrags eine algorithmische Minikomposition aus einer kurzen Sprachaufnahme entstehen. Technischer Hintergrund zu note~ for Max, Partial Tracking und dem SDIF-Dateiformat Bei note~ for Max handelt es sich um vier in der Programmiersprache C entwickelte Objekte, die sich innerhalb der Software Max/MSP von Cycling 742 laden lassen und ein graphisches Interface mit Timeline zum Editieren, Platzieren und Aufnehmen/Wie- 1 www.noteformax.net – auf dieser Projektwebsite finden sich weiterführende Informationen, die Software steht hier zum Download bereit. 2 www.cycling74.com 216 dergeben von Events, ein Scripting Interface und ein Interface zum Erstellen einer Par- titur für (zeitgenössische) Musik bereitstellen.3 Abb. 1: note~, note.eventEditor und note.score (v. l. n. r.) Der erste Partial-Tracking-Algorithmus, vorgestellt 1986 von Robert J. McAulay und Thomas F. Quatieri, analysiert sehr kurze Zeitabschnitte eines Signals, sog. Frames, mittels der Fourier-Analyse. Aus den unterschiedlichen spektralen Peaks aufeinander- folgender Frames werden daraus die wahrscheinlichsten Partialtöne errechnet.4 Es existieren inzwischen diverse Erweiterungen des Algorithmus, die die Genauigkeit noch erhöhen. Die Software SPEAR, die am IRCAM5 entwickelt wurde, erlaubt Partial Tracking beliebigen Audiomaterials und die Speicherung als SDIF-File (Sound Description Interchange Format). SDIF-Files bestehen im wesentlichen aus einer Liste von Fließkom- mazahlen, die jeweils paarweise Frequenz und dazugehörige Energie repräsentieren. Mit Hilfe der CNMAT-Objekte6 der Universität Berkeley für Max/MSP können SDIF- Files ausgelesen und in note~ importiert werden. Abb. 2: Partial Tracking mit der Software Speer 3 Thomas Resch, note~ for Max – Ein Tool für Medienkunst und Neue Musik, in: Mensch & Computer 2012 – Workshopband: interaktiv informiert – allgegenwärtig und allumfassend!?, hrsg. von Harald Reiterer und Oliver Deussen, München: Oldenbourg 2012, S. 323–325. 4 Robert J. McAulay und Thomas F. Quatieri, Speech Analysis/Synthesis Based on a Sinusoidal Representation, in: Transactions on Acoustic, Speech and Signal Processing, vol. 34, no. 4, 1986, S. 744–754. 5 Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique, www.ircam.fr. 6 Center for New Music and Audio Technologies, cnmat.berkeley.edu. 217 Durchführung Zunächst wurde eine zuvor erstellte SDIF-Analyse eines sechs Sekunden langen Audio Samples aus dem Film Resident Evil (2002) mit 36 184 Partialtönen nach note~ importiert. Mittels einer Sinus-Oszillator-Bank mit 600 Oszillatoren wurde das Sample resyn- thetisiert und klang mehr oder weniger wie das Original. Abb. 3: 36 184 Events aus der SDIF-Analyse im note.eventEditor Danach wurden alle Events unter einer bestimmten Lautstärkeschwelle und mit Frequenzen über 16 000 Hz und unter 50 Hz gelöscht, was die Anzahl auf ungefähr 7000 Töne reduzierte. Das Resultat bei der Resynthese klang beinahe identisch. Um die immer noch für die anvisierte Länge des Stücks von vier Minuten große Menge an Events weiter zu reduzieren und eine gewisse Nonlinearität zu erhalten, wurden algorithmische und zufällige Prozesse angewandt, bis die Anzahl der Events auf ca. 800 geschrumpft war. Selbst jetzt war das Sample in der Resynthese noch erkennbar. Zum Schluss wurde die Analyse um 3900 % in der Zeit gedehnt, um die gewünschte Länge zu erhalten, und zufällig ausgewählte Töne wurden in Triolen, Quintolen und Septolen geteilt. Fazit Das Resultat wurde nun nicht mehr mit Sinus-Oszillatoren resynthetisiert, sondern stattdessen mit einem Physical Model eines präparierten Klaviers7 wiedergegeben und mittels des note.score-Objekts gerendert. Eine Videodokumentation von diesem Experiment ist auf www.noteformax.net zu finden. Aufgrund der starken Dehnung in der Zeit und der Resynthese mit einem »echten« Instrument lässt sich das Original in diesem Zustand nicht wiedererkennen. Natürlich sind andere Vorgehensweisen und Pro- zesse vorstellbar, bei denen das Ausgangsmaterial weniger stark verfremdet wird, bei- spielsweise ein längerer Dialog, der nicht zeitlich gedehnt wird und aufgrund mehrerer Stimmen unterschiedliche Spektren liefert. 7 Stefan Bilbao und John Fitch, Prepared Piano Sound Synthesis, in: Proceedings of the 9th Interna- tional Conference on Digital Audio Effects, Montréal, Canada, 18.–20. September 2006, S.  77–82, http://www.dafx.ca/proceedings/papers/p_077.pdf (15. 5. 2015). 218 Abb. 4: Das bearbeitete Material im note.score gerendert Die Performance erhebt nicht den Anspruch, kompositorisch wertvoll zu sein. Es geht allein darum, die Möglichkeiten – insbesondere die Verarbeitung großer Daten- mengen sowohl algorithmisch als auch mit einem graphischen Benutzer-Interface und deren Darstellung in klassischer musikalischer Notation – der Software note~ for Max aufzuzeigen. 219 Musik im Lautsprecher, Musik jenseits des Lautsprechers Erfahrungsbericht zum Aufbau der Klanginstallationen Seesaw von Alvin Lucier und Grigio due von Hauke Harder beim Symposium Les Espaces sonores von Hauke Harder Im April 2012 kontaktierte mich Michel Roth von der Hochschule für Musik Basel, ob ich Interesse hätte, Klanginstallationen von Alvin Lucier und von mir beim Symposium Les Espaces sonores zu realisieren. Michel Roth und ich hatten zuvor bereits mehrfach Kontakt gehabt. So hatte er 2008 eine Einführung zu meinem Klavierstück One by One im Kunsthaus Zug gegeben und mich kurz darauf eingeladen, in Luzern gemeinsam mit Roland Dahinden zwei Workshops zu den Arbeiten von Alvin Lucier zu geben. Vor allen Dingen aber kannte er meine Realisation von Luciers Music on a Long Thin Wire im Kunst- haus Zug. Auf Music on a Long Thin Wire habe ich mich in den letzten fünfzehn Jahren spezialisiert, und in Zug hatte ich eine Fassung realisiert, bei der der Draht durch die Gänge des Kunsthauses gespannt wurde. Im E-Mail-Austausch haben wir uns dann überlegt, welche Arbeiten im Kontext des Symposiumthemas sinnvoll sein könnten. Viele Spielmöglichkeiten gab es allerdings nicht. Auch wenn Lucier gerade durch seine Installationen bekannt geworden ist, gibt es davon in seinem Œuvre nur wenige Arbeiten, und davon sind einige sogar eine Art Zwitter: So hatte er Music on a Long Thin Wire ursprünglich als Konzertstück konzipiert, um dann schließlich die Arbeit nur als Installation zu realisieren, und beispielsweise Music for Pure Wave, Bass Drums and Acoustic Pendulums wird sowohl als Konzertstück als auch als Installation realisiert. Aus einer Vorauswahl wurde dann von der Programm- kommission beschlossen, Luciers Music on a Long Thin Wire sowie eine meiner Arbeiten, Grigio due oder Grigio tre zu realisieren. Im September reiste ich nach Basel, um Räume für die Arbeiten zu finden. Mögliche Orte waren die Säle und Unterrichtsräume der Hochschule sowie die Vera-Oeri-Biblio- thek. Die Bibliothek, ein architektonisch gelungener Bau, wurde besonders favorisiert. Es zeigte sich aber schnell, dass sich für Music on a Long Thin Wire kein wirklich geeig- neter Ort finden ließ. »Long« bedeutet in diesem Stück »really long«, und eine Version mit einer Länge unter fünfzehn Minuten ist selten befriedigend. Ein interessanter Ort, der dieser Bedingung entsprach und dauerhaft zugänglich war, ließ sich weder in der Bibliothek noch im Haupthaus der Hochschule finden. Während der Besichtigung der vielen Räume hatte ich allerdings beim Betreten von Raum 48 das Gefühl, dass dieser sich gut für Luciers Installation Seesaw eignen würde, und wir einigten uns darauf, diese Arbeit statt Music on a Long Thin Wire zu realisieren. Die Bibliothek wiederum schien sich hervorragend für meine Arbeit Grigio due zu eignen. Daraus resultierte die eigentlich nicht intendierte Konstellation von zwei Installationen mit großen Gemeinsamkeiten. Aber es lag darin durchaus auch ein Reiz, dass zwei Arbeiten, die formal so ähnlich ›gebaut‹ sind, letztlich doch so unterschiedlich 220 Abb. 1: Installation von Hauke Harders Grigio due in der Vera-Oeri-Bilbliothek (Foto: Hauke Harder) klingen können. Beiden Arbeiten gemeinsam ist die Verwendung von Schwebungen und die Tatsache, dass die Lautsprecher selbst eine wichtige visuelle Komponente der Installation sind. Aber die Unterschiede der Lautsprecher – Seesaw verwendet normale Lautsprecher, Grigio due hingegen Druckkammerlautsprecher – führen zu den nicht ver- gleichbaren klanglichen/musikalischen Resultaten. Seesaw hat einen sehr einfachen Aufbau: Entstanden zu der Zeit, als Lucier mit Stü- cken für Instrumentalisten und Sinustöne experimentierte (1983), ist diese Arbeit eine installative Realisation. Zwei Sinustöne werden von jeweils einem Lautsprecher wie- dergegeben. Einer der Sinustöne ist stabil bei einer Frequenz von 256 Hz, der zweite macht um diesen Ton eine Auf- und Abbewegung wie eine Wippe (engl.: seesaw). Der Ton bewegt sich vom Unisono auf eine maximale Frequenzdifferenz von 0,2 Hz ober- halb des fixen Tons, macht dann ein Glissando abwärts durchs Unisono bis zu einer Frequenz von 0,2 Hz unterhalb des fixen Tons, um dann wieder anzusteigen. Aus der Überlagerung der Töne resultiert eine Schwebung, deren Frequenz der Frequenzdifferenz entspricht. Die maximale Schwebungsfrequenz ist somit 0,2 Hz, also eine Schwebung in fünf Sekunden. Die Schwebungsminima und -maxima (Knoten und Bäuche) verändern mit der ver- änderten Frequenz des auf- und absteigenden Tons ihre Positionen im Raum, und wir können daher hören, wie der Ton sich im Raum bewegt. Lucier spricht in diesem Zu- 221 Abb. 2: Installation von Alvin Luciers Seesaw im Raum 48 der Hochschule für Musik Basel (Foto: Hauke Harder) sammenhang von »Spinning«.1 Oft hat man das Gefühl, dass der Ton um den Kopf herum kreist. Die Geschwindigkeit des Spinning reicht von 0 Hz beim Unisono (der Ton steht still), bis zu einer Umdrehung in fünf Sekunden. Ein interessantes Phänomen ereignet sich beim Durchgang durchs Unisono: Das Kreisen verlangsamt sich, erreicht mit dem Unisono den Stillstand, und nach Durchschreiten des Unisono beginnt der Ton langsam, aber in umgekehrter Richtung, wieder zu kreisen. Für diesen räumlichen Effekt ist es wichtig, dass die Töne von getrennten Laut- sprechern wiedergegeben werden. Außerdem sollte der Raum akustisch eher trocken sein. Bietet er zu viele harte Reflexionsflächen, ergeben sich Knoten und Bäuche, die sich dem Effekt der Schwebung überlagern und diesen damit abmildern. Die räumliche Bewegung wird undeutlicher. Raum 48 war mit großen Vorhängen ausgestattet und daher für die Realisation geeignet. Grigio due arbeitet ebenfalls mit Schwebungen, allerdings gilt ihnen nicht das Haupt- augenmerk wie in Seesaw, sondern die Schwebungen dienen der Konzentration, dem 1 Eine ausführliche Beschreibung der Bewegung des Schalls im Raum in der Arbeit Seesaw gibt Alvin Lucier in Reflections/Reflexionen, hrsg. von Gisela Gronemeyer und Reinhard Oehlschlägel, Köln: MusikTexte 1995, S. 466 ff. 222 Gewahr-Machen. Grigio due ist eine Erweiterung der Arbeit Grigio uno,2 die durch eine zufällige Entdeckung zustande kam. Bei Tests zu einer anderen Arbeit stellte ich fest, dass manche Basslautsprecher ohne Gehäuse bei der Wiedergabe von tiefen Sinustönen deutlich hörbar Obertöne erzeugen. Diese sind auch deshalb so gut hörbar, weil der offene Betrieb des Lautsprechers zu einem akustischen Kurzschluss führt: Der einge- speiste Ton löscht sich selbst aus. Dieser Effekt existiert nur bei tiefen Frequenzen und tritt umso stärker auf, je tiefer die Frequenz ist. Um die einzelnen Teiltöne aus dem ›Ge- misch‹ aus Obertönen deutlicher hörbar zu machen, arbeite ich mit extrem langsamen Schwebungen, die wie zeitlich sich verändernde Filter wirken. Obertöne treten in den Vordergrund, um wieder im Hintergrund zu verschwinden. Auch hier werden die Sinus- töne von unterschiedlichen Lautsprechern wiedergegeben. Würde man die Sinustöne von Grigio uno von normalen Lautsprechern wie in Seesaw abspielen, würden die beiden Arbeiten sehr ähnlich klingen, nur dass bei Grigio uno die langsame Schwebung unver- ändert bleibt (eine Schwebung in ca. einer Minute). Durch die Nutzung von offenen Basslautsprechern hingegen entstehen die zusätzlichen Obertöne, die wiederum ihre jeweils eigenen Schwebungstempi haben. So schwebt beispielsweise der siebte Oberton siebenmal schneller als der Grundton. Durch die Überlagerung der langsam schwebenden Obertöne entsteht fast eine Art von Melodie. In Grigio due werden die offenen Lautsprecher durch Druckkammerlautsprecher ersetzt. Da es sich um einfache Exemplare handelt, produzieren diese wie die offenen Lautsprecher in Grigio uno deutlich ausgeprägte Obertöne. Als weitere Änderung gegenüber Grigio uno erklingt ein zu- sätzlicher Ton aus einem dritten Lautsprecher und bildet mit dem schwebenden Ton ein reines Intervall mit dem Verhältnis 9:8. Dadurch überlagern sich zwei Phänomene: Das reine Intervall, welches ein charakteristisches Pulsieren aufweist (ebenfalls resultierend aus einem Schwebungsphänomen), und die Bewegung der Obertöne. Durch das Lauter- und Leiserwerden des tieferen Tons tritt mal das Intervall, mal die Bewegung der Obertöne in den Vordergrund. Mit offenen Basslaut- sprecherchassis zu arbeiten hatte ursprünglich rein optische Gründe; mir schien es die visuell interessantere Variante gegen- über der Nutzung von einfachen Lautsprecherboxen. In Grigio uno und Grigio due wurden die Lautsprecher dann durch die Erzeugung der Obertöne Abb. 3: Installation von Alvin Luciers Seesaw, Film- und auch zum zentralen Element Videoraum des Whitney Museum of Modern Art, New der Komposition. Der Laut- York, 1983/84 (Foto: Nancy Walz) 2 Eine Beschreibung mit Audiobeispiel von Grigio uno findet sich im Leonardo Music Journal, December 2012, Vol. 22, S. 93. 223 Abb. 4: Installation von Hauke Harders Grigio due in der Vera-Oeri-Bilbliothek (Foto: Hauke Harder) sprecher macht die Musik,3 und die musikalische Bedeutung wird durch die optische Präsenz hervorgehoben. Für Alvin Lucier hat die visuelle Komponente ebenfalls eine große Bedeutung. Deshalb war es mir in Basel – besonders im Kontext einer Musik- hochschule – sehr wichtig, für die Installationen einen guten Ort und eine optisch würdige Präsentation zu finden. Für Grigio due war dies relativ leicht. Der Eingangs- bereich der Bibliothek bot sich aus mindestens zwei Gründen für die Arbeit an: Der Eingangsbereich hat eine Glasfront mit Blick in die Bibliothek, und die Lautsprecher, auf Mikrofonständern platziert, fügten sich in diese Transparenz ein, ohne selbst zu präsent zu sein. Und die harten Glasoberflächen erlaubten, dass die Obertöne deutlich hörbar waren und nicht durch dämpfende Materialien verschluckt wurden. Die Realisation von Luciers Seesaw geriet etwas schwieriger. Lucier hatte 1983/84 für die Installation im Film- und Videoraum des Whitney Museum of Modern Art alle technischen Geräte bis auf die Lautsprecher außerhalb des Raumes untergebracht. Die Lautsprecher selbst 3 Die beiden Arbeiten lösen damit ein Credo von Davin Tudor ein, auf welches Nicolas Collins in seinem Artikel Resonance Comes Between Notes And Noise, in: Leonardo Music Journal, December 2012, Vol. 22, S. 87) verweist: »the loudspeaker is not a window for sound, it is a musical instru- ment in its own right«. 224 waren in der Mitte des Raumes auf Sockeln platziert, so dass sich die Lautsprecher auf Ohrhöhe befanden. Die Wände hatte er mit Schallabsorbern versehen, um eine trockene Akustik zu bekommen. Ganz so weit konnten wir in Raum 48 nicht gehen. Michel Roth hatte die Betreuung der Installationen vor Ort übernommen, und wir waren in Kontakt wegen der benötigten Geräte. Ich konnte einen Teil nach Basel mitbringen, aber für Seesaw hatte ich keine ge- eigneten Lautsprecher. Michel hat wahrscheinlich jeden Lautsprecher in der Hochschule angeschaut und sich in verschiedenen HiFi-Geschäften umgetan. Eine elegante Lösung mit einem hohen Lautsprecher wurde aber nicht gefunden, und so verfolgten wir eine Lösung wie bei Luciers Erstinstallation mit kleinen Lautsprechern auf Sockeln. Raum 48 wurde bis auf zwei Flügel komplett leergeräumt, und die zwei ›Lautsprechertürme‹ konnten so gut zur Geltung kommen (siehe Abb. 2). Inspiriert durch David Tudor hat Nicolas Collins, ehemaliger Schüler von Alvin Lucier, den Begriff »music beyond the loudspeaker« benutzt, Musik, die nicht einfach vom Laut- sprecher wiedergegeben wird, sondern erst im Raum entsteht.4 Seesaw ist ein wunder- bares Beispiel für eine derartige Musik. Die wandernden (Klang-) Bäuche geben dem Klang eine fast körperliche Präsenz (die manchen Hörer auch schreckt), ihre Bewegung entsteht ausschließlich im Raum, jenseits der Lautsprecher. Lucier hat es auch immer mit etwas Stolz erfüllt, dass er nicht an Pan-Reglern drehen musste, um eine räumliche Bewegung des Klangs zu erreichen, sondern dass eine leichte Verstimmung von Tönen zu dieser Bewegung führt. In Grigio due gibt es ebenfalls diesen Effekt des »Jenseits des Lautsprechers«, aber ein gewichtiger Teil entsteht musikalisch im Lautsprecher, oder man könnte auch sagen, genau da, wo der Schall aus dem elektrischen Signal erzeugt wird. Müsste man sagen, es sei »Musik jenseits des Kabels«, »jenseits der Elektrik«? Das klingt vielleicht etwas seltsam, man könnte die beiden Arbeiten jedoch zusammenfassen unter »Musik (entstanden) im Lautsprecher und jenseits des Lautsprechers«. 4 Collins benutzt den Begriff »beyond the loudspeaker« im Sinne von Tudors in Anm.  3 genannten Credo, wobei er eine engere Auslegung suggeriert. Ich folge hier seiner engeren Aus- legung mit der Beschränkung auf Phänomene des Schalls, die erst im Raum, nach dem/jenseits des Lautsprechers entstehen. 225 Intonationen Modulation in 13-Limit Harmony by Stefan Pohlit Harmonic Space In order to analyze how microtonal intervals operate in extended harmonic systems, a composer may invent a theoretical approach to investigate their degrees of consonance and the harmonic functions they imply. Fully harmonic treatment of intervals requires the use of cadences and a certain polarity between degrees of consonance and disso- nance. An abundance of microtonal intervals may only be identified if they result from a context of harmonic progressions which the ear can follow consistently. For that rea- son, intervals must be ordered by means of their rational complexity based on the arith- metic divisions from which they result. Intervals may also be explored by means of their potential expressive meaning rather than merely from acoustical viewpoints. An extended theory of tonal harmony must step beyond the confines of the five-limit system and investigate musical intervals from a more general perspective. Such a general theory has been offered notably by Hans Kayser in his attempt to resurrect Pythagorean science. Graphic representations of traditional thirds-harmony, such as Hugo Riemann’s Ton- netz1 or Alexander John Ellis’s Duodenarium,2 divide the five-limit tuning system in two geometrical axes, one displaying a series of harmonic fifths 3/2, the other one of har- monic thirds 5/4. The Tonnetz as an analytical tool has seen its revival in the approaches of neo-Riemannian theorists.3 An extended Tonnetz would require additional spatial dimensions: »For a given set of pitches, the number of dimensions of the implied harmonic space would correspond to the number of prime factors required to specify their frequency ratios with respect to the reference pitch.«4 An additional tone-spiral based on the seventh proportion may be notated on the z-axis in a system of geometrical coordinates. A further tone-spiral based on the 11th proportion (i. e., the subsequent prime-number) would already exceed the 1 Hugo Riemann, Große Kompositionslehre, vol. 1: Der homophone Satz (Melodielehre und Harmonie- lehre), Berlin: Spemann 1902, p. 479. 2 Hermann Helmholtz, On the Sensations of Tone, trans. by A. J. Ellis, New York: Dover 1954 (1885), p. 463, §18. 3 Richard Cohn, An Introduction to Neo-Riemannian Theory: A Survey and Historical Perspective, in: Journal of Music Theory, vol. 42 (1998), no. 2, pp. 167–180. 4 James Tenney, John Cage and the Theory of Harmony, Los Angeles: Plainsound Edition 2011 (1983), URL: http://www.plainsound.org/pdfs/JC&ToH.pdf, p. 22. 229 three dimensions of conventional physical space and, thus, of adequate graphic repre- sentation (fig. 1): Fig. 1: Harmonic grid with four harmonic dimensions, pitches shown with their harmonic ratios in regard to C4 A different two-dimensional representation of harmonic ratios appears in Hans Kay- ser’s Lambdoma, a methodological tool for the analysis of partials and their relationships. Here, however, not interval cycles but tone-spectra are depicted, and both the overtone and the inaudible undertone series are drawn symmetrically around a fundamental axis (0/0–∞/∞) on which the fundamental pitch recurs (fig. 2): Fig. 2: Detail from Hans Kayser’s Lambdoma,5 fundamental axis highlighted 5 Hans Kayser, Akróasis. Die Lehre von der Harmonik der Welt (1938), Basel: Schwabe 1973, Ap- pendix I. 230 Partials may be explored by means of more complex geometrical structures, such as a »partial quadrant«, a cube,6 or an octagon,7 circles, and spheres.8 Kayser’s calculations led him to the conclusion that the system of partial coordinates does not only include O-tonal and U-tonal ratios (as shown in fig. 2), but also a third, vertical axis.9 Prime Factors and Intonation The Pythagorean tuning system is deduced from the simplest possible interval cycle of integer ratios, based on the prime-factors two and three. Its scales are based on the relationships between superimposed just fifths and do not directly refer to the overtone spectrum. According to Hans Kayser’s observations, the human ability to perceive harmonic mu- sic is concealed to the five-limit system. He claimed that the »senarius«, i. e., the first six tonal proportions, forms the »special case« of harmonics10 because he saw it as the sin- gle framework for the creation of tonal music.11 More recently, the German biophysicist Gerald Langner has concluded similarly, after exploring the perception of periodic sig- nals in the auditory mid-brain.12 Following his investigations, the auditory system with its digital way of neuronal processing functions like a filter mechanism13 highlighting simple integer harmonic relationships. Furthermore, the ventral nucleus of the lemniscus lateralis of various vertebrates is built in form of a double-helix (which points to a paral- lel with both the psychophysical pitch-helix of Shepherd and others). It consists of seven or eight turns which, with much certitude, correspond to the seven or eight musically relevant octaves.14 Neurons representing octave-relationships are also placed in close local neighborhood to each other. Also subharmonic intervals (such as the Minor triad) are included in this mechanism,15 but the auditory systems seems to promote simple in- tegers, such as octaves and fifths. Harmonic relationships of complexer divisions may be filtered out by processes that may be compared to the Darwinian principle of selection. 6 Hans Kayser, Der hörende Mensch (1930), Stuttgart: Engel 1993, pp. 79–80. 7 Ibid., p. 86, fig. XXVII. 8 Ibid., p. 89–90. 9 Ibid., p. 53. 10 Ibid., p. 69. 11 Ibid., p. 319. 12 Gerald Langner, Evidence for Neuronal Periodicity Detection in the Auditory System of the Guinea Fowl: Implications for Pitch Analysis in the Time Domain, in: Experimental Brain Research, vol. 52 (1983), pp. 333–355. 13 Gerald Langner, Temporal Processing of Periodic Signals in the Auditory System: Neuronal Represen- tation of Pitch, Timbre, and Harmonicity, in: Zeitschrift für Audiologie, vol. 46 (2007), no. 1, pp. 8–21, p. 12. 14 Ibid., p. 20. 15 Ibid., p. 18. 231 A consistent harmonic structure, however, may help listeners to learn how to under- stand intervals based on higher prime-number relations. According to the composer of justly tuned microtonal music, Wolfgang von Schweinitz (oral communication 2011), the range of harmonic intervals tuneable by ear is easily extended by continuous train- ing. This statement is backed by empirical tests, and it can be verified by experiments such as Marc Sabat’s catalogue of intervals tuneable by ear above the violin’s A string.16 Music handling too many different harmonic proportions at a time may either re- main incomprehensible or concealed to the gravity of only a few interrelated spectra. As Helmholtz pointed out, also the physics of tuning demand certain limitations of justly tuned intervals:17 Of course it is quite out of question that any attempt should be made to deal with such numbers of tones differing often by only 2 cents from each other. No one could appreciate the multitude of distinctions. No instrument, even if once correctly tuned, would keep its intonation sufficiently well to preserve such niceties. As temperament may be intended to approximate justly tuned intervals, alternative divisions of the octave and just intonation may conceptually be combined, such as in Harry Partch’s 43 note scale in 11-limit harmony.18 Music limited to only a few uncon- ventional harmonic relationships may, on the other hand, be perceived as harmonically very rich if it achieves to use its inventory of pitches in an abundance of different inter- pretations. For that reason, music composed from a consistent harmonic background structure may be perceived as a comprehensive tonal language, even if its intervals are based on tempered pitches. The different dimensions that a tuning system involves in harmonic space may be ex- plored on a fully structural level, by putting the different harmonic trails implied in an inventory of intervals into a consistent structure. Characteristic harmonic progressions on the foreground must appear equally on the background level. A composer dealing with microtones may seek to develop a consistent background structure and, with it, a new theory of harmonic tension and release. As long as such theory remains unde- fined, harmonic processes may be represented in more general fashion. Graphic depic- tion, such as Schenkerian analytical approaches, may be considered because they help to detect characteristic interval-progressions within large-formal processes without re- quiring too many symbols for the definition of chords and harmonic functions. The harmonic superstructure may have to be based on very simple harmonic ideas from which various processes of modulation would depart. 16 Marc Sabat, The Extended Helmholtz Ellis JI Pitch Notation, Los Angeles: Plainsound 2005, URL: http://imcradiodotnet.files.wordpress.com/2010/02/notation.pdf, p. 22. 17 Hermann Helmholtz, On the Sensations of Tone (see note 2), p. 464, § 24. 18 Harry Partch, Genesis of a Music, New York: Da Capo Press 1974, pp. 407–437. 232 As, e. g., Martin Vogel,19 John Rothgeb,20 and Bernd Asmus21 have shown, the har- monic structures in a number of Wagner’s late musical dramas depart from an extended awareness for tonal functions that still challenges traditional harmonic theory. Correct intonation of a chord may clash with the harmonic surrounding to which the chord actually belongs, or an apparently consonant chord may be perceived as a new quality of dissonance.22 In these scores, it, thus, seems as if late-Romanticist tonality – and the tonal psychology belonging to it – tears itself apart out of its innate forces. It also seems that the listener is guided by a certain degree of expectation. A cultural or psychological condition may rule out certain possible interpretations of intervals in favor of others. If this were not true, tonal music would remain incomprehensible once it is performed on the equal-tempered piano. In 12-semitone equal temperament the major thirds (400 c) are roughly eight c too low in regard to the Pythagorean major third 81/64 (407.82 c) and roughly 14 c too high in regard of the harmonic third 5/4 (386.31 c). The differences are easily detected once they are compared to justly tuned intervals. But the approximation appears close enough even for the identification of the main conso- nances of five-limit harmony. Consequently, it seems that a composer should become invested mainly in the creation of a consistent harmonic structure instead of requiring performers to tune justly at all times. A limit-based tuning system may extend five-limit three-dimensional harmonic space either fully or partly which means, by either adding so far unexplored prime-factors to it or by concentrating on a limited selection of factors. Scales Hans Kayser explored the coordinates of a theoretically infinite system of partials by means of a variety of geometrical depictions (so-called »partial coordinates«).23 Even though they may be physically inaudible, subparticular pitches are always included in Kayser’s operations. From here stems the most important distinction between spectral and tonal music because the latter always uses both O- and U-tonal ratios. Thus, superparticular (overtones) and subparticular coordinates (undertones) form the two flanks of partials around the fundamental axis of the spectrum (Zeugertonachse, 1/1, 2/2, 3/3, 4/4 etc.)24 on which the root pitch is continuously being reinstated (fig. 3): 19 Martin Vogel, Der Tristan-Akkord und die Krise der modernen Harmonie-Lehre, Düsseldorf: Verlag der Gesellschaft zur Förderung der systematischen Musikwissenschaft e. V. 1962. 20 John Rothgeb, The Tristan Chord: Identity and Origin, in: Music Theory Online Journal, vol. 1 (1995), no. 1. 21 Bernd Asmus, Die Zeit steht still im Fadenwerk. Zu Wagners Knüpftechnik im Parsifal, in: Musik und Ästhetik, Sonderband: Richard Wagner, Konstrukteur der Moderne, ed. by Claus-Steffen Mahn- kopf, Stuttgart: Klett-Cotta 1999. 22 Ibid., p. 154. 23 Hans Kayser, Der hörende Mensch (see note 6), p. 45. 24 Ibid., p. 69. 233 Fig. 3: Partial coordinates, type Ia25 In order to demonstrate the equilibrium which he regarded as an essential requirement of genuine scale structures, Kayser introduced an empirical method for deriving scales from the system of partials itself. Using a pair of compasses, he drew circles of differ- ent sizes on a table of partial coordinates. The circles had to be centered either exactly on one pitch on the fundamental axis (1/1, 2/2, 3/3, 4/4, etc.) or between two of them. Those coordinates touched by a circle were extracted and, henceforth, transposed into one octave. Due to the fact that the circles were based on the symmetrical axis of the system of coordinates, each circle naturally encompassed both superparticular and sub- particular tone-points. Kayser speculated that the »antiphonal« nature of these cycles with their two mirror- inverted faces may provide the physical explanation for all polyphonic music.26 This custom to include both O-tonal and U-tonal ratios in a harmonic system also charac- terizes Max Friedrich Meyer’s seven-limit »tonality diamond« (1929) which was ad- opted by Harry Partch and applied to graphic depictions of five-,27 11-,28 and 13-limit29 harmony. The same requirement may be compared to S.āfīyy al-Dīn’s definition of octave scales (nowadays known as the Arabian maqāmāt) as »cycles« (راودا , ’adwār, plural of رود , dawr, »circle«).30 The example of fig. 4 generates a scale in perfect symmetry. 25 Ibid., 83, fig. XXV. 26 Ibid., p. 331. 27 Harry Partch, Genesis of a Music (see note 18), p. 110. 28 Ibid., p. 159. 29 Ibid., p. 454. 30 La Musique arabe, vol. III: S. afiyu d-Dīn al-Urmawī, Épître à Šarafu d-Dīn, Livre des Cycles musi- caux, ed. by Rodolphe d’Erlanger, Paris: Geuthner 2001 (1935), pp. 312–565. 234 Fig. 4: Example of a scale circle (center: 5/5, radius: 4/3), including super- and subparticular tone-points The following scale (fig. 5) is composed of two equally sized tetrachords with two very large whole-tones (each of them approximately at the size of 4/3 of a tone) and a tiny interval step of only about a sixth of a tone between the two of them.31 Fig. 5: Scale circle around fundamental tone-ratio (center: 5/5, radius: 4/3) 31 This interval is 49/48, or 35.7 c, which is, according to the composers Marc Sabat and Wolf- gang von Schweinitz (oral communication 2011/12), the smallest interval to be perceived as a diatonic step. 235 Following the procedure of extraction, Kayser calculated the logarithms of the acquired proportions. According to himself, this analytical method was first introduced by Hans Schümann in 1924 in a publication entitled Monozentrik.32 If the scale is built of a true cycle, the sums of these logarithms will equate zero.33 As Kayser requires a genuine scale to be composed of O- and U-tonal ratios in equal distribution, the included tonal nodes must necessarily dissolve in one another so that the product of, e. g., (4/3 * 6/3 * 7/4 * 7/6) (6/7 * 4/7 * 3/6 * 3/4) = 1/1. This operation may be demonstrated using the above shown scale example (fig. 5). It is centered on ratio 5/5 (pitch C3 = fundamental), its radius stretching unto 4/3, F3. The logarithms of subpar- ticular ratios require to be subtracted by the number one:34 Fig. 6: Mathematical proof of a genuine scale cycle according to Hans Kayser The diatonic Major scale (1/1, 9/8, 5/4, 4/3, 3/2, 5/3, 15/8), on the other hand, does not provide the »inner equilibrium«35 of a genuine cycle. Detailed analysis of Table I36 (two- dimensional representation of all partial coordinates from one to 16 on C3) in the ap- pendix of Der hörende Mensch shows that the majority of so-called »true« scale cycles tend to maintain a noticeable likeness of the B-flat, not the C-major scale. In fact, also the above notated cycle of fig. 5 may be regarded as a similar diversion (fig. 7), although 32 Hans Kayser, Der hörende Mensch (see note 6), p. 69, note 2. 33 Ibid., p. 69. 34 After Hans Kayser, ibid., p. 71, fig. XV. 35 Ibid., p. 71. 36 Ibid. 236 it, thus, would lack a just fifth and the symmetrical pair of tetrachords separated by a disjunctive major second. Fig. 7: Scale cycle, extracted from the tone coordinates of C, written from the lowered B-flat Speculative Music Theory In 1943, the Swiss philosopher Jean Gebser dedicated a large section in his account of principal modern achievements in science to Kayser’s work.37 As a scientific discipline based on the aural sense, Gebser concluded that Harmonics complemented modern physics in a very distinctive manner because its tenets were based on the aural sense and, thus, independent from common measuring devices with their exclusively hap- tic approach. The psycho-physical phenomenon of tone-ratio confers on every possible arithmetic division a specific musical interval as a sensual impression of qualitative, not quantitative nature. The science of harmonic does not only investigate in the math- ematical structure but likewise in the aesthetic and psychological semiotics of intervals. This is achieved mainly by the discovery of analogies between the structure of physical nature and arithmetic relationships.38 Kayser conceived his research as an epistemology of shapes and prototypes39 in order to offer a principle of reliable structures based on numbers and their precise relationships. Observed from across the five-limit tonal tradition, tuning systems beyond the se- narius (involving partials one – six) may express something that, through the traditional analogy between the three dimensions of five-limit tuning and physical space, may be compared to metaphysical dimensions. This idea may seem completely irrational, but it explains why traditional tonal music until the 20th century remained almost exclusively reduced to five-limit relationships and why the concept of tonality in the Occident was rather abolished in favor of twelve-semitone tuning than being upgraded to a new arith- metic system. When conventional five-limit harmony is extended to a 7-, 11- or 13-limit system, a characteristic differentiation occurs in the inventory of harmonic relationships and in- tervallic dimensions. A similar differentiation can be observed when one first contem- 37 Abendländische Wandlung. Abriss der Ergebnisse moderner Forschung in Physik, Biologie und Psychologie: ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft, in: Jean Gebser, Gesamtausgabe, vol. 1, Schaffhausen: Novalis 1999 (1943). 38 Hans Kayser, Der hörende Mensch (see note 6), p. 10. 39 Rudolf Haase, Harmonikale Grundlagenforschung, in: Acta Musicologica, vol. 58 (1986), p. 283, Facs. 2. 237 plates the sixfold (three-limit) leave structure of a tulip and then the fivefold (five-limit) structure of a rose blossom. This differentiation is by no means of hierarchical but of qualitative nature and implies subtle emotional experiences that can be identified and analyzed through serious training. The observer must meditate on the process of dif- ferentiation, not on finding a sharp definition of »laws« that the experiment apparently reveals. In any case, whether this is admitted or not, an investigation of qualitative con- tents of meaning, thus, steps into the realm of esoteric science. In 1938, Kayser described this psychological aspect of harmonics as the decisive spiri- tual dimension of ancient Pythagorean research:40 Matter was bestowed with a psychic tectonics (a mental structure), and the mind – the realm of ideas – with a concrete support in harmonic shapes and forms: A bridge between existence and value, value and the soul, matter and the mind was found. Every fully scientific approach to this topic must admit that since the earliest written sources of harmonic theory41 music has also been described as exerting a certain power over the human mind. The study of interval cycles and the speculation on novel tun- ing systems may, thus, oblige the careful musical researcher to investigate in the sig- nification and in the qualitative effect of harmonic symbols. The main reason for this necessity may be seen in the fact that different tuning systems also imply a different cosmological perspective which to perceive and evaluate the researcher would other- wise remain unprepared. An extension of five-limit harmonic space can be compared to the transformation from a Newtonian model of physical space to that of relativity and quantum mechanics: An abundance of different harmonic dimensions creates harmon- ic trails as probabilities within the octave. This can be illustrated by the conventional concept of scale degrees which extended harmony observes in multiple, alternative in- terpretations. If five-limit harmony may be compared to speech in the Realis mood, seven- and 11-limit harmony speaks in the subjunctive. If the specific prime-factors of the interval-ratios in a tuning system occur in connec- tion to a cultural, psychological, or spiritual condition of collective consciousness, when would additional prime-factors (and, thus, an extension of harmonic space) come into play? Why would the tuning system upgrade into more differentiation if this were not motivated by a discreet transformation of the psychological determinants of musical creativity? The introduction of five-limit tuning into the ancient Pythagorean system forms the only recorded case in Occidental music history in which such a transforma- tion happened. In Kirnberger’s sonata G-major for flute and figured bass from 1769, the harmonic seventh 7/4 obtains the role of a consonance, but it is merely induced into a five-limit concept of harmony and does not lead modulations of structural importance. On the other hand, when the harmonic third 5/4 first appeared in early polyphonic mu- 40 Hans Kayser, Akróasis (see note 5), p. 13. Original quotation: »Die Materie erhielt eine psy- chische Tektonik (eine seelische Struktur), und das Geistige, das Reich der Ideen, einen konkreten Halt in den harmonikalen Gestalten und Formen: eine Brücke zwischen Sein und Wert, Wert und Seele, Materie und Geist war gefunden.« 41 Gilbert Rouget, Music and Trance. A Theory of the Relations between Music and Possession, Chi- cago: The University of Chicago Press 1985, pp. 188–189. 238 sic, it was introduced similarly, not as a full determinant of harmonic structures but as an accidental commodity for the just intonation of triads. The motivation for an introduction of interval cycles based on higher prime-factors may also be explained by the following account. S.āfıyy al-Dın’s 17-note scale from 13th century Baghdad42 is composed exclusively of Pythagorean limmas (256/243 or 90.23 c) and commas (531441/524288 or 23.46 c). Together they form the Pythagorean apotome (2187/2048 or 113.69 c). The major wholetone (9/8 or 203.91 c) is obtained from the sum of one limma and one apotome. The harmonic minor wholetone 10/9 (182.4 c) does not exist in S.āfīyy al-Dīn’s three-limit system and is replaced by the product of two limmas (65536/59049 or 180.45 c). In the same manner, the 17-note scale includes two different major thirds: the Pythagorean major third (81/64 or 407.82 c) and the diminished fourth 8192/6561 or 384.36 c) instead of the harmonic third 5/4 (386.31 c). They are distin- guished by the amount of the Pythagorean instead of the syntonic comma. Regarding the complexity of their ratios, it seems impossible to tune them by ear. In contemporary performance practice of Middle-Eastern maqâm music, especially in Turkey, it is obvious that the dimished fourth is replaced by the much simpler harmonic ratio 5/4.43 Cultural interpretations of musical meaning may require to be reasessed within »the framework of a more general system of symbolics«44 because their inventory of pitches often differs in one way or the other from just intonation. Before a harmonic symbol- ogy is identified by means of a more general understanding of harmonics, it may first be studied in the traditional Pythagorean tuning system on which Western music history is founded. Its 12-fold cycle, originating from cosmological systems by far older than Pythagoreanism, had decisive impact on the evolution of human thought in the ancient Near East. Its various cultural, spiritual, and psychological implications did not evolve arbitrarily, nor were they simply invented. 12 multiplied harmonic fifths almost equal the amount of seven just octaves which they exceed by the Pythagorean comma, i. e., 531441/524288 or 312/219 and 23.46 c. According to Ernest MacClain’s research in ancient numerical systems,45 the interval of the fifth lies at the foundation of the symbolic cosmology of Near-Eastern Antiquity. Here, the recurrence of 12 in the number of Jacob’s sons, the tribes of Israel, the disciples of Jesus, the tropical star-signs, and the hours of the day symbolizes the full amount of notes required for mapping and describing the world in harmonic terms. MacClain concluded »that what we have been reading as mythology should be studied anew as mathematical allegory«.46 The »holy mountain«, stepwise correlated from a »Platonic- 42 Kitāb al-Adwār, cf. La Musique arabe, vol. III (see note 30), pp. 220–233. 43 Stefan Pohlit, Julien Jalâl Ed-Dine Weiss: A Novel Proposal for the Middle-Eastern Qânûn, in: Ana- lytical Approaches to World Music Journal, vol. 2, no. 1, 2012, pp. 53–86. 44 Gilbert Rouget, Music and Trance (see note 41), p. 64. 45 Ernest MacClain, Structure in the Ancient Wisdom Literature. The Holy Mountain, in: Journal of So- cial & Biological Structures, no. 5, 1982, pp. 233–248. 46 Ibid., p. 233. 239 Babylonian matrix«,47 the »throne of Marduk«,48 the »Hebrew altar«,49 and Hindu-Bud- dhist sources,50 is a digital representation of the 12-tone system based on the harmonic fifth. In the same manner as every musician knows, it struggles with the attempt to cre- ate symmetry by tying the potentially endless spiral of fifths together in order to create a closed cycle. The overhanging Pythagorean comma must be erased by shortening each harmonic fifth by approximately two cents. Consequently, the first and the 13th note of every cycle apparently come down to the same pitch. On the basis of just intonation, however, the latter note should be tuned higher than the first one. In ancient spiritual- ity, this dilemma must have had an impact of cosmological dimensions. In case that, e. g., the cycle starts with the note D, the apparently identical A-flat and G-sharp at its extremities must be normalized by the abstract value of √2, i. e., 600 c, the exact middle of an octave. The angel Satan »falls« from the very top of the »holy mountain« (729 c) to the bottom (604 c): »In New Testament metaphor, the ›twelfth disciple betrays the leader with a kiss‹, while actually remaining most sensitive of all to that leader’s self- image«.51 The dogma of the Holy Trinity – »three equals one« – points to nothing else than the central role of the harmonic fifth in ancient cosmology. The effect of music’s qualitative aspects should rather be studied practically than only on paper, rather in instrumental than in electroacoustical music because the effort to hear and produce the intervals, to test them empirically plays a principal role in their exploration. Qualitative aspects of musical intervals may only be regarded as genuine characteristics if empiric study proves that they are perceived as universals by a ma- jority of listeners. Intervals that exceed the limitations of conventional tuning systems may require specific training until sufficient information on collective experience can be gathered. Furthermore, listeners from different cultural background may experience musical intervals differently. It must be admitted that many 20th century exponents in this field of study show an alarming tendency to biased statements and generalizations that may hinder the at- tempt to establish a respectable foundation for their methods. Speculative music theory has often appeared in connection to Rudolf Steiner’s anthro- posophy, such as in writings by Hermann Pfrogner,52 Marius Schneider,53 and equally Kathleen Schlesinger54 and the Australian composer Elsie Hamilton. 47 Ibid., pp. 235–237. 48 Ibid., pp. 237–238. 49 Ibid., pp. 240–245. 50 Ibid., pp. 245–246. 51 Ibid., p. 241. 52 Hermann Pfrogner, Lebendige Tonwelt. Zum Phänomen Musik, München: Langen-Müller 1991 (1976). 53 Marius Schneider, Acoustic Symbolism in Foreign Cultures, in: Cosmic Music: Musical Keys for the Interpretation of Reality, ed. by Marius Schneider, Rochester, VT: Inner Traditions Bear 1989, pp. 53–86. 54 Kathleen Schlesinger, The Greek Aulos. A Study of Its Mechanism and of Its Relation to the Modal System of Ancient Greek Music, Followed by a Survey of the Greek Harmoniai in Survival or Rebirth in Folk- Music, Groningen: Bouma’s Boekhuis N. V. 1970 (1939). 240 It should be noted that the hypothetical dimension of tone quality bears a risk in the light of scientific study since it easily motivates conclusions that reflect exclusively the observer’s personal beliefs. The thought provoking analyses contributed by a num- ber of anthroposophic theorists, such as Dane Rudhyar55 and Heiner Ruland,56 include an alarming cultural bias against, e. g., Western music (Rudhyar) or the world of Islam (Ruland). Also the famous scholar of Hindu music Alain Daniélou undertook consider- able effort to rehabilitate the spiritual potential of music,57 and his theory of musical intervals strongly resembles Kayser’s harmonics. Although Daniélou was right when he noticed the traditional coupling of ethics and aesthetics in music, he was at fault when he accused Western contemporary art music of displaying a diabolic disposition.58 By reversing the traditional harmonic laws – i. e., by breaking the traditional hierarchy of degrees of consonance in favor of predominantly dissonant music –, Western compos- ers of the early 20th century and right after 1945 did not disapprove of the traditional coupling of musical expression and ethics; they were instead trying to defend it against a more and more industrial exploitation of the overcome five-limit harmony. A systematic description of seven-limit, 11-limit, and 13-limit harmony, finally, ex- ceeds the scope of this essay. It may require statements of entirely symbolic or meta- phorical nature that would remain meaningless to the reader if they were not founded in concrete, sensual experience. Modulation in 13-Limit Harmony Large harmonic structures may be based on a traditional concept of tonal harmony, re- siding on a fundamental bass line, using a framework of three- and five-limit harmony, and involving modulations into more complex proportions. In this case, the use of scales and other melodic figures may be guided entirely by a vertical understanding of harmo- ny which, in turn, may provide fuller consistency between background and foreground developments. Such a score may, however, lack inner consistency if too many different harmonic directions refer to the same material. Naturally, different harmonic realms may have to be distinguished by different textures, motifs, and instrumental groups. The follow- ing example from an orchestral score59 is presented as an attempt to treat compound 55 Dane Rudhyar, A New Conception of Tone, originally published in: The Musical Forum (New York, Dec. 1926), online by The Rudhyar Archival Project, URL: http://www.khaldea.com/rudhyar/ musicarticles.shtml 56 Heiner Ruland, Expanding Tonal Awareness. Musical Exploration of the Evolution of Consciousness Guided by the Monochord, trans. by J. Logan, Sussex: Rudolf Steiner 1992 (1980), p. 177. 57 Alain Daniélou, Valeurs éthiques et spirituelles en musique, in: Journal of the International Folk Council, no. 16, 1964, pp. 11–14. 58 Ibid., p. 12. 59 Stefan Pohlit, Taroq for Large Orchestra, München: TreMedia/Ricordi 2011. Revised version for large chamber ensemble: Himmelsleiter, München: TreMedia/Ricordi 2012. The measure num- bers used in this essay are taken from the latter version. 241 harmonic structures in an approach that shows close proximity to traditional tonal mu- sic. The score is conceived as an interpretation of classical sonata form in the course of which modulations of structural importance occur using the seventh, 11th, and 13th harmonic proportions. As it will be seen, the reference to a traditional form concept was not chosen in order to return to an overcome concept of harmony, and in the course of this score, the concept of sonata form is stretched considerably.60 As an attempt prior to my full adoption of Marc Sabat’s/Wolfgang von Schweinitz’s Extended Helmholtz-Ellis JI Pitch Notation, the score ignores the syntonic comma (resulting from justly tuned intervals from the 5th proportion) acoustically, although the difference takes part in its theoretic structure. The background structure illustrates the role of the 13th proportion among the con- ventional fifths-progressions between the dominant and the tonic. The second subject of the exposition is located on the harmonic 13th (labeled as »XIIInat« in fig. 8). In the re- capitulation, rather than resolving into the tonic, it is lowered by a fifth onto a »neutral« second degree:61 Fig. 8: Taroq, background structure By the time this second degree »G natural raised by a sixth of a tone« has been reached in the second half of the recapitulation, its base note has already taken on a central structural role. In this, it merges the seventh with the 13th proportion because the latter is consistently being intonated by means of sixths of a tone and, thus, is about nine c too low. Throughout the first subject, »G natural raised by a sixth of a tone« is used as an important tool of prolongation in form of an appoggiatura to the tonic, F-sharp. At the end of the initial ascent, it figures as the basis of a dominantic function, comparable to 60 As it will be seen, this tonal form unfolds as a process of dissonant tension and release with- out having to expose conventional triads at any time. The concept was ridiculed in absence of the composer during the introductory discussion to the first performance on Feb. 10th, 2012 at the »Eclat« festival in Stuttgart. It was misunderstood that the score is not simply intended as a metaphoric approach to traditional thirds-harmony but, instead, alludes to harmonic principles as a more universal phenomenon. Problems during the preparation of the first performance did not result from the harmonic structure but from practical challenges, mistakes in the orchestra- tion, unexpected shortage of rehearsal time, and surprising ideological resistance among a small, but decisive group of orchestra members. 61 The harmonic structure of this score was primarily inspired by the first movement of Franz Schubert’s last piano sonata in B-flat, D 960 were the first transition modulates into F-sharp and where, in the recapitulation, the second subject does not return to the tonic. 242 an Italian sixth-chord and built from a relationship in the seventh proportion. The clash between melodic continuation (in the upper stave) and the bass progression also leads to the structurally relevant split between the tonic F-sharp in the bass line and an »F-sharp raised by a sixth of a tone« in the upper voice: Fig. 9: Taroq, initial ascent, mm. 26–28: second resolving into the tonic In the exposition, the fifth degree as a conventional dominant function is not reached before the codetta. Instead of a triad, it is composed of two harmonic sevenths and ac- centuated by an appoggiatura in which the third scale degree of the Urlinie is being re- stated. Its »fifth«, G-sharp, is raised by a sixth of a tone due to the microtonal disruption of the Urlinie and its affiliation to seven-limit harmony: Fig. 10: Taroq, final chord of the exposition (codetta), mm. 187–191 The exposition of the first subject (fig. 11) coincides with the initial ascent: Fig. 11: Taroq, initial ascent (first subject) 243 It starts from the fundamental C and modulates into the tonic of F-sharp, thus, tracing the programmatic eccentricity of the extended harmonic structure which is accentu- ated by the choice of F-sharp, the most distant point from C in the traditional cycle of fifths. The foreground material of the first subject proceeds through several harmonic sequences, alternating between harmonic sevenths and thirds. The thirds are notated as Pythagorean thirds and may be intonated either as tempered or as harmonic thirds (be- cause, for the sake of simplicity in the notation, the score distinguished the harmonic third rarely): Fig. 12: Taroq, initial ascent (first subject), mm. 15–28, middle-ground synopsis The twofold neighboring harmony before the Vth degree is only apparently located on the IVth degree. In reality, it is composed of the superior harmonic seventh of the Vth de- gree (a in fig. 13) and of an inferior harmonic seventh underneath the Vth degree’s third (or, respectively, underneath the VIIth degree, b in fig. 13): Fig. 13: Taroq, cadence resolving the initial ascent into the tonic from mm. 24–28 In the context of this work, it seems that stepping upwards by a harmonic seventh does not create an impression of harmonic tension but, rather, of relaxation. (This interpreta- tion may, however, result from the lack of a complete understanding of seven-limit har- mony.) The interval completing a harmonic seventh to an octave is only an augmented second (8/7, 231.17 c), and the resulting note almost coincides with that of the conven- tional subdominant function. It is stabilized by harmonization: 244 Fig. 14: Taroq, cadence resolving the initial ascent into the tonic from mm. 24–28, detail: upper har- monic seventh as »subdominant« function The lower harmonic seventh, on the other hand, creates more harmonic tension and can be compared to an Italian sixth chord. This impression may of course result from common listening habits, but it is certain that the neighbor-note motion functions as a sensible: Fig. 15: Taroq, cadence resolving the initial ascent into the tonic from mm. 24–28, detail: lower har- monic seventh to the third of the Vth degree as »dominant« function (»Italian sixth«) Before the rise of the initial ascent and the materialization of the tonic key, the score starts off with an introduction based on a diminished seventh chord (or, in simpler terms: with a chord of four minor thirds). This chord resides on C1 and creates an ad- ditional structural element that recurs in the second part of the first subject with its »second ascent«. This additional material is generally linked to the wind instruments. Fig. 16: Taroq, additional structural material around the initial ascent, middleground reduction The tension between C and the main key F-sharp is resolved at the end of the second ascent when the diminished seventh chord is continued using B as its basis (at the end of fig.  16). This chord now resembles a dominant seventh based on B, although the stepwise disposition still stresses its »diminished« quality. The resolution into B natural 245 also relates to the conventional IVth (subdominant) degree of F-sharp. The diminished sevenths, furthermore, refer to the structural role of harmonic sevenths (7/4) and aug- mented minor sixths (13/8, tuned through 11-limit), and their size lies almost exactly between them. So far, two different qualities of dominant and subdominant functions have been not- ed, resulting from different ways of dividing the octave by means of harmonic degrees. The main part of the first subject in the tonic key of F-sharp is built of relationships from the fifth and the seventh proportions while the fundamental basis of the additional part with its second ascent mainly uses relationships from the third proportion.62 In order to prevent an abundance of harmonic directions from creating structural chaos, score V assigns its different harmonic functions to specific structures on the foreground level.63 The harmonic 13th (13/8 or 840.53 c) figures only in the harmonic background as the location of the second subject while it remains almost absent from the harmonic struc- tures on the foreground. As it has been stated, it is never tuned justly but interpreted through 11-limit tuning. After a general relaxation following the second ascent, the initial (main) ascent is re- peated. This time, the continuation by a fragment of the second ascent (woodwinds) is introduced on the basis of the augmented second degree (»G augmented by a sixth of a tone«). In m. 43 (a in fig. 17), the high woodwinds add an additional harmonic seventh to the upper note of the violins’ main melodic voice. This disposition is sequenced in m. 48 (b in fig. 17): Fig. 17: Taroq, continuation of the second installment of the initial ascent The augmented B4 of the string section forms an appoggiatura to the third scale degree (A-sharp) of the Urlinie. It resides on the pitch »D3 lowered by a sixth of a tone« of the horns to which it builds the harmonic seventh 7/2. The harmonic basis, however, is 62 The first subject also introduces harmonic relationships of lesser structural importance, based on prime 11. As the detuning of the string section was conceived for the production of har- monic sevenths. In the few cases they are performed by the strings, harmonic augmented fourths 11/8 sound out of tune by about 11 c. 63 These regions function in a manner comparable to leitmotif-s. 246 provided by »C raised by a sixth of a tone« in the cellos and the (equally detuned) sec- ond horn, and the appoggiatura »B raised by a sixth of a tone«, thus, resolves into the third scale degree (A-sharp) of the Urlinie as the harmonic 14th of »C raised by a sixth of a tone«: Fig. 18: Taroq, continuation of the second installment of the initial ascent: appoggiatura on the basis of the raised C After m. 43, the bass progression resolves into B natural and returns from there (through plagal relationship) into F-sharp. The respective harmonic step of the sequence in m. 48 resolves into E-flat. B natural and E-flat refer to the harmonic structure of the second as- cent that is performed primarily by the woodwinds (fig. 19). Fig. 19: Taroq, score V, first subject, continuation of the second installment of the initial ascent: bass progression between mm. 41 and 49 The two transitions between the first and the second subject illustrate how harmonic prolongation is used during modulations of structural importance. The herewith shown transition of the recapitulation is characterized by its prolongation of »C raised by a sixth of a tone«. This pitch is related to F-sharp in several ways. First, the inferior har- monic seventh to D (the submediant of the tonic key F-sharp) is produced, »E raised by a sixth of a tone«; then, another inferior harmonic seventh to »G lowered by a sixth of a tone«. From there, the augmented fourth (or, respectively, 11th) 11/4 is built in regard to the pitch »C raised by a sixth of a tone«. Although seven-limit detuning leaves this in- terval mistuned, the possible structural diversion is balanced out by similar shifts in the course of the modulation. On the other hand, seven-limit temperament does not only bear disadvantages because it creates more tension to be resolved and likewise simpli- fies the harmonic trails. 247 Fig. 20: Taroq, bass progression at the beginning of transition II, mm. 413–416 »C raised by a sixth of a tone« seems to be absent during most of the transition. How- ever, as a key (with a supposed triad), it is continually being restated. Meanwhile, the harmonic tension rises (as indicated by an arrow in fig. 20). Also »G raised by a sixth of a tone«, the final goal of the transition, appears several times. My intention was to cre- ate an effect as if something menacing is approaching from afar and, thus, has arrived at the eventual release into the second subject. While the activities in the woodwinds only provide a harmonic counterpoint, the main upper voice of the violins continually restates »C raised by a sixth of a tone« next to the note »D lowered by a sixth of a tone«. These notes reappear as the structural pillars of the cadence leading into the second sub- ject. A synopsis of the harmonic progression between mm. 428 and 434 is shown in the following figure. It should be noted that the structurally relevant harmonic degrees are furthermore accentuated by the horns. Fig. 21: Taroq, transition II: synopsis of bass progression, mm. 428–434 A full overview of the second transition is provided in fig. 22: 248 Fig. 22: Taroq, recapitulation: transition, middle-ground reduction In practice, only just intonation provides performers with reliable orientation to dif- ferenciate such microtonal complexity and reveals that microtonality does not need to be regarded as principally different from traditional tonal music. The following excerpt from a more recent score,64 is organized in all dimensions of an 11-limit harmonic grid. Focusing on the large-scale creation and dissolution of dissonant tension, it includes dif- ferent contrapuntic tools, overlapping with harmonic regions which are only apparently dealt with separately. The specifics of Marc Sabat’s/Wolfgang von Schweinitz’s Helm- holtz-Ellis JI Microtonal Pitch Notation enable the representation of complex harmonic structures by means of simple integer ratios: secondary relationships are, thus, notated using two or more accidentals which reveal their actual sizes from beyond their dis- placed basis (see fig. 23). Further Literature John Chalmers, Divisions of the Tetrachord. A Prolegomenon to the Construction of Musical Scales, Ha- nover: Frog Peak Music 1993. Alexander John Ellis, The History of Musical Pitch, Charleston: Nabu Press 2012 (1880). Peter Faltin, Phänomenologie der musikalischen Form: eine experimentalpsychologische Untersuchung zur Wahrnehmung des musikalischen Materials und der musikalischen Syntax, Wiesbaden: Steiner 1979. Daniel Harrison, Harmonic Functions in Chromatic Music. A Renewed Dualist Theory and an Account of Its Precedents, Chicago: The University of Chicago Press 1994. Ben Johnston, Maximum Clarity and Other Writings, ed. by Bob Gilmore, Champain: University of Illinois Press 2006. Allan Keislar et al., Six American Composers on Nonstandard Tunings, in: Perspectives of New Music, vol. 29, no. 1, 1991, pp. 176–211. Fred Lerdahl, Tonal Pitch Space, Oxford: Oxford University Press 2005 (2001). Ernest G. MacClain, The Myth of Invariance: The Origin of the Gods, Mathematics and Music From the Rg Veda to Plato, New York: Nicolas Hays 1976. 64 Stefan Pohlit, Tombeau de Julien Bernard (2016) for JI qanun Weiss-1, tuba, and 11 musicians. 249 250 Fig. 23: Stefan Pohlit, Tombeau de Julien Bernard, for JI qanun Weiss-1, tuba, and 11 musicians Rolf Maedel and Franz Richter Herf, Ekmelische Musik, Salzburg: Katzbichler 1977 (= Schriften der Hochschule »Mozarteum« Salzburg, 4). Thomas J. Matthiesen, Apollo’s Lyre: Greek Music and Music Theory in Antiquity and the Middle Ages, Lincoln: University of Nebraska Press 2000. Max Friedrich Meyer, The Musician’s Arithmetic: Drill Problems for an Introduction to the Scientific Study of Musical Composition, in: University of Missouri Studies, vol. IV, no. 1, 1929. Alexander Rehding, Hugo Riemann and the Birth of Modern Musical Thought, Cambridge: Cambridge University Press 2003. William A. Sethares, Tuning, Timbre, Spectrum, Scale, Berlin: Springer 2005. 251 Mikrotonalität? Asymptotik? Ein insularer Traum von Manfred Stahnke Mikrotonalität gibt es nicht – jedenfalls ist der Begriff vollkommen unklar. Denn: Was wäre das Gegenteil? Normal-Tonalität oder Makrotonalität? Wo fängt »Mikro« an? Gehört eine Slendroskala, die übergroße Sekunden enthält, auch dazu? Was ist unsere Klaviertemperierung? Sie verändert die reine Quinte von 702 c zu 700 c, verändert sie also »mikrotonal«. Da merken wir, dass »Mikrotonalität« sich reibt an der klassischen Zwölftontemperierung, sich genau hiervon absetzt, genau diese verändert, erweitert. Nun ist die Frage: Sind mikrotonale Komponisten auch jene, die Vierteltöne verwenden, als Färbungen der »normalen« Töne? Oder muss sich derartige mikrotonale Komposition besser doch legitimieren durch ein umfassendes meloharmonisches Konzept, weit weg von den temperierten 12 Tönen? War Charles Ives ein »mikrotonaler Komponist«, da er ja diese herrlich frechen Three Quarter-Tone Pieces for Piano schrieb, aber des Weiteren Vierteltöne nur sporadisch einsetzte? Was ist »asymptotisch«? Der Begriff stammt natürlich aus meinem erinnerten Ma- thematikunterricht in der Schule: Eine mathematische Funktion kann sich einer Gerade (einer Asymptote) »annähern«. Denke ich mal musikalisch-praktisch: Kann ich durch Mikrotöne eine als ideal vorgestellte Meloharmonik »annähern«? Aus ganz ver- schiedenen Ansätzen können ganz verschiedene Resultate folgen: Wie wäre es mit einer idealen »reinen Stimmung«, durch möglichst adäquate Zeichengebung in der Partitur notiert, gekoppelt an ein möglichst »reines« Intonationsspiel? Dann wäre die Asymptote der Strang Ganzer Zahlen 1 2 3 4 5 etc. Jeder, der an den Computer gegangen ist und diese Ganzen Zahlen akustisch realisiert hat, weiß um die Armut derartiger Perfektion. Also ist diese Asymptote ein möglichst gerade nicht zu erreichender Traum. Andere Möglichkeit: Was ist das Ideal der Bewohner von Malaita, der östlichsten der Salomon-Inseln, wenn sie sieben annähernd gleiche Tonschritte pro Fast-Oktave ver- wenden? Haben sie ein Ideal einer temperierten Gleichverteilung der sieben Stufen, als »Asymptote« die 7. Wurzel aus 2, die nie erfüllt wird? Oder wollen sie sie gerade nicht erfüllen? Ist die Asymptote also frei und krumm, eine »ungefähre« solche? Darüber spekulierte der Schweizer Ethnomusikologe Hugo Zemp.1 Wenn wir über Musik schreiben, wissen wir nur traumhaft, was unsere Begriffe trans- portieren. Wir sprechen von Komponisten oder Werken, von uns selber, als wüssten wir, 1 Hugo Zemp, Échelles équiheptatoniques des flutes de pan chez les ’Are ’are, in: Yearbook of the Interna- tional Folk Music Council 5, 1973, S. 94 f., und ders., Melanesian Solo Polyphonic Panpipe Music, in: Ethnomusicology 25 (1981), S. 408. 252 wer sie oder wir sind oder was sie oder wir gedacht und gemacht haben. Als wüssten sie es selber. Ich kann ja trotzdem versuchen, etwas von mir zu erzählen. Im Zuge dessen werde ich vielleicht selbst überrascht sein, was da zusammenkommt. Denn ich werde mich von Assoziationen leiten lassen, die ich beim Sprechen oder Erinnern haben werde. Ich kenne mich ja nicht, wie ich damals war, als ich begann, mich für Musik zu interes- sieren. Dieser 14-jährige Junge ist längst vergangen. Da war ein Cembalo zu Hause, das ich umstimmen durfte. Jemand hatte mir das Atlantisbuch der Musik geschenkt, ein Kompendium aller möglichen Erkenntnisse über Musik, auch Helmholtz kam darin vor. Da stand etwas von Intervallen in ganzzahligen Proportionen. Gut, die versuchte ich auch auf meiner Geige zu spielen, und siehe da: Ich stellte fest, dass das wirklich andere Erlebnisse waren als die Klavierintervalle, die so ein nettes Schwirren hatten, auch wenn der Klavierstimmer gerade dagewesen war. Also waren Töne etwas, das nur mir gehörte, und nichts mit Jens Rohwers Theorien zu tun hatte (mein Jugendlehrer in Lübeck). So konnte ich, da in dem Buben eine Beziehung zu den Tönen entstanden war, alle weiteren Lehrer und ihre Denkweisen mit gesundem Abstand betrachten: jene Wolfgang Fortners, Klaus Hubers, Brian Ferneyhoughs, György Ligetis. Aber dann 1979 kam ich zu Ben Johnston in Illinois. Er erzählte mir von Harry Partch und seiner »O-« und »Utonality«. Ich hörte Partchs Delusion of the Fury und vieles andere. Besonders das Chromelodeon interessierte mich, weil es wirklich so nackt und klar die ganzzahligen Intervalle spielte. Das ist ein umgestimmtes Harmonium in reiner Stimmung, welches den »Expanded Tonality Diamond« (siehe unten) zur Stimmungsgrundlage hat. Unter all den Instrumenten, die Partch baute, ist dieses das einzige, das »Just Intonation« klar darzustellen vermag, obwohl Partch es übrigens auch linear mit seinen 43 asym- metrisch verteilten Tönen pro Oktave einsetzt, wie auch viele andere Instrumente: als Auf- und Abheuler in Mikroschritten. Eigentlich ist Partch komplett missverstanden, wenn so viele von ihm denken, er sei ein Mann der »Just Intonation«. Nein, er war ein Meister der »Strange Intonation«, der »Uncomprehensible Intonation«. Aber wie kann ich über Partch sprechen, wo ich ihn nie getroffen habe? Das ist schon wieder so eine Unmöglichkeit. Wir erträumen uns Kenntnisse über externe Phänomene. Wie befreiend, dass er gesagt hat: »No more messages« (in seinem Werk: The Dreamer that Remains). Er wollte auch jeden töten, der behauptete, sein Schüler zu sein. Ich wollte aber doch wissen, wie seine O- und Utonality klingt, und stimmte die klassische Harfe danach. Jetzt folgen Hinweise auf meine Diamantenpracht für umge- stimmte Harfe. 5/4 Großterzen und 7/4 Kleinsepten sind hier übereinandergelagert, und dann werden reine Oktaven gestimmt. »His« schreibe ich, weil für diesen Ton die »H«- Saite samt Pedalumstimmung auf »His« verwendet werden muss. Die C-Saite ist besetzt durch die 5/4-Terz über Gis! Es gibt auf meiner Harfe die Folge in reinen 5/4-Terzen His-E-Gis-C. Partch geht in seinem »Expanded Tonality Diamond« nicht auf derartig übereinander- geschichtete reine Intervalle ein. Er benutzt die Intervallzahlen 4, 5, 6, 7, 9, 11, um obertönige und gleichzeitig untertönige Zusammenhänge bauen zu können: seine Oto- nality und deren Umkehrung Utonality. Otonality liest sich von links unten nach rechts oben, Utonality von rechts unten nach links oben: 253 Abb. 1: Harfenstimmung Abb. 2: Expanded Tonality Diamond (Harry Partch, Genesis of a Music, New York 21974, S. 157) Ich zitiere jetzt den Anfang meiner Diamantenpracht für Harfe solo, die zu Anfang Oto- nalities 4/5/7 zeigt, etwa im 1. Takt His-E-Ais. Den 11. Ton (11/8), der das 11-limit bei Partch ausmacht, nähert diese Stimmung zufällig gut an, siehe oben die Harfen- stimmung: Das Fis müsste statt -58,6 c exakter -49 c bekommen für das intervallisch reine Verhältnis 8/11 für His/Fis. Meine Stimmung erlaubt auch Utonalities, also die Umkehrung der obertönigen Strukturen, siehe ab Takt 6 die Akkorde Fis-D-Gis, D-Ais-E und A-Eis-H. Allerdings ist 254 Abb. 3: Manfred Stahnke, Diamantenpracht (© Stahnke-Verlag) letzterer Utonality-Akkord ein klein wenig »falsch«, wie Sarvenaz Safari in ihrer Ana- lyse zeigte: 255 »basic tuning pedaling produces 100 c practical distance in cents distance A# -31.2 A   -131.2 E    -13.7 E#  +86.3 (-13.7+100) 31.2c - 13.7c = 17.5c ET distance E# / A 400 c 400 -17.5 c 382.5 c instead of just 5/4 = 386.3 c Such tiny spots of ›debris‹, as deviations from ›purity‹, can be found in many harmonical aspects of Diamantenpracht.«2 Am Ende des Notenbeispiels sind schon die merkwürdigen Ausflüge in mikrotonale Schritte zu erkennen, die meine Stimmung durch die Harfenpedalisierung erzielt. Ganz- zahlige, sogenannte Naturintervalle, vermischen sich mit temperierten, gegeben durch die 100-c-Schritte durch die Harfen-Pedalstellungen. Diese ganze undurchschaubare hybride Gesamtschau einer asymmetrischen Intervall- welt zwischen Just Intonation und Temperierung habe ich in dem Stück Partch Harp gesteigert. Hier tritt zur Harfe ein Synthesizer, der temperiert in der 12. Wurzel aus 1,956 gestimmt ist. Das Basisintervall ist also eine zu enge Oktave 1,956/1. Sie ist auf der gesamten Tastatur durchgehend vorhanden, während die Harfe oktavidentisch ge- stimmt ist. Harfe und Synthesizer driften damit gegeneinander je nach Oktavlage. Das Beispiel aus Partch Harp (Abb. 4) zeigt eine Vorliebe von mir: Ich neige dazu, große überwältigende Formen zu hassen, so lange die Komponisten darin nichts zu sagen haben und allein auf Masse (auch Zeitmasse) setzen. Langweilen will ich mich nicht. Also versuche ich, klare kleine Zeitformen zu bauen, chansonhaft, wie in Partch Harp. Ich suche in der außereuropäischen Welt auch den fremden »Chanson«, und ich finde ihn beispielsweise auf Malaita: Dort werden Panflötenensembles polyphon gespielt, oft in engen Kanons, die die Malaita-Sekunde als Skalenausgangspunkt haben: 171 c im Durchschnitt, was einer ungefähren Gleichverteilung von sieben Tonschritten pro Oktave entspricht. Diese Werke sind ein paar Minuten lang und wunderschön. Darin wird nichts und sehr viel gesagt, was genau, kann ich wiederum schwer sagen. Es ist der Charme des Unprätentiösen, tief in eine Kultur Eingebetteten. Sehen wir eine Reaktion von mir darauf, aus Centonage (Flickwerk) für Ensemble. Im zweiten Quasi-Chanson daraus – für Flöte, Felltrommel und Synthesizer – bin ich recht nahe dran an einer Art »Ethno-Sound«, ohne jedoch Melodien aus Malaita zu zitieren oder zu verändern. Ich übernehme aber das 171-c-Intervall. Am Synthesizer ist es exakt eingestimmt, auf der Flöte wird es durch Drehen des Instruments angenähert (siehe Abb. 5). 2 Sarvenaz Safari, DIAMOND SPLENDOR. An analysis of microtonal aspects in the work »Dia- mantenpracht«, for solo Harp in scordatura, by Manfred Stahnke, in: SONUS, vol. 32, Fall 2011, no. 1: Music Theory New Horizons VI, S. 40–57, hier S. 45. 256 Abb. 4: Manfred Stahnke, Partch Harp (© Stahnke-Verlag) 257 Abb. 5: Manfred Stahnke, Centonage (© Stahnke-Verlag) 258 Nun gibt es allerdings derartig vielfältige Einflüsse, die im Lauf der Jahre auf mich eingeflossen sind, dass der kleine Junge mit seinen ganzzahligen Intervallen ziemlich verschüttet ist, oder verdorben ist dadurch, dass er an keine ideologiehaften Ver- niedlichungen des Denkens mehr glaubt, weder an ganze Zahlen noch an das Chaos Ferneyhoughs. Es geht mir um das Erlebnis nicht des Massenereignisses (das haben vor Ferneyhough schon der frühere Ligeti oder Xenakis oder Penderecki gebaut), sondern um das Er- eignis des Tons und seiner Einbettungen, nicht nur der meloharmonischen, sondern auch der pulsativen, zeitlichen. Mein »Ton« muss in einem assoziativen, reichen Feld stehen und darf nicht verkommen zu einem schwammigen austauschbaren Ereignis, lebendig gehalten nicht durch den Komponisten, sondern durch den Witz des quasi-im- provisierenden Interpreten. Ich liebe Improvisation, aber ich liebe es nicht, wenn sie das letzte Mittel ist angesichts eines nicht-aufführbaren Notats. Ich picke mir spielerisch heraus, was sich mir für mein »assoziatives Feld« bietet, etwa die Bohlen-Pierce-Skala in Die Vogelmenschen von St. Kilda. Das ist nun wieder eine herr- liche Merkwürdigkeit: Der Physiker Heinz Bohlen kam in den siebziger Jahren nach Hamburg in die Diether de la Motte-Klasse, hörte dort von Giuseppe Zarlino und dessen Hypothese, dass unser Durakkord eigentlich 4/5/6 sei (also weder mitteltontemperiert gedacht, da wäre die Quinte »6« falsch, noch lautentemperiert, da wäre bei Vincenzo Galilei wie bei unserer Temperierung heute alles außer der Oktave falsch). Heinz Bohlen meinte, warum könnte man statt 4/5/6 nicht 3/5/7 als Ausgangspunkt einer anderen Tonalität andenken. Er rechnete das in eine Skala hinein und kam darauf, dass die 13. Wurzel aus 3 (»3« steht für Duodezime) ideal wäre. Zufällig zeitgleich erfand John Pierce in Kalifornien dieselbe 13-Ton-Skala, die inzwischen als »Bohlen-Pierce-Skala« firmiert. Sie kann asymmetrisch mit »reinen« Intervallen 3/5/7/9 gedacht werden oder temperiert, eben mit 13 gleichen 146-c-Schritten. Wegen der inhärent vorhandenen ungeraden Zahlen 3/5/7/9 ist das im Wesentlichen aus ungeraden Zahlen zusammengesetzte Klarinettenspektrum ideal für diese Skala. Der Kanadier Stephen Fox baut inzwischen die ersten BP-Klarinetten, von denen wir einige in Hamburg und Lübeck haben. Und vor allem fanden mein Kollege Georg Hajdu und ich eine Klarinettistin, Nora-Louise Müller, die sich extrem dieser BP-Welt widmet und andere Klarinettenfreunde animieren konnte, mit ihr sich in diese Welt hinein zu musizieren. Lassen Sie mich kurz etwas zum Titel Vogelmenschen sagen: Offenbar liebe ich Inseln, vielleicht, weil ich selbst als Musiker auf einer Insel lebe, den Mainstream vermeidend. Mein Stück mit all seinen kleinen Chansons ist auf der Insel St. Kilda in der Nähe der nordschottischen Küste angesiedelt. Dort lebte bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahr- hunderts eine kleine Gemeinschaft von Menschen mit wenig Kontakt zur schottischen Außenwelt. Sie lebten von den Eiern der Seevögel, die hoch auf den Felsen brüteten. Um an die Eier zu gelangen, benötigten die St. Kildaner lange Seile zum Klettern, hatten aber auf ihrer Insel dafür keinen Hanf. Wenn sie dann mit ihren Booten auf das Fest- land rüberkamen, um Hanf zu holen, schnatterten sie die Schotten vogelschwarmartig alle zugleich an: »Wir brauchen Hanf. Wir brauchen Hanf!« (das improvisiere ich, aber die Nachricht des chorischen Sprechens existiert). Sie lebten auf ihre archaische Weise in einer Art Urgemeinschaft, die zerstört wurde, als immer mehr Güter vom Festland kamen oder geholt wurden, unter anderem die ersten Spiegel. Da plötzlich entstand 259 offenbar ein persönliches Ich-Bewusstsein – so denke ich mir einen der Gründe für den Zusammenfall. Jedenfalls fasziniert mich eine mögliche »Ich-Losigkeit« in der Musik, eine Vogelschwarmhaftigkeit. Abb. 6: Griffe der Bohlen-Pierce-Skala samt Cent-Abweichungen von der Temperierung 260 Abb. 7: Manfred Stahnke, Die Vogelmenschen von St. Kilda (© Stahnke-Verlag) 261 Ein wunderschönes Lied von St. Kilda (allerdings eher in 4/5/6-Tonalität!) ist zu finden auf: http://www.kilda.org.uk/cultural-traditions.htm#.UMmds45RFlk. Ich zeige zunächst die Töne der BP-Skala mit ihren Centabweichungen und den da- zugehörigen Klarinettengriffen, die ich in meiner Partitur verwende: Ich habe in meinen Vogelmenschen von St. Kilda die Intervallproportionen 3/5/7/9, die sehr genau, wenn auch nicht perfekt, in der temperierten BP-Skala vorhanden sind, so in- einander geschachtelt, dass sich durch das lineare BP-Intervall von 146 c merkwürdige Akkordrückungen ergeben. Auch in diese Studie habe ich Liedhaftes eingebaut: Es gibt immer wieder recht kurz umrissene »Strophen« wechselnden Charakters. Zum Schluss meiner kleinen Reise durch ausgewählte Stationen meines ungeordneten Denkens wähle ich die hier in Basel in diesem schönen Klaus-Linder-Saal vor einem Jahr von Sonja Horlacher gespielte Flötenmaschine. Sie benutzt eine bestimmte »Differenzton- Harmonik«, die aber nicht auf dem uns bekannten »quadratischen Differenzton« beruht, sondern auf dem »kubischen«. Warum die Mathematiker und Akustiker diese Begriffe verwenden, kann ich als armer musikalisch orientierter Komponist nicht erklären. Ich kann aber zitieren, worum es hier geht, und erklären, wie sich die kubische Kaskade von Tönen musikalisch manifestiert. Eine Nichtlinearität in unserer Ohr-Gehirn-Verarbeitung von Schallsignalen führt dazu, dass besonders bei engen höheren Intervallen, etwa in der zweigestrichenen Oktave, ein unter den Primärtönen hängender »Clusterschatten« entsteht. Als Kom- ponist habe ich einen gangbaren Weg gefunden, diese Töne zu »denken« und aus- zurechnen. Dabei kann ich, wenn ich ein ganzzahliges Verhältnis der Primärtöne als Ausgangsbasis nehme, folgendermaßen vorgehen: Nehmen wir die Töne 15 und 16 einer Partialtonreihe als Primärtöne des zu erwartenden Differenztonschattens an. Der kubische Unterschatten wäre 14, 13, 12 etc. mit je absteigender Lautstärke pro Ton. Hätte ich ein komplexeres primäres Partialtonverhältnis, etwa 31/28, so wäre analog zum Partialton-Abstand dieser Töne (hier also 3) der kubische Unterschatten 25, 22, 19 etc. Diese entstehende Akkordwelt hat die erstaunliche Eigenschaft, klanglich »kohärent« zu erscheinen, auch wenn sehr ungewöhnliche Harmonien entstehen können. Unsere uns bekannte Obertonwelt aus einfacheren Zahlenverhältnissen erscheint hier wie ein Spezialfall. Sonja Horlacher hat in ihrer Realisierung sich selbst in präziser Mikrotonalität auf- genommen und spielt live dazu die weitere Stimme. In Flötenmaschine komponiere ich das Primärintervall mit sehr langsam sich verändernder Größe und hänge darunter den errechneten kubischen Schatten als real gespielte weitere Töne, in »Melodien« Abb. 8: Kubischer Differenzton (nach James O. Pickles, An Introduction to the Physiology of Hearing, London u. a. 21992, S. 107) 262 ausgebreitet, oder als »Arpeggi«. Diese Liniengebilde fallen, dargestellt in 1/6-Ton- annäherung, in den kubischen Unterschatten der beiden höchsten Töne. Abb.  8 zeigt ein Bild zum kubischen Differenzton. Die Primärtöne erzeugen eine ganze Kaskade von sekundären Kombinationstönen. Derzeit wird die Erklärung z. B. im sog. cochlearen Verstärker gesucht, d. h. in der Eigenaktivität der äußeren Haarzellen auf dem Corti’schen Organ (welches auch die Basilarmembran enthält).3 Diese äußeren Haarzellen greifen aktiv an die Tektorial- membran, welche über dem Cortiorgan liegt, versetzen die Tektorialmembran in eine Schwingung, die abhängig vom Abstand der Primärtöne ist. Seit Längerem ist bekannt, dass das Innenohr beileibe kein passives Aufnahmeorgan ist, sondern selbst mess- bare Töne erzeugt. Aber über den sich stetig verändernden Forschungsstand müssten Wissenschaftler berichten. Der erste Komponist, von dem ich weiß, dass er diesen hohen kubischen Differenztonschatten 2f1-f2 bewusst als klanglichen Effekt verwendete, war György Ligeti in seinem neunten der Zehn Stücke für Bläserquintett (Abb. 9). Ein Beispiel aus der Flötenmaschine (Abb.  10) lässt meine »Differenzharmonik« erkennen: Ich bin dabei nur ein Nutznießer unseres so komplexen Hörens und erfreue mich selber an neuen Erkenntnissen, in der Hoffnung, dass meine Hörer dieselbe Freude empfinden können an meinen insular entstandenen Chansons. 3 James O. Pickles, An Introduction to the Physiology of Hearing, London u. a.: Academic Press 21992, S. 157. 263 Abb. 9: György Ligeti, Zehn Stücke für Bläserquintett, Nr. 9 (© Schott Music, Mainz) 264 Abb. 10: Manfred Stahnke, Flötenmaschine (© Stahnke-Verlag) 265 Die Musik hinter der Musik: Giacinto Scelsis Ondiola-Aufnahmen von Uli Fussenegger Ich möchte heute über jenen Teil des akustischen Scelsi-Archivs sprechen, der bis dato digitalisiert und damit öffentlich zugänglich ist. Ohne Sie mit autobiographischen Nebensächlichkeiten langweilen zu wollen, will ich doch kurz erklären, wie es dazu kam, dass ich mich so umfassend in die Nebelfelder der Scelsi’schen Audiodokumente vertieft habe. Ende 2010 war ich erstmalig in der Fondazione Isabella Scelsi in Rom. Als langjäh- riger Interpret diverser Solo- und Kammermusikwerke von Giacinto Scelsi schien es mir an der Zeit, endlich die Möglichkeit zu nutzen, seine Aufnahmen anzuhören. Das Tonarchiv war damals noch nicht lange öffentlich zugänglich, und ich war doch einigermaßen gespannt. Was dann passierte, kam für mich allerdings unerwartet: Ich saß in der Via di San Teodoro 8 in Rom, Scelsis Wohnung, heute Sitz der Fondazione Isabella Scelsi, mit übergestülpten Kopfhörern vor dem Bildschirm, vor mir eine Usermaske mit der Möglichkeit, eine Nummer zwischen 1 und 271 anzukli- cken – jede Nummer entspricht einer digitalisierten Bandaufnahme von Giacinto Scelsi. Für jene unter Ihnen, die das System dort noch nicht kennen: Da ist nichts beschriftet, zeitlich geordnet, nach irgendwelchen Kriterien eingeteilt, nein, das sind einfach 271 Nummern (wobei ich anmerken möchte, dass das, was es zu dokumentieren gab, sehr professionell und systematisch abgelegt ist)! Ich entschied mich also völlig willkürlich für eine Nummer, klickte ›play‹, und nach einiger Zeit hörte ich Musik: spektakuläre mehrstimmige Ondiolaklänge, mikrotonale Polyphonie von immenser Komplexität. Ich kann mit Gewissheit sagen, so etwas vorher noch nie gehört zu haben. Ein Musikstück von mehreren Minuten Länge und – wohl- gemerkt – ungeschnitten, in keinster Weise einem heute bekannten, verlegten Stück des Œuvres von Scelsi zuzuordnen. Aus heutiger Sicht war es ein glücklicher Zufall, dass ich gleich auf so etwas Spektakuläres getroffen bin, denn die Wahrscheinlichkeit, auf etwas zum Weiterhören weniger Motivierendes zu treffen, war gar nicht so gering, wie ich später feststellen konnte. Oder gar auf eine Nummer zu klicken, bei der es erst nach vielleicht 30 Minuten Wartezeit ein akustisches Signal gibt. Sie müssen wissen, es gibt auf der Usermaske vor Ort keine graphische Hüllkurve zu den Soundfiles oder anderweitige Indizien, um vielleicht im Vorhinein sehen zu können, wo und ob es über- haupt ein Signal gibt; und vorspulen bzw. im digitalen Sinne scrollen ist nicht möglich, dazu sind die Server vor Ort zu langsam bzw. die Firewalls zu umfangreich, wie mich später Nicola Bernardini, der seit Jahren für die Digitalisierung der Bänder verantwort- lich zeichnet, aufklärte. Man braucht da eben eine Menge Motivation, Zeit und Geduld. 266 Nun, ich nahm mir stichprobenartig andere Bänder vor, hörte Klaviermusik, Gitarren- geklimper, Teile seiner Quasi-Autobiographie (heute bekannt unter dem Titel Il sogno 101), verschiedenste Radiomitschnitte, Englischdiktate mit irgendwelchen mir unbe- kannten Damen, Probenmitschnitte aus seiner Wohnung, weitere Ondiolastücke, vor- nehmlich einstimmige – ein gewaltiges akustisches Panoptikum einer offensichtlich ziemlich vielschichtigen Persönlichkeit. Der Zufall hatte es gewollt, dass mein Einstieg in diese Welt ein phänomenales mehrstimmiges Ondiolastück war. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, wäre ich vermutlich heute nicht hier. Nach einem weiteren Besuch in Rom und weiteren unsystematischen Hörproben ent- wickelte ich mit Nicola Sani, dem Direktor der Fondazione Isabella Scelsi, und mit Sven Hartberger, dem Intendanten des Klangforum Wien, das Projekt Scelsi revisited, von dem später noch die Rede sein wird. Voraussetzung für dieses Projekt war jedenfalls das Abhören sämtlicher bis zu diesem Zeitpunkt digitalisierter Bänder von Giacinto Scelsi. Klar, dass es in Anbetracht des Um- fangs akustischen Materials ein Ding der Unmöglichkeit war, das vor Ort zu machen, und so ermöglichte mir die Fondazione Isabella Scelsi einen Internettunnel zum akus- tischen Scelsi-Archiv. Somit verbrachte ich das Jahr 2011 unter anderem damit, mir ca. 600 Stunden von Giacinto Scelsi auf Tonband aufgenommenes Material anzuhören. Ich begann sehr früh, mich auf die Ondiolastücke zu konzentrieren, denn es wurde aus meiner Sicht relativ schnell klar, dass dieses Material aus verschiedensten Gründen der für unser Projekt Scelsi revisited interessanteste Bereich des akustischen Archivs zu sein schien. Wie produzierte Scelsi die mehrstimmigen Ondiola-Aufnahmen? Scelsi hatte zwei Ondiolen und zwei Revox-Bandmaschinen. Um eine Ondiola mikrotonal spielen zu können, benötigt man eine Hand für die drei- bis dreieinhalboktavige Tastatur, die andere Hand, um entweder Glissandi oder Klangfarbenveränderungen zu realisieren. Das heißt, eine mehrstimmige Ondiola-Aufnahme verlief bei Scelsi so: Aufnahme der ersten Ondiolastimme auf Band, die spielte er anschließend ab und spielte die zweite Stimme live mit der Ondiola dazu, das nahm er auf die zweite Bandmaschine auf. Diese Aufnahme spielte er wieder ab und spielte die dritte Stimme dazu, und so weiter. Man kann selbstverständlich auch bei einer solchen Vorgehensweise im weitesten Sinne von Improvisation sprechen. Über die Monate meiner Recherchen begann ich aber, nach und nach von diesem Terminus in Bezug auf die Scelsi’schen Ondiolapoly- phonien Abstand zu nehmen. Denn es stellte sich heraus, dass es Stücke gab, an deren harmonischer Struktur, zeitlichem Verlauf, Entwicklung und an ihrer Dramaturgie Scelsi immer wieder arbeitete. Da ich bei meinen Recherchen einfach der Nummerierung der digitalisierten Bänder folgte (ich begann bei NMGS 001 und endete bei NMGS 271), dauerte es Monate, bis ich auf die Nummer NMGS 177 traf. Das ist nämlich das Band, auf dem Anahit in einem durchgehenden Stück enthalten ist, knappe zehn Minuten lang – bis auf die Vio- linkadenz, die von einem anderen Band stammt. Bevor ich also auf die Nummer 177 stieß, hörte ich in den Monaten vorher immer wieder Passagen aus Anahit (manche nur 20 Sekunden, manche mehrere Minuten lang), die andere Verläufe nahmen, kurze Aus- schnitte, markante harmonische Wendungen. Manchmal war die Harmonik identisch, 267 aber die Akkorde waren anders gesetzt. Selbiges Phänomen von immer wieder auf- tauchenden Fragmenten ist übrigens auch beim 4. Streichquartett und bei Teilen von I Presagi zu beobachten: Es existieren eine Menge Ondiola-Versionen unterschiedlichster Längen und Klanglichkeiten zu diesen Stücken. Was bedeutet das nun? Wir können nicht sagen, über welche Zeiträume Scelsi an den Stücken arbeitete, denn die Bänder sind wie gesagt unbeschriftet bzw. auf eine Art und Weise beschriftet, die in keinster Weise als erhellend zu bezeichnen ist oder es er- möglichen würde, eine zeitliche Zuordnung zu treffen. Aber wir können sagen, dass Scelsi immer wieder mit der Ondiola und den Bandmaschinen an ähnlichem musika- lischen Material, vielleicht kann man sogar sagen, an Stücken arbeitete und diese wei- terentwickelte. Ich würde auf jeden Fall so weit gehen zu behaupten, dass in Anbetracht der oben skizzierten Arbeitsweise und der Fülle an klingendem Material, das eindeutig spezifischen, heute bekannten Stücken von Giacinto Scelsi zuzuordnen ist, es in vielen Fällen ziemlich unpassend ist, von Improvisationen zu sprechen. Dazu ist das Material oft zu komplex, die Arbeitsweise zu mühsam, das Endresultat zu homogen. Eine für die damalige Zeit äußerst unkonventionelle Art zu komponieren; »komponieren« ist in diesem Falle wörtlich zu nehmen: Klänge, teilweise mit den Bandmaschinen technisch manipuliert, zusammenzusetzen, und das in den beginnenden fünfziger Jahren, nicht in einem elektronischen Studio, nein, in einer Privatwohnung in Rom. Um beim Beispiel Anahit zu bleiben: Verblüffend beim Anhören der Ondiolaversion sind mehrere Aspekte, wohl am auffälligsten ist jedoch die Feinheit der mikrotonalen Rasterung. Schon nach den ersten paar Takten wird klar, dass die verschriftlichte Ver- sion von Anahit (bei all ihrer instrumentationstechnischen Brillanz) eine ziemlich grobe Vereinfachung in der Vertikalen darstellt, denn die mikrotonalen Details des Ondiola-Originals sind extrem komplex. Extrapoliert man einmal die natürlichen Ge- schwindigkeitsschwankungen einer Tonbandmaschine, die bei so vielen Aufnahme- schritten unweigerlich passieren müssen, bleibt immer noch das Resümee, dass eine Verschriftlichung dieser Art von Mikrotonalität Mitte der sechziger Jahre eine beinahe unüberwindbare Hürde dargestellt haben muss. Scelsi hatte schon in den vierziger Jahren keine Lust mehr, Notenpapier und Bleistift zu verwenden – zu dem Thema sind ausreichend Publikationen im Umlauf, das müssen wir hier nicht weiter erörtern. Fakt ist dennoch, dass ein klassisch-akademisch aus- gerichteter Prozess der Werkgenese die Existenz einer Vielzahl Scelsi’scher Werke, was zumindest den mikrotonalen Aspekt anbelangt, kaum denkbar erscheinen lässt. Einer- seits aus Gründen der kompositorischen Verfahrensweise, mit einer Ondiola und Band- maschinen zu arbeiten, andererseits wohl auch aus Mangel an notationstechnischen Möglichkeiten. Ich lasse jetzt bewusst den Themenkomplex der Transkription beiseite, das soll hier nicht unser Thema sein (und ist zudem meines Erachtens in der Scelsi- Rezeption völlig überbewertet). Ähnliches wie über die Probleme der Genese und der Verschriftlichung höchst kom- plexer mikrotonaler harmonischer Strukturen lässt sich auch über die unterschiedlichen Arten des Vibratos auf den Tondokumenten sagen: Sie alle kennen den vielleicht etwas dilettantischen, aber zumindest in Musikerkreisen sehr verbreiteten Terminus ›Scelsi- Vibrato‹. Nach Sichtung der Tondokumente kann ich zu diesem Terminus eigentlich nur 268 sagen: Zurück zum Start! Es tut mir persönlich leid, dass ich die Bänder nicht schon vor 25 Jahren gehört habe, ich hätte als Interpret so manches anders gemacht. Die Vielfalt des Vibratos, diese fließenden Übergänge von Glissando ins Vibrato oder umgekehrt oder gleichzeitig, das alles in unterschiedlichsten Tempi und Amplituden, eine gewaltige Palette an Klangvariationen, realisiert mit einem eigentlich so primitiven Instrument. Was Scelsi in der Lage war, mit einer Ondiola an Vibratovariationen zu produzieren, ist absolut spektakulär und für seine Musik in Bezug auf Klangfarbe und Phrasierung derart ausdrucksimmanent, wie mir das in diesem Ausmaß nicht annähernd bewusst war. Abgesehen von seiner beeindruckenden technischen Versiertheit an der Ondiola zeugt auch sein Umgang mit dem Vibrato von einem unbändigen Ausdruckswillen und großer Phantasie. Da hatte einer absolut sein Werkzeug gefunden. Die Vorstellung, in den fünfziger oder sechziger Jahren diese Bandbreite konventionell komponierend zu Papier zu bringen, wäre ein interessantes Gedankenspiel, das ich hier nicht weiter ver- tiefen möchte. Jedenfalls folgt daraus: Auch im Bezug auf Vibrato und weiterführend Glissando hat durch die Verschriftlichung Scelsi’scher Ondiola-Aufnahmen eine umfassende Vergröberung des Materials stattgefunden. Das gilt in hohem Maße für viele seiner Solostücke und Kleinstbesetzungen. Ein paar Worte zum Aspekt der Vielfalt der Klangfarben auf den Ondiolabändern: Man muss hier klar unterscheiden zwischen einstimmigen und mehrstimmmigen Ondiolastücken. Bei den einstimmigen ist die Art der Klangfarbenmanipulation durch Scelsi zwar technisch und künstlerisch beeindruckend, aber nicht weiter schwer durchschaubar. Bei den mehrstimmigen Stücken verhält sich die Sache etwas komplexer: Natürlich verwendet Scelsi auch da die technischen Möglichkeiten der Ondiola, Klangfarben durch für heutige Begriffe sehr einfache Filter zu beeinflussen. Viel stärker werden jedoch die Klangfarben durch oft sehr langsam sich verändernde Spektren moduliert. Das führt bei manchen Bandpassagen soweit, dass die Differenztöne lauter sind als deren Ursprung – das kann man vor allem in einigen eigentlich zweistimmigen Passagen hören, die dann zu klangfarblich einigermaßen dramatischen dreistimmigen Passagen werden: Wenn sich zum Beispiel ein Vierteltonglissando über mehr als dreißig Sekunden von einem Einklang wegbewegt und die Differenztöne ein durchgehendes Glissando von der eingestrichenen Oktave in den Subbassbereich durchziehen oder umgekehrt. So etwas kommt in den Tondokumenten in unterschiedlichsten Variationen, Lagen und Zeitlich- keiten immer wieder vor. Ein Phänomen, das natürlich durch den Umstand begünstigt wird, dass die zwei Ondiolastimmen in so gearteten Passagen meistens extrem ähnlich in ihrer Ausgangsklangfarbe sind, obwohl, wie vorher bereits geschildert, die erste der beiden Ondiolastimmen ja vom Tonband kommt und Scelsi die zweite mit der Ondiola dazuspielt. Man kann nicht sagen, dass Scelsi die Differenztöne generell mittransskribieren ließ, manchmal ja, manchmal nein, wie dies auch bei den Band-, Umwelt- und Spiel- geräuschen der Fall war. Ich sehe mich außerstande, eine Systematik abzuleiten, ich tendiere eher zu der Vermutung, dass andere, auch außermusikalische Parameter mit ausschlaggebend für diese Entscheidungen gewesen sein dürften. 269 Man kann auf jeden Fall konstatieren, dass die relative klangliche Homogenität der verschiedenen Ondiolaschichten die Wahrnehmung der mikrotonalen Strukturen in einem beträchtlichen Ausmaß begünstigt und eine harmonische Komplexität trans- parent werden lässt, wie sie für die damalige Zeit einigermaßen spektakulär war. Eine Komplexität, die auf den Bändern oft mit Vier- oder Fünfstimmigkeit erreicht wird. Mich erinnert das, was die Wahrnehmungpsychologie anbelangt, an Conlon Nancarrows Strategie in seinen Stücken für Player Piano: Ein für ihn mit entscheidender Grund für die Wahl dieses Instruments war neben dem Aspekt der Realisierbarkeit seiner Konzepte auch die Tatsache, dass er die Wahrnehmung bewusst in Richtung metrischer Proportionen und rhythmischer Komplexitäten lenken wollte und glaubte, eine größere Bandbreite der Klangfarben würde die von ihm gewünschte Art der Wahr- nehmung behindern. Wie wir heute wissen, ist er davon später teilweise abgerückt und hat eines seiner Player Pianos so präpariert, dass es sich klangfarblich vom anderen Player Piano abheben konnte, sprich, einen mehr cembaloartigen Klang generierte, um größere Transparenz der Einzelstimmen zu gewährleisten – an sich kein schlechter Gedanke. Selbstverständlich hinkt der Vergleich mit Nancarrow, denn erstens hatte Scelsi ver- mutlich nie die Intention, seine Ondiolakonzepte als Tonbandmusik öffentlich zu präsentieren. Und zweitens dürften Nancarrows kompositorische Absichten wenig mit der Tiefe des Klangs zu tun gehabt haben. Nichtsdestotrotz konnte ich feststellen, dass ein großes Ausmaß an klangfarblicher Homogenität paradoxerweise ein gänzlich anderes Hören eines eigentlich bekannten Stücks ermöglicht. Um wieder auf das Beispiel Anahit zurückzukommen: Wenn man das Stück gut kennt, ist die Harmonik eigentlich nicht schwer durchschaubar. Als ich das Stück erstmalig in der Ondiolaversion hörte, war ich einigermaßen erstaunt, welche Ebenen sich da harmonisch auftaten, wie komplex das plötzlich zu hören war. Ein Stück Musik, das ich extrem gut kannte, unzählige Male gespielt hatte: Die Musik begann für mich plötzlich eine Art von geheimem Innenleben zu entfalten, eben die Musik hinter der Musik. Nun ein paar Worte zu den Aktivitäten, die aus der umfassenden Tonbandrecherche folgen werden: das Projekt Scelsi revisited. Aus den 600 Stunden Scelsi-Bändern habe ich circa vier Stunden mehrstimmiges Ondiolamaterial selektiert, ausschließlich Passagen, die Scelsi nicht instrumentieren ließ. Acht Komponisten wurde nun je ca. 25–30 Minuten klingendes Material zur Ver- fügung gestellt, um auf dieser Basis neue Stücke für eine vorgegebene Maximalbeset- zung von 20 Instrumenten zu schreiben. Die Art des kompositorischen Umgangs mit dem Material ist natürlich nicht vorgegeben, also ist keine Neutransskription Scelsi’scher Ondiolastücke intendiert, sondern die Bereitstellung einer gemeinsamen Inspirations- quelle (wobei der Vollständigkeit halber gesagt werden muss, dass auch eine Art Trans- skription natürlich nicht verboten ist). Diese Stücke wurden in zwei Tranchen 2013 beim Festival Acht Brücken in Köln und 2014 bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik präsentiert. Die Gesamtpräsentation des Projekts fand 2014 bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt statt. Aus diesem Projekt Scelsi revisited ent- stand das von Michel Roth und mir initiierte Forschungsprojekt Scelsi revisited back- 270 stage, welches unter der Schirmherrschaft der Hochschule für Musik Basel Scelsi revisited musikwissenschaftlich begleitet. Es ist das Ziel dieses Projekts, aus unterschiedlicher Perspektive über den ungewöhn- lichen Quellentypus von Giacinto Scelsis Tonbändern zu reflektieren, explizit nicht als philologischer Blick auf bereits existierende Transkriptionen bzw. Werke, sondern als analytische und künstlerische Neubetrachtung der Bänder und den daraus entstehenden neuen Stücken, wobei sich das Vorgehen methodisch am historischen Faktum der Zu- sammenarbeit von Scelsi mit anderen Komponisten orientiert. Damit entsteht die einmalige Möglichkeit, acht unterschiedliche Positionierungen von heutigen Kom- ponisten zum Schaffen Scelsis und zu Fragen der Mikrotonalität und deren Notation, Intertextualität, Transkription zu vergleichen.1 1 Eine umfangreiche Dokumentation des Projekts ist in Vorbereitung: Scelsi revisited backstage, hrsg. von Björn Gottstein und Michael Kunkel, Büdingen: Pfau 2017. 271 Anhang Dokumentation Veranstaltungen des Projekts les espaces sonores. Stimmungen, Klanganalysen, spektrale Musiken an der Hochschule für Musik Basel und am Musikwissenschaftlichen Seminar Basel im Studienjahr 2011/12 Lehrveranstaltung am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Basel ab 27. September 2011 Übung: Klangkomposition und »musique spectrale« Dozent: Dr. Pietro Cavallotti Konzerte, Vorträge und Gespräche 30. September 2011 Eröffnungskonzert Just Intonation: The American School Werke von Ben Johnston, Alvin Lucier, Mesias Maiguashca, Wolfgang von Schweinitz, Manfred Stahnke und James Tenney zone expérimentale – Ensemble des Masterstudiengangs Zeitgenössische Musik der Hochschule für Musik Basel, Einstudierung und Leitung: Jürg Henneberger, Mike Svoboda, Marcus Weiss Großer Saal, Musik-Akademie Basel 20., 21., 22., 23. und 24. Oktober 2011 Nacht – Kammeroper in 24 Bildern von Georg Friedrich Haas (nach Werken Friedrich Hölderlins) SängerInnen und Ensemble DIAGONAL der Hochschule für Musik Basel, Leitung: Jürg Henneberger, Regie: Desirée Meiser Gare du Nord, Basel 24. Oktober 2011 Die sternenhelle Nacht war nun mein Element geworden; Gespräch über die Komposition Nacht mit Georg Friedrich Haas und Michel Roth Gare du Nord (Aufführungsraum), Basel 15. November.2011 colloquium 48: Development, Shift, Change and Breach as Modus Operandi of Moving Forward – Lecture von Chaya Czernowin Zimmer 48, Musik-Akademie Basel 12. Dezember 2011 DIALOG spezial: Die Pianistin Simone Keller spielt Werke von Edu Haubensak. Gespräch: Marcus Weiss Gare du Nord, Basel 275 13. Dezember 2011 colloquium 48: Scordatura. Stimmungen für Saiteninstrumente – Lecture von Edu Haubensak Zimmer 48, Musik-Akademie Basel 20. Dezember 2011 colloquium 48: »Falsche Spiegelungen« durch die Beziehungen zwischen den natürlichen Mehrklängen und den Mehrklängen aus der Präparation des Klaviers – Vortrag mit Klangdemonstration von Marina Khorkova Zimmer 48, Musik-Akademie Basel 12. März 2012 Intervalles-Intérieurs. Harmonische Mikroskope bei Péter Eötvös und Gérard Grisey – Einführungsvortrag von Michel Roth Intervalles-Intérieurs Péter Eötvös: Intervalles-Intérieurs Gérard Grisey: Vortex temporum zone expérimentale – Ensemble des Masterstudiengangs Zeitgenössische Musik der Hochschule für Musik Basel, Einstudierung und Leitung: Mike Svoboda und Marcus Weiss Bird’s eye, Basel 18. März 2012 Simone Beneventi: »Golfi d’ombra« – Reconstructing an unedited score for percussion solo by Fausto Romitelli – Performances, Lectures, Discussions. Mit Andrea Agostini, Hugues Dufourt, Marco Mazzolini, Veniero Rizzardi, Stefano Trevisi Klaus Linder-Saal, Musik-Akademie Basel 20. März 2012 Interpretationsforum: Harmonik und Cochlea – Wie exakt lässt sich eine Differenzton-Harmonik vom Interpreten realisieren? – Lecture von Manfred Stahnke Zimmer 48, Musik-Akademie Basel 21. März 2012 Konzert mit Werken von Manfred Stahnke zone expérimentale – Ensemble des Masterstudiengangs Zeitgenössische Musik der Hochschule für Musik Basel, Einstudierung und Leitung: Jürg Henneberger, Mike Svoboda und Marcus Weiss Klaus Linder-Saal, Musik-Akademie Basel 31. März 2012 Werke von Tristan Murail, James Tenney u. a. Ensemble DIAGONAL der Hochschule für Musik, Leitung: Marino Formenti Großer Saal, Musik-Akademie Basel 3. April 2012 colloquium 48: Die Wahrnehmung von Obertönen – Lecture von Dr. Peter Schneider Zimmer 48, Musik Akademie Basel 276 24. April 2012 colloquium 48: A-E-I-O-U. Zur kompositorischen Relevanz von Vokalformanten – Vortrag mit Klangdemonstration von Michel Roth Zimmer 48, Musik-Akademie Basel 4. Mai 2012 Konzert mit Werken von Bernhard Lang u. a. zone expérimentale – Ensemble des Masterstudiengangs Zeitgenössische Musik der Hochschule für Musik Basel, Einstudierung und Leitung: Jürg Henneberger, Mike Svoboda, Marcus Weiss Großer Saal, Musik-Akademie Basel »Das Spektrum der griechischen Antike in der Musik«, 5. & 6. Mai 2012, Musik-Akademie Basel 5. Mai 2012 »Arc-en-ciel d’oreille«. Klang jenseits der Musik – Musik jenseits des Klanges – Vortrag von Prof. Dr. Jakob Ullmann Conrad Steinmann: Präsentation der Ergebnisse der interdis- ziplinären Arbeit am Papyrus-Fragment aus der Orestie des Euripides. Stellungnahme aus instrumental-praktischer und kompositorisch-kreativer Sicht Zimmer 48, Musik-Akademie Basel Konzert mit Musik zu und von Sappho, Pindar und Euripides (Orestes-Fragment) Ensemble Melpomen, Conrad Steinmann, Aulós, Kýmbala, Musik und Leitung Großer Saal, Musik-Akademie Basel 6. Mai 2012 Ausstellung Antike Instrumente im Spannungsfeld der Tonsysteme Welches Wissen generiert die Musik der griechischen Antike? – Vor- trag von Prof. Dr. Sebastian Klotz (Leipzig) Neuer Saal, Musik-Akademie Basel 22. Mai 2012 Interpretationsforum: Raumerweiterungssignale: Mikrotonales Spiel auf dem Horn Komponist: Michel Roth, Naturhorn und Achteltonhorn: Samuel Stoll Zimmer 48, Musik-Akademie Basel 277 Internationales Symposium »les espaces sonores. Stimmungen, Klanganalysen, spektrale Musiken« 7. bis 9. Dezember 2012, Musik-Akademie Basel ab 3. Dezember 2012 Hauke Harder: GRIGIO DUE Klanginstallation für Sinusgeneratoren, Verstärker und Druck- kammerlautsprecher (1997) Foyer der Vera Oeri-Bibliothek ab 7. Dezember 2012 Alvin Lucier: SEESAW Klanginstallation für einen Oszillator mit fester Frequenz und einen Oszillator mit sich langsam verändernder Frequenz (1983) Zimmer 48, Musik-Akademie Basel 7., 8., 9. Dezember 2012 Einführungen durch Hauke Harder zu den Klanginstallationen 7. Dezember 2012 (Ein-)Stimmungen Chair: Michael Kunkel (Basel) Michael Kunkel: Les sons sont quoi? Klangrecherchen in der Kunst und in der Forschung Georg Friedrich Haas: Quartett für vier Gitarren (2007) Gil Fesch, Jonas Löffler, Matthias Müller, Flavio Virzi: Gitarren Georg Friedrich Haas (Basel): Ich bin kein spektraler Komponist Michel Roth (Basel): Mimesis und Mimikry: (Selbst)kritische Anmerkungen zur kompositorischen und analytischen Anwendung von Sonagrammen Klaus Linder-Saal Musiques spectrales Chair: Ulrich Mosch (Basel) Lukas Haselböck (Wien): Zum »historischen Resonanzraum« der musique spectrale: Liminale Aspekte bei Grisey und Debussy Ewa Schreiber (Poznań): The Organic Metaphor in Gérard Grisey’s Musical Thought and Composition Xavier Dayer (Genève/Bern): Conséquences de l’harmonie spectrale sur le temps musical Klaus Linder-Saal Konzert: zone expérimentale Hugues Dufourt: Quatour de Saxophones Manfred Stahnke: Beating für drei Posaunen Gérard Grisey: Vortex temporum für Ensemble zone expérimentale (Ensemble des Masterstudiengangs Specialized Performance Contemporary Music der Hoch- schule für Musik, Basel) Leitung/Einstudierung: Mike Svoboda, Marcus Weiss Großer Saal 278 8. Dezember 2012 Labor 1: Methoden angewandter Klanganalyse Chair: Erik Oña (Basel) Lena-Lisa Wüstendörfer (Basel): Klingende Geschichte. Tondokumente als Grundlage musikwissenschaftlicher Inter- pretationsforschung Alex J. Harker (Huddersfield): Navigating Sample-Based Music: Immediacy and Musical Control in Recent Electronic Works Torsten Möller (Dortmund): Fakten und Töne. Sonifikation als Forschungsmethode Thomas Resch (Basel): Sonifikation und Notation der menschlichen Stimme mit note~ for Max (technische Einführung und Performance) Verzerrte Spektren Chair: Lena-Lisa Wüstendörfer (Basel) Pietro Cavallotti (Basel/Berlin): Horatiu Radulescus »Sound Plasma« Jan Topolski (Warschau): Spectral Inspirations in Works of Young Polish Composers Björn Gottstein (Berlin): »Verbeulte Natur«; Über die Harmonik bei Enno Poppe Klaus Linder-Saal Artist Talk: Hugues Dufourt, Marcin Stanczyk, Jean-Luc Hervé; Moderation: Uli Mosch Konzert Ensemble DIAGONAL Jean-Luc Hervé: Ein/Aus pour 9 musiciens Marcin Stanczyk: Nibiriu für Ensemble Enno Poppe: Salz für Ensemble Hugues Dufourt: L’Afrique d’après Tiepolo Ensemble DIAGONAL der Hochschule für Musik Basel Leitung: Jürg Henneberger, Marcus Weiss Großer Saal 9. Dezember 2012 Labor 2: Konzepte der Mikrotonalität Chair: Anne-May Krüger (Basel) Johannes Keller/Martin Kirnbauer (Basel): Viele Töne – viele Tasten. Das Cimbalo cromatico in der musikalischen Praxis (Vor- trag mit Demonstration). Mit Alice Borciani (Sopran), Brigitte Gasser (Viola da Gamba und Lirone), Eva Saladin (Violine) Stefan Pohlit (Büyükada): Harmonic Space, Dissonance, and Modulation in Microtonal Music (mit der Uraufführung von S. Pohlits In A für Streichquartett durch das Zephyr Quartett: Daphné Schneider, Fraynni Rui, Violinen, Caterina Comas Hervada, Viola, Mathilde Raemy, Violoncello; Einstudierung: Geneviève Strosser und Michel Roth) 279 Intonationen Chair: Michel Roth (Basel) Manfred Stahnke (Hamburg): Asymptotische Mikrotonalität: Zwischen Reinheit und Freiheit Uli Fussenegger (Wien/Luzern): Die Musik hinter der Musik. Re- flexionen über Giacinto Scelsis Ondiola-Aufnahmen Erik Oña (Basel): Towards a Metric of Instrumental Combinations Klaus Linder-Saal Konzert Edu Haubensak/Stefan Wirth Edu Haubensak: CORO NUOVO (2004) für nicht-äquidis- tante, chorisch allveränderte Stimmung, Uraufführung Klavier in Skordatur: Stefan Wirth Mit Einführung durch den Komponisten und Diskussion Neuer Saal 280 Autorinnen und Autoren Docteur en herméneutique de l’Université de Turin, Alessandro Arbo est professeur au département de Musique de l’Université de Strasbourg. Membre de l’EA 3402 (« Ap- proches contemporaines de la création et de la réflexion artistiques ») et du laboratoire d’excellence GREAM (« Groupe de recherches expérimentales sur l’acte musical »), il fait partie du comité scientifique de l’« International Review of the Aesthetics and Socio- logy of Music » et de la « Rivista di Estetica ». Ses travaux portent principalement sur les questions de l’esthétique et de la philosophie de la musique. Auteur de nombreux essais et monographies (La traccia del suono. Espressione e intervallo nell’estetica illuminista, Naples 2001; Archéologie de l’écoute. Essais d’esthétique musicale, Paris 2010; Entendre comme. Wittgenstein et l’esthétique musicale, Paris 2013), il a dirigé, entre autres, Perspectives de l’es- thétique musicale : entre théorie et histoire (Paris 2007), Wittgenstein and Aesthetics: Perspectives and Debates (avec M. Le Du et S. Plaud, Frankfurt 2012), Ontologie musicale : perspectives et débats (avec M. Ruta, Paris 2014), Anamorphoses. Etudes sur l’œuvre de Fausto Romitelli (Paris 2015). Pour plus d’informations : http://unistra.academia.edu/AlessandroArbo. Xavier Dayer, né à Genève en 1972, a étudié la composition dans sa ville natale avec Eric Gaudibert, puis avec Tristan Murail et Brian Ferneyhough à Paris (IRCAM). Lauréat de plusieurs prix de composition dont le prix de la fondation Bürgi-Willert décerné par Heinz Holliger et le prix FEMS de la fondation Sandoz décerné par Henri Dutilleux. Auteur d’œuvres pour le Grand Théâtre de Genève, l’Atelier lyrique de l’Opéra de Pa- ris, le Festival d’Automne de Paris, l’IRCAM, le Festival de Lucerne, les Swiss Chamber Soloists, l’ensemble Contrechamps ainsi que pour de nombreux autres ensembles et so- listes. Enseigne la composition et la théorie à la Haute école des arts de Berne (HEAB). Depuis avril 2009 il est le responsable du « Master of arts in Composition / Theory » de cette école. Pensionnaire de l’Académie de France à Rome – Villa Médicis en 2008–2009. En juin 2011 il devient président de la SUISA (Coopérative des auteurs et éditeurs de mu- sique). Le catalogue de ses œuvres compte cinq opéras : Le Marin (1999), Mémoires d’une jeune fille triste (2005), Les Aveugles (2006), Babel – after the war (2013) et Les contes de la lune vague après la pluie (2015). Uli Fussenegger (*1966 in Feldkirch), Kontrabassstudium am Konservatorium Vorarl- berg und an der Musikhochschule Wien. Nach einigen Jahren intensiver Konzerttätig- keit im Bereich alter Musik und authentischer Aufführungspraxis spezialisierte sich Uli Fussenegger auf neue Musik und wurde 1987 Mitglied des Klangforum Wien. Er arbeitet seitdem als Solist, Ensemblemusiker und Komponist, zahlreiche Solowerke wurden für 281 ihn komponiert (u.a. von Georges Aperghis, Bernhard Lang, Beat Furrer, Matthias Pint- scher, Mauricio Sotelo, uva). Zudem konzertiert er im Bereich der freien Improvisation und Elektronik, Mitwirkung bei unzähligen CD/DVD/ Film/TV-Produktionen als Musiker, Komponist und Produzent. Uli Fussenegger ist zudem Dramaturg und Projekt- entwickler des Klangforum Wien. Unterrichtstätigkeit an der Hochschule für Musik in Luzern, an der Kunstuniversität Graz und bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt. Björn Gottstein (*1967 in Aachen), ist Redakteur für Neue Musik beim Südwestrund- funk in Stuttgart und künstlerischer Leiter der Donaueschinger Musiktage. Er studierte Musikwissenschaft, Germanistik und Volkswirtschaft in Köln. Von 1998 bis 2013 arbeitete er freiberuflich als Journalist in Berlin. »Schon früh war mir zweierlei bewusst: Die zwölf Töne, die ein Klavier pro Oktave auf- weist, sind mir zu wenig. Ich brauche engere Intervalle, feinere Abstufungen. Und ich will Ausdruck komponieren, emotionale Musik, die berührt und ergreift«, sagt Georg Friedrich Haas über sein Schaffen. Nach wie vor werden die Werke des ausgewiesenen Kenners mikrotonaler Konzepte von Komponisten wie Wyschnegradsky, Hába, Nono und Grisey oft über ihre mikrotonalen Elemente beschrieben. Eine bestimmte Technik kann für ihn jedoch nur Mittel zum Zweck sein: »Ich habe kein Vertrauen in Beziehungen, die sich nur durch den Notentext und nicht durch die unmittelbare sinn- liche Wahrnehmung erschließen«, erklärt er und verwehrt sich gegen eine von der Musik ablenkende Einordnung in kompositionstechnische Schubladen. Georg Friedrich Haas’ wohl meistgespieltes Werk ist sein Ensemblestück in vain (UA 2000, Klangforum Wien) das teilweise in völliger Dunkelheit aufzuführen ist. 2010 begeisterte bei den Donaueschinger Musiktagen limited appoximations für 6 Klaviere im Vierteltonabstand und Orchester. Das Werk wurde vom SWR Sinfonieorchester unter Sylvain Cambreling uraufgeführt und gehört inzwischen zum festen Repertoire des Orchesters. Bei den Donaueschinger Musiktagen 2016 brachte Mike Svoboda ein Konzert für Posaune und Orchester zur Uraufführung, das von Wien Modern, dem Wiener Konzerthaus sowie dem RSO Wien in Auftrag gegeben wurde und anschließend auch im Rahmen von Wien Modern zu hören war. Dort wurden zwei weitere Werk, HYENA für Sprecherin und Ensemble sowie das 9. Streichquartett, interpretiert vom JACK Quartet, aus der Taufe gehoben. Einen Schwerpunkt widmet zudem das Huddersfield Contemporary Music Festival der Musik von Georg Friedrich Haas mit der Uraufführung sein 10. Streichquartetts durch das Arditti Quartet. Im Januar 2017 wird das Ensemble Resonanz im Rahmen der Eröffnung der Elbphilharmonie in Hamburg das Ensemblewerk Release zur Uraufführung bringen. Im Sommer 2017 ist Georg Friedrich Haas als composer in residence beim Suntory Arts Foundation’s Summer Festival zu Gast. Hauke Harder (*1963 in Heide/Holstein). Studium der Physik an der Kieler Univer- sität und Forschung im Bereich der Molekülphysik bis 2000. Begann 1989 mit dem Komponieren und nahm 1991/92 Privatunterricht bei Wolfgang von Schweinitz. Der Hauptteil seiner Arbeit ist auf die Untersuchung von Intervallen in reiner Stimmung ausgerichtet. Daneben auch Arbeiten im Bereich der Klanginstallation und seit 2009 282 im Bereich Film. Hat verschiedene Konzerte und Ausstellungen organisiert, u. a. im Rahmen der Gesellschaft für akustische Lebenshilfe, welche er mitbegründet und 1989– 99 geleitet hat. Seit 1995 realisiert er als Assistent von Alvin Lucier Installationen und Konzertaufführungen in Europa mit dem Schwerpunkt auf Music on a Long Thin Wire und hat mit seiner Partnerin Viola Rusche 2012 das Filmportrait No Ideas but in Things über Lucier fertiggestellt. www.haukeharder.net Alex Harker (b. 1983) composes electroacoustic, instrumental and interactive music. His recent work focuses on strategies for bringing together these activities to create en- gaging and coherent musical works. Computer programming for audio applications is a key part of his research, and he is engaged in creating tools for the composition and performance of electronic music, alongside composing. He holds a lectureship at the University of Huddersfield, where he leads the Creative Coding Lab. His works have been performed in the UK, France, Denmark, Switzerland and Korea, including at the International Computer Music Conference and Huddersfield Contemporary Music Fes- tival. Performers and organisations he has worked with include the Worldscape Laptop Orchestra, Jonathan Sage, Heather Roche, Elastic Axis, Pete Furniss and BEAST. Lukas Haselböck, geb. in Wien, studierte Musikwissenschaft (Dr. phil.), Komposition (Mag. art.) und IGP Gesang in Wien. Seit 2000 ist er als Assistenzprofessor am Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik an der Wiener Musikuniversität tätig. Er hielt zahlreiche Vorträge, organisierte Symposien und publizierte Schriften vor allem über die Musik des 19. und 20. Jahrhunderts (Bücher über Zwölftonmusik und Gérard Grisey sowie – als Herausgeber – über Friedrich Cerha und zum Thema Klangfarbe). Als Komponist schrieb er instrumentale und vokale Kammermusik, mehrere Solokonzerte sowie Kurzopern. Seit 2010 organisiert er die Wiener Konzertreihe cercle. Als Sänger wirkt er regelmäßig in Ensembles mit. www.lukashaselboeck.com Martin Kirnbauer (*1963 in Köln) war nach einer Ausbildung zum Holzblasinstru- mentenmacher und Musikstudien Restaurator für Historische Musikinstrumente im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Studium der Musikwissenschaft, Germanistik und Mittelalterlichen Geschichte an den Universitäten Erlangen und Basel (Promotion 1998). Zwischen 1994 und 2004 war er wissenschaftlicher Assistent am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Basel, betraut u.a. mit der Leitung des umfangreichen Mikrofilmarchives, und Lehrbeauftragter für Ältere Musikgeschichte. Nach der Habilitation 2007 bis Ende 2010 Vertretung des Lehrstuhls für Ältere Musik- geschichte. Seit 2004 ist er Leiter des Museums für Musik und Kurator für die Sammlung alter Musikinstrumente des Historischen Museums Basel. Privatdozent für Musikwis- senschaft an der Universität Basel. Michael Kunkel (*1969 in Winz-Niederwenigern/Ruhr). Studium in Tübingen, Pro- motion in Basel. Leiter der Forschungsabteilung der Hochschule für Musik Basel. Torsten Möller (*1969 in Bochum) studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Soziologie an der Berliner Humboldt-Universität. Er lebt heute wieder im Ruhrgebiet, ist 283 dort als freier Autor tätig fürs Radio (SWR, DeutschlandFunk, Bayerischer Rundfunk) sowie für diverse Magazine im In- und Ausland. Möller gab zwei Bücher im Bereich zeitgenössischer Musik heraus. Seit 2013 ist er Lehrbeauftragter für Musikjournalismus an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Ulrich Mosch (*1955 in Stuttgart), Studium der Schulmusik und Germanistik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater und der Universität in Hannover; nach dem Ersten Staatsexamen für das Lehramt Studium der Musikwissenschaft an der Technischen Universität in Berlin (bei Carl Dahlhaus), dort 1991 Promotion. 2004 Habilitation und danach Privatdozent an der Universität Salzburg. Von 1990 bis 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Paul Sacher Stiftung in Basel. Dort als Kurator ver- antwortlich für 24 Nachlässe und Sammlungen von Komponisten und Interpreten, darunter Igor Strawinsky, Luciano Berio, György Kurtág, Hans Werner Henze, Helmut Lachenmann, Brian Ferneyhough und Wolfgang Rihm. Seit Herbst 2013 Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Genf. Zahlreiche Publikationen vorwiegend zu Musik, Musikgeschichte und Musikästhetik des 19. bis 21. Jahrhunderts. Stefan Pohlit born 1976, studied with, a. o., Detlev Müller-Siemens, Gilbert Amy, Wolf- gang Rihm, Sandeep Bhagwati, and Peter-Michael Riehm. He received his PhD in 2012 with a dissertation on a tuning system in just intonation invented by the late qānūn virtuoso Julien Jalâl Eddine Weiss. As an expert of Middle-Eastern music, helping to develop and co-directing numerous international projects, he has taught Composition at several Turkish conservatories, such as the Istanbul Technical University. His focus areas include ethnomusicology, prime-limit based microtonality and ancient acoustic cosmologies from which he develops a contemporary epistemology of tone. www.ste- fanpohlit.com Thomas Resch (* 1978 in Mainz). Er studierte 2002–07 an der Hochschule für Musik Basel Audiodesign. Seit 2014 arbeitet er an seiner Promotion im Fachbereich Audiokom- munikation an der Technischen Universität Berlin. Seit 2009 ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Musik Basel tätig. Er arbeitet sowohl als Audiode- signer als auch als Software Entwickler in unterschiedlichen Projekten mit. 2000–02 studierte er Technische Informatik an der TU Berlin. Michel Roth (*1976 in Altdorf) lebt in Luzern. Er ist Professor für Komposition und Musiktheorie an der Hochschule für Musik Basel und Mitglied der dortigen Forschungs- abteilung. Als langjähriger Leiter des Luzerner Studios für zeitgenössische Musik arbeitete er unter anderem mit Pierre Boulez, Helmut Lachenmann und Peter Eötvös zusammen. Viele Radio- und CD-Produktionen dokumentieren sein Schaffen, für das er zahlreiche Preise und Förderbeiträge erhalten hat. Seine Werke sind regelmäßig bei internationalen Musikfestivals zu hören. Seit 2012 interessieren ihn vermehrt Musik- theaterproduktionen (Kooperationen mit Theater Basel, Opera Butxaca Barcelona und Lucerne Festival). Daneben forscht und publiziert er über musiktheoretische und inter- disziplinäre Themen (u.a. über Arnold Schönberg, David Tudor, Dieter Roth). 284 Ewa Schreiber – musicologist and music critic, assistant professor at the Institute of Musicology of Adam Mickiewicz University of Poznań. She graduated from musicol- ogy and philosophy at Adam Mickiewicz University and defended her PhD disserta- tion in musicology. Her main scientific interests are: the aesthetics of music (the theory of tropes, such as irony and metaphor, applied to music and musicological discourse), the musical writings of contemporary composers and the creative output of young gen- eration in Poland. She is author of the book Muzyka i metafora. Koncepcje kompozytorskie Pierre’a Schaeffera, Raymonda Murraya Schafera i Gérarda Griseya [Music and Metaphor. The Compositional Thought of Pierre Schaeffer, Raymond Murray Schafer and Gérard Grisey], (Warsaw 2012). Manfred Stahnke (*1951 in Kiel) studierte in Lübeck, Freiburg, Hamburg und in den USA Komposition, Musikwissenschaft und Computermusik. Er legte das Examen in »Musiktheorie und Komposition« 1973 in Freiburg ab. 1979 promovierte er in Hamburg bei Constantin Floros über Pierre Boulez. Seine Lehrer in Komposition waren Wolfgang Fortner, Klaus Huber und wesentlich Ben Johnston und György Ligeti, mit denen er viel über »Mikrotonalität« diskutierte. Eine neue »meloharmonische« Sprache ist sein besonderes Denkfeld. Zu seinen Kompositionen zählen Bühnenwerke: Der Untergang des Hauses Usher (1981), Heinrich der Vierte (1987), Wahnsinn, das ist die Seele der Hand- lung (Neufassung Berlin Staatsoper 2012), Orpheus Kristall (2002, Biennale München); ferner Orchesterwerke und Konzerte, u.a. aufgeführt vom Radiosinfonieorchester Hil- versum, den Kieler Philharmonikern und dem SWR-Sinfonieorchester (das neueste, die Violinsymphonie Danzbodnlock 2006 in Donaueschingen mit der Violinistin Barbara Lüneburg), sowie viele Kammermusiken für Ensembles wie das ensemble modern, das Nieuw Ensemble Amsterdam, das ensemble decoder etc. Seit 1989 ist er an der Hoch- schule in Hamburg Professor für Komposition, seit 1999 Mitglied der Hamburger Freien Akademie der Künste und leitet dort ab 2015 die Sektion Musik. Außerdem spielt er im TonArt Ensemble Hamburg improvisierend Viola. Conrad Steinmann geboren 1951 in der Schweiz. Studium der Blockflöte an der Schola Cantorum Basiliensis bei Hans Martin Linde. 1972 Gewinner des 1. Interna- tionalen Blockflötenwettbewerbs in Brügge (Belgien). Seit 1974 in Winterthur ansässig. 1975–1982 Lehrtätigkeit an der Zürcher Musikakademie. 1982 Berufung zum Dozenten an der Schola Cantorum in Basel. 1991 Zuerkennung des Kunstpreises der C.-H.-Ernst- Stiftung in Winterthur, 2016 des Zolliker Kunstpreises. Konzerte bringen ihn in alle europäischen Zentren, nach Moskau, Estland, Georgien, nach Japan und regelmäßig in den Nahen Osten, nach Südamerika und Indien ebenso wie nach Australien, früher vor allem mit dem Ensemble 415 und London Baroque, heute mit dem Blockflötenensemble diferencias und mit Melpomen. 1976–2015 Zusammenarbeit mit Nikolaus Harnoncourt an der Zürcher Oper und mit seinem Concentus Musicus mit Musik von Monteverdi, Mozart und Beethoven (5. Symphonie). Zahlreiche Aufnahmen, zuletzt bei DIVOX: Echo, Giorno e Notte (Blockflötenkonzerte von Vivaldi) und bei Musiques Suisses SWISS MADE mit diferencias. Initiator und Organisator von Internationalen Blockflötentagen (Begegnung Schweiz – Osteuropa 1993; Begegnung mit Italien 1997 »incontro« und der arabischen Welt im Sept. 2001 mit Jadal in Basel und Kairo). Als Aulos-Spieler zeigt er 285 ein einzigartiges Engagement für die Musik des Antiken Griechenlands. Intensive und lange Zusammenarbeit mit dem Instrumentenbauer Paul J. Reichlin, dessen rekon- struierte Instrumente Grundlage sind für die von ihm neu imaginierte Musik des 5. und 6. Jahrhunderts v. Chr. Mit seinem Ensemble Melpomen hat er bisher drei Programme erarbeitet (Melpomen, Olympionikais oder Pindars Oden zum Abschluss der Olympischen Spiele in Athen 2004 und Sappho). Die CD Melpomen Ancient Greek Music (Harmonia Mundi/Schola 905263) wurde mit einem diapason d’or ausgezeichnet. Die zweite CD Sappho and her time mit Musik zum 6. Jahrhundert v. Chr. erschien bei Sony. Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds und der Stavros Niarchos-Stiftung. www. melpomen.ch; www.diferencias.ch jakob ullmann (*1958), studium der kirchenmusik in dresden, privater kompositions- unterricht, 2005 promotion zum dr. phil. in braunschweig, seit 2008 professor für kom- position, notationskunde und musiktheorie an der musikakademie der stadt basel/hoch- schule für musik Lena-Lisa Wüstendörfer studierte Musikwissenschaft und Volkswirtschaft sowie Violine und Dirigieren in Basel. 2007–2008 war sie Assistenzdirigentin von Claudio Abbado. Sie arbeitete in der Folge etwa mit dem Frankfurter Opern- und Museums- orchester, dem Orchestra Mozart Bologna und der Basel Sinfonietta zusammen. Heute ist sie regelmäßig Gastdirigentin verschiedener renommierter Klangkörper wie etwa dem Zürcher Kammerorchester oder dem Luzerner Sinfonieorchester. 2009–2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der Rezeptions- und Interpretationsgeschichte, insbesondere zu Gustav Mahler und Felix Weingartner. 286