Jürg Huber Kulturen der Schulmusik Marc-Antoine Camp in der Schweiz Olivier Blanchard Sabine Chatelain François Joliat Les cultures de Regula Steiner l’enseignement musical Jürg Zurmühle (Hg./dir.) à l’école en Suisse Eine Publikation der Hochschule Luzern – Musik Jürg Huber, Marc-Antoine Camp, Olivier Blanchard, Sabine Chatelain, François Joliat, Regula Steiner, Jürg Zurmühle (Hg./éd.) Kulturen der Schulmusik in der Schweiz Les cultures de l’enseignement musical à l’école en Suisse Informationen zum Verlagsprogramm: www.chronos-verlag.ch Umschlagbild: Zürich, Eidgenössisches Sängerfest, 1973, Foto: Ruedi Steiner, http://doi.org/10.3932/ethz-a-001004122. © 2021 Chronos Verlag, Zürich Print: ISBN 978-3-0340-1627-8 E-Book (PDF): DOI 10.33057/chronos.1627 Inhaltsverzeichnis / Table des matières Kulturen der Schulmusik in der Schweiz. Einleitung 7 Les cultures de l’enseignement musical à l’école en Suisse. Introduction 13 Jürg Huber, Marc-Antoine Camp Le rôle de la recherche dans le développement de l’éducation musicale scolaire. Le cas de la Suisse francophone 19 Madeleine Zulauf Die Nullerjahre in der Schulmusik der Deutschschweiz. Eine Dekade «diskursiver Stille»? 43 Jürg Huber Schweizer Schulmusik. Schule oder Musik? 63 Olivier Blanchard Singen oder Musik. Beweggründe zur Änderung einer Fachbezeichnung 79 Christoph Marty Das Vermitteln von Kinderliedern in der Schule als Kulturbestandteil und musikdidaktische Kernaufgabe 93 Stefanie Stadler Elmer L’enseignement intégré de la musique et enseignement des langues. Défis et ouvertures 117 Sabine Chatelain, Gabriele Noppeney Adäquate Umsetzung von Popmusik im Klassenunterricht auf der Sekundarstufe II. Ein neuer Weg zur kognitiven Aktivierung und zum autonomen Musikmachen 133 Dieter Ringli 5 Chorarbeit als Beitrag zur künstlerischen Bildung auf der Sekundarstufe II. Ein Einblick in Praxis und Ausbildung in der Nordwestschweiz 151 Beat Hofstetter Entweder oder, sowohl als auch, weder noch, gar nichts. Rahmenmodell für Unterrichtskonzepte für den schulischen Musikunterricht in Kindergarten und Primarschule 161 Jürg Zurmühle Musikpädagogische Unterrichts- und Wissenschaftskulturen im Kontext von Internationalisierung und Globalisierung 181 Alexandra Kertz-Welzel Kurzbiografien / Courtes biographies 197 6 Kulturen der Schulmusik in der Schweiz Einleitung Jürg Huber, Marc-Antoine Camp Enger Lokalbezug, vergleichsweise eingedämmte Bürokratie, einphasige Leh- rerbildung mit geringem Akademisierungsgrad, von regionalen Konservativis- men durchsetzte Multikulturalität, Mitbestimmungsmöglichkeiten und Spiel- raum für individuelles Handeln: Musikpädagogik funktioniere in der Schweiz offenkundig anders als in Deutschland, resümiert Günter Kleinen (2006, S. 321) seine komparatistischen Untersuchungen zum Musikunterricht in der Schweiz. Damit trifft er sich mit der Selbsteinschätzung hiesiger Musikpädagoginnen und -pädagogen, die den «Sonderfall» Schweiz gern bemühen, wenn es um die musi- kalische Bildung geht. So hat etwa Walter Baer, langjähriger Abteilungsleiter für Schulmusik an der Musikhochschule Zürich, 1994 einem deutschen Publikum unter dem Titel «Vielfalt, Pragmatismus und Methodenfreiheit» den «Umgang mit der Schulmusik in einem Vielvölkerstaat en miniature» (Baer, 1994, S. 65) vorgestellt. Neben den im Titel erwähnten Charakteristika nannte er sechs wei- tere für das Schulsystem typische Merkmale, so etwa den Föderalismus mit Mit- wirkungsrecht der Lehrerschaft oder die Priorität des aktiven Singens und Musi- zierens sowie die starke Stellung der (Jugend-)Musikschulen. Zwei Jahrzehnte später hält Maria Spychiger (2013, S. 43) in einem Interview fest, Musikpädago- gik sei in der Schweiz in besonderem Masse eine «angewandte Disziplin», doch entwickle sich seit der Tertiarisierung der Lehrerbildung um die Jahrtausend- wende allmählich ein reflektiertes Bewusstsein von Musikpädagogik als eigener akademischer Disziplin.1 Diese Gemengelage zwischen ausgesprochen starkem Fokus auf die Praxis und nun von der Bildungsadministration forcierter Akademisierung war Anstoss für ein vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Forschungsprojekt, das «Schulmusikalischen Diskursen in der Deutschschweiz von 1970 bis 2010» nachging.2 Zum Abschluss dieses Projekts lud die Hochschule Luzern im No- vember 2018 Praktiker/-innen und Forscher/-innen ein, im Rahmen einer Ta- 1 Dieses Bewusstsein hat sich in der Romandie früher manifestiert als im deutschsprachigen Landesteil, wie die Beiträge eines Symposiums zur Lehrer/-innenbildung zeigen (Joliat, 2011). 2 SNF-Projekt Nr. 166402 (http://p3.snf.ch/project-166402). 7 gung den Eigenheiten der «Kulturen der Schulmusik in der Schweiz» auf die Spur zu kommen und herauszufinden, wie relevant traditionelle Zuschreibun- gen für die hiesige Schulmusik noch sind und wohin der schweizerische Weg einer «von der Basis her gewachsenen Didaktik der Schulmusik» (Weber, 1985, S. 72) geführt hat. Lehrende und Forschende artikulierten die Themen, die sie im Jahr 2018 be- schäftigten, in Form von Forschungsbeiträgen, Berichten aus Institutionen, Dis- kussions- und Praxisworkshops. Diese wurden in der jeweiligen Landessprache gehalten, wobei die Tessiner Kolleginnen, die schliesslich krankheitshalber ab- sagen mussten, ihren Beitrag auf Französisch in Aussicht stellten. Der Verzicht auf das bequeme Englisch als neue Lingua franca unterstrich, dass die Schweiz nicht primär angelsächsisch geprägt ist, sondern ihre kulturellen Wurzeln im alemannischen und romanischen Raum hat. Austausch und Begegnung auf der Grundlage unterschiedlicher Selbstverständnisse war denn auch ein zentrales Anliegen der Tagung, zu deren Ausrichtung sich die Hochschule Luzern mit der Association Suisse romande de recherche en éducation musicale (ASRREM) und dem Verband Fachdidaktik Musik Schweiz (VFDM) zusammentat. Über die Sprach-, Stufen- und Institutionsgrenzen hinweg sollte sie Anstoss zu Reflexion und Aufbruch sein und der Selbstvergewisserung eines Faches dienen, das sich selbst als etwas Besonderes wahrnimmt, doch seine Situation im Schulsystem oft als prekär erlebt und befürchtet, von bildungspolitischen Vorgaben aufgerieben zu werden. Der Aufbruch hat seine Vorläufer. Die Tagung stellte sich in eine Reihe ge- samtschweizerischer Forschungsinitiativen, die im Jahr 1983 mit der Grün- dung einer (inzwischen inaktiv gewordenen) Schweizerischen Gesellschaft für musikpädagogische Forschung ihren Ursprung hat, der 2005 die ASRREM und 2015 der VFDM folgten. Dabei blieben die Kontakte über die Sprachgrenzen hinweg meist punktuell. Ein erstes, die Sprachregionen verbindendes Schwei- zerisches musikpädagogisches Forschungskolloquium fand am 13. September 2013 in Freiburg/Fribourg statt. Der Fokus der Luzerner Tagung war einer- seits enger, ganz auf den schulischen Musikunterricht gerichtet, andererseits weiter, indem er neben eigentlichen Forschungsbeiträgen explizit institutio- nelle und praxisbezogene Aspekte einbezog. Ziel war es, Impulse und Erfah- rungen aus der Praxis mit Forschungsresultaten und theoretischen Reflexionen zusammenzubringen. Dass ein inhaltlicher Schwerpunkt auf institutionellen Entwicklungen lag, hat mit dem bereits genannten Umbau der Lehrerinnen- und Lehrerbildung und der Modularisierung der Studiengänge im Zuge der Bo- lognareform zu tun. Diese Reformen haben in den letzten beiden Jahrzehnten grundlegende Fragen zur musikpädagogischen Ausbildung aufgeworfen und viele Kräfte absorbiert. 8 Zwar sei künstlerische und kulturelle Bildung – und damit das Schulfach Musik – in der Schweiz «im Grundsatz unbestritten und gut verankert», halten die beiden Bildungsforscherinnen Silvia Grossenbacher und Chantal Oggen- fuss (2013, S. 66) fest, doch würden Grundsatzdiskussionen, die der Umbau des Bildungswesens auch in diesem Bereich ausgelöst hätten, «[f]ür die an Bil- dungsfragen interessierte Öffentlichkeit […] kaum sicht- und hörbar» (ebd.). Dieses Manko ein wenig auszugleichen, ist Ziel dieser Publikation, die neben acht deutschsprachigen Beiträgen einen französischen und einen zweisprachigen Aufsatz umfasst und damit exemplarisch die Vielfalt von Zugängen zum Gegen- stand Schulmusik aufzeigt. Obwohl die Gymnasialstufe, ein gut funktionieren- des, doch weitgehend unerschlossenes Gebiet, an der Tagung untervertreten war, ist sie mit immerhin zwei Beiträgen in diesem Band präsent. Hingegen kaum erstaunlich, wenn man die Geschichte der Schulmusik in der Schweiz verfolgt, ist der breite Raum, den das Singen einnimmt, sei es als Kern des Unterrichts- geschehens, als Fachbezeichnung, als anthropologische Konstante, als Teil eines fächerübergreifenden Unterrichts, als Popmusikdidaktik oder in der Tradition von Schulchören. Mit einem kulturwissenschaftlich ausgerichteten Blick beforscht Olivier Blan- chard «Musikunterrichte» an Deutschschweizer Sekundarschulen und erkennt zwei entgegengesetzte unterrichtliche Praktiken – «Musizieren» und «Nicht- musizieren» –, die er als unterschiedliche Wissensordnungen deutet, wobei das «Nichtmusizieren» dem Unterricht in anderen Fächern gleicht und das «Musi- zieren» – damit ist, so die Pointe, hauptsächlich das Klassensingen gemeint – in Konflikt mit dem institutionellen Rahmen «Schule» gerät. Bringt dieser Ansatz hergebrachte Vorstellungen über den schulischen Musikunterricht ins Wanken, beleuchtet Christoph Marty das Verhältnis zwischen Fachbezeichnung und sich wandelnden Fachinhalten. Seit den 1970er-Jahren wurde die Bezeichnung «Sin- gen» für das Schulfach zunehmend abgelöst von «Musik»; wie weit der Wech- sel der Fachbezeichnung mit dem Fachverständnis interagiert, untersucht er mit dem Instrumentarium von Adele Clarkes Situationsanalyse. Eine überzeitliche Perspektive nimmt Stefanie Stadler Elmer ein, wenn sie das Singen als elemen- tare und universelle Handlung des Menschen begreift, die im Kinderlied eine regelgeleitete sprachmusikalische Form annimmt. Aus strukturgenetischer und anthropologischer Sicht reflektiert sie die Vorgänge des Tradierens und Aneig- nens von Liedern, formuliert Gestaltungsprinzipien dieser komplexen Kultur- praxis und betont daran anschliessend die zentrale Bedeutung der Lieddidak- tik im Kindergarten und an der Primarschule. Der kreative Umgang mit einem vertrauten Lied in der Muttersprache, in ihrem Fall Französisch, ist für Sabine Chatelain Ausgangspunkt, den Möglichkeiten eines integrierten (Musik-)Un- terrichts nachzugehen. Während sie Erstsprache mit Musik zusammenbringt, 9 zeigt ihre Kollegin Gabriele Noppeney anhand der englischen Tradition des bell ringing eine Verbindung mathematischer, musikalischer, landeskundlich-kultu- reller und sprachlicher Aspekte auf. Im Anschluss an ihre Projekte diskutieren die beiden Koautorinnen die Relevanz eines integrierten Musikunterrichts für das Sprachenlernen und das musikalische Lernen. Zwei Beiträge befassen sich auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Singen am Gymnasium. Dieter Ringli entwirft eine Unterrichtsumgebung für eine Untergymnasialklasse, die mit dem Einsatz der eigenen Stimme Popmusik als «Selbstgestaltungsmusik» erlebbar macht und dabei zwanglos die sonst ungeliebte Musiktheorie miteinbezieht. Beat Hofstetter stellt die in der Region Nordostschweiz ausgeprägte Tradition der Schulchöre an Gymnasien vor, die neben praktischem musikalischem Kom- petenzerwerb auch ein vertieftes Werkverständnis ermöglicht, und erläutert, wie Studierende in der Ausbildung an diese Praxis herangeführt werden. Diesen Kern des Bandes mit Texten, die sich auf mannigfaltige Weise mit dem Singen an Schulen beschäftigen, umschliessen vier Beiträge, die institutionelle Aspekte der Musikpädagogik thematisieren. Den Beginn machen zwei Beiträge mit Fokus auf Entwicklungen in der Schweiz. In ihrem detaillierten Überblicks- artikel, der Verschriftlichung ihrer Keynote, verfolgt Madeleine Zulauf die Im- plementierung der musikpädagogischen Forschung in der französischsprachigen Schweiz. Sie identifiziert die drei Phasen Initiation, Institutionalisierung und Standardisierung, wobei Forschende ihren gestaltenden Radius stetig erweitern und dem Fach neue Impulse verleihen. Mit einer an Foucault geschärften Brille nimmt Jürg Huber die Entwicklung der Schulmusik in der Deutschschweiz im frühen 21. Jahrhundert in den Blick. An einem Korpus von Zeitschriften- und Zeitungsbeiträgen untersucht er das Diskursgeschehen der Nullerjahre und fragt nach den Gründen von inhaltlichen Leerstellen. Eine internationale Per- spektive machen die letzten beiden Beiträge fruchtbar. Jürg Zurmühle disku- tiert verschiedenste musikpädagogische Konzeptionen aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum und positioniert diese auf einer kultur- und stilüber- greifenden Metaebene. Daraus leitet er ein Rahmenmodell ab, an dem sich die musikd idaktische Ausbildung von Lehrpersonen für den Kindergarten und die Primarschule an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwest- schweiz orientiert. Schliesslich untersucht Alexandra Kertz-Welzel, die zweite geladene Sprecherin der Tagung, die Globalisierung von Wissenschafts- und Un- terrichtskulturen und plädiert für eine kultursensible Internationalisierung, die das Eigene gegenüber einer anglo-amerikanischen Hegemonisierung des Dis- kurses behauptet und konturiert. Dass dies in der Schweiz inzwischen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und entsprechendem Selbstbewusstsein geschieht, macht dieser Tagungsband deutlich. Die schulische Musikpädagogik hierzulande, so darf bilanziert werden, 10 stellt sich beherzt den Herausforderungen, die eine sich wandelnde Gesellschaft und der Umbau des Bildungssystems mit sich bringen, und findet eigenständige und traditionsbewusste Antworten auf die damit einhergehenden Fragen. Literaturangaben Baer, W. (1994). Vielfalt, Pragmatismus und Methodenfreiheit. Vom Umgang mit der Schulmusik in einem Vielvölkerstaat en miniature. Neue Musikzeitung, (5), 65 f. Grossenbacher, S., Oggenfuss, C. (2013). Kulturelle und künstlerische Bildung in der Volksschule der Schweiz. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 16, 65–82. Joliat, F. (Hg.). (2011). La formation des enseignants en musique. État de la recherche et vision des formateurs. Paris: L’Harmattan. Kleinen, G. (2006). Komparative Studie zum Musikunterricht in der Schweiz. In N. Knolle (Hg.), Lehr- und Lernforschung in der Musikpädagogik (S. 299–324). Essen: Die Blaue Eule. Spychiger, M. (2013). Interview für Diskussion Musikpädagogik (Interviewer: C hristopher Wallbaum). Diskussion Musikpädagogik, (60), 42–44. Weber, E. (1985). Schulversuche mit Musikklassen in der Schweiz. In P. Mraz (Hg.), Möglichkeiten und Probleme des Musikunterrichts. Aufsätze, Interviews, Lehrer- umfrage (S. 70–76). Zürich: Pan. 11 Les cultures de l’enseignement musical à l’école en Suisse Introduction Jürg Huber, Marc-Antoine Camp Des liens locaux étroits, une bureaucratie comparativement réduite, une formation des enseignants en une seule phase avec un faible degré d’académisation, un multi- culturalisme imprégné de conservatisme régional, des possibilités de codétermi- nation et d’action individuelle: l’éducation musicale en Suisse fonctionne de toute évidence différemment de celle en Allemagne, constate Günter Kleinen (2006, p. 321) dans son étude comparative sur l’éducation musicale en Suisse. Ainsi, il entre en résonance avec l’autoévaluation des professeurs de musique locaux qui aiment évoquer le «cas particulier» de la Suisse quand il s’agit de débattre de l’édu- cation musicale. Par exemple, Walter Baer, qui a dirigé pendant de nombreuses an- nées le département de musique à l’école à la Haute école de musique de Zurich, a présenté en 1994 à un public allemand l’approche de l’éducation musicale géné- rale dans un «État multinational en miniature», sous le titre Vielfalt, Pragmatismus und Methodenfreiheit (Diversité, pragmatisme et libre choix des méthodes) (Baer, 1994, p. 65). Outre les caractéristiques mentionnées dans le titre, il a cité six autres spécificités du système scolaire, telles que le fédéralisme avec le droit de participa- tion du personnel enseignant ou la priorité accordée à la pratique active du chant et des instruments ainsi que la position forte des écoles de musique. Deux décennies plus tard, Maria Spychiger (2013, p. 43) déclare dans une interview que l’éducation musicale en Suisse est une discipline appliquée («angewandte Disziplin»), mais, depuis la tertiarisation de la formation des enseignants au tournant du millénaire, une conscience réflexive de l’éducation musicale en tant que discipline académique à part entière se développe progressivement.1 Ce conflit entre une très forte orientation vers la pratique et l’académisation dé- sormais encouragée par l’administration de l’éducation a été à l’origine d’un pro- jet de recherche parrainé par le Fonds national suisse de la recherche scientifique, qui s’est penché sur les «Schulmusikalische Diskurse in der Deutschschweiz von 1970 bis 2010».2 En novembre 2018, au terme de ce projet, la Haute école spécia- 1 Cette prise de conscience s’est manifestée plus tôt en Suisse romande que dans la partie aléma- nique du pays, comme le montrent les apports d’un colloque sur la formation des enseignants (Joliat, 2011). 2 Projet FNS No 166402 (http://p3.snf.ch/project-166402). 13 lisée de Lucerne a invité des praticiens et des chercheurs à une conférence ayant pour but de retracer les caractéristiques des «cultures de l’enseignement musical à l’école en Suisse» et de découvrir dans quelle mesure les attributions tradition- nelles sont encore pertinentes pour cet enseignement. Il s’agissait aussi de com- prendre où la voie suisse d’une didactique de la musique façonnée à partir du ter- rain nous a menés (Weber, 1985, p. 72). Des enseignants et des chercheurs ont articulé les thèmes qui les occupaient en 2018 sous la forme de contributions de recherche, de rapports d’institutions, d’ateliers de discussion et de pratique. Elles se sont effectuées dans la langue na- tionale respective, les collègues tessinois, qui ont finalement dû annuler pour cause de maladie, offrant leur contribution en français. Le renoncement à l’an- glais confortable comme nouvelle lingua franca a souligné le fait que la Suisse a ses racines culturelles dans les régions alémaniques et romanes. La conférence était avant tout consacrée aux échanges et aux rencontres, ce qui s’est également traduit par une coopération avec l’Association suisse romande de recherche en éducation musicale (ASRREM) et l’Association suisse de didactique de la mu- sique (VFDM). Au-delà des frontières linguistiques, professionnelles et institu- tionnelles, elle avait pour ambition d’inciter à la réflexion et de donner un cadre rassurant pour servir une discipline qui se perçoit comme étant spécifique, mais en marge du système scolaire, redoutant d’être fragilisée par les directives de la politique éducative. Le nouveau départ a ses prédécesseurs. Cette conférence s’inscrit dans une série d’initiatives de recherche nationales qui ont débuté en 1983 avec la création d’une Société suisse de recherche en éducation musicale (aujourd’hui inactive), suivie en 2005 par l’ASRREM et en 2015 par l’association VFDM. Les contacts par-delà les frontières linguistiques sont restés pour la plupart sélectifs. Un pre- mier colloque suisse de recherche sur l’éducation musicale reliant les régions lin- guistiques a eu lieu le 13 septembre 2013 à Fribourg. En 2018, la conférence de Lucerne s’est concentrée, d’une part, sur l’éducation musicale dans les écoles et, d’autre part, sur les aspects institutionnels et pratiques en plus des contributions de la recherche. L’objectif était de croiser les impulsions et les expériences de la pratique avec les résultats de la recherche et les réflexions théoriques. Le fait qu’un accent fût mis sur les développements institutionnels est lié à la restruc- turation de la formation des enseignants et à la modularisation des programmes d’études dans le cadre de la réforme de Bologne, mentionnées plus haut. Au cours des deux dernières décennies, ces réformes ont soulevé des questions fon- damentales sur la formation des enseignants de musique et ont absorbé de nom- breuses forces. Bien que l’éducation artistique et culturelle – et donc la musique en tant que ma- tière scolaire – soit «au fond incontestée et bien ancrée» en Suisse, comme l’affir- 14 ment les deux chercheuses en éducation Silvia Grossenbacher et Chantal Oggen- fuss (2013, p. 66), les discussions de principe, que la restructuration du système éducatif a déclenchées dans ce domaine, sont «à peine visibles et audibles pour un public intéressé par des questions d’éducation» (ibid.). L’objectif de cette pu- blication est de combler dans une certaine mesure cette lacune. Ce volume com- prend huit contributions en langue allemande, un texte en français et un texte bi- lingue, reflétant ainsi une partie de la diversité des conférences, symposiums et ateliers présentés. Bien que le niveau du lycée, un domaine qui fonctionne bien, mais qui est encore largement inexploré par la recherche, ait été sous-représenté à la conférence, deux contributions s’y intéressent. D’un autre côté, il n’est guère surprenant, si l’on suit l’histoire de la musique scolaire en Suisse, que le chant occupe une large place, que ce soit comme noyau du processus d’enseignement, comme terme pour désigner la discipline scolaire, comme constante anthropolo- gique, comme partie d’un enseignement interdisciplinaire, comme approche di- dactique de la musique pop ou dans la tradition des chorales scolaires. Olivier Blanchard a fait des recherches sur l’enseignement de la musique dans les écoles secondaires suisses alémaniques dans une perspective d’études culturelles et identifie deux pratiques d’enseignement opposées – «faire de la musique» et «ne pas faire de la musique». Il interprète ces catégories comme des ordres de connaissance différents, où «ne pas faire de la musique» est analogue à l’ensei- gnement d’autres matières et «faire de la musique» – qui, selon ses conclusions, signifie principalement le chant de classe – entre en conflit avec le cadre institu- tionnel de l’«école». Si cette approche bouleverse les idées traditionnelles sur les cours de musique à l’école, Christoph Marty examine la relation entre le nom de la discipline scolaire et le changement de son contenu. Depuis les années 1970, le terme «chant» a été progressivement remplacé par «musique». L’auteur examine dans quelle mesure le changement de désignation de la discipline scolaire inter- agit avec la compréhension de la matière en utilisant les instruments de l’analyse situationnelle d’Adele Clarke. Stefanie Stadler Elmer comprend le chant comme une action humaine élémentaire et universelle, qui prend une forme linguistico- musicale guidée par des règles dans la chanson pour enfants. Se fondant sur des considérations anthropologiques et structure-génétiques, elle réfléchit sur les processus de transmission et d’appropriation des chants, formule les prin- cipes créatifs de cette pratique culturelle complexe et souligne ensuite l’impor- tance centrale de la didactique pour enseigner des chansons à l’école maternelle et primaire. Pour Sabine Chatelain, un travail créatif à partir de chansons est le point de départ pour explorer les possibilités d’un enseignement (musical) inté- gré. Alors qu’elle associe la langue maternelle à la musique, sa collègue Gabriele Nopp eney utilise la tradition anglaise du bell ringing pour démontrer une com- binaison d’aspects mathématiques, musicaux, régionaux, culturels et linguis- 15 tiques. À la suite de leurs projets, les deux coauteures discutent de la pertinence de l’enseignement intégré de la musique pour l’apprentissage des langues et de la musique. Deux contributions traitent de manière très différente du chant au lycée. Dieter Ringli conçoit un environnement d’enseignement pour une classe de l’enseignement secondaire inférieur qui utilise sa propre voix pour permettre de vivre la musique pop comme une «musique conçue par soi-même», incor- porant avec désinvolture la théorie de la musique, par ailleurs mal aimée. Beat Hofstetter présente la tradition des chorales scolaires dans les lycées de la région du nord-est de la Suisse, qui, outre l’acquisition pratique de compétences musi- cales, permet égalem ent une compréhension plus approfondie des œuvres, et ex- plique comment les élèves sont initiés à cette pratique au cours de leur formation. Ce cœur du volume, avec des textes qui traitent du chant à l’école de diverses manières, est entouré de quatre contributions qui traitent des aspects institution- nels de l’éducation musicale. Les deux premières contributions se concentrent sur les développements en Suisse. Dans son article de synthèse détaillé, la trans- cription de sa conférence, Madeleine Zulauf retrace la mise en œuvre de la re- cherche sur l’éducation musicale en Suisse romande. Elle identifie les trois phases d’initiation, d’institutionnalisation et de normalisation, les chercheurs élargis- sant constamment leur rayon de création et donnant de nouvelles impulsions au sujet. À travers un prisme foucaldien, Jürg Huber jette un regard sur le dévelop- pement de la musique scolaire en Suisse alémanique au début du XXIe siècle. À l’aide d’un corpus d’articles de magazines et de journaux, il examine le discours des années 2000 et se demande pourquoi il y a des lacunes dans le contenu. Les deux dernières contributions offrent une perspective internationale. Jürg Zur- mühle discute d’une grande variété de concepts d’éducation musicale du monde germanophone et anglophone, et les positionne sur un métaniveau interculturel et stylistique. Il en déduit un modèle qui guidera la formation didactique de la musique des enseignants de la maternelle et du primaire à la Haute école pédago- gique de la Haute école spécialisée du Nord-Ouest de la Suisse. Enfin, Alexandra Kertz-Welzel, la deuxième conférencière invitée, examine la mondialisation des cultures scientifiques et pédagogiques, et plaide en faveur d’une internationalisa- tion sensible à la culture qui affirme ses propres positions face à une hégémonie anglo-américaine du discours. Les actes de cette conférence témoignent du fait que cela se passe maintenant en Suisse avec une certaine évidence et une certaine confiance en soi. Il est juste de dire que l’éducation musicale dans les écoles en Suisse fait face, avec courage, aux défis lancés par une société en mutation et la restructuration du système éducatif, trouvant des réponses indépendantes et respectueuses de la tradition aux ques- tions qui en découlent. 16 Références Baer, W. (1994). Vielfalt, Pragmatismus und Methodenfreiheit. Vom Umgang mit der Schulmusik in einem Vielvölkerstaat en miniature. Neue Musikzeitung, (5), 65–66. Grossenbacher, S., Oggenfuss, C. (2013). Kulturelle und künstlerische Bildung in der Volksschule der Schweiz. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 16, 65–82. Joliat, F. (dir.). (2011). La formation des enseignants en musique. État de la recherche et vision des formateurs. Paris: L’Harmattan. Kleinen, G. (2006). Komparative Studie zum Musikunterricht in der Schweiz. In N. Knolle (éd.), Lehr- und Lernforschung in der Musikpädagogik (pp. 299–324). Essen: Die Blaue Eule. Spychiger, M. (2013). Interview für Diskussion Musikpädagogik (Interviewer: Chris- topher Wallbaum). Diskussion Musikpädagogik, (60), 42–44. Weber, E. (1985). Schulversuche mit Musikklassen in der Schweiz. In P. Mraz (éd.), Möglichkeiten und Probleme des Musikunterrichts. Aufsätze, Interviews, Lehrer- umfrage (pp. 70–76). Zurich: Pan. 17 Le rôle de la recherche dans le développement de l’éducation musicale scolaire Le cas de la Suisse francophone Madeleine Zulauf Résumé La recherche en éducation musicale n’a débuté en Suisse romande que dans les an- nées 1980, mais elle a connu ensuite un développement rapide. L’auteur distingue trois phases dans celui-ci: la phase d’initiation (1987–1999), la phase d’institutionnalisation (1999–2008) et celle de standardisation (dès 2008). Ses réflexions portent sur l’évolu- tion du rôle qu’a joué la recherche par rapport à l’éducation musicale scolaire, consi- dérée en tant qu’action publique. Chaque phase est illustrée par une recherche emblé- matique. Il est montré que la recherche a contribué à une compréhension toujours plus large de l’éducation musicale scolaire, en étudiant d’abord les actions pédagogiques et leurs effets, puis les ressources et enfin les objectifs, mais aussi en investiguant progres- sivement les trois pôles du triangle pédagogique. Conjointement, la recherche a joué un rôle toujours plus engagé dans l’élaboration de l’éducation musicale scolaire, la posture des chercheurs passant de rétroactive à proactive. Le chapitre se conclut par quelques considérations à propos des perspectives d’avenir de cette recherche et du défi, toujours à relever, de cerner son objet spécifique et de se construire comme discipline à part en- tière au sein des sciences de l’éducation. Zusammenfassung Die Forschung im Bereich der Musikpädagogik begann in der Westschweiz erst in den 1980er-Jahren, entwickelte sich dann aber rasch. Die Autorin unterscheidet drei Ent- wicklungsphasen: die Initiationsphase (1987–1999), die Institutionalisierungsphase (1999–2008) und die Standardisierungsphase (ab 2008). Ihre Überlegungen konzentrie- ren sich auf die sich verändernde Rolle der Forschung in Bezug auf die schulische Mu- sikausbildung, die als öffentliches Geschäft verstanden wird. Jede Phase wird durch ein emblematisches Beispiel veranschaulicht. Die Autorin zeigt auf, wie die Forschung zu einem immer breiteren Verständnis der schulischen Musikerziehung beigetragen hat, zunächst durch die Untersuchung pädagogischer Handlungen und ihrer Auswirkun- gen, dann durch die Untersuchung der Ressourcen und schliesslich der Ziele, aber auch durch die schrittweise Untersuchung der drei Pole des pädagogischen Dreiecks. Paral- lel dazu hat die Forschung eine wachsende Rolle bei der Entwicklung der schulischen Musikerziehung übernommen: die Forschenden gelangten von einer reaktiven zu einer 19 proaktiven Haltung. Das Kapitel schliesst mit einigen Überlegungen zu den Zukunfts- perspektiven dieser Forschung und der noch zu bewältigenden Herausforderung, ihren spezifischen Zweck zu identifizieren und sich als eigenständige Disziplin innerhalb der Erziehungswissenschaften zu etablieren. Abstract In French-speaking Switzerland, research on music education only began in the 1980s, after which it developed rapidly, passing through three phases: the initiation phase (1987–1999), the institutionalisation phase (1999–2008), and the standardisation phase (from 2008 onwards). This chapter focuses on the evolving role of research in relation to school music education, which is seen as a form of public action. Each phase is il- lustrated by an emblematic example. This highlights how research has contributed to an ever-broader understanding of school music education, first by studying pedagogi- cal actions and their effects, then resources and finally objectives, as well as by gradu- ally investigating the three poles of the pedagogical triangle. Research has also played a growing role in the development of school music education, with the focus of research- ers changing from retroactive to proactive. The chapter concludes with some thoughts on the future prospects of this research and the challenge – still to be taken up – of iden- tifying its specific purpose and building itself as a discipline in its own right within the educational sciences. Mots-clés Éducation musicale, école obligatoire, action publique, recherche, historique, Suisse ro- mande, rôle dans l’évolution, politique éducative, méta-analyse Au fil de son histoire, l’éducation musicale scolaire a fait l’objet de multiples ré- flexions, écrits et témoignages. Des responsables politiques aux enseignants en passant par les concepteurs de plans d’études, de programmes ou de méthodes d’enseignement, nombreux sont les acteurs qui se sont exprimés sur différents aspects de cette discipline: son importance dans les programmes scolaires, le profil et les compétences nécessaires chez les enseignants, les méthodes à mettre en œuvre ou encore les acquis – musicaux, voire extramusicaux – visés chez les élèves… Mais, dans tout ce «discours sur» l’éducation musicale scolaire, quelle a été la place de la recherche? Quel rôle a-t-elle joué dans le développement des «cultures de l’enseignement musical à l’école»? La présente contribution a vocation d’apporter des éléments de réponse à ces questions en portant un regard rétrospectif sur la Suisse francophone, où la re- cherche en éducation musicale n’a pris son envol que dans les années 1980 mais où elle a connu ensuite un développement marqué. 20 La section 1 permettra de situer la recherche en éducation musicale en Suisse ro- mande dans un contexte international et de désigner les trois phases de sa courte histoire. La section 2 sera consacrée à l’exposé du modèle et des lignes directrices qui guideront nos réflexions à propos de l’évolution du rôle de la recherche en éducation musicale. Ces réflexions seront présentées dans les sections 3, 4 et 5 pour chacune des phases successivement. Enfin, la section 6 sera l’occasion de tirer un bilan et de s’interroger sur le rôle futur de la recherche en éducation mu- sicale scolaire. 1 Repères historiques 1.1 Options de base Avant de nous préoccuper de la recherche ayant pris comme objet l’éducation musicale dispensée spécifiquement en milieu scolaire, il convient de fournir quelques repères historiques sur la recherche en éducation musicale d’une ma- nière générale. D’emblée, une première question se pose. Sur quel critère se fonder pour définir le moment où ce type de recherche a commencé dans tel ou tel pays? Il y a, en effet, toujours des précurseurs et leurs travaux n’ont pas forcément été publiés ou alors l’ont été dans des journaux divers, faute de revues spécialisées à leur époque. L’on ne peut donc jamais être sûr d’avoir trouvé le premier travail de re- cherche dans le domaine. Dès lors, nous avons choisi de prendre comme date de début «officiel», celle de la fondation du premier organisme dont l’intitulé com- porte explicitement les termes «recherche» et «éducation musicale». D’autres repères historiques auxquels nous ferons également appel sont les dates de pre- mières conférences ou alors de publication des premiers journaux ou ouvrages collectifs dont les titres font, eux aussi, explicitement mention de recherche en éducation musicale. Les dates des premières méta-analyses seront également re- tenues comme balises temporelles significatives. Notre posture consiste donc à considérer comme relevant de la recherche en éducation musicale ce que des collègues ont, par le passé, eux-mêmes estimé comme telle. Dans ce contexte, il convient de s’arrêter un instant au cas délicat de la psychologie de la musique. Les premières études dans ce domaine sont gé- néralement plus anciennes que les dates de fondation d’organismes de recherche en éducation musicale. Dès lors, faut-il les écarter du champ de la recherche en éducation musicale, surtout étant donné que la dimension éducative stricto sensu en paraît absente puisque l’objet d’étude est le lien entre des individus et l’objet musique, hors médiation organisée par un enseignant, autrement dit 21 dans un contexte qui n’est pas celui du triangle pédagogique? Ou alors faut-il les considérer comme en faisant partie puisque, après tout, il s’agit de s’interro- ger sur la manière dont des individus s’approprient la musique et que, par ail- leurs, leurs résultats ont aussi vocation à améliorer l’éducation musicale? Dans les écrits consacrés à l’historique de la recherche en éducation musicale dans dif- férents pays (Mark, 1992; Welch, 2004a), ces travaux sont vus comme étant soit déjà de toutes premières recherches en éducation musicale soit des précurseurs de celle-ci. Nous en déduisons que, pour tous ces auteurs, le rôle de la psycho- logie de la musique est important dans la construction historique du domaine de la recherche en éducation musicale, une perspective à laquelle nous allons nous rallier. 1.2 Quelques repères à l’international Commençons par poser les jalons historiques concernant les États-Unis. Dans ce pays, «some music education research can trace its roots back to work in psycho- logy during the first half of the 20th century, including research by Carl Seashore, who studied the nature of music abilities» (Price, 2004, p. 322). Les Measures of Musical Talent de Seashore (1919a) ainsi que son ouvrage publié en parallèle (1919b), inaugureront tout un courant de recherches en psychologie différen- tielle de la musique et la création de nombreux tests, aux États-Unis mais aussi dans d’autres pays, et ce pendant des décennies. C’est aussi à la fin des années 1910 que le Music Supervisors’ National Conference (qui deviendra plus tard la puissante Music Educators National Conference ou MENC1 commença à pro- mouvoir activement la recherche en éducation musicale, en chapeautant une commission qui lui était spécialement consacrée. Cette commission prit en 1923 le nom explicite de National Research Council on Music Education, renommée Music Education Research Council (MERC) en 1932 (Mark, 1992). À son tour, le MERC mettra sur pied en 1960 la Society for Research in Music Education, dans le but de promouvoir ce qui a été le premier journal spécialisé du domaine, le Journal of Research in Music Education, dont la publication avait commencé en 1953 déjà (Mark, 1992).2 Quant au Council for Research in Music Education, il a été fondé en 1963 et, depuis cette même année, il publie régulièrement son Bul- letin, focalisé sur le développement de la qualité en matière de recherche en édu- cation musicale. 1 La MENC a pris encore un nouveau nom en 2011, devenant la National Association for Music Education (NAfME). 2 Voir également le site internet de la NAfME: https://nafme.org. 22 Signalons également que c’est en 1992 déjà qu’est publié le premier Handbook of Research on Music Teaching and Learning (Colwell, 1992),3 signe de la nécessité qu’il y avait alors de faire le point sur une recherche disposant déjà d’une longue tradition et ayant produit une masse imposante de littérature. Les États-Unis peuvent donc se voir attribuer le brevet d’ancienneté pour la re- cherche en éducation musicale, mais ils peuvent aussi être considérés comme les champions en matière de productivité. Dans sa méta-analyse publiée en 2004, Price avait déjà recensé quinze journaux spécialisés et ce nombre n’a certaine- ment pas diminué depuis lors! Regardons maintenant ce qu’il s’est passé dans quelques pays européens. La première date marquante en Grande-Bretagne est celle de 1966, année où a été organisée la première Reading Conference on Research in Music Education. C’est sur le terreau de ces rencontres que sera fondée officiellement, en 1972, la Society for Research in Psychology of Music and Music Education (SRPMME) qui deviendra plus tard la Society for Education, Music and Psychology Research (SEMPRE). En 1973 déjà, cette société va éditer le premier numéro du journal Psychology of Music, puis elle lancera le Research Studies in Music Education en 1993, un journal d’abord destiné à la zone Asie-Pacifique mais qui a ensuite ac- quis un statut international. Ces deux journaux sont toujours publiés à l’heure actuelle, de même que le Music Education Research, lui aussi édité en Angleterre et dont le premier numéro date de 1999. Une étape marquante en Grande-Bretagne a été la revue des travaux de recherche en éducation musicale réalisée en 20014 puis développée sous la forme d’une vé- ritable méta-analyse publiée en 2004 dans le journal Psychology of Music, sous le titre Mapping music education research in the UK (BERA Music Education Re- view Group, 2004), complétée de méta-analyses effectuées dans d’autres pays du globe. L’Allemagne peut se targuer d’avoir été pionnière dans le champ de la psycho- logie de la musique avec des travaux dans le domaine de la perception musicale datant déjà de la seconde moitié du XIXe siècle. Mais, nous dit Gruhn (2004), il faudra attendre la seconde moitié du XXe siècle pour que la recherche en édu- cation musicale prenne vraiment son essor dans le pays et c’est en 1972 – soit en parfaite contemporanéité avec la Grande-Bretagne – que sera fondé le Ar- beitskreis Musikpädagogische Forschung (AMPF), une société visant à promou- voir les échanges entre praticiens et académiciens à propos de la recherche en 3 Manuel auquel succédera le New Handbook of Research on Music Teaching and Learning dix ans plus tard (Colwell, Richardson, 2002). 4 Cette enquête a été menée dans le cadre d’une démarche lancée par la British Educational Research Association (BERA) qui souhaitait faire le bilan de l’ensemble des travaux de recherche en éducation sur le plan national. 23 éducation musicale; dès les années 1980, elle publiera le contenu de ses ren- contres annuelles dans le Musikpädagogische Forschung. Parallèlement démar- rait en 1970 la série intitulée Musikpädagogik – Forschung und Lehre, alors que la collection Musikpädagogische Forschungsberichte verra le jour en 1991 (Gruhn, 2004). Par ailleurs, Chatelain (2018) rappelle le démarrage, en 2002, du journal en ligne Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik qui se focalise sur les échanges critiques en matière de recherche. Enfin, «en 2004, l’AMPF a fait le point sur les recherches en Allemagne en posant des questions stratégiques sur la nécessité de la recherche en éducation musicale» (Chatelain, 2018, p. 32).5 Il est plus difficile de fixer une date repère pour le début de la recherche en édu- cation musicale en France où de nombreux travaux ont été réalisés, en ordre dis- persé, depuis la fin des années 1950. Ici aussi, le courant de psychologie de la musique était dominant, avec les premières études portant sur la perception de la musique (Francès, 1958; Imberty, 1969) et sur l’acculturation tonale (Zenatti, 1967, 1981) mais on peut également noter un intérêt pour la recherche histo- rique ou l’analyse des méthodes. À notre sens, il est toutefois un moment décisif dans la structuration de la recherche en éducation musicale en France: la publica- tion par Mialaret, en 1986, d’un document intitulé Repères bibliographiques: re- cherches en sciences de l’éducation musicale. On peut voir dans ce document une revue, voire une sorte de méta-analyse, des nombreux travaux déjà à disposition, que l’auteur nous présente sous forme de bibliographie raisonnée. Mais ce docu- ment peut aussi être considéré comme l’acte fondateur de la recherche en éduca- tion musicale en France dans la mesure où, pour la première fois semble-t-il, une ligne de démarcation va être établie entre ce qui peut être considéré comme de la recherche et ce qui n’en fait pas partie. C’est également Mialaret qui a lancé le Journal de recherche en éducation musi- cale, en 2002. Cette revue et le journal Recherche en éducation musicale, qui est publié au Québec,6 constituent, à notre connaissance, les deux seuls journaux francophones consacrés spécifiquement à la recherche en éducation musicale; leur parution est toutefois irrégulière. Pour terminer ce tour d’horizon, rappelons que la première commission créée au sein de l’International Society for Music Education (ISME) fut la Research Com- 5 Dans sa contribution, Chatelain «présente un panorama des travaux de recherche en didactique de la musique en Allemagne afin de dégager quelques tendances qui pourraient ensuite être comparées avec les développements des didactiques francophones» (2018, p. 31). Elle montre leur ancrage dans la tradition nationale de la didactique musicale puis se concentre sur les travaux effectués à partir des années 2000. 6 Ce journal existe depuis 1998. Il a fait suite aux publications plus limitées qu’étaient les Cahiers d’information sur la recherche en éducation musicale (Québec) créés en 1982, puis devenus Recherche en éducation musicale au Québec en 1989. 24 mission, en 1968, date que nous proposons de retenir comme jalon de départ de la recherche en éducation musicale sur le plan international. 1.3 Les phases de développement en Suisse romande En Suisse, le démarrage de la recherche en éducation musicale a été plus tar- dif que dans les pays que nous venons de passer en revue puisque c’est en 1983 qu’a été créée la Schweizerische Gesellschaft für musikpädagogische Forschung (Huber, 2016); celle-ci n’a pourtant pratiquement pas trouvé d’écho en Suisse romande (Jürg Huber, communication personnelle, 11 juin 2019). Par contre, on assistera, en 1987, à la fondation du Groupe des chercheurs romands en édu- cation musicale (GCR-musique), placé sous la houlette de l’Institut romand de recherches et de documentation pédagogiques (IRDP).7 Même si l’on pourra, grosso modo, assister au même processus de développement que dans les autres pays, celui-ci se fera de manière accélérée. Nous voyons à cela deux raisons ma- jeures. La première est le fait que les chercheurs romands pourront se référer aux travaux déjà effectués ailleurs et qu’ils ne tarderont pas à s’insérer dans des réseaux internationaux. La seconde raison tient au mouvement général de ter- tiarisation et de professionnalisation des domaines pédagogique et artistique en Suisse, avec l’instauration puis le développement «à marche forcée» des Hautes écoles pédagogiques (HEP) et des Hautes écoles de musique (HEM) au tournant du XXIe siècle. Nous proposons de distinguer trois phases dans ce processus de développement en Romandie, chacune couvrant environ une décennie (voir Tableau 1). Nous avons pris comme balises temporelles pour le début et la fin de chaque phase un événement factuel, synonyme à nos yeux de l’aboutissement d’une dynamique en même temps que de l’entrée dans une dynamique nouvelle. La phase I, celle d’initiation, commence donc avec la création du GCR-musique en 1987. Ce groupe visait à favoriser les échanges entre des penseurs en éduca- tion, des théoriciens, des praticiens et quelques chercheurs qui travaillaient alors de manière isolée; tous partageaient la volonté d’objectiver les savoirs et, donc, de promouvoir une attitude scientifique dans un domaine qui en manquait alors cruellement. Les chercheurs en activité à l’époque orientaient leurs travaux plu- tôt sur la psychologie de la musique, notamment sur le développement musical des enfants (Frey Streiff, 1992; Zulauf, 1997a; Zurcher, 1986) mais les réflexions dans le groupe étaient plus larges. Le GCR-musique a invité différents conféren- 7 Cet institut s’appelle actuellement l’Institut de recherche et de documentation pédagogique, avec un acronyme demeuré identique: IRDP. 25 Tableau 1: Les trois phases du développement de la recherche en éducation musicale en Suisse romande Phase Période temporelle Dynamique Phase I 1987–1999 Initiation Phase II 1999–2008 Institutionnalisation Phase III 2008–? Standardisation ciers suisses et étrangers; il a aussi organisé plusieurs journées d’études, ce qui a permis d’élargir le cercle et de promouvoir la recherche, notamment via quelques publications (Bertrand, Piguet, 2004; Perret, 1989; Wirthner, 1994). Petit à petit le groupe a pris de l’importance et il a pu mettre sur pied, en 1999, à Neuchâ- tel, les premières Journées francophones de recherche en éducation musicale (JFREM), en collaboration avec deux instituts français, un événement qui marque le passage à la deuxième phase. Cette deuxième phase est celle de l’institutionnalisation. La recherche en éduca- tion musicale va en effet se développer désormais essentiellement dans les HEP et les HEM. Lors de la première phase, la recherche en éducation musicale était le fait de quelques passionnés qui devaient souvent commencer par convaincre leur institution qu’une telle recherche était possible. Par contre, à partir de la phase II, elle quittera son caractère d’exception pour devenir progressivement une possi- bilité légitimement offerte aux enseignants des hautes écoles, même si, bien sûr, les résistances demeuraient grandes chez nombre de professeurs et de respon- sables institutionnels, encore tout empreints de la mentalité des écoles normales ou des conservatoires dont ils étaient issus. Durant cette phase, c’est tout un ré- seau de collègues travaillant dans différentes institutions, suisses et étrangères, qui va petit à petit s’instaurer. Le travail réalisé par l’Association suisse romande de recherche en éducation musicale (ASRREM), qui a pris le relais du GCR-mu- sique en 2005, y sera pour beaucoup. L’ASRREM a notamment et notablement contribué à la mise en place des JFREM qui auront lieu régulièrement durant cette deuxième phase et dont le cercle va s’élargir progressivement au Québec, à la Belgique et à quelques pays africains. Soulignons également que ces mani- festations ont débouché sur toute une série de publications (Coen, Zulauf, 2006; Comeau, Mathieu, Blondin, 2010; Kolp, Lammé, Regnard, Rens, 2008; Regnard, Cramer, 2003; Wirthner, Zulauf, 2002). Enfin, l’ASRREM a organisé pour la pre- mière fois en 2008, les Rencontres romandes de recherche en éducation musicale 26 (RRREM) dans lesquelles nous voyons l’indice du passage à la phase III, marquée par la standardisation de la recherche en éducation musicale. Ces RRREM, organisées chaque année depuis 2008, sont l’occasion pour les étu- diants qui ont réalisé de bons travaux de bachelor ou de master en pédagogie musicale de les présenter dans un cercle scientifique. En général, un chercheur senior y expose également ses travaux. On s’inscrit ici toujours dans l’idée de fa- voriser la propagation de la recherche en éducation musicale mais il s’y est ajouté l’idée de «bonnes pratiques». En effet, la recherche étant devenue une obligation pour les formateurs des HEP et HEM tout comme pour les étudiants, l’enjeu est désormais celui de la qualité. La phase III est aussi marquée par les premières démarches de méta-analyse: les chercheurs en éducation musicale s’interrogent sur leurs propres démarches et tentent de se projeter consciemment vers l’avenir. Ainsi, Coen fait le point sur les questions importantes en matière d’éducation musicale «en prenant comme ‹indicateur de température› le développement de la recherche dans ce domaine» (2011, p. 36). Par ailleurs, les JFREM organisées du- rant cette phase traitent volontiers de cette problématique. En 2009, à Québec, elles avaient pour thème L’éducation musicale au XXIe siècle: Quelle recherche? Quelle formation? alors que les JFREM qui se sont tenues à Lyon en 2014 s’inti- tulaient Pratiques actuelles de l’enseignement et de l’apprentissage de la musique: nouvelles voies pour la recherche en pédagogie de la musique?8 Enfin, il convient de mentionner que, durant cette dernière décennie, de nombreuses autres ren- contres scientifiques en éducation musicale ont été organisées par différentes ins- titutions de formation, souvent en collaboration avec l’ASRREM.9 2 Guide de réflexion Les réflexions que nous allons conduire quant au rôle de la recherche en éduca- tion musicale scolaire ne se fonderont pas sur une analyse systématique de l’en- semble des travaux du domaine, effectués en Suisse romande – nous serions bien en peine de conduire une démarche d’une telle ampleur – mais refléteront une approche plus subjective. Nous allons tenter de mettre en évidence ce qui, de notre point de vue, a caractérisé le rôle de la recherche en éducation musicale lors de chacune des trois phases que nous venons de distinguer. Pour ce faire, nous nous concentrerons, à chaque fois, sur une recherche présentant une certaine en- vergure et nous paraissant emblématique de la période en question. 8 Un autre thème récurrent des JFREM durant cette phase III est celui de la formation des enseignants. Nous y reviendrons dans la section 5. 9 Le site www.asrrem.ch représente une source importante d’information sur les manifestations organisées. 27 Si nous assumons une certaine subjectivité quant à l’élection des travaux que nous mettrons sous la loupe, nous allons en revanche appuyer notre réflexion sur un modèle et des lignes directrices explicites, qu’il convient de présenter maintenant. 2.1 Modèle de base Si l’on prend en considération uniquement les dimensions de contenus ou de méthodes d’enseignement et d’apprentissage, l’éducation musicale scolaire peut être appréhendée comme une variante de l’éducation musicale en général. Elle se distingue toutefois des autres formes d’éducation musicale, notamment de l’enseignement instrumental dispensé en écoles de musique ou par des profes- seurs en privé, sur un point fondamental: elle est destinée à tous les enfants qui suivent l’école obligatoire. Nous pouvons donc la considérer comme étant une «action publique», laquelle prend bien sûr place au sein d’une politique éduca- tive globale. Le modèle qui va guider nos réflexions présente l’action publique comme une suite d’éléments qui s’enchaînent logiquement, l’un après l’autre (voir Figure 1). Le premier élément de la chaîne correspond à l’identification d’un besoin de la société, qui se traduit ensuite en objectifs précis. Pour atteindre ces objectifs, on met à disposition des ressources qui permettront de procéder aux actions sur le terrain. Ces actions concrètes seront suivies d’un certain nombre d’effets, ré- sultant finalement en un impact sur la société. Ce type de représentation auto- rise également une lecture rétrograde visant à estimer l’efficacité de l’action pu- blique en question. Par exemple, les effets obtenus sont-ils proportionnels aux ressources investies ou encore l’impact sociétal est-il à la hauteur du besoin ori- ginellement identifié? Quant au triangle que nous avons représenté à l’intérieur des chaînons centraux, il s’agit bien sûr du fameux triangle pédagogique illustrant les liens entre ensei- gnant, élèves et savoirs. 2.2 Lignes directrices Deux lignes directrices guideront notre démarche, chacune visant à appréhen- der une facette du rôle qu’a joué la recherche par rapport à l’éducation musicale. – Nous réfléchirons tout d’abord aux éléments sur lesquels la recherche s’est concentrée: sur quels chaînons, ou liens entre chaînons, mais aussi sur quels pôles du triangle pédagogique, ou quels liens entre pôles? Autrement dit, nous 28 Figure 1: L’éducation musicale scolaire en tant qu’action publique Besoin Objectifs Ressources Actions Effets Impact S = savoirs; P = professeur ou enseignant; E = élève. Ce modèle est largement inspiré d’un schéma émanant de la République française (2015). souhaitons observer comment la recherche a objectivé cette action publique et contribué à sa compréhension. – Nous nous pencherons également sur la participation de la recherche à l’élabo- ration même de cette action publique. S’est-elle tenue à l’extérieur de la chaîne, en observatrice, ou est-elle intervenue dans les choix et, le cas échéant, à quels ni- veaux (celui des actions, des ressources, voire des objectifs)? Bref, a-t-elle eu une influence, a-t-elle assumé une responsabilité dans la détermination de ce qu’est l’éducation musicale scolaire? 3 L’évolution durant la Phase d’initiation Rappelons que, durant la première phase, qui a duré de 1987 à 1999, les cher- cheurs en éducation musicale se consacraient essentiellement à la psychologie de la musique, mais qu’ils tentaient aussi d’unir leurs forces à celles de praticiens et de théoriciens pour que l’éducation musicale devienne un thème plus «objectivé» de discussion et de réflexion, pouvant être appréhendé par une approche scienti- fique. Un événement viendra donner un coup d’accélérateur à ce processus: l’ex- périence intitulée Enseignement élargi de la musique (EEM). Organisée par un collectif de praticiens, le Groupe de travail intercantonal pour un enseignement élargi de la musique à l’école (GTIEME), elle s’est déroulée dans neuf cantons suisses à partir de 1988. Le principe était le suivant: pendant trois ans, les élèves de classes d’expérience recevaient cinq périodes hebdomadaires de musique, les périodes supplémentaires par rapport au cursus normal étant prises sur d’autres 29 Education musicale scolaire branches scolaires, comme la langue maternelle ou les mathématiques. Il était at- tendu qu’à l’issue des trois ans, ces élèves se montrent plus performants que les élèves de classes témoins ayant reçu un enseignement habituel, et ce dans toutes sortes de domaines, allant de l’intelligence au comportement social en passant par les performances scolaires, y compris dans les branches amputées d’une pé- riode. Par contre, l’acquisition des compétences musicales des élèves ne consti- tuait pas un sujet d’intérêt. Bref, on était alors dans un cas extrême d’apprentis- sage par la musique (Zulauf, Cslovjecsek, 2018). Le projet était pétri de bonnes intentions mais, sous un vernis d’expérimentation, il péchait par de nombreux défauts méthodologiques. Et les chercheurs qui se sont vu confier la tâche d’évaluer cette expérience fournie «clé en main» ont dû beaucoup s’employer pour répondre aux attentes du GTIEME tout en s’efforçant de respecter la rigueur d’une démarche scientifique. En Suisse romande,10 plus précisément dans le canton de Vaud, plusieurs colla- borateurs du Centre vaudois de recherches pédagogiques (CVRP) se sont attelés à la tâche. Nous allons maintenant revisiter cette aventure au moyen du modèle présenté ci-dessus pour réfléchir au rôle qu’a joué la recherche dans toute cette affaire.11 La motivation première du GTIEME était la volonté de combler un besoin so- ciétal: former des êtres plus équilibrés, plus créatifs, et pas seulement gavés de connaissances cognitives. Ils espéraient que l’expérience EEM serait un tel suc- cès que ce type d’enseignement se démultiplierait et aurait ainsi un impact so- ciétal. Pour cela, ils se sont concentrés sur la mise à disposition de ressources, sous la forme de programmes scolaires modifiés en faveur de la musique et d’en- seignants disposés à tenter l’aventure. Par contre, ils ne se sont guère intéressés à la formation de ces enseignants puisque seuls quelques séminaires ont été or- ganisés, essentiellement destinés à alimenter leur sac à dos d’activités musicales toutes faites mais surtout à les motiver par un élan collectif. Par ailleurs, on pou- vait déplorer «l’absence quasi totale de réflexions concernant l’enseignement lui- même […]. Il n’est précisé nulle part la nature de cet élargissement de la musique, ni en termes de contenus (matières ou domaines à aborder) ni en termes d’ana- lyse des mécanismes mentaux mis en jeu par les diverses activités musicales» ( Zulauf, 1990, p. 7). Le chaînon absent dans le projet du GTIEME était donc celui des actions. Il n’était pas prévu d’investiguer l’enseignement effectivement dis- pensé dans les classes d’expérience. Seuls devaient être évalués ses effets, dont les membres du GTIEME espéraient qu’ils seraient positifs et seraient alors mis en 10 L’expérience en Suisse alémanique a donné lieu à une autre évaluation (Weber, Spychiger, Patry, 1993). 11 Pour le détail des résultats dans le canton de Vaud, nous renvoyons le lecteur aux différentes publications sur le sujet (Bonnet, Zulauf, 1992; Zulauf, 1990, 1993–1994, 1997b). 30 relation avec le changement de ressources, c’est-à-dire l’accroissement des heures d’éducation musicale. Bien sûr, il apparaissait impossible aux chercheurs de faire l’impasse sur les ac- tions mêmes d’enseignement musical, sur le «traitement» reçu par les enfants, si l’on voulait être en mesure d’en interpréter les éventuels effets. Ils ont donc mené différentes enquêtes sur l’enseignement musical dispensé dans les classes d’expérience et dans les classes témoins, mais sans pouvoir pour autant établir de véritables liens de cause à effet entre cet enseignement et les performances ex- tramusicales des élèves à l’issue de l’expérience. En effet, les autorités scolaires interdisaient d’enquêter sur la manière dont étaient enseignées les branches dont la dotation horaire était réduite dans les classes d’expérience. Il était également exclu de prendre des informations sur l’enseignement de ces disciplines dans les classes témoins.12 Comment, dès lors, interpréter les performances éventuelle- ment différentes des élèves, par exemple en mathématiques, sans connaître l’en- seignement qui avait été octroyé aux uns et aux autres? Par contre, l’équipe de recherche a pu aller au-delà des demandes du GTIEME en s’intéressant à quelques effets de l’EEM sur le plan musical (comme, par exemple, l’évolution de l’intérêt pour la musique ou encore le fait de commencer l’appren- tissage d’un instrument), même si l’évaluation des compétences proprement mu- sicales des élèves était prohibée. En résumé donc, la volonté des initiateurs de l’EEM était de prouver l’efficacité d’un changement des ressources (accroissement de la dotation de la musique) par des effets sur les élèves (accroissement de leurs performances dans les domaines autres que la musique). Quant aux chercheurs, ils ont essayé de rendre les actions objectivables pour pouvoir interpréter, autant que faire se pouvait, certains effets observés. Leur message consistait donc à montrer qu’il fallait pouvoir remonter la chaîne depuis les effets mais sans sauter de chaînon! Il est clair que, au début, le rôle dévolu aux chercheurs était celui d’exécutants chargés de la mise en œuvre d’un projet conçu par d’autres personnes. Mais ils ont fait évoluer ce rôle d’une posture rétroactive vers une posture réactive, saisis- sant l’occasion qui se présentait pour élargir les objets d’étude. Bien leur en a pris puisque leurs démarches ont permis d’effectuer une première description de la 12 Cette interdiction était motivée non seulement par le fait que de telles investigations n’étaient pas prévues dans le projet du GTIEME mais vraisemblablement aussi par la crainte des autorités vaudoises d’attirer l’attention sur un aspect de l’expérience qui s’était avéré d’emblée particulièrement délicat, à savoir la réduction du temps d’enseignement de certaines branches scolaires dans les classes d’expérience. Quelques enseignants de ces branches s’étaient en effet montrés d’emblée perplexes face au défi que cela allait représenter pour eux: devraient- ils s’efforcer de transmettre les mêmes contenus qu’habituellement, même si le temps d’enseignement était raccourci, ou bien renoncer à certains des contenus, mais alors lesquels? Ils ne disposaient d’aucune recommandation en la matière. 31 réalité de l’éducation musicale dans les classes du canton de Vaud, donc à objec- tiver le triangle pédagogique au niveau des actions. Par ailleurs, comme indiqué ci-dessus, ils ont fourni des éléments intéressants sur certains effets musicaux qui avaient été observés par les élèves et leurs parents. Toutes ces informations ont permis aux autorités scolaires d’amender les conditions de réalisation d’un EEM pour les années suivantes. De la sorte, l’expérience d’EEM a pu faire progresser la cause de la recherche en éducation musicale scolaire. Même si, bien évidemment, les représentations de certaines personnes n’ont pas évolué, nombre d’enseignants et de responsables pédagogiques ont constaté qu’il était possible, également en matière d’éducation musicale, d’objectiver des faits pour mieux y réfléchir, ce qui représente bien l’enjeu primordial de toute démarche de recherche. En effet, comme nous le rap- pelle si joliment Van der Maren: «Le premier but de la recherche scientifique est la mise en doute, la critique, la con- testation du sens commun, du bon sens, des théories et des manières de penser prô- nées par la majorité ou par les autorités. Ces autorités peuvent être le groupe social auquel nous appartenons, un clergé, des politiciens, des chefs syndicaux, des phi- losophes, des professeurs, des gourous, des médecins, des savants, d’autres cher- cheurs, et toutes les personnes qui prétendent tenir une quelconque vérité et nous l’imposer.» (1995, pp. 5–6) 4 L’évolution durant la Phase d’institutionnalisation Comme nous l’avons vu ci-dessus (cf. section 1.3) la période allant de 1999 à 2008 a été marquée par le déploiement de la recherche en éducation musicale, qui prend petit à petit ses quartiers dans les différentes institutions de formation. Les chercheurs et les formateurs-chercheurs gagnent en autonomie quant au choix de leur méthodologie, voire de leurs objets d’étude. Nous allons illustrer le rôle de la recherche à cette époque en nous penchant sur le travail de Schumacher in- titulé L’enseignement de la musique dans les classes primaires de première année de Suisse romande (2002). Au début des années 2000, on se trouvait au commencement du processus de préparation d’un futur plan d’études cadre pour la scolarité obligatoire en Suisse romande (PECARO). Par ailleurs, les moyens d’enseignement de la musique utilisés alors dans la majorité des cantons romands (Bertholet, Petignat, 1982– 1988/1999) se faisaient vieillots et donnaient lieu à de nombreuses critiques. Si l’on se réfère à notre modèle, on pourrait donc dire que la préoccupation majeure des responsables éducatifs était alors centrée sur la modernisation du pôle savoirs dans le chaînon ressources. 32 La recherche de Schumacher (2002) va élargir et approfondir le champ de ré- flexion. Concrètement, il réalise une enquête par questionnaires auprès d’un vaste échantillon d’enseignants de 1re année primaire pour connaître leurs pra- tiques d’enseignement: utilisent-ils les moyens officiels d’enseignement et, si oui, quels aspects de ceux-ci? L’auteur cherchait donc à cerner ce qu’il en était au ni- veau des actions, même s’il ne les a saisies qu’au travers de pratiques déclarées. Mais il a également questionné les enseignants sur leurs opinions à propos de ces moyens d’enseignement: les trouvaient-ils adéquats ou non pour les élèves de cet âge et en quoi? Sa démarche a donc consisté à investiguer la relation entre les actions et les ressources mises à disposition. Mais, et c’est en cela essentielle- ment que son travail est scientifique et ne se résume pas à une simple enquête de terrain, il a en parallèle procédé à une analyse du discours officiel en matière d’éducation musicale scolaire en Suisse romande (les différents plans d’études ainsi que les moyens d’enseignement) en s’appuyant sur les résultats d’autres re- cherches tout comme sur des concepts théoriques venant des sciences de l’édu- cation, comme celui de transposition didactique. Ce faisant, il a pu livrer un pre- mier éclairage sur la relation entre les ressources et les objectifs déclarés. Si l’on résume l’apport de cette recherche en termes d’objectivation de l’action publique «éducation musicale scolaire» (voir la première ligne directrice énoncée sous 2.2), on peut donc constater qu’elle a permis d’éclaircir le positionnement des trois segments que sont les objectifs, les ressources et les actions, essentiellement en ce qui concerne le pôle des savoirs. Le temps n’était en effet pas encore venu de s’in- terroger sur l’articulation des segments entre eux au sujet d’un autre pôle, celui des enseignants. Cet éclairage se développera par la suite (voir section 5). Quant au rôle qu’a joué cette recherche dans l’élaboration même de l’éducation musicale scolaire (cf. la seconde ligne directrice, sous 2.2), nous dirions qu’il s’est avéré déjà plus prononcé que ce qu’il a pu être lors de la phase I. En effet, même si le chercheur se situe encore à l’extérieur de la chaîne, dans une position d’ob- servateur distancié, il estime que son travail d’élaboration et les résultats aux- quels il est parvenu devraient être pris en compte et influencer cette chaîne. Il ne veut plus être seulement réactif par rapport à une problématique mais y jouer un rôle plus actif, qui prend ici la forme – encore modeste – de suggestions et de conseils à l’intention des décideurs. 33 5 L’évolution durant la Phase de standardisation La Phase de standardisation, dont nous situons le début en 2008, a été marquée par la multiplication de recherches en éducation musicale scolaire, portant sur des objets divers et utilisant des approches variées. Un pôle du triangle péda- gogique va toutefois capter majoritairement l’attention, celui des enseignants. Ainsi, les JFREM organisées en 2010 à Genève s’intitulent La formation des en- seignant·e·s de musique: dynamiques de recherche, analyses de pratiques, alors que celles qui se déroulent à Tunis en 2015 ont pour thème Musicien-professeur de musique: quels métiers? quelles formations? quels enjeux? D’autres colloques sont aussi organisés sur cette même thématique, réunissant des chercheurs de dif- férents pays francophones et donnant lieu à des publications ciblées (Joliat, 2011; Joliat, Güsewell, Terrien, 2017). Certes, les enseignants n’avaient pas été totale- ment absents des recherches précédentes mais les chercheurs vont maintenant les prendre véritablement comme objets de recherche, en s’intéressant notamment à la variance qui peut exister au sein de cette population tout comme, auparavant, avait été investiguée la variance parmi les apprenants et celle qui peut se manifes- ter au niveau des savoirs. Pour illustrer le rôle qu’a pu jouer la recherche en éducation musicale sco- laire durant cette période, nous avons choisi la recherche de Joliat, Terrien et Güsewell, intitulée Les attentes de formation des futurs enseignants de musique (2017). Les données de cette recherche ont été récoltées de 2012 à 2014, via des entre- tiens d’étudiants engagés dans des formations à l’enseignement au sein de dif- férentes institutions en Suisse romande et en France. Les auteurs, eux-mêmes actifs dans les institutions en question, ont distingué trois groupes d’étudiants selon que leurs formations les préparaient à l’enseignement musical dans les pre- miers degrés primaires de la scolarité obligatoire, à l’enseignement musical dans les grands degrés primaires et au secondaire et, enfin, à l’enseignement instru- mental et vocal en écoles de musique. Et, par une analyse à la fois quantitative et qualitative des verbatim issus des entretiens, ils ont regardé à quelle·s catégo- rie·s leurs sujets pouvaient être rattachés. Les catégories en question avaient été préétablies sur la base d’une démarche théorique qui empruntait ses concepts es- sentiellement à la sociologie des professions et qui synthétisait divers travaux de collègues ayant déjà, de par le monde, établi des typologies des identités profes- sionnelles chez les enseignants de musique. Ces catégories étaient: l’enseignant artiste, l’enseignant expert, l’enseignant professionnel et l’enseignant éducateur. Les auteurs ont abordé deux thèmes durant leurs entretiens avec les étudiants. Ils les ont d’abord interrogés sur leurs représentations de l’enseignant de musique idéal: quel est-il? quels doivent être ses points de référence mais aussi ses com- 34 pétences? Ils les ont ensuite questionnés sur leurs attentes de formation: quels éléments leur cursus de formation devrait-il leur apporter afin que leur ensei- gnement auprès des élèves soit un succès? Rapporté à notre modèle, le premier thème trouve place clairement dans le chaînon des ressources (pôle enseignant, évidemment). On pourrait situer le deuxième thème simplement au même ni- veau, mais il comporte en fait une dimension supplémentaire. Les auteurs consi- dèrent en effet ces attentes de formation comme de véritables objectifs visés par les étudiants, venant ainsi mettre en lumière le pôle enseignant de ce chaînon-là alors que, précédemment, les objectifs se déclinaient avant tout en termes d’ap- prenants et de savoirs. Cela correspond à une nouvelle conception qui veut que, pour assurer son succès, l’éducation musicale doit prendre en compte les ensei- gnants à tous les niveaux: leurs propres objectifs, leurs compétences en tant que ressources, leurs conduites pédagogiques et didactiques au niveau des actions, les effets que cela va engendrer sur leurs personnes et, finalement, la contribution de tout cela en tant qu’impact sociétal.13 Venons-en maintenant à notre seconde ligne directrice (cf. section 2.2) pour dis- cuter du rôle de la recherche dans l’élaboration de l’action publique «éduca- tion musicale scolaire». Il semble évident que les trois auteurs de ce travail de recherche l’ont développé en lien avec les démarches de formation auxquelles ils participent dans leurs institutions respectives. Ils souhaitent que la recherche vienne apporter des éléments qui permettront d’améliorer la formation des étu- diants, futurs enseignants de musique. Ils vont même plus loin en direction de la proactivité. Ils comptent en effet que leur travail aura une influence directe sur les cursus de formation des enseignants et, partant, sur la qualité de l’enseigne- ment musical. Pour ce faire, ils adressent des conseils appuyés aux institutions de formation. Ils affirment ainsi que: «[…] les institutions tertiaires/universitaires de formation à l’enseignement musi- cal devront mieux prendre en compte le projet identitaire poursuivi par leurs étu- diants en fonction de leur choix d’activité professionnelle visée, si elles veulent que leurs programmes de formations aient une plus grande influence sur leur dé- veloppe ment professionnel pendant leur formation.» (Joliat, Terrien, Güsewell, 2017, pp. 108–109) 13 Ces derniers thèmes sont d’ailleurs d’actualité à propos des enseignants en général. Que l’on pense par exemple aux études sur leur satisfaction professionnelle et sur leur statut social. Cela nous amène également à envisager que, dorénavant, la formation des enseignants peut être considérée aussi comme une chaîne d’action publique en tant que telle, dans laquelle on va pouvoir distinguer les mêmes segments que sont le besoin, les objectifs, les ressources, les actions, les effets et l’impact. Reste à déterminer s’il faut voir cette chaîne comme adjacente – ou concomitante – à l’éducation musicale scolaire? 35 S’appuyant sur certains résultats de leur recherche, ils proposent d’ailleurs que plusieurs filières réajustent leurs curricula ou, pour le moins, thématisent la question des attentes de formation lors des entretiens d’admission. Enfin, ils an- noncent qu’ils vont consacrer une prochaine recherche à l’analyse comparée des programmes de formation pour essayer de déterminer si les institutions «[pos- sèdent] le potentiel pour répondre de manière efficiente aux attentes de pro- fessionnalité de leurs étudiants, voire, de les devancer» (p. 109), un projet qui constitue un pas de plus en direction d’une proactivité assumée de la recherche. Comme indiqué précédemment, cette étude sur les futurs enseignants de mu- sique a réuni des chercheurs à l’international, un signe que la recherche en édu- cation musicale en Suisse francophone ne se déroule désormais plus en vase clos. Par ailleurs, le fait qu’elle portait sur l’éducation musicale à la fois scolaire et spé- cialisée est le signe d’un autre décloisonnement, sur lequel nous aurons l’occa- sion de revenir (cf. section 6). 6 Bilan et perspectives d’évolution Comme il a pu être mis en évidence, la recherche en éducation musicale a connu une évolution importante depuis ses débuts en Suisse francophone, il y a un peu plus de trente ans. Chacune des trois phases de son histoire a été caractérisée par une dynamique particulière: il s’agissait d’abord tout simplement d’initier cette recherche, puis de l’institutionnaliser et enfin de la standardiser. Nous avons l’in- tuition que l’on se trouve actuellement à l’aube d’une nouvelle phase, mais il ne sera possible d’en juger que lorsque le recul historique sera suffisant… Pour l’heure, faisons le bilan de cette évolution en ce qui concerne le rôle qu’a joué la recherche quant à l’action publique «éducation musicale scolaire». Ce sera aussi l’occasion de nous interroger sur les perspectives d’avenir. Il est évident que le champ de cette recherche s’est petit à petit élargi. À ses dé- buts, elle se préoccupait surtout de l’efficacité des actions enseignantes en termes d’effets sur les apprenants, puis elle s’est intéressée aux ressources et, enfin, aux objectifs. Nous pourrions d’ailleurs compléter cela en soulignant l’intérêt actuel pour la réflexion concernant le besoin sociétal que l’éducation musicale doit sa- tisfaire, même si la recherche ne s’est pas encore vraiment emparée de ce thème. Les chercheurs ont ainsi tenté d’établir des liens entre les différents chaînons, en «remontant» de l’un à l’autre, dans un mouvement vers l’amont de la chaîne. Et tout cela, en s’intéressant petit à petit aux trois pôles du triangle pédagogique. Cela ne veut bien sûr pas dire que tous les objets et tous les liens possibles ont été investigués de toutes les manières qui soient, mais seulement que la recherche a contribué à élargir la compréhension de ce qu’est l’éducation musicale à l’école. 36 Par ailleurs, il reste toujours à concevoir l’éducation musicale scolaire comme un objet de recherche en tant que tel, un défi que Mili et Rickenmann (2018) pro- posent de relever au moyen d’«[une] approche systémique, qui implique que l’étude d’un des éléments du système didactique doit prendre en compte les fac- teurs explicatifs et les effets sur les deux autres éléments» (p. 9). Si nous inter- prétons correctement leurs propos, il s’agit de voir non seulement l’interaction entre les pôles du triangle au niveau des actions, mais aussi les conséquences de cette interaction, au niveau suivant, à la fois sur chaque pôle et, de nouveau, sur leur interaction, etc. Selon ces auteurs, une telle approche systémique sera pos- sible grâce aux outils de la didactique et à son entrée «par les savoirs». Ils esti- ment en effet que celle-ci doit permettre d’éclairer chacun des pôles ainsi que leur interaction, et ce de manière circonstanciée pour chaque champ disciplinaire, no- tamment dans le domaine des enseignements artistiques. L’avenir nous dira dans quelle mesure cette approche permettra à la recherche en éducation musicale de délimiter – enfin – la spécificité de son objet. À notre avis, le but sera atteint lorsque cette recherche aura élaboré non seulement des concepts propres mais aussi des méthodologies ad hoc. Donc lorsqu’elle ne fera plus seulement qu’em- prunter concepts et méthodes aux autres disciplines que sont la psychologie, la sociologie, les sciences de l’éducation (dans tout leur polymorphisme) ou la di- dactique des autres disciplines, mais qu’elle sera elle-même capable de venir ali- menter, en retour, ces disciplines de référence au moyen de concepts et méthodes qu’elle aura développés en propre.14 Les réflexions que nous avons présentées dans les sections 3, 4 et 5 ont porté sur une autre facette du rôle de la recherche en éducation musicale scolaire, à savoir sa participation à l’élaboration même de cette action publique. De ce point de vue là, l’évolution a consisté à passer de la rétroaction à la proaction. D’observa- teurs externes, les chercheurs sont devenus conseillers, puis se sont toujours plus positionnés comme partenaires pour la configuration de cette éducation. Il faut dire que la conception de la recherche a évolué, notamment dans les hautes écoles, sous le mot d’ordre «Recherche & Développement». Autrement dit, les chercheurs se doivent maintenant de codéterminer la chaîne, vers l’aval: propo- ser des objectifs et expliciter les ressources que cela impliquera, ou alors traduire des ressources possibles en actions à mettre en œuvre, etc. Mais ils se doivent aussi d’évaluer les projets qu’ils sont amenés à proposer. Dès lors, les formateurs- 14 En 1986, Mialaret proposait de parler de «sciences de l’éducation musicale» qui se déclinaient, entre autres, en histoire de l’éducation musicale, sociologie de l’éducation musicale, éducation musicale comparée, physiologie de l’éducation musicale, psychologie de l’éducation musicale et… didactique de la musique. Cela manifestait une volonté d’autonomisation par rapport aux disciplines-mères, mais ne pourrions-nous rêver de passer au singulier et de parler donc de «science de l’éducation musicale»? 37 chercheurs sont appelés à enrichir l’éducation par les connaissances issues de la recherche et vice versa.15 À notre avis, l’important dans cette nouvelle posture de la recherche va être de ne pas perdre de vue ce qui a été patiemment acquis dans le domaine de l’éducation musicale: la contrainte de l’objectivation. Toutes nos réflexions ont été fondées sur la considération que l’éducation musi- cale scolaire est une action publique en soi, au sein des diverses actions publiques qui constituent, ensemble, une politique éducative. Au terme de la démarche, force nous est de constater que les contours de cette action publique sont actuel- lement redistribués. D’une part, il est de plus en plus question d’une «éducation artistique». Ainsi, le nouveau Plan d’études romand (PER) parle d’un domaine global intitulé «Arts». Faudra-t-il donc désormais raisonner plutôt en fonction d’une chaîne unique englobant toute l’action publique «éducation artistique»? D’autre part, il se développe toujours plus de nouveaux modèles de collabora- tion entre les enseignants de l’école publique et des acteurs externes, comme des musiciens interprètes ou, dans le cadre des orchestres à l’école et autres mou- vements similaires, avec des professeurs d’instrument venant des écoles de mu- sique. Il faut ici aussi faire référence à toute la mouvance de la médiation cultu- relle qui vient également redéfinir la constellation de l’éducation artistique. Faudra-t-il remplacer le triangle pédagogique par un tétraèdre pour illustrer ce qui pourrait être un nouveau paradigme (Zulauf, 2006)? Comme le dit Welch: «Perhaps it is important for teachers and […] researchers to remind themselves that curriculum and pedagogy are contested concepts. So also is research […]. Despite the comments of politicians, there are no absolutes in educational practice, neither are there in research.» (2004b, pp. 270–271) Bibliographie BERA Music Education Review Group. (2004). Mapping music education research in the UK. Psychology of Music, 32 (3), 239–290. Récupéré de https://journals.sage- pub.com/home/pom Bertholet, A., Petignat, J.-L. (éd.). (1999). À vous la musique. Méthodologie de la 1e à la 6e année scolaire primaire; programme romand. Neuchâtel: Office du matériel scolaire. (1re éd.: 1982–1988) Bertrand, D., Piguet, J.-C. (avec Marbehant, B., Meyer, E., Wirthner, M., Zulauf, M., Zurcher, P.). (2004). L’élève musicien. Quels moyens pour quels acquis? Neuchâ- 15 Pour une discussion sur cette nouvelle façon de concevoir la recherche en éducation, voir l’article que Loiselle, Harvey (2007) ont consacré à ce qu’ils considèrent comme un nouveau type de recherche, qu’ils désignent par le terme de «recherche développement». 38 tel: Institut de recherche et de documentation pédagogique. Récupéré de www. irdp.ch/institut/eleve-musicien-296.html Bonnet, C., Zulauf, M. (1992). Entre notes. Trois ans d’expérience d’enseignement élargi de la musique dans le Canton de Vaud. Lausanne: Centre vaudois de re- cherches pédagogiques. Chatelain, S. (2018). La recherche en didactique de la musique en Allemagne. Points de repères et perspectives. Formation et pratiques d’enseignement en questions, 23 [Numéro thématique: Didactiques des arts. Acquis et développement], 31–43. Ré- cupéré de http://revuedeshep.ch Coen, P.-F. (2011). Quelques questions vives autour de l’éducation musicale. Éduca- teur, 7, 36–38. Coen, P.-F., Zulauf, M. (éd.). (2006). 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Standen in den 1970er-Jahren Fragen zu den Inhalten des Musikunterrichts im Vordergrund, rückte mit den Schulversuchen mit erweitertem Musikunterricht in den 1980er-Jahren vermehrt die Legitimation des Musikunterrichts ins Zentrum. Mit der sich Mitte der 1990er-Jahren abzeichnenden Tertiarisierung der Lehrerbildung wurden Fragen des Berufsbildes virulent. Wie reagiert die musikpädagogische Fachgemeinschaft nun auf institutionelle und gesellschaftliche Entwicklungen des frühen 21. Jahrhunderts, wer greift selbst in die Diskussion ein und auf welche Weise geschieht dies? Ein an Fou- cault geschärfter Blick auf ein Korpus von Beiträgen in (musik)pädagogischen Fachzeit- schriften und einer überregionalen Tageszeitung ermöglichte die Analyse des entspre- chenden Diskursgeschehens im frühen 21. Jahrhundert, wobei neben den zur Sprache gebrachten Inhalten und den Sprecherpositionen die diskursiven Leerstellen beson- ders interessierten. Es zeigte sich, dass zwar bestehende Diskurse weitergeführt wur- den, sich jedoch eine argumentative Verfestigung abzeichnete. Zudem schienen aktu- elle Herausforderungen im öffentlichen Diskurs nur partiell auf. Erklärungsansätze für diese Befunde werden, mit besonderem Blick auf die musikpädagogische Tradition der Deutschschweiz, diskutiert. Résumé Dans le projet de recherche «Discours de musique à l’école en Suisse alémanique de 1970 à 2010», les formations de discours à propos du contenu de l’enseignement musical à l’école, de sa légitimation et de la compréhension professionnelle des enseignants ont été étudiées. Ces phénomènes ont fait l’objet d’une attention différente au fil du temps. Alors que l’accent était mis sur les questions relatives au contenu des cours de musique dans les années 1970, la légitimation de ces cours est devenue de plus en plus importante dans les années 1980 avec les expériences de l’enseignement élargi de la musique. Avec la tertiarisation de la formation des enseignants au milieu des années 1990, les questions 43 relatives à la profession sont devenues virulentes. Comment la communauté de l’édu- cation musicale réagit-elle aux développements institutionnels et sociaux du début du XXIe siècle, qui intervient dans la discussion et comment cela se passe-t-il? L’examen d’un corpus d’articles de revues pédagogiques (musicales) et d’un quotidien national, en référence aux travaux de Foucault, a permis d’analyser le discours correspondant au début du XXIe siècle, où, outre les contenus et les positions des intervenants évoqués, les lacunes discursives étaient particulièrement intéressantes. Il a pu être montré que, bien que les discours existants aient été maintenus, une consolidation argumentative est apparue. De plus, les défis actuels du discours public ne semblent être que partiels. Les approches explicatives de ces résultats seront discutées, avec un accent particulier sur la tradition de pédagogie musicale en Suisse alémanique. Abstract The research project “School Music Discourses in German-speaking Switzerland from 1970 to 2010” investigated discourse formations on the subject content of music in- struction in schools, its legitimisation, and the professional understanding of teachers. These issues have received different levels of attention over time. In the 1970s, the focus was on questions concerning the content of music lessons. In the 1980s the legitima- tion of music lessons became increasingly important, as evidenced by school experi- ments with extended music lessons. With the emergence of tertiary level teacher train- ing in the mid-1990s, questions within the profession became widespread. This chapter considers the discourse of the early 21st century in comparison to that of the previous decades. With a Foucault-influenced look at a corpus of contributions in (music) ped- agogical journals and a national daily newspaper, the author tackles questions such as: How did the music education community react to institutional and social developments of the early 21st century? Who intervenes in the discussion and how does this happen? In addition to the diverse contents and the speaker positions, the discursive gaps were of particular interest. This analysis revealed that the existing discourses continued, but the argumentation became standardised. Moreover, current challenges in the public dis- course appeared to be only partial. Explanatory approaches to these findings will be discussed, with a special focus on the music-educational tradition of German-speaking Switzerland. Schlüsselwörter Musikpädagogik, Deutschschweiz, Diskursanalyse, Fachgeschichte Der Musikpädagogik in der Deutschschweiz fehlt, trotz punktueller Ansätze zu einer Akademisierung des Faches im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, eine wissenschaftliche Tradition. Einige wenige Dissertationen (Dietschy, 1983; 44 Kälin, 1976; Mráz, 1984; Spychiger, 1995) sowie die Gründung einer Schweizeri- schen Gesellschaft für musikpädagogische Forschung (vgl. Mraz, 1985) konnten keine entsprechende wissenschaftlich gestützte Fachkultur etablieren (Huber, Zurmühle, 2015).1 So konstatiert Maria Spychiger vor einigen Jahren in einem Interview mit Christopher Wallbaum, dass die Musikpädagogik in der Schweiz, ausgeprägter als in Deutschland, eine «angewandte Disziplin» sei (Spychiger, 2013, S. 43). Neuerdings scheint sich eine Akademisierung anzubahnen, worauf etliche laufende Promotionen und einige bereits abgeschlossene Dissertationen auf instrumentalpädagogischem (Barandun, 2018; Keller, 2015) und schulmusi- kalischem (Blanchard, 2019; Lorenzetti, 2018) Gebiet hindeuten. Doch jede Praxis, mag sie auch einer wissenschaftlichen Theorie entraten, grün- det zumindest implizit auf konzeptuellen Vorstellungen. Diese für die schu- lische Musikpädagogik in der Deutschschweiz – mit besonderem Blick auf die Gymnasialstufe – zu explizieren, war Ziel des vom Schweizerischen National- fonds (SNF) geförderten Projekts «Schulmusikalische Diskurse in der Deutsch- schweiz von 1970 bis 2010» (SNF-Projektnummer 166402). Die an Foucault (2013 [1969]) orientierte Diskursanalyse untersucht, wie sich Praktiker – und erst gegen Ende der Untersuchungsperiode auch einige wenige Frauen – in die- sem Zeitraum über Sinn, Zweck, Inhalt und Didaktik des Musikunterrichts in einschlägigen (musik)pädagogischen Zeitschriften und Sammelbänden geäussert haben. Dass sich die Diskurse zum schulischen Musikunterricht hauptsächlich entlang der Stränge2 Fach(inhalte), Profession(alisierung) und Legitimierung anordnen lassen, hat eine erste explorative Sichtung des Materials ergeben (Blanchard, Huber, 2014, S. 1). Dieses Gerüst hat sich als Heuristik für den weiteren Ver- lauf des Projekts «Schulmusikalische Diskurse» bewährt. In groben Zügen las- sen sich zu Beginn der Untersuchungsperiode in den 1970er-Jahren inhaltlich die beiden Positionen «Singen als Kern des Faches» und «kritische Hörerziehung» ausmachen, was sich auch in der Fachbezeichnung niederschlägt (vgl. den Bei- trag von Christoph Marty in diesem Band). Der Trend zu einem umfassende- ren Fachverständnis stellt entsprechende Anforderungen an Professionelle, die in den Texten mit unterschiedlicher Gewichtung zwischen den Polen «Künst- lertum» und «Pädagogik» oszillieren (vgl. Huber, 2016). Externe Begründung 1 Wissenschaftsaffiner verlief die Entwicklung in der französischsprachigen Schweiz, wie Madeleine Zulauf in ihrem Beitrag zu diesem Band aufzeigt. 2 Den Begriff «Diskursstrang» hat Siegfried Jäger in Ergänzung zu Foucault in die Diskurstheorie eingeführt: «Ein Diskursstrang besteht aus Diskursfragmenten gleichen Themas. Er hat eine synchrone und eine diachrone Dimension» (Jäger, 2012, S. 80). Sie stellen «die vernetzten Bestandteile von Diskursen dar, die bei Foucault die vier Formationen waren» (Diaz-Bone, 2017, S. 135). Zu den Diskursformationen siehe weiter unten. 45 durch Transfereffekte und musikimmanente Begründung bestimmen den Legiti- mationsdiskurs, der, befördert durch die Schulversuche mit erweitertem Musik- unterricht (vgl. Weber, Spychiger, Patry, 1993), besonders in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts virulent war (vgl. Huber, 2017). Forschungsinteresse und Fragestellung Im Fokus des vorliegenden Textes steht die letzte, von auffallender (bildungs)po- litischer Dynamik geprägte Dekade des Projekts: Der Umbau des Bildungssys- tems auf allen Ebenen – von der Harmonisierung der Volksschule (HarmoS) bis zu Bologna-kompatiblen Studiengängen für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung – geht einher mit einer intensiven Integrationsdebatte, die seit den 1960er-Jahren in wechselndem Masse das politische Leben mitbestimmt. Diese Debatte lässt sich in der Schweiz anhand von Referendums- und Initiativabstimmungen im betref- fenden Zeitraum festmachen (Bundeskanzlei, 2019). Eine Durchsicht der entspre- chenden Ergebnisse zeigt, dass neben verschiedenen finanzpolitischen Vorlagen sich der politische Diskurs der Nullerjahre im weiteren Sinne um Inklusion und Exklusion drehte: Die Frage «Wo gehören wir (als Land) dazu?» ist die eine Di- mension dieser Thematik, die sich in verschiedenen Abstimmungen zum Verhält- nis zur Europäischen Union und im Beitritt zur UNO äussert. Die andere – «Wer gehört bei uns dazu?» – zeigt sich in der Migrationsdebatte (mit der überraschen- den Annahme der Minarettinitiative), aber auch in der Verschärfung des Straf- rechts (lebenslange Verwahrung für Pädophile, automatische Ausweisung von aufgrund bestimmter Delikte verurteilten Personen ohne Schweizer Bürgerrecht). Andererseits wurde mit der Annahme des Partnerschaftsgesetzes die Integration von gleichgeschlechtlichen Paaren in die Gesellschaft und damit die Normali- sierung einer noch vor wenigen Jahrzehnten geächteten Lebensform vorange- trieben. Dieses disparate Bild akzentuiert sich gemäss dem Politologen Claude Longchamps in einer Vertrauenskrise der staatlichen Institutionen während der Nullerjahre (Longchamps in Plozza, 2019). Damals relevante Themen im Bildungsbereich widerspiegeln sich in den inhalt- lichen Schwerpunkten der Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung sowie in den Titelschlagzeilen von Bildung Schweiz und Gymnasium Helveticum. Deren Analyse zeigt einen Themenkomplex um Harmonisierung und Standar- disierung, in den auch die Modularisierung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung im Zuge der Bolognareform sowie die Gründung und die ersten Erfahrungen mit pädagogischen Hochschulen eingebunden sind. Die hier angelegten Indi- vidualisierungsmöglichkeiten werden in «neuen Lernformen» und der Begab- tenförderung explizit herausgehoben. Spezifisch die Gymnasialstufe betreffen 46 die Auswirkungen einer Ausbildungsreform, die mit dem Maturitätsanerken- nungsreglement (MAR) von 1995 die Einführung von Schwerpunkfächern und einer Maturaarbeit vorsah, und die in der zweiten Hälfte der Nullerjahre eva- luiert wurden. Ein Korpus an Texten zur schulischen Musikpädagogik, das im folgenden Ab- schnitt beschrieben wird, soll also auf den Bezug zu den drei oben skizzierten Aspekten – heuristische Diskursstränge, gesellschaftspolitischer sowie bildungs- politischer Kontext – analysiert werden. Für die Analyse leitend ist die «prä- gnante Leerstelle», die Achim Brosziewski und Alex Knoll für den Schweizer Schuldiskurs in den Jahren 2006 bis 2010 ausgemacht haben und die sich «in einem hörbaren Schweigen» der Pädagogik ausdrücke. Statt dass es die Refle- xion mit «autoritative[n] Einlassungen in Schulfragen» befördere, zeige sich «‹[d]as Pädagogische› […] nur in fragmentarischen, in okkasionellen, in verteil- ten und in randständigen Formaten» (Brosziewski, Knoll, 2018, S. 10). Kann also für den untersuchten Zeitraum, nun bezogen auf den musikpädagogischen Be- reich, mehr oder weniger von einer «Dekade diskursiver Stille» (Mecheril, 2004, S. 83)3 gesprochen werden? Gilt das Fragmentierte, Okkasionelle des Diskurses auch für die Musikpädagogik? Um sich einer Antwort anzunähern, ist das Kor- pus zunächst danach zu befragen, ob und wie die bisherigen Diskurse zum Fach und seinen Inhalten, zur Profession(alisierung) sowie zur Legitimierung weiter- geführt werden. Reagieren diese auf oder Interagieren diese, zweitens, mit gesell- schaftlich relevanten Fragen, die sich, drittens, in pädagogischen und bildungs- politischen Trends und Strömungen niederschlagen? Forschungsperspektive und Korpus Die Diskursanalyse foucaultscher Prägung versteht sich nicht als abgrenzbare Methode, sondern vielmehr als «Forschungsperspektive» (Keller, 2011, S. 9). Sie «[stellt] sich indifferent […] gegen den propositionalen Gehalt der untersuchten Texte. Sie klammert die Geltungsansprüche der Textaussagen aus und fragt statt dessen nach der Performanz der Texte, nach ihren Erzeugungseffekten» (Bro- sziewski, Knoll, 2018, S. 28). Die Stringenz oder Inkonsistenz einer Argumen- tation ist aus dieser Perspektive nicht relevant. Im Fokus steht vielmehr ihre Po- sition im Beziehungsnetz, wo und wann eine bestimmte Äusserung auftaucht. Zentral in Foucaults Diskursanalyse, wie er sie in Archäologie des Wissens (2013 [1969]) entfaltet, ist das Beschreiben von «Aussagen im Feld des Diskurses und [der] Beziehungen, denen sie unterliegen» (S. 48). Foucaults eigene Terminologie 3 Mecheril hat sich dabei auf die Migrationspädagogik der 1960er-Jahre bezogen. 47 ist dabei nicht immer konsistent, wie er selbst einräumt (ebd.). Dennoch lassen sich diskursive Ereignisse oder Äusserungen als kleinste Einheiten ausmachen, die zu Aussagen verdichtet diskursive Formationen bilden. Die «Formation der Gegenstände» (S. 61–74), die sich entlang der beschriebenen Diskursstränge an- ordnen und auf die «Formation der Begriffe» (S. 83–93) beziehen lässt, wird ergänzt durch die «Formation der Äusserungsmodalitäten» (S. 75–82) mit den zentralen Fragen: «Wer spricht?» (S. 75) und von wo aus dies getan wird (S. 82), also die «Formation der subjektiven Positionen» (S. 169), wobei sich die Analyse «auf den Status, den institutionellen Platz, die Situation und Einreihungsweisen des diskurrierenden Subjekts erstreckt» (S. 95). Schliesslich interessiert die «For- mation der Strategien» (S. 94–103) mit den thematischen Entscheidungen, was in den Diskurs aufgenommen wird oder nicht. Die oben exponierte Fragestellung wird demnach um drei Aspekte erweitert: – Wer spricht von welcher Position aus? – In welchen Arenen werden diese Diskurse geführt? – Was wird nicht in den Diskurs aufgenommen, welche Leerstellen zeigen sich? Dazu wähle ich ein exemplarisches Vorgehen, das generelle Beobachtungen durch Detailanalysen an einem Korpus von 349 Texten aus der Schweizer Musik- zeitung (SMZ), Bildung Schweiz (BS), Gymnasium Helveticum (GH), Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung (BzL) sowie der im Quartalsrhythmus erscheinenden Beilage «Bildung und Erziehung» der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vertieft, ergänzt und allenfalls widerlegt. Eine kurze Charakterisierung zeigt Anliegen, Relevanz und Reichweite der einzelnen Publikationen sowie ihren möglichen Bezug zur schulischen Musikpädagogik auf. Die Schweizer Musikzeitung (SMZ) ist ein Forumsblatt und offizielles Publika- tionsorgan verschiedener Vereinigungen, die sich unter dem Dach des Schwei- zer Musikrates zusammengeschlossen haben. Der 2005 aus der Schweizerischen Konferenz für Schulmusik entstandene Verband Schweizer Schulmusik (VSSM), wiewohl Mitglied des Musikrates, unterhält keine eigene Verbandsseite in der SMZ, die in der Regel monatlich erscheint. Die Monatszeitschrift Bildung Schweiz ist das Verbandsorgan des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), bei dem der VSSM ebenfalls Mitglied ist. Obwohl sich diese Zeitschrift in ihrem Selbstverständnis auch an «Behörden, Politiker, Schulpflegemitglieder [und] Eltern» wendet, bleiben der hauptsäch- liche Adressatenkreis die Mitglieder des Verbandes, denen «Bildungspolitik», «Verbandsinformation», «Pädagogisches», «Didaktisches» und «Attraktive An- gebote» nähergebracht werden sollen, wie eine Infografik der Erstausgabe fest- hält (BS, 2000/1, S. 5). Gymnasium Helveticum ist ebenfalls ein Vereinsorgan (Verein Schweizeri- scher Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer [VSG], unter dessen Dach die 48 Tab. 1: Verwendetes Korpus mit Adressierung Publikationsorgan Teilöffentlichkeit Anzahl Artikel Schweizer Musikzeitung (SMZ) Musikalische Profes- 129 sionelle und Laien Bildung Schweiz (BS) Professionelle der 86 Volksschulbildung Gymnasium Helveticum (GH) Professionelle der 28 Gymnasialbildung Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrer- Professionelle der 15 bildung (BzL) Lehrerinnen- und Lehrerbildung Neue Zürcher Zeitung (NZZ): Beilage Bildungsinteressierte, 91 «Bildung und Erziehung» Professionelle Musiklehrer/-innen einen eigenen Fachverband [VSG Musik] bilden), das sich als «Zeitschrift für die Schweizer Mittelschule» bezeichnet; es publiziert laut Webseite «Artikel aus der Bildungspolitik, informiert über Themen, welche für die Sekundarstufe II relevant sind, und gibt Auskunft über die Verbandspolitik» (Gymnasium Helveticum, 2020). Die Zeitschrift Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung hingegen hat eine explizit akademische Ausrichtung, indem sie sich als «Forum für den Fachdis- kurs über aktuelle und künftige Entwicklungen der Lehrerinnen- und Lehrer- bildung in der Schweiz und in ihren Nachbarländern [versteht]. Sie fördert den fachlichen Austausch unter den Dozierenden an pädagogischen Hochschulen und Universitäten und leistet dadurch einen Beitrag zur Qualitätssicherung und Entwicklung der Aus- und Weiterbildung für Lehrpersonen» (Beiträge zur Leh- rerinnen- und Lehrerbildung, 2020). Zwar ist sie auch das offizielle Organ eines Berufsverbandes (Schweizerischen Gesellschaft für Lehrerinnen- und Lehrerbil- dung [SGL]), doch durchlaufen die Beiträge im Gegensatz zu den anderen unter- suchten Publikationen ein Peer-Review-Verfahren. Die Neue Zürcher Zeitung schliesslich, die älteste Tageszeitung der Schweiz, hat internationales Renommee und richtet sich einerseits an die wirtschaftliche Elite, aber auch an ein kulturell und politisch interessiertes Publikum mit höhe- rem Bildungshintergrund. Im untersuchten Zeitraum zeichnete sich die Zeitung durch regelmässige thematische Beilagen aus, in denen oft Gastautorinnen und -autoren zu Wort kommen und der redaktionelle Beitrag sich auf eine Einlei- tung beschränkt. Als überregionale Zeitung nimmt sie Themen von nationaler 49 Bedeutung auf. Die analysierte Beilage «Bildung und Erziehung» erschien vier- mal pro Jahr. Die Auswahl der Texte erfolgte bei der SMZ durch theoretisches Sampling (Strauss, Corbin, 1996, S. 148–165), indem aufgrund von Vorkenntnissen the- matisch relevante Texte eruiert wurden, wobei sich «die spezifischen Sampling- Entscheidungen […] während des Forschungsprozesses selbst [ergeben]» (ebd., S. 163). Bei BS, GH, BzL und der NZZ-Beilage «Bildung und Erziehung» er- folgte die erste Selektion durch den Suchstring «musi*», der sowohl «Musik- unterricht», «musikalisch» und «musisch» erfasst. In einem zweiten Schritt wurden die Texte ebenfalls gemäss theoretischem Sampling einerseits reduziert, andererseits kontextuell, etwa bezüglich der oben genannten Themenfelder, er- weitert. Auf die Analyse von Rezensionen wurde verzichtet, da diese Gegen- stand eines separaten Teilprojektes sind (Huber, Marty, 2021, im Druck). Diskursive Ereignisse und Aussagen Zur Untersuchung kommen also «die internen und die externen Relationen die- ses Korpus an Dokumenten» (Foucault, 2002 [1970], S. 342). Zunächst müssen jedoch die diskursiven Ereignisse im Textkorpus ermittelt, was mit einem in- haltsanalytischen Codierverfahren geschah, und diese bestimmten Aussagefor- mationen zugeordnet werden. Bezogen auf die drei eingangs exponierten Diskursstränge dominiert während des gesamten Zeitraums der Diskurs um die Legitimierung des Musikunter- richts. Dieser Diskurs hat sich nun abgelöst von den Schulversuchen mit erwei- tertem Musikunterricht und wird auf die allgemein politische Bühne getragen, auf der es zunächst um die Aufnahme der musikalischen Bildung in den Kultur- förderartikel und später um die von verschiedenen Musikverbänden lancierte In- itiative «jugend + musik» geht, deren Gegenvorschlag an der Volksabstimmung vom 23. September 2012 knapp 73 Prozent der Stimmenden und alle Stände gut- geheissen haben. Dabei zeigen sich Deutungsmuster von der wohltuenden Wir- kung der Musik und ihren Transfereffekten auf Gemüt, Sozialverhalten und In- tellekt, die sich schon im Kontext der Versuche mit erweitertem Musikunterricht etabliert haben (Huber, 2017). Für das Berufsverständnis ist die Ausbildungsreform zentral. Da die Umwand- lung von Konservatorien und Seminarien in Musikhochschulen beziehungs- weise pädagogische Hochschulen in der Schweiz zeitgleich mit der Modulari- sierung der Studiengänge im Zuge des Bolognaprozesses verlief, werden diese beiden formal getrennten Reformen in den Äusserungen oft zusammeng edacht. Eine einzige Wortmeldung in der SMZ leitet einen didaktischen Gewinn aus 50 der Bolognareform ab, indem sie die positiven Auswirkungen einer Kompe- tenz- oder Lernzielorientierung herausstreicht (*Cincera, 2005).4 Während sich diese Äusserung auf den Instrumentalunterricht bezieht, wird die Einrich- tung von päda gogischen Hochschulen – bei gleichzeitiger Verklärung des se- minaristischen Modells – durchwegs negativ beurteilt, da mit ihr eine qualita- tive Verschlechterung der Ausbildung im Fach Musik einhergehe. Moniert wird einerseits der Umstand, dass Musik an den meisten PH nicht zum obligatori- schen Fächerkanon gehört und deswegen die musikalische Grundversorgung5 an den Primarschulen nicht mehr gewährleistet sei. Andererseits wird auf die Schnittstellenproblematik hingewiesen. Das Gymnasium als nunmehrige Zu- liefererinstitution könne durch die Abwahlmöglichkeit des Faches Musik die entsprechende Grundausbildung nicht garantieren. Dies ist auch ein zentra- les Werbeargument für die Volksinitiative «jugend + musik», das weiter unten ausführlicher zur Sprache kommt. Diese Argumentation geht mit einem ge- nuin künstlerischen Berufsverständnis einher, wie es – mit einer entsprechen- den Didaktik – auch in den Nullerjahren gegenüber einem erziehungswissen- schaftlichen Ansatz behauptet wird (*Hofstetter, 2006). Der Professionsdiskurs kulminiert in einer (folgenlosen) Kontroverse in den BzL: «Zugewandtheit der Lehrpersonen zu forschenden Fragen als wichtiges Professionalitätsmerkmal» (*Hoffmann-Ocon, 2009, S. 240) steht hier einem «durch künstlerisch-musika- lische Erfahrungen gestützten Musikunterricht» (*Brugger, 2009, S. 242) gegen- über (siehe dazu Huber, 2016). Während methodische Fragen wie etwa die Solmisation ihren Platz behaupten (vgl. Kleinen, 2006, S. 319), dringen gesellschaftliche Themen nur dosiert in den Diskurs ein. Sexuelle Belästigung, jedoch bezogen auf den Instrumentalunter- richt, wird kurzzeitig thematisiert, Migration lange nur in Hinweisen auf Lieder- bücher und erst gegen Ende des Jahrzehnts in Beiträgen zum Klassenmusizie- ren. Musik zur Gewaltprävention wird insbesondere durch entsprechende Raps propagiert. Die Resonanz auf die gesellschaftliche Dynamik bleibt indes gering. Bildungspolitisch wird die Standarddiskussion in der Mitte der Nullerjahre zum Thema, verebbt aber rasch wieder. Standards für das Fach Musik auf der Gym- nasialstufe finden nur einmal ex negativo Erwähnung, wenn der Autor eines standardkritischen Artikels zur Verstärkung des Befundes, dass selbst Mathema- tikstandards umstritten seien, ausruft: «Was würde erst eine sorgfältige Analyse von Standards in Geschichte und Musik ergeben?» (*Dreyer, 2007, S. 13). Be- 4 Texte aus dem Korpus sind mit einem Asterisk versehen und nach dem Literaturverzeichnis aufgeführt. 5 Der aus dem Service public stammende Begriff wanderte über eine Resolution des Deutschen Musikrats (2003), die auch in der SMZ besprochen wurde (*Frey-Samlowski, 2003), in den musikpädagogischen Diskurs ein. 51 gabtenförderung ist zu Beginn des Untersuchungszeitraums im Zusammenhang mit der Einrichtung von Musik- und Sportgymnasien ein Thema und wird erst wieder in der Diskussion um die Musikinitiative aufgenommen. Dass Musik- pädagogik auf Hochschulstufe gemäss der Bologna-Deklaration in einem For- schungskontext erfolgen sollte, wird kaum zur Kenntnis genommen. Dement- sprechend dringen Forschungsergebnisse in geringem Masse in den Diskurs ein. Formation der Äusserungsmodalitäten und subjektive Positionen Was eine Diskursanalyse von einer Inhaltsanalyse unterscheidet, ist einerseits der Blick auf die Faktizität der Erscheinungen und ihrer Ereignishaftigkeit, der nicht nach Intention und subjektivem Sinn von Äusserungen fragt, andererseits die Bedeutsamkeit von (Macht-)Effekten diskursiver Aussagen. Wirkungen von Diskursbeiträgen sind eng verbunden mit (institutionellen) Sprecherpositio- nen. Deshalb interessiert im Zusammenhang mit der Diskurssituation der Nul- lerjahre, wer von wo aus spricht – oder schweigt. Unter diskursanalytischem Blickwinkel sind die Individuen nicht von Belang, weshalb sie hier auf ihre (in- stitutionellen) Funktionen reduziert bleiben. Relevant ist, wer sich in welchem Publikationsorgan zu welchem Thema äussert. In Betracht als Sprecher/-innen kommen Redaktionsmitglieder, freie (regelmässig) Mitarbeitende, Vertreter/- innen der Bildungsadministration, Kadermitglieder von Hochschulen (Studien- gangsleitende und Hochschulleitungsmitglieder), Verantwortliche von Interes- senverbänden, (ausländische) Gäste, die anlässlich Tagungen oder Symposien in der Schweiz weilten, Forschende und wissenschaftlich Tätige. Auffallend ist die starke Dominanz redaktioneller oder redaktionsnaher Beiträge, was auf eine Professionalisierung der Publizistik hinweist. Praktiker/-innen kommen immer noch regelmässig zum Zug, Personen mit Leitungsfunktionen in der Musikpädagogik äussern sich mit chronologisch abnehmender Tendenz, während Forschung und Wissenschaft kaum in Erscheinung treten. Am meisten frappiert jedoch, wie wenig durchlässig die Grenzen zwischen einzelnen Arenen sind, in denen sich die Sprecher/-innen präsentieren. Lediglich vier Personen äus- sern sich über ihr angestammtes Medium hinaus. Es sind dies, in chronologischer Reihenfolge, ein Praktiker, eine Forscherin, eine Medienschaffende und ein Ver- bandsexponent, wie die untenstehende Tabelle zeigt. Einzig der Initiant der Schulversuche mit erweitertem Musikunterricht ist über den gesamten Zeitraum hinweg in verschiedenen Arenen präsent. Sonst bleiben Beiträge von Sprecher/-innen in verschiedenen Publikationsorganen punktuell; als Chefredaktorin der SMZ beschränkt sich die frühere Kommunikationsbeauf- tragte des VMS in ihrer neuen Funktion verständlicherweise auf das Publizieren 52 Tab. 2: Sprecher/-innen in mehreren Arenen SMZ BS GH BzL NZZ 2000 ☆ 2001 2002 ☆ ▽ 2003 2004 ☆ ▽ 2005 ☆ 2006 ◇ ☆ ◇ 2007 ◇ ☆ 2008 ◇ ☆ 2009 ◇ ○ ○ 2010 ◇ ☆ Praktiker (Initiator der Schulversuche mit erweitertem Musikunterricht) ▽ Forscherin (Privatdozentin der Psychologie) ◇ Medienschaffende (Kommunikationsbeauftragte Verband Musikschulen Schweiz [VMS], ab 2007 Chefredaktorin SMZ) ○ Verbandsexponent (Präsident VMS) in der eigenen Zeitung. Der Artikel der habilitierten Psychologin in den BzL, der eine wissenschaftsorientierte Fachdidaktik fordert (*Stadler Elmer, 2004), bleibt ohne Widerhall. Die beiden indirekten Beiträge (Porträt und Interview) des damaligen Präsidenten des VMS enthalten bildungspolitisch brisante Aus- sagen, die anschliessen an den oben dokumentierten Unmut über die als unbe- friedigend empfundene Situation der Musikausbildung an den pädagogischen Hochschulen. Exemplarisch für die Formation der Äusserungsmodalitäten sei die Karriere dieser Idee nun anhand der Sprecher/-innenpositionen und Aussa- gen dargestellt. Besonders in der ersten Hälfte des Jahrzehnts kamen in der SMZ illustre Gäste vorab aus Deutschland zu Wort, wenn diese Referate in der Schweiz hielten. Neben Günther Bastian und Otto Schily war im Februar 2004 Hermann Rauhe an der Reihe mit seinem «Plädoyer für eine Musikschule mit Begeisterung», in dem er hervorhebt, «dass die Musikschulen sich im Zentrum des Netzwerkes der Musikerziehung, Musikförderung und Musikpflege» befänden (*Rauhe, 2004, S. 13, 16). Der Verantwortliche für die Weiterbildung an der Musikhochschule 53 Luzern übernahm dieses Stichwort alsogleich, wenn er in der folgenden Ausgabe der SMZ «[d]as von Rauhe propagierte neue Selbstverständnis der Musikschulen als lokale Kompetenzzentren für Musik» ins Feld führt, das nach einer intensiven Zusammenarbeit mit den Volksschulen rufe (*Nager, 2004, S. 21). Seine Folge- rung, die Musikhochschulen hätten dem mit entsprechenden Weiterbildungsan- geboten zu begegnen, widerspiegelt die professionelle Funktion des Autors. Erst zwei Jahre später konkretisiert sich dieses Selbstverständnis in einen pro- grammatischen Beitrag für die NZZ: «Die Musikschulen», schreibt die Kom- munikationsverantwortliche des VMS, «müssen als eigenständige Schulart über einen eigenen Verfassungsartikel in die kantonalen Bildungsgesetzgebungen in- tegriert werden. Sie erhalten damit einen schulstufenübergreifenden Bildungs- auftrag in der musikalischen ‹Grundversorgung› der öffentlichen Schule» (*Spe- linova, 2006, S. 67). Im Lead bescheinigt die Redaktion der Autorin, sie setze «sich nachfolgend für mehr guten Musikunterricht auch an den Regelschulen ein», zumal «[d]ie öffentliche Schule […] noch keine einheitlichen Regelungen zur musikalischen Bildung» kenne (ebd.). Die im Text propagierte Partnerschaft von Schule und Musikschule scheint auch politisch opportun, wenn der Präsi- dent des Schulmusikverbandes in der Diskussion um einen künftigen Verfas- sungsartikel für die Musik in der SMZ anmahnt, eine solche Debatte habe «im Konsens von Volks- und Musikschule sowie in der damit verbundenen musika- lischen ‹Grundversorgung›» zu beginnen (Caviezel in *Koch, 2007, S. 30, Her- vorhebung JH). Diesen Konsens kündigt der damalige Präsident des VMS an- gesichts der als desolat empfundenen Situation an der Volksschule auf: «Meine Forderung lautet deshalb: Integration der Musikschulen in die kantonalen Bil- dungsgesetzgebungen. Damit übernehmen die Musikschulen die Bildungsver- antwortung für das Fach Musik im Rahmen des Lehrplanes von der Primar- schule bis zur Maturität respektive Berufsschule» (Herzig in *Erni, 2009, S. 9). Zeitgleich zu diesem Statement in der SMZ platziert er seine Botschaft in BS. Die Kooperation von Schule und Musikschule wird zwar auf eine entsprechende In- terviewfrage zunächst beschworen, doch nimmt sie im Folgesatz die Form einer unfreundlichen Übernahme des schulischen Musikunterrichts an: «Schulen und Musikschulen müssen enger zusammenarbeiten: Die Schulen brauchen die Mu- sikschulen als Kompetenzzentren, die schulstufenübergreifend vom Kindergar- ten bis zur Berufsschule die Verantwortung für die musikalische Bildung über- nehmen» (Herzig in *Meier, 2009, S. 8). Diese Radikalisierung ruft jedoch weder vonseiten der Volkschule noch der Schulmusik eine Gegenrede hervor, sondern verpufft.6 6 Die Idee, der Musikschule die Verantwortung für den Unterricht an der Volksschule zu über- tragen, ist nicht neu. So schlug Max Lienert, nachmaliger Präsident der Ortsgruppe Luzern 54 Fazit Die Legitimierung des Musikunterrichts, die den Diskurs in den 1990er-Jahren prägte, nimmt im frühen 21. Jahrhundert weiterhin einen sehr hohen Stellenwert ein. Der Fokus verschiebt sich von der standespolitischen auf die allgemein poli- tische Ebene, wobei interne Bruchlinien zwischen Musikschule und Schulmusik spürbar werden. Dagegen spielen fachliche Fragen bezüglich der eigenen Profes- sion und der Didaktik eine geringere Rolle. Spezialthemen wie die Solmisation in ihren unterschiedlichen Ausprägungen nehmen einen vergleichsweise breiten Raum ein, während Kernfragen wie die nach einer künstlerisch oder allgemein pädagogisch – und damit auch wissenschaftlich – fundierten Didaktik, die am Ende des 20. Jahrhunderts verschiedentlich gestellt wurden (vgl. Huber, 2021, in Vorbereitung), nur vereinzelt aufscheinen und nur einmal zu einer explizit aus- getragenen Kontroverse führen. Zentrale bildungspolitische Themen, zu nennen sind hier Bildungsstandards und Inklusion, werden in der musikpädagogischen Community nur kurzzeitig oder dann marginal behandelt. Auch hier: Der Blick aufs Ganze scheint nicht gefragt – oder dann, wie im Vorstoss des Musikschulver- bandspräsidenten, zu radikal, um in den Diskurs aufgenommen zu werden. In der Diskussion um das Gymnasium ist Musik nicht relevant; im Gegenzug wird die gymnasiale Bildung von musikpädagogischer Seite nicht öffentlich the- matisiert. Der für das Schwerpunktfach Musik wenig schmeichelhafte Evalua- tionsbericht über die Maturitätsreform – knapp vor den beiden anderen neuen Schwerpunktfächern «Philosophie/Pädagogik/Psychologie» und «Bildnerisches Gestalten» stehen die Absolventinnen und Absolventen von Musik am unteren Ende der allgemeinen Leistungsskala (Eberle, 2008, S. 18–20) – hat keinen Ein- fluss auf den Diskurs. Zwar ergibt der Suchstring «musi*» für Gymnasium Hel- veticum etliche Treffer; dem Schulfach Musik selbst sind indessen nur zwei Ar- tikel gewidmet. Ein weiterer Beitrag erörtert, ohne didaktischen Anspruch, den Zusammenhang von Musik und Mathematik. Standardisierung, die in der zwei- ten Hälfte des Jahrzehnts zum Dauerthema in Gymnasium Helveticum wird, bleibt auf dieser Stufe ohne Bezug zum Fach Musik. Es fällt auf, wie abgeschlossen die einzelnen Arenen sind und dass kaum Ver- bindungen über die eigene Community hinaus bestehen. Bloss einige Sprecher/- innen melden sich in verschiedenen Publikationsorganen zu Wort. Dabei bleibt des Schweizerischen Musikpädagogischen Verbandes (SMPV), zusammen mit Robert Müller 1941 die Errichtung einer Volksmusikschule mit einer «einheitliche[n] Lehrerschaft» vor, die sowohl instrumentalpädagogische wie schulmusikalische Aufgaben übernehmen sollte, damit die «Musikpflege an der Schule ein Ganzes bilde[ ]» (Lienert, Müller, 1941, S. 3). Der Vorschlag wurde vom Rektor der städtischen Schulen in einer Stellungnahme zuhanden des Schuldirek- tors umgehend zur Ablehnung empfohlen (Blaser, 1942). 55 der Einfluss auf den Diskurs jedoch beschränkt. Allgemein, und verstärkt gegen Ende der Untersuchungsperiode, sind wichtige Akteur/-innen aus dem Hoch- schulbereich und der Bildungsadministration wenig präsent; auch innerhalb der eigenen Community und besonders in der öffentlichen Arena äussern sie sich nur sporadisch. Der Befund ist also ambivalent. Einerseits bleiben gewisse Aspekte wie die Le- gitimierung des Faches während der ganzen Dekade virulent, doch bestätigt sich gleichzeitig die von Brosziewski und Knoll (2018, S. 10) konstatierte Fragmen- tierung und publizistische Randständigkeit. Von «diskursiver Stille» zu spre- chen, wäre deshalb irreführend; stellt man das Beharrungsvermögen bestimm- ter Deutungen in Rechnung, scheint der Begriff «diskursiver Stillstand» (Butler, 2002, S. 253) der Situation angemessener. Diskussion Sieht man mit Hermann J. Kaiser die Dokumentation von Gesprochenem in Pu- blikationen als fundamentale Bedingung und ersten Schritt für eine Musikpäd- agogik als Wissenschaft an (Kaiser, 2018, S. 420) und pflichtet man Martin Weber grundsätzlich bei, dass «musikpädagogische Theoriebildung keineswegs isoliert von allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen stattfindet» (Weber, 2005, S. 539), irritiert dieser zumindest partielle «diskursive Stillstand» der deutschschweizerischen schulischen Musikpädagogik inmitten des «grossen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen[s] des Diskurses» (Foucault, 2013 [1972], S. 33). Geht man weiter – als wohlwollende Unterstellung – davon aus, dass der geringe Widerhall auf gesellschafts- und bildungspolitischen Themen weder Desinteresse noch Unvermögen zuzuschreiben ist, geraten strukturelle Gründe ins Blickfeld, die ich zur Diskussion stellen möchte. Ein erster Erklärungsansatz geht von der eingangs exponierten Ausdifferen- zierung des Bildungssystems aus. Schulische Musikdidaktik wurde vor dem Umbau der Lehrerinnen- und Lehrerbildung oft institutions- und stufenüber- greifend von denselben Personen gelehrt und damit tradiert (vgl. Scheidegger, 2008). Mit der funktionellen Differenzierung von Aufgaben und dem Wechsel von der seminaristischen zur tertiären Ausbildung geht eine Zersplitterung der musikpädagogischen Landschaft einher, was offenbar die öffentliche Präsenz – und damit die gesellschaftliche Existenz – des Diskurses hemmt. Eng damit zusammen hängt der Übergang zum Bologna-System. Der Aufbau neuer Institutionen und die Entwicklung entsprechender Studiengänge, so diese These, hat die Kräfte nach innen gewendet und absorbiert die Energie in inter- nen Diskussionen. Ein konstruktiv-kritischer Beitrag zum Bolognaprozess, der 56 am Ende der untersuchten Periode in der Schweizer Musikzeitung erschienen ist, stützt diesen Befund: «Dabei wurden und werden noch heute viel zu viele Kräfte gebunden mit Kämp- fen um Anerkennung der Entwürfe, mit der Umsetzung von alten oder neuen Fä- chern, deren Inhalte noch nicht oder so noch nicht unterrichtet wurden, mit der Umsetzung der Module, wenn sie denn einmal festgeschrieben wurden, und der Information der Studierenden und Lehrenden darüber.» (*Frey-Samlowski, 2010, S. 19) Zwei weitere Vermutungen dringen tiefer ein in die Tradition der deutschschwei- zerischen Musikpädagogik. Zu nennen ist hier zunächst ein diffuser Kampf um Anerkennung des Faches, der allenthalben an der diskursiven Oberfläche sicht- bar wird. Pointiert ausgedrückt handelt es sich um eine narzisstische Depression: Zwar wird selbstbewusst die (All-)Macht der Musik und ihre daher exzeptionelle Stellung im Fächerkanon beschworen, was aber mit der Wahrnehmung kontras- tiert, das Fach sei, politischen Sonntagsreden zuwiderlaufend, randständig, von den Bildungsverantwortlichen vernachlässigt und in der Ausbildung zu wenig dotiert. Die Musikinitiative ist in dieser Lesart als Befreiungsschlag zu sehen, um der Depression zu entkommen. Die daraus resultierende Verlagerung des musik- pädagogischen Diskurses auf eine politische Ebene, deren Mechanismen einer in- haltlichen Differenzierung tendenziell abträglich sind, trug zu einer argumentati- ven Verengung, mithin einem «Stillstand», bei. Weiter ist eine Art «Nabelschau» zu beobachten: Abgesehen von einigen Exponent/-innen fehlen den musikpäd- agogischen Professionellen entweder die Beziehungen oder das Interesse, ihre fachspezifischen Überlegungen über den eigenen Kreis hinaus zu verbreiten. Die Bestätigung der eigenen Klientele dient zwar der Selbstvergewisserung, erzeugt mit den immer gleichen Argumenten indes ein diffuses Rauschen, das wenig zur diskursiven Profilierung beisteuert. So könne «der Fächerbereich Musik, Kunst und Gestaltung», halten die beiden Bildungsforscherinnen Silvia Grossenbacher und Chantal Oggenfuss (2013, S. 66) fest, «als weitgehend unbekanntes Feld in der schweizerischen Bildungslandschaft bezeichnet werden», und die entspre- chenden Grundsatzdiskussionen würden für «die an Bildungsfragen interessierte Öffentlichkeit […] kaum sicht- und hörbar» (ebd.). Zweitens fällt auf, dass die Legitimierung des Musikunterrichts oft auf die posi- tive Wirkung des Instrumentalunterrichts abhebt. Das deutet auf eine spezifisch schweizerische Tradition der Musikpädagogik hin. Während etwa in Deutsch- land und Österreich der Begriff «Musikpädagogik» bis in die jüngere Vergan- genheit wie selbstverständlich auf den Musikunterricht an öffentlichen Schulen rekurrierte (vgl. Schatt, 2007) und sich die Instrumental- und Vokalpädagogik marginalisiert vorkam (vgl. Röbke, 2017), zeigt sich die Situation in der Deutsch- schweiz gerade umgekehrt. Ist von Musikunterricht die Rede, schwingt implizit 57 die Vorstellung von Instrumentalpädagogik mit, was wohl auf die starke Stel- lung der Musikschulen in der Schweiz zurückzuführen ist, die sich einer im eu- ropäischen Vergleich hohen Dichte an Schulen (European Music School Union, 2015, S. 15) mit einem entsprechend einflussreichen Verband im Rücken zeigt. Das schlägt sich in der SMZ nieder, in der Musikpädagogik vor allem als Instru- mentalpädagogik verhandelt wird und die Schulmusik wenig Raum einnimmt.7 Nur so ist zu verstehen, dass Exponenten der Musikschulen die Verantwortung gleich für die ganze schulische Musikpädagogik übernehmen wollen. «Diskursive Stille?», die im Titel aufgeworfene (rhetorische) Frage meint in ihrer Modifikation als «diskursiver Stillstand» also eine Verfestigung und Ver- engung des Diskurses auf wenige Deutungsmuster sowie ein Schweigen zu ak- tuellen gesellschaftlichen Strömungen. Aber wie die eingangs erwähnten lau- fenden oder bereits abgeschlossenen Dissertationen sowie Tagungen, die sich solchen Thematiken widmen, zeigen, wird diese Stille in den zu Ende gehenden Zehnerjahren durchbrochen, der Stillstand dynamisiert. Zu untersuchen bleibt, wie sich Stillstand oder Dynamik des Diskurses in den Praktiken des Unter- richts äussern. Literaturangaben Barandun, B. (2018). Wie Begeisterung sich zeigt. 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Zwar nennt die damalige Redaktorin bei der Aufzählung der Funktionen der Musikzeitung im Jahr 2007 die Diskussion musikpädagogischer Aspekte an erster Stelle (*Kur- mann, 2007, S. 3), doch ist die Musikzeitung vor allem ein Forumsblatt und Mitteilungsorgan verschiedenster musikbezogener Verbände mit ganz unterschiedlichen Interessen. Wie in der Charakterisierung der Zeitschrift angemerkt, ist der VSSM nicht mit einer regelmässigen Ver- bandsseite präsent. 58 Brosziewski, A., Knoll, A. (2018). Zum Rahmen unserer Diskursanalysen. In A. Bro- sziewski, A. Knoll, C. Maeder (Hg.), Kinder – Schule – Staat. Der Schweizer Schuldiskurs 2006 bis 2010 (S. 9–40). Wiesbaden: Springer VS. Bundeskanzlei (2020, 2. Februar). Chronologie Volksabstimmungen. Abgerufen von www.bk.admin.ch/ch/d/pore/va/vab_2_2_4_1_gesamt.html Butler, J. (2002). Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. Deutsche Zeit- schrift für Philosophie, 50 (2), 249–265. Diaz-Bone, R. (2017). Diskursanalyse. In L. Mikos, C. 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Olivier Blanchard Zusammenfassung Der Text speist sich aus einem Forschungsprojekt, in welchem Musikunterricht an Deutschschweizer Sekundarschulen ethnografisch beforscht wurde. Nach der Dar- stellung einer kulturwissenschaftlichen Perspektive auf Musikunterricht werden einige ausgewählte Erkenntnisse der Forschung vorgestellt. Dabei werden scheinbar «natürli- che», da selten reflektierte Praktiken, Handlungen und Orientierungen fokussiert, die oftmals die Basis für konkretere schulpraktische, fachdidaktische und wissenschaftliche Interessen und Fragen darstellen. Abschliessend werden fachdidaktische Fragen auf- geworfen, die sich aus der Gegenüberstellung der beforschten Kultur des Musikunter- richts und deren institutionellem Rahmen, der Schule, ergeben. Résumé Ce texte est le résultat d’un projet de recherche sur les cours de musique dans les écoles secondaires suisses alémaniques, mené à l’aide de méthodes ethnographiques. Après avoir décrit l’enseignement de la musique dans une perspective d’études culturelles, quelques résultats sélectionnés de la recherche sont présentés. L’accent est mis sur des pratiques, des actions et des orientations apparemment «naturelles», car ayant rare- ment fait l’objet d’une réflexion, qui constitue souvent la base de questions et d’intérêts concrets sur les plans scolaire, pratique, didactique et scientifique. Enfin, des questions didactiques sont soulevées, qui découlent de la confrontation entre les résultats de la recherche sur la culture de l’enseignement musical et son cadre institutionnel, l’école. Abstract This text is the result of a research project in which ethnographic research was carried out on music lessons at Swiss-German secondary schools. After presenting a cultural studies perspective on music lessons, some selected findings of the research are de- scribed. The focus is on apparently “natural” practices, actions, and orientations that are rarely reflected upon, and which often form the basis for more concrete school-practi- cal, didactic, and scientific interests and questions. Finally, didactic questions are posed, which arise from the confrontation between the researched culture of music lessons and its institutional framework, the school. 63 Schlüsselwörter Kulturwissenschaft, Praxeologie, Ethnografie, Musikunterricht, Fachdidaktik, Hege- monietheorie Was geschieht eigentlich im Musikunterricht? Woran orientiert er sich? Was sind seine Eigenheiten, seine Besonderheiten? Und wie verhalten sich diese zur Funktionsweise der Schule als übergeordnetem Rahmen? Diese grundsätzlichen Fragen lassen sich wohl kaum jemals einheitlich und schon gar nicht abschlies- send beantworten. Überdies stehen sie in Kontrast zu den wissenschaftlichen und didaktischen Fragen um den Musikunterricht, die, wie vermutlich auch jene des schulischen Alltags, in der Regel fokussierter ausfallen. Der vorliegende Text geht gerade deshalb diesen grundsätzlichen Fragen nach, nicht zuletzt, um dar- auf aufmerksam zu machen, dass die spezifischen wissenschaftlichen, didakti- schen und schulpraktischen Interessen auf einer Basis gründen, die möglicher- weise selten reflektiert wird. Er speist sich aus einem Forschungsprojekt, in welchem Musikunterricht an Deutschschweizer Sekundarschulen als Kultur be- forscht wurde. Dadurch bezieht er sich stark auf die Thematik dieses Tagungs- bandes. Dessen Titel Kulturen der Schulmusik in der Schweiz suggeriert aller- dings nicht nur, dass Schulmusik als Kultur verstanden werden kann, sondern auch, dass in der Schweiz eine besondere Kultur oder eben – weil explizit der Plural verwendet wird – besondere Kulturen von Schulmusik aufzufinden sind. Ich sehe mich deshalb auch verpflichtet, zu diesen Setzungen Stellung zu neh- men. Diese Positionierung findet jedoch eher integrativ statt, denn der Fokus des Textes liegt auf der Präsentation einiger Erkenntnisse des Forschungsprojek- tes. Primär geht es darum, fachdidaktische Fragen aufzuwerfen, die sich aus der Gegen überstellung der beforschten Kultur des Musikunterrichts und deren ins- titutionellem Rahmen, der Schule, ergeben. Konkret definiere ich in einem ersten Schritt den Begriff «Kultur» aus einer kul- turwissenschaftlichen Perspektive und verorte meinen Text damit im wissen- schaftstheoretischen Feld. Zweitens stelle ich den beforschten Musikunterricht vor und lege das diesbezügliche methodische Vorgehen dar. Dabei beantworte ich auch die Fragen, inwiefern der beforschte Musikunterricht eine Kultur ist und was dabei typisch schweizerisch ist. Drittens präsentiere ich ausgewählte Erkenntnisse der Forschung. Viertens stelle ich schliesslich einige kritische Fra- gen im Anschluss an diese Erkenntnisse und hoffe, damit zu einer fachdidakti- schen Reflexion anzuregen. 64 Eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf Musikunterricht Laut dem Kultursoziologen Andreas Reckwitz (2006, S. 91) ist es das Ziel der Sozialwissenschaften, menschliches Handeln zu erklären. Die verschiede- nen sozialwissenschaftlichen Programme zeichnen sich demnach durch unter- schiedliche Handlungserklärungen aus. «Die Kulturtheorien formulieren eine übergreifende Theorieperspektive für die Sozialwissenschaften als Kulturwis- senschaften» (ebd.). Laut diesen Theorien ist menschliches Handeln nur vor dem Hintergrund von geteilten Wissensordnungen versteh- und erklärbar (ebd., S. 15). Kulturwissenschaften verstehen entsprechend unter «Kultur» genau diese geteilten Wissensordnungen, die angeben, was mach-, sag-, versteh-, denkbar usw. ist, und die dadurch menschliches Handeln überhaupt erst ermöglichen, aber auch einschränken. Dabei handelt es sich innerhalb des kulturwissenschaft- lichen Programms durchaus um eine einheitliche theoretische Perspektive (ebd., S. 16; siehe auch Böhme, Matussek, Müller, 2002, S. 71; Moebius, 2009, S. 8 f.; Wirth, 2008, S. 18). Da es sich bei «Kultur» aus dieser Sichtweise um übersubjektive Strukturen han- delt, drängt sich notwendigerweise die Frage nach deren Verortung auf. Wo befin- den sich die Wissensordnungen? Innerhalb der Kulturwissenschaften lassen sich dazu unterschiedliche theoretische und forschungspraktische Antworten finden. Für den vorliegenden Text nehme ich eine kulturwissenschaftlich-praxeologische Perspektive ein. Laut diesen Theorien befinden sich die Wissensordnungen auf der Ebene der körperlich verankerten und öffentlich wahrnehmbaren sozialen Praktiken der handelnden Akteur/-innen selbst (Reckwitz, 2005, S. 97 f., 2011, S. 17). Praktiken sind also stets nur innerhalb einer Wissensordnung verstehbar und tragen umgekehrt dazu bei, diese Wissensordnung erst herzustellen. Prakti- ken sind immer sowohl Wissensordnung als auch deren subjektive Interpretation durch die handelnden Subjekte (für Beispiele siehe Blanchard, 2018, S. 285). Aus diesem Blickwinkel kann auch Musikunterricht als Kultur gedacht werden, denn «das Lehren und das Lernen von Musik ist eine Form musikbezogener kultureller Praxis: Es wird in einer Institution wie der Schule Musik gemacht, es wird in besonderer Weise über sie gesprochen, es finden schulische, musikbezo- gene Rituale statt, Musik wird medial vermittelt etc.» (Vogt, 2014, S. 3). All diese Praktiken erzeugen eine «Kultur des Musikunterrichts». Damit sind Wissens- ordnungen gemeint, die wiederum angeben, was innerhalb des Musikunterrichts überhaupt denk- und machbar ist. Eine praxeologisch-kulturwissenschaftliche Perspektive auf den Musikunter- richt interessiert sich also für die kollektiven Wissensordnungen, die den Musik- unterricht für die beteiligten Akteur/-innen verstehbar machen. Diese Wissens- ordnungen werden durch musikunterrichtliches Handeln aber erst hergestellt. 65 Die Beforschung von Musikunterricht als Kultur Aus dieser Perspektive habe ich in meiner Dissertation Musikunterricht an Deutschschweizer Sekundarschulen untersucht (Blanchard, 2019). Daraus stelle ich im nächsten Kapitel einige ausgewählte Erkenntnisse im Sinne einer «offe- nen» Kulturbeschreibung vor.1 Die Forschung erfolgte nach einer ethnografi- schen Vorgehensweise. Eine zentrale Prämisse der Ethnografie ist deren Ver- wurzelung in intensiver und extensiver empirischer Feldforschung. Damit verbunden ist die teilnehmende Beobachtung als zentrale Datenerhebungsme- thode. Es geht darum, Informationen «aus erster Hand» zu erhalten, indem die Akteur/-innen in ihrer «natürlichen Umwelt» und beim Vollzug ihrer sozialen Praxis beobachtet werden (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff, Nieswand, 2013, S. 31–41). Dadurch werden ethnografische Vorgehen kompatibel mit der voran- gehend vorgestellten theoretischen Prämisse: Der soziale Sinn liegt in den sozia- len Praktiken. Zur Ergründung des sozialen Sinns bedarf es deshalb der Beob- achtung dieser Praktiken. Konkret habe ich während eines Schuljahres regelmässig fünf verschiedene Mu- sikunterrichte2 besucht. Bei der Auswahl der Unterrichte orientierte ich mich an Matei Candeas (2009) Prämisse des «zufälligen Feldes» und habe lediglich ver- sucht, aufgrund der im Vorfeld des Projekts spärlich vorhandenen demografi- schen Daten einen kontrastreichen Ausschnitt von Musikunterricht an Deutsch- schweizer Sekundarschulen zu erhalten. Trotz der erwünschten Heterogenität des Materials ging es aber explizit nicht darum, Zusammenhänge irgendeiner Art (beispielsweise zwischen demografischen Daten und der Form des Unterrichts) nachzuweisen. Eher sollten überhaupt erste Einsichten in den Musikunterricht aus kulturwissenschaftlicher Perspektive gewonnen werden. Für die Datenerhebung habe ich an insgesamt 44 Musiklektionen beobachtend teilgenommen, also in einer ambivalenten Rolle zwischen Teilnehmer (Schüler) und Beobachter, der seine Teilnahme und das Unterrichtsgeschehen stichwort- artig notiert. Diese Notizen wurden im Anschluss zu Beobachtungsprotokollen niedergeschrieben, welche den wichtigsten Bestandteil des Datenkorpus bildeten. Zusätzlich habe ich mit Unterrichtsvorbereitungen, Liedblättern, Prüfungen usw. 1 «Offen» meint hier, dass die Forschung zwar von einem spezifischen Erkenntnisinteresse mit entsprechendem theoretischem und epistemologischem Fokus (siehe unten), nicht aber von ei- ner spezifischen Forschungsfrage im engeren Sinne geleitet wurde. Eher ging es darum, entlang der geertzschen Maxime «What the hell is going on here?» (Geertz, zitiert nach Hirschauer, Amann, 1997, S. 20) den Musikunterricht als Kultur zunächst einmal zu beschreiben. 2 Mit diesem – möglicherweise etwas verwirrenden – Begriff wollte ich deutlich machen, dass ich keine Lehrpersonen und auch keine Schüler/-innen oder Klassen beforscht habe, sondern (Mu- sikunterrichte als) kulturelle Systeme, die ich in den Praktiken aller beteiligten Akteur/-innen verorte. 66 weitere Dokumente gesammelt, die bei der Analyse situativ herbeigezogen wur- den. Schliesslich habe ich gegen Ende meines Feldaufenthalts mit allen Lehrper- sonen einzeln und mit insgesamt 54 Schüler/-innen in unterschiedlichen Settings (Einzel-, Gruppen- und Klassengespräche) halbstrukturierte, leitfadengestützte Interviews durchgeführt. Die anschliessenden Transkriptionen dieser insgesamt 23 Interviews ergaben zusätzliches Datenmaterial. Dieses wurde aber bei der Ana- lyse nur ergänzend herbeigezogen, um einerseits die Perspektive der Schüler/-in- nen und Lehrpersonen zu berücksichtigen und andererseits mich dadurch auf von mir übersehene oder vernachlässigte Aspekte aufmerksam zu machen. Bei der Analyse wurde die im vorangehendenden Kapitel beschriebene praxeo- logisch-kulturwissenschaftliche Perspektive mit der Hegemonietheorie von La- clau und Mouffe (2012) kombiniert, weil das Erkenntnisinteresse der Arbeit Prozesse zur Entstehung und Konsolidierung kultureller Macht war. Aufgrund der gebotenen Kürze dieses Textes kann die Theorie hier nicht entfaltet werden (siehe dazu Blanchard, 2019, S. 120–143). Zudem wurden die nachfolgend prä- sentierten Erkenntnisse so ausgesucht, dass sie auch ohne diese Theorie nach- vollziehbar sind. Trotzdem soll der Fokus hier erwähnt werden, weil er die oben postulierte Offenheit der Kulturbeschreibung relativiert. Die interpretative Analyse gestaltete sich in einem Dreischritt. Zunächst wurde das Datenm aterial nahe an den Relevanzen des beforschten Unterrichtes codiert. Die daraus resul- tierenden Codes wurden dann in einem zweiten Schritt aus dem Blickwinkel der Hegemonietheorie geordnet. Die dadurch entstandene Ordnung wurde ab- schliessend wieder näher am Datenmaterial ausdifferenziert. Schon aufgrund der oben erwähnten Zufälligkeit der ausgewählten Unterrichte ist die Erkenntnis der Forschung nicht repräsentativ für den Musikunterricht an Deutschschweizer Sekundarschulen. Grundsätzlich ist anstelle der Repräsentati- vität eher die Reflexivität das zentrale Gütekriterium ethnografischer Forschung (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff, Nieswand, 2013, S. 35 f., 95, 102 f.). Denn die Erkenntnisse einer ethnografischen Untersuchung sind nicht nur potenziell anders, wenn anderer Unterricht untersucht wird, sondern auch, wenn eine an- dere Person mit anderem (biografischen, theoretischen usw.) Hintergrund sowie mit anderem Erkenntnisinteresse denselben Unterricht beforscht. In diesem Sinne ist die beschriebene Kultur des Musikunterrichts eher eine durch diesen Text sozialwissenschaftlich konstruierte Kultur (vgl. Schiffauer, 2011, S. 507). Zugleich ist die Behauptung, dass diese Kultur irgendwie schweizerisch sei, eine nicht unproblematische Verallgemeinerung.3 3 Diese Bemerkung bezieht sich vor allem auf den Titel dieses Beitrags, der mit «Schweizer Schul- musik» eine Allgemeingültigkeit unterstellt. Dem gegenüber wird im Titel des Tagungsbandes explizit nicht von schweizerischen Kulturen, sondern von Kulturen in der Schweiz gesprochen. 67 Allerdings ist es auch nicht das Ziel des Textes, repräsentative Aussagen zu ma- chen. Vielmehr geht es darum, alltägliche und daher als «normal» erscheinende Praktiken des Musikunterrichts aus einer neuen Perspektive zu betrachten und dadurch zum Nachdenken anzuregen. So hoffe ich, dass durch die nachfolgend beschriebenen Erkenntnisse eine Reflexion angestossen werden kann, die auf Un- terrichte übertragbar ist, welche auch ganz anders aussehen als die beforschten. «Musizieren» und «Nichtmusizieren» – Einige Erkenntnisse4 Die in den beobachteten Musikunterrichten stattfindenden Praktiken konstitu- ieren zwei voneinander distinkte Wissensordnungen, das «Musizieren» und das «Nichtmusizieren». Es handelt sich dabei, getreu der praxeologisch-kulturwis- senschaftlichen Perspektive, um zwei in den Praktiken verortete Wissensord- nungen, die umgekehrt die Lehrpersonen und Schüler/-innen mit einem jeweils spezifischen Handlungswissen ausstatten, um am entsprechenden Musizier- oder Nichtmusizierunterricht teilnehmen zu können. Das Nichtmusizieren ist zielorientiert sowie aktivitätsstrukturiert und ist stets eine Individualleistung, die kriteriengeleitet beurteilt wird. Das Musizieren ist aktivitätsorientiert sowie inhaltsstrukturiert und ist in der Regel eine Kollektivleistung, die gefühlsmässig bewertet wird. Nachfolgend werden diese wesentlichen Unterschiede der beiden Wissensordnungen genauer beschrieben:5 Während das Nichtmusizieren sich stets an einem Ziel orientiert, das von der Lehrperson bestimmt wird, kommt das Musizieren in der Regel ohne Zielset- zung aus und orientiert sich an der Aktivität des Musizierens selbst. Zwar wird in den Unterrichten durchaus angekündigt, dass «ein neues Lied gelernt» würde, und zurückgemeldet, dass man «ein Lied gut kann». Dieses Lernen und Können wird aber von Schüler/-innen und Lehrpersonen nicht als Ziel des Musizierens wahrgenommen, sondern eher als Voraussetzung, welche die Schüler/-innen idealerweise immer schon mitbringen und welche das Musizieren als Aktivität überhaupt erst möglich macht. Das Nichtmusizieren erfährt seine Strukturierung durch verschiedene Aktivi- täten (Vortrag, Klassengespräch, Üben und Vertiefen, Aufgabenlösen, Recher- 4 Den letzten Abschnitt des vorangehenden Kapitels unterstreichend (und somit Redundanzen in Kauf nehmend), ist es mir ein Anliegen, zu betonen, dass es sich beim nachfolgenden Text um Interpretationen der beobachteten Unterrichte aus der vorgestellten Perspektive handelt. Die Erkenntnisse wurden induktiv generiert und beziehen sich nicht auf musikdidaktische, wissenschaftliche oder andere Konzepte. 5 Aufgrund des knappen Umfangs dieses Textes können die wenigsten Erkenntnisse hier (bei- spielsweise mit Auszügen aus Beobachtungsprotokollen) belegt werden. Für eine ausführli- chere Darstellung siehe Blanchard (2019, S. 172–301). 68 che usw.), die in verschiedenen Sozialformen durchgeführt werden und allesamt die Schüler/-innen unterstützen sollen, sich Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wis- sen anzueignen, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Dem gegenüber sind es die Inhalte, die den Unterricht beim Musizieren strukturieren. Die zentrale Frage ist hier, welcher Song als Nächstes gemeinsam musizierend realisiert wird. Dies zeigt sich bereits in der Planung des Musizierunterrichts, die bei den Lehrper- sonen über die Suche nach passenden Songs geschieht. Beim Musizieren werden somit immer dieselben Aktivitäten in derselben Sozialform durchgeführt, aber stets mit einem neuen Inhalt. Das Erreichen der im Nichtmusizieren gesetzten Ziele durch die Schüler/ -innen wird schliesslich von der Lehrperson auch beurteilt und in den meis- ten Fällen benotet. Die Beurteilung orientiert sich dabei immer an konkre- ten Kriterien, die den Schüler/-innen transparent gemacht werden. Zwar wird auch das Musizieren notwendigerweise bewertet, jedoch fällt diese Bewertung immer gefühlsmässig aus. Dies bedeutet nicht, dass die Lehrpersonen keine Qualitätsvorstellungen haben. Allerdings können diese in der Regel nicht ex- pliziert werden. Stattdessen wird gesagt, dass das Ergebnis «rollt», «lebt», «schon Musik ist», oder dass man hört, wie die Schüler/-innen «fühlen» und «dabei sind». Die Bewertungen sind somit, im Gegensatz zu den Beurteilun- gen im Nichtmusizieren, nicht kriteriengeleitet und nur schwerlich intersub- jektiv überprüfbar. Schliesslich fallen diese Leistungsbeurteilungen im Nichtmusizieren immer in- dividuell aus – jeder Schüler, jede Schülerin erhält eine persönliche Note –, wäh- rend das Musizieren stets eine Kollektivleistung darstellt. Im Anschluss an einen musizierten Song gibt die Lehrperson oft bekannt, wie ihr das gemeinsame Mu- sizieren gefallen hat. Dabei wird jedoch gewöhnlich die ganze Klasse adressiert, nie einzelne Schüler/-innen. Die möglicherweise verwirrende Benennung der Wissensordnungen – es handelt sich beim Musizieren und Nichtmusizieren im Kontext dieser Forschung nicht um Aktivitäten selbst, sondern eben um Wissensordnungen – wurde nicht un- absichtlich von mir gewählt. Sie soll die Aktivitätsorientierung im Musikunter- richt hervorheben, vor allem diejenige des Musizierens, die den unhinterfragten Normalfall des Musikunterrichts darstellt. Erstens wird nämlich rein quantita- tiv deutlich mehr Unterrichtszeit im Musizieren abgehalten als im Nichtmusi- zieren. Es lassen sich gar Unterrichte beobachten, die ausschliesslich im Mu- sizieren stattfinden. Zweitens rechtfertigen sich die Lehrpersonen zudem, vor den Schüler/-innen und vor mir, stets, wenn aus irgendeinem Grund im Unter- richt nicht musiziert wird. Dabei wird auch deutlich, was allgemein vom Musik- unterricht erwartet wird. Das Musizieren wird nämlich nie gerechtfertigt oder begründet. Deshalb habe ich die andere Wissensordnung bewusst Nichtmusizie- 69 ren genannt. Damit wollte ich verdeutlichen, dass es das Andere des (didaktisch) nicht begründeten dominanten Musizierens ist. Die Zentralität des Musizierens war auch der Grund, warum ich mich im Ver- laufe der Forschung vor allem auf diese Wissensordnung konzentriert habe. Dabei zeigte sich, dass sie vom Singen als «Knotenpunkt» (Laclau, Mouffe, 2012, S. 149) organisiert wird.6 Das Singen kann vom Konstituieren einer sozia- len Gruppe über das Lernen eines Songs bis zum praktikablen Musizieren für überzählige Schüler/-innen einer Klassenband (vgl. Blanchard, 2019, S. 221–246) eine Vielzahl von unterschiedlichsten Funktionen übernehmen. Dadurch wird es zum organisatorischen Zentrum der Wissensordnung Musizieren. Nachfolgend konzentriere ich mich einzig auf den (in insgesamt drei von fünf beforschten Unterrichten anzutreffenden) Fall, in dem das Singen sogar den ge- samten Musizierunterricht ausmacht, und zwar im Sinne, dass es die einzige mu- sizierende Aktivität darstellt. Musizieren – oder teilweise gar der gesamte Mu- sikunterricht – ist hier überspitzt gesagt: «Singen.»7 Beim Fokus auf diesen Fall lassen sich einige Eigentümlichkeiten herausarbeiten, die für die nachfolgenden, diesem Text zugrundeliegenden Überlegungen wichtig sind. Dabei lassen sich aus der hier vertretenen kulturwissenschaftlichen Sicht zwei unterschiedliche Formen beobachten. Auf der einen Seite profitieren Frau Wehrli8 und Herr Gasser von ihrer institu- tionell legitimierten Macht und schliessen das instrumentale Musizieren bewusst aus ihrem Unterricht aus: «Was ich nicht so mache, ich tu nicht so mit ihnen Instrumente spielen. Manchmal hat es natürlich Schüler, die Klavier spielen. Die können auch begleiten, die kön- nen mitspielen, aber ich mache keine Band. Ich mache keinen Bandunterricht. … Ich mache es einfach nicht.» (Frau Wehrli) 6 Im Denken von Laclau und Mouffe ist einerseits der soziale Sinn in den kollektiven Wissens- ordnungen verortet, andererseits werden die Wissensordnungen erst durch soziale Praktiken konstituiert und können somit keinen Sinn per se haben. Ein Knotenpunkt ist bei Laclau und Mouffe entsprechend eine partielle Fixierung des sozialen Sinns. Er entsteht, indem die sozialen artikulatorischen Praktiken ein spezifisches Moment zu einer zentralen Stelle innerhalb einer Wissensordnung instituieren. 7 Diese Bezeichnung ist inspiriert von einer Antwort, welche in einer explorativen Studie zum «Spannungsfeld zwischen Lehrplan und Lehrperson» (Blanchard, Huber, 2014, S. 2) auf die Frage nach dem persönlichen Schwerpunkt des eigenen Musikunterrichts gegeben wurde. Die meisten Lehrpersonen brachten in umfangreichen Antworten eine deutliche Präferenz für das praktische Musizieren zum Ausdruck. Andere wiederum antworteten etwas knapper mit «Sin- gen und Musizieren» und eine Person gar sehr knapp, aber nicht weniger aussagekräftig mit: «Singen.» Auch wenn es sich dort um einen persönlichen Schwerpunkt gehandelt hat, erhält dieser im Kontext des vorliegenden Textes eine ganz andere Bedeutung: nicht der Schwerpunkt, sondern der Musikunterricht ist: «Singen.» 8 Alle Namen von beforschten Personen sind anonymisiert. 70 «Und ähm … Ja, da muss ich schon, manchmal auch selbst … mich vielleicht ein wenig schonen und halt, ähm, ja … ähm, jetzt eben, wenn ich bei jeder Klasse an- fangen würde mit Djembes und noch Trommeln und Instrumenten und Schlag- zeug und Gitarren und Bandraum, nein, dann hätte ich einfach [er schüttelt sei- nen Kopf, hebt seine beiden Hände hoch, die er ebenfalls schüttelt und sagt dazu ‹bchchch›], das, das wäre unmöglich.» (Herr Gasser) Diese persönliche Präferenz von Frau Wehrli und Herr Gasser wird indes nicht von allen Schüler/-innen geteilt. In jeder Lektion lässt sich beobachten, dass ein- zelne Schüler/-innen den Gesang (mitunter auch demonstrativ und konfronta- tiv) verweigern. Die Lehrpersonen wiederum empfinden dies als anstrengend und geben an, dass sie diesem Verhalten gegenüber machtlos sind. Aus dieser Sicht scheint es erstaunlich, dass Lehrpersonen sich in der Gestaltung des Un- terrichts sehr frei fühlen – darauf deuten zumindest die beiden obenstehenden Zitate hin –, den Schwerpunkt aber auf eine Aktivität setzen, deren Umsetzung anstrengend bis unmöglich ist. Auf der anderen Seite wird im Unterricht von Herrn Neuhaus zwar durchaus instrumental musiziert, aber während derjenigen Lektionen des Stundenplans, die er für den Nichtmusizierunterricht vorsieht und überdies stets nach den Spielregeln des Nichtmusizierens. Beim instrumentalen Musizieren gibt Herr Neuhaus seinen Schüler/-innen ein Ziel vor, lässt im Unterricht verschiedene Aktivitäten in verschiedenen Sozialformen durchführen, welche ihnen helfen sollten, das gesetzte Ziel zu erreichen, und überprüft schliesslich jede Schüle- rin, jeden Schüler individuell und kriteriengeleitet hinsichtlich der Erreichung dieses Ziels. Aus der hier vertretenen kulturwissenschaftlichen Sicht kann man daher sagen, dass das instrumentale Musizieren bei Herrn Neuhaus Nichtmu- sizieren ist, auch wenn dies Musiker/-innen möglicherweise etwas merkwürdig erscheint. Musizieren und Nichtmusizieren sind im Kontext dieser Studie eben keine Aktivitäten, sondern Wissensordnungen, die die Akteur/-innen mit spezi- fischem Handlungswissen ausstatten, wie sich an der nachfolgend protokollier- ten Szene mit zwei Schülern von Herrn Neuhaus schön zeigt: «Ich begebe mich ins Stuhllager, wo Lenny und Janis auf zwei akustischen Gi- tarren eine Basslinie üben und frage sie, ob sie mir über ihren Musikunterricht berichten möchten. Sie […] beginnen gleich zu erzählen: Im Musikunterricht würden sie singen und Instrumente spielen und hätten Theorie über Lieder. Das Singen würde sich immer gleich abspielen, wobei bei der Theorie meistens zwei bis drei Themen pro Semester bearbeitet würden. […] Auf die Frage ob denn nun die Arbeit, die sie gerade ausführen eher wie Singen wäre oder wie Theorie, antwortet Janis mit: ‹Dazwischen. Singen und Theorie, weil es macht Töne und trotzdem muss man es [am Ende des Semesters] können.›» (Auszug aus einem Be- obachtungsprotokoll) 71 Für die Schüler/-innen ist der herausgearbeitete Unterschied zwischen den Un- terrichten von Frau Wehrli und Herrn Gasser einerseits und demjenigen von Herrn Neuhaus andererseits wohl kaum relevant. Schliesslich wird überall im Musizierunterricht einfach gesungen.9 Aus der hier vertretenen kulturwissen- schaftlichen Sicht ist er aber durchaus interessant. Die Identität des Singens wird in den Unterrichten von Frau Wehrli und Herrn Gasser über die des instrumen- talen Musizierens konstruiert – «Singen» ist «nichtinstrumentales Musizieren» –, da Lehrpersonen und Schüler/-innen nicht selten miteinander verhandeln, ob im Unterricht nun auch auf Instrumenten gespielt wird beziehungsweise wer dies tun darf oder wer eben singen soll. Instrumentales Musizieren kommt hier also in den Praktiken (wenn auch nicht in denen des Musizierens, so immerhin in denjenigen des Argumentierens) durchaus vor. Demgegenüber verlegt Herr Neuhaus das instrumentale Musizieren ins Nichtmusizieren. Als Konsequenz hat Singen im Musizieren kein Gegenüber. Im Unterricht von Herrn Neuhaus vermag Singen Musizieren alleine zu verkörpern. Singen ist Musizieren. Zusammengefasst und verallgemeinert kann jede musizierende Praxis aus dieser Perspektive sowohl im Musizieren als auch im Nichtmusizieren stattfinden – eine kulturwissenschaftliche Erkenntnis, die für die abschliessenden Überle- gungen zentral sein wird. So beispielsweise auch im Nichtmusizieren gesungen werden, wie nachfolgend anhand der Praktiken der Leistungsbeurteilung von Schüler/-innen veranschaulicht werden soll: «Danach ‹möchte [Herr Neuhaus] schnell die Note mitgeben vom Kanon›. – Jessica: ‹Oh, dreieinhalb!› – Herr Neuhaus: ‹So, was denkt ihr?› Verschiedene Schüler/-innen rufen kreuz und quer verschiedene Noten rein, die meisten bewegen sich zwischen 5,25 und 5. – Herr Neuhaus: ‹Ihr habt 31 von 35 Punkten erhalten, das gibt genau eine 5.›» (Auszug aus einem Beobachtungsprotokoll) Herr Neuhaus erteilt der ganzen Klasse für eine gesangliche Leistung dieselbe Note. Auf Nachfrage geben seine Schüler/-innen an, dass diese Praxis bei ihnen nicht sehr beliebt ist, da deren Leistung jeweils von derjenigen ihrer Mitschüler/ - -innen abhängt. Doch Herr Neuhaus geht noch «einen Schritt weiter», wenn diese Beurteilung auch ohne «ganz klare Kriterien» erfolgt: «Aber sie wissen auch, dass diese Klassennoten … mehr-10 also, nicht ich gebe ja dort jedem Schüler dieselbe Note. Es geht mir um das Gesamtergebnis und diese Noten sind auch … oft sehr gut. […] Weil ich ihnen auch gesagt habe: ‹Schaut, ich 9 Selbstverständlich wurde dieses Singen im Rahmen der Dissertationsarbeit differenzierter be- forscht und beschrieben (Blanchard, 2019, S. 256–288). Die Darstellung der diesbezüglichen Erkenntnisse würde jedoch den Rahmen des Textes sprengen. 10 Ein direkt an das Wort angehängter Bindestrich bedeutet ein Abbrechen. 72 beurteile hier nicht ganz klare Kriterien, Rhythmik, äh Tongebung, Aussprache und so.›» (Herr Neuhaus) Etwas polemisch kann Herrn Neuhaus’ Praxis der Benotung wie folgt zu- sammengefasst werden: Durch die Kollektivbenotung werden nicht nur «gute Sänger/-innen» nicht gebührend honoriert und «schlechte Sänger/-innen» un- gerechtfertigt belohnt, er kann darüber hinaus nicht einmal genau sagen, warum die Benotung so und nicht anders ausfällt, weil er sich nicht an Kriterien orien- tiert. Damit ist Herr Neuhaus zum Glück der Einzige. Herr Gasser und Frau Wehrli geben ihren Schüler/-innen nämlich jeweils die Note, welche aus ihrer Sicht deren individueller gesanglicher Leistung entspricht, und können dank der zugrunde liegenden Kriterien auch begründen, warum sie dies tun. Entspre- chend verfahren auch die Lehrpersonen der beiden anderen beforschten Un- terrichte bei der Benotung des Singens und instrumentalen Musizierens ihrer Schüler/-innen. Zum Glück? Bei genauerer Betrachtung ist nämlich Herr Neuhaus der Einzige, der konse- quent benotet, wie er unterrichtet. Während bei allen anderen Lehrpersonen Musizieren im Unterricht eine Kollektivleistung ist, wird bei der Benotung die Einzelleistung jeder Schülerin und jedes Schülers beurteilt. Die Schüler/-innen erhalten jedoch im Unterricht, wenn überhaupt, nur ganz wenig Möglichkeiten, sich auf diese abschliessend geprüften Leistungen vorzubereiten. Zudem erfolgt die Beurteilung des Musizierens bei allen anderen Lehrpersonen, nicht wie im Unterricht «gefühlsmässig», sondern unterliegt klaren Kriterien. Von den Lehr- personen als «objektiv messbar» ausgewiesen, sind diese meist die Korrektheit der Wiedergabe bezüglich Intonation, Rhythmus, Text und, bei den Lehrperso- nen, die auch das instrumentale Musizieren überprüfen, Harmonie. Inwiefern diese Kriterien effektiv objektiv sind, soll an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Es lässt sich allerdings feststellen, dass das Musizieren bei der Beurtei- lung auf einen kleinen Teil des Beobachtbaren reduziert wird. Bei der Leistungsbeurteilung drehen sich also die Dominanzverhältnisse beider Wissensordnungen um. Während das Musizieren in der Regel der unhinterfragte «Normalfall» des Musikunterrichts ist, unterwerfen sich bei der Schüler/-innen- benotung das Singen und das instrumentale Musizieren den diskursiven Spiel- regeln des Nichtmusizierens. Somit wird eine für den Musikunterricht zentrale Aktivität von einer Wissensordnung vereinnahmt, die ansonsten eher eine Ne- benrolle spielt. 73 «Musizieren» oder «Schule»? – Ein fragmentarisches Fazit Wie bereits erwähnt, war es nicht das Anliegen des Forschungsprojektes, re- präsentative Aussagen für den Musikunterricht an Deutschschweizer Sekun- darschulen zu machen. Dennoch kann man davon ausgehen, dass das prak- tische Musizieren11 auch in vielen anderen Unterrichten an zentraler Stelle steht (siehe beispielsweise Blanchard, Huber, 2014, S. 3 f.). Zudem zeigte sich auch in den Beiträgen an der Tagung, aus welcher der vorliegende Band entstammt, dass das Singen ein Knotenpunkt des Musizierens an Schweizer Schulen zu sein scheint. Deshalb formuliere ich im Anschluss an die präsentierten Erkenntnisse einige offene Fragen, von denen ich (zugegebenermassen nicht ganz bescheiden) hoffe, dass sie für die «Kulturen der Schweizer Schulmusik» gewinnbringende Reflexion en anstossen könnten: – Wie legitimiert sich die Zentralität des praktischen Musizierens? Inwie- fern steht sie einem oft angestrebten Bezug zur Lebenswelt der Schüler/-innen entgegen? – Wie legitimiert sich die Zentralität des Singens? Welche Chancen und Pro- bleme beherbergt sie? – Ist schulisches Musizieren kompatibel mit der Funktionsweise der Schule? Während die ersten Fragen sich mit etwas Distanz wohl gewissermassen von selbst ergeben, bedarf die letzte Frage sicherlich noch einer Erläuterung. Sie er- gibt sich aus der oben dargestellten Feststellung, dass die meisten Lehrpersonen prüfen, was sie nicht unterrichten. Damit machen sie sich aus einer pädagogisch- didaktischen Perspektive leicht kritisierbar. Allerdings sollte diese Erkenntnis nicht zu vorschnell auf die Lehrpersonen zurückgemünzt werden. Es ergeben sich nämlich auch einige Denkaufgaben für die Fachdidaktik. So gibt gerade Frau Wehrli an, dass sie im Unterricht auch am Prüfungskriterium «korrekte In- tonation» arbeiten will. Nur hält sie dieses Vorhaben im Klassenverband nicht für umsetzbar: «Oder ich meine, das sind einfach immer … Herausforderungen und eigentlich ist das ein- wäre das Individualunterricht.» (Frau Wehrli) Man kann sich zwar weiterhin fragen, ob sie – oder die Musikdidaktik – über ge- nügend Differenzierungsmethoden verfügt. Das Problem kann allerdings auch auf einer noch grundsätzlicheren Ebene angesiedelt werden, wie sich an den Aussagen zweier Schüler zeigt: 11 Der Begriff «praktisches Musizieren» wird hier im Sinne von «Singen» und/oder «Spiel mit Instrumenten» und damit als Kontrast zu dem in diesem Text als Wissensordnung verstandenen «Musizieren» verwendet, da Wissensordnungen im kulturwissenschaftlichen Sinne implizit bleiben (Reckwitz, 2006, S. 162) und daher auch nicht (didaktisch) inszeniert werden können. 74 «Beim Singen tun wir einfach die ganze Zeit singen. Und beim … [holt tief Luft] und wenn wir Noten oder so etwas haben, […] dann sind wir mehr, wie eine nor- male Mathestunde … Dass einfach alles normal abläuft.» (Christoph) «Ich mache es jetzt eigentlich auch noch gerne … also, singen halt, aber, und ich finde es jetzt eigentlich auch noch einen guten Ausgleich, dass man jetzt auch mal etwas anderes macht, als immer nur Schule haben und so.» (Kai) Für Christoph und Kai ist das Andere des Singens nämlich nicht das Nicht- musizieren, sondern die Mathestunde oder gar die Schule. Zudem lassen das Adjektiv «normal» für Christophs Beschreibung der Mathestunde sowie Kais Aussage, dass man neben dem Singen «immer nur Schule» hat, die Interpreta- tion zu, dass die Wissensordnung (nicht die Aktivität) Musizieren als Normal- fall des Musikunterrichts eher der Ausnahmefall des übrigen Schulunterrichts ist. In diesem Sinne lohnt es sich im Anschluss an die beiden Aussagen, die Bezugsgröss en des schulischen Musizierens in den Blick zu nehmen. Es lässt sich nämlich fragen, ob das Musizieren wie in einer Band oder einem Chor überhaupt mit einem (leistungsorientierten) Schulsystem kompatibel ist? Denn so merkwürdig es in einem schulischen Kontext klingen mag, dass Musizieren nicht ziel-, sondern aktivitätsorientiert ist und nicht kriteriengeleitet, sondern gefühlsmässig beurteilt wird, so sehr entspricht es doch weitgehend der Pra- xis des ausserschulischen Musizierens im Ensemble. Welche Chorleiterin, wel- cher Chorleiter kann nach präzisen Kriterien in Worte fassen, warum die eine Version ihres beziehungsweise seines Chores besser war als die andere? Welche Band probt Intervallsprünge? Ist letztlich in diesen Kollektiven das Beherr- schen beziehungsweise Können des Instruments (inklusive der Stimme) nicht auch bloss eine Voraussetzung und nicht das Ziel? Allerdings stellt sich die Frage, wie damit im Unterricht umzugehen ist, solange die individuelle Zeug- nisnote das letzte Wort hat. Vielleicht ist ein Musizieren ohne operationalisierte Zielsetzungen gar eher im Sinne eines kompetenzorientierten Unterrichts. Allerdings definitiv auch nicht in der Form, in der es im beforschten Unterricht vorgefunden wurde; es bräuchte vielmehr eine fundierte Auseinandersetzung auf fachdidaktischer Ebene. Nun kann nicht am Ende dieses Textes auf ein so grosses und bereits breit und auch kritisch diskutiertes Thema wie Kompetenzorientierung eingegangen werden – viel wurde darüber schon gesagt und gestritten (zum Beispiel Knigge, Lehmann, Lehmann-Wermser, Niessen, 2008; Richter, 2005; Rolle, 2008; Vogt, 2008). Zudem wäre die Frage nach der Kompetenzorientierung auch nur ein möglicher Ansatz, der im Anschluss an die präsentierten Erkenntnisse verfolgt werden könnte. Deshalb belasse ich es bei den offenen Fragen und bei der Fest- stellung, dass das schulische Musizieren nur schlecht mit einem leistungsorien- tierten Schulsystem kompatibel ist. Weder das eine noch das andere ist wohl in 75 absehbarer Zeit radikal zu verändern. Eine reflektierte Fachdidaktik sollte sich jedoch zu diesem Spannungsverhältnis positionieren. Literaturangaben Blanchard, O. (2018). Der bedeutungsorientierte Kulturbegriff revisited – aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive. In B. Clausen, S. Dressler (Hg.), Soziale Aspekte des Musiklernens (S. 277–290). Münster: Waxmann. Blanchard, O. (2019). Hegemonie im Musikunterricht. Die Befremdung der eigenen Kultur als Bedingung für den verständigen Umgang mit kultureller Diversität. Münster: Waxmann. Blanchard, O., Huber, J. (2014). Zwischen Kanon und Soziokultur. Erkundungen auf dem Feld der Deutschschweizer Schulmusik. Art Education Research, 5 (9). https://blog.zhdk.ch/iaejournal/files/2014/12/AER9_huber_blanchard.pdf Böhme, H., Matussek, P., Müller, L. (2002). Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will (2. Auflage). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. 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Zwei diskursive Positionen stehen sich bis heute aber nur wenig verändert gegenüber, die sich in einer Frage, die für die Aktuali- sierung der Fachbezeichnung zentral ist, nicht aufeinander zubewegen: Soll das Singen nach wie vor die zentrale Rolle im Musikunterricht einnehmen oder soll es bloss einer von verschiedenen gleichberechtigten Unterrichtsinhalten sein? Dieser Beitrag unter- sucht Äusserungen zu dieser Bezeichnung und zu Inhalten des Musikunterrichts in Veröffentlichungen in der Deutschschweiz zwischen 1970 und 2010 anhand einer Situa- tionsanalyse nach Adele Clarke und setzt den Zeitpunkt der Bezeichnungsaktualisie- rung in Relation zum Verlauf der Diskussion um die Unterrichtsinhalte. Résumé Au cours des trois dernières décennies du siècle dernier, le terme de «chant» utilisé pour désigner la discipline scolaire s’est transformé en «musique» dans toute la Suisse aléma- nique. Lors de la discussion sur le contenu pédagogique qui a accompagné ce change- ment de dénomination, il y a eu un accord sur le fait que la discipline musique doit réagir de manière plus marquée aux développements des médias et élargir les contenus abor- dés. D’autres points ont été discutés et des approches ont été développées pour résoudre ces problèmes. Cependant, pour répondre à une question qui est aussi centrale pour ac- tualiser la dénomination de la discipline scolaire, deux positions discursives divergentes ont peu changé jusqu’à présent: le chant doit-il continuer à jouer le rôle central dans les cours de musique ou doit-il simplement être un parmi divers contenus d’enseignement tout aussi importants? Cet article examine les déclarations sur cette dénomination et sur le contenu de l’enseignement de la musique dans les publications de Suisse alémanique entre 1970 et 2010 sur la base d’une analyse de la situation par Adèle Clarke et met en relation le moment de la mise à jour de la dénomination de la discipline avec la discus- sion sur le contenu de cet enseignement. 79 Abstract Over the course of the final three decades of the 20th century, the school subject called “singing” was renamed “music” throughout German-speaking Switzerland. In the discussion of the teaching content that accompanied this change in designation, there was agreement that the subject of music must react more strongly to media develop- ments and expand its content. Further points were discussed and approaches to solv- ing problems were developed, however, two discursive positions have changed little to date, which do not agree on one question that is central to the updating of the subject designation: Should singing continue to play a central role in music lessons or should it simply be one of various equally important teaching and learning contents? This arti- cle examines statements about the designation “music” and about the content of music instruction in publications in German-speaking Switzerland between 1970 and 2010. It takes as a point of departure a situation analysis by Adele Clarke, and makes a connec- tion between the time-period of the designation update and the course taken by the dis- cussion on the content of instruction. Schlüsselwörter Schulmusik, Fachbezeichnung, Unterrichtsinhalte, Geschichte des Musikunterrichts, Situationsanalyse, Diskursanalyse, Lehrplan Die Bezeichnung eines Schulfachs fasst dessen Inhalte in einem Wort oder we- nigen Wörtern zusammen, damit sie nicht in die Irre führt. Stellt sich die Frage, ob eine Fachbezeichnung verändert werden soll, verweisen die Befürwortenden deshalb auf eine Wandlung der Inhalte in der jüngeren Vergangenheit, sei es, weil sich das Fach selber anders versteht oder weil an die Schule neue Anfor- derungen gestellt werden. So hat sich beispielsweise eine Arbeitsgruppe dafür eingesetzt, eine neue Bezeichnung für Bildnerisches Gestalten im Lehrplan 21 festzusetzen (Gaus-Hegner, 2008, S. 12–14; Aepli et al., 2009, S. 24), und dabei auf Inhalte im zeitgemässen Unterricht hingewiesen, die vom Wort «Gestalten» nicht mehr abgedeckt sind. Im Fall der Musik liegt die letzte Bezeichnungs- aktualisierung für die obligatorische Schule je nach Kanton und Stufe unter- schiedlich lange zurück: Während Anfang der 1970er-Jahre in der Primarschule flächendeckend und auf der Oberstufe überwiegend «Singen», «Gesang», «Schulgesang» oder «Gesangsunterricht» unterrichtet wurde (Kälin, 1976b, S. 460), nennt sich nach verschiedenen kantonalen Lehrplanreformen das glei- che Fach im Jahr 2000 in der ganzen Deutschschweiz «Musik», «Musikerzie- hung» oder «Singen/Musik». Im Unterschied zur versuchten Umbenennung des Fachs Bildnerisches Gestalten wurde für das Fach Musik jedoch nie eine Be- zeichnungsaktualisierung explizit gefordert. Dieser Beitrag möchte aufzeigen, 80 wie das Fach zu seiner neuen Bezeichnung kam, indem er wesentliche Punkte der Diskussion um die Unterrichtsinhalte untersucht. Situationsanalyse einer Fachbezeichnung Mittels einer Situationsanalyse (Clarke, 2012; Heiser, 2018, S. 259–267) wurde die Bezeichnung des heutigen Fachs Musik sowie dessen Wandlung und Be- gründung in der Zeit von 1970 bis 2010 untersucht. Als Datengrundlage diente ein Teilkorpus des Forschungsprojekts «Schulmusikalische Diskurse in der Deutschschweiz von 1970 bis 2010» an der Hochschule Luzern – Musik. Die- ses Teilkorpus beinhaltet Monografien, Akten des Schweizerischen Musikrats, Berichte und Artikel aus Sammelbänden, Fachzeitschriften und Tageszeitun- gen sowie aktuelle und historische Lehrpläne. Die gut 400 Texte befassen sich mit der Bezeichnung oder dem Inhalt des heutigen Schulfaches Musik in der Deutschschweiz. Die Situationsanalyse wurde als Werkzeug entwickelt, um die Grounded- Theory- Methodologie für die Lösung postmoderner Probleme in der Forschung zu ergänzen (Clarke, 2012, S. 23–42). Sie geht davon aus, dass Forschung nur solches Wissen generieren kann, das von geografisch, historisch oder anderwei- tig genau bestimmten Menschengruppen produziert und konsumiert wird, und erhebt den Anspruch, die Komplexität einer bestimmten Situation umfassend zu beschreiben. Nebst menschlichen Individuen bezieht sie auch Institutionen, Diskurse und andere nichtmenschliche Akteure sowie deren Handlungen und Beziehungen untereinander in die Analyse ein. Da sie Vereinfachungen und Ver- allgemeinerungen explizit vermeidet, kann jede Analyse nur als eine bestimmte Lesart der von ihr untersuchten Situation gesehen werden. Um einen Überblick über komplexe Situationen zu erhalten und ein Projekt zu gliedern, entwickelte Adele Clarke (ebd., S. 121–182) drei Werkzeuge mit karto grafischem Charakter: Situationsmaps, Maps sozialer Welten/Arenen und Positionsmaps. Eine Situationsmap erfasst alle an der Situation beteiligten Ele- mente und ermöglicht es, die Beziehungen zwischen ihnen systematisch zu un- tersuchen. Um Maps sozialer Welten/Arenen zu erstellen, wird zuerst ein inter- essanter Aspekt der Situation bestimmt. Alle Kollektive und Institutionen, die an der Ausgestaltung dieses Aspekts beteiligt sind, werden in der Map sozialer Welten/Arenen versammelt. Deren Verpflichtungen, Abhängigkeiten und In- teressen können darauf übersichtlich dargestellt werden. So gibt eine Map so- zialer Welten/Arenen Aufschluss über die Beweggründe der Handlungen oder des Nichthandelns verschiedener Kollektive. Auch für eine Positionsmap wird zuerst ein für die zu erforschende Situation wichtiges, häufig auch umstrittenes 81 Thema ausgewählt. Um Positionsbezüge in diesem Thema grafisch darzustellen, wird ein Koordinatensystem aus zwei oder mehr Achsen aufgespannt. Jede die- ser Achsen stellt das Ausmass eines relevanten Aspekts im gewählten Thema dar, indem sie von einem Nullpunkt, der für eine fehlende Position, also Gleichgül- tigkeit, zu einer starken Ausprägung führt. Alle drei genannten Maptypen die- nen dazu, den Forschenden den Überblick über das Thema zu erleichtern und die Aufmerksamkeit auch auf nicht zur Sprache gebrachte Abhängigkeiten und Positionen zu lenken. Um Aussenstehenden bestimmte Aspekte eines Projekts zu erläutern, dienen als vierter Typ Projektmaps. Sie können mit den anderen drei Typen identisch sein, sie miteinander kombinieren oder mit anderen Visu- alisierungselementen angereichert sein. Die weiter hinten in diesem Beitrag ste- hende Projektmap ist eine dreidimensionale Positionsmap, die unterschiedliche Ansichten zu einem umstrittenen Punkt in der Diskussion um die Inhalte des Musikunterrichts veranschaulicht. Geschichte der Fachbezeichnung Musik Spätestens nach dem Erscheinen von Rudolf Schochs Standardwerk Musik- erziehung durch die Schule (1946) setzte sich in der Schweiz allmählich ein Mu- sikunterricht durch, in dem viel, gemäss einer Umfrage von 1977 mehr als die Hälfte der Zeit mit Singen im Klassenverband verbracht wurde (Villiger, 1996, S. 1401). Um das Jahr 1970 äusserten viele am schweizerischen Musikleben Be- teiligte, insbesondere Lehrpersonen, Wünsche nach einer neuen inhaltlichen Ausrichtung des Musikunterrichts. Sie begründeten dieses Anliegen auf ver- schiedene Weise: Edwin Villiger, Musiklehrer aus Schaffhausen, sah den Schul- gesang durch die anti autoritäre Erziehung herausgefordert, denn diese verwei- gere die Einordnung, die das Singen voraussetze (ebd., S. 1401). Auf die gleiche Problematik beim Musizieren mit Instrumenten geht er bemerkenswerterweise nicht ein. Weitaus häufiger, auch von Villiger selber, wurde aber der Umstand erwähnt, dass sich die Rolle der Musik in der Gesellschaft durch die Verbrei- tung der Massenmedien grundlegend gewandelt habe und der Unterricht dar- auf reagieren müsse. Verschiedene Stimmen äusserten sich dazu unter anderem wie folgt: «Von diesem Grundsatz aus führt er [Heinz Antholz] zu kritischen fachdidakti- schen Fragen […] und gibt Ideen für den Musikunterricht von heute, der im Zeit- alter der Medienkultur die Hörerziehung fordert.» (Willisegger, 1970, S. 590) «Wie Jugendlichen geholfen werden kann bei der Auswahl aus dem überreichen Musikangebot, ist zweifellos eine viele Erzieher brennend interessierende Frage.» (Liebi, 1971, S. 98) 82 «Alle Kinder haben ein Anrecht auf eine wirksame musikalische Erziehung durch die Schule. Dieser Schulmusik sind folgende Ziele gesetzt: […] Befähigung zur Be- wältigung der allgegenwärtigen musikalischen Flut und zur Teilnahme an der Mu- sikkultur.» (Villiger, 1971a, S. 2) «Heute […] wissen wir, dass diese Entwicklung [das Aufkommen der Tonträger] in keinem Fall eine Verbesserung der musikerzieherischen Belange zur Folge hatte.» (Hassler, Alig, 1993, S. 4) Es liessen sich noch weitere Äusserungen anführen, die angesichts der medialen Entwicklung Handlungsbedarf in der inhaltlichen Ausrichtung des Musikun- terrichts sehen. Und es findet sich keine einzige, die ebendies bestreitet. Diese Einigkeit unter den Fachleuten und ihre Einsicht, dass die veraltete Musikerzie- hung erneuert werden muss (Hefti, 1972, S. 1893), veranlasste eine Gruppe von Musiklehrpersonen, die schulmusikalischen Kräfte in der ganzen Schweiz zu- sammenzufassen und auf ein gemeinsames Ziel auszurichten (Villiger, 1985, S. 149). 1970 formierte sich aus dieser Initiative das Schweizerische Komitee zur Förderung der Schulmusik (SKFS), das 24 Verbände, Vereine und Konferen- zen aus der Deutschschweiz und der Romandie in den Bereichen Bildung und Musik vertrat. Seine erste und wichtigste Aufgabe wurde die Erarbeitung eines Lehrgangs für den Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen. Im Jahr 1972, also zu einer Zeit, in der in den meisten Stundenplänen «Singen», «Ge- sang», «Schulgesang» oder «Gesangsunterricht» stand, stellte es den «Lehrplan für den Musikunterricht in der Schule» vor (Schweizerisches Komitee zur För- derung der Schulmusik, 1972). Darin entwirft das Komitee eine sich durch alle neun obligatorischen Schuljahre ziehende Beschäftigung mit den vier Teilberei- chen elementare Musiklehre, Singen, Musikhören und Spielen während zweier Lektionen pro Woche, nennt Inhalte für jede Schulstufe, begründet ihre Aus- wahl und formuliert Ziele für die einzelnen Stoffkreise. Bemerkenswert ist die Bezeichnung «Musikunterricht», die prominent im Titel verwendet wird. Das SKFS legte der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirekto- ren (EDK) den Lehrplan vor, die ihn offenbar ohne die gewünschte Empfehlung an die Kantone weiterleitete (Villiger, 1977, S. 74). In der Folge diente dieses Do- kument den Kantonen jedoch als Vorbild oder Anregung bei der Revision ihrer eigenen Lehrpläne (Villiger, 1985, S. 148). Durch eine Einsicht in histor ische Lehrpläne kann verallgemeinernd festgestellt werden, dass in den Revisionen das Fach inhaltlich erweitert und die Bezeichnung auf «Musik» aktualisiert wurde. Die vom SKFS vorgeschlagene Strukturierung in vier Teilbereiche wurde grund- sätzlich übernommen und um den Bewegungsaspekt ergänzt. Zuletzt geschah dies im Jahr 2000 im Kanton Graubünden (Alig, Hassler, 2000, S. 4). In einigen Lehrplänen wurde aber dem Singen (wieder) eine ausserordentliche Bedeutung zugesprochen. Zehn Kantone entkoppelten das Singen von der Musiklektion, 83 indem sie häufigeres oder tägliches Singen vorschlugen, wünschten oder forder- ten (zum Beispiel Lehrplankommission Musik der Innerschweizer Erziehungs- direktoren-Konferenz, 1993, S. 8). Die beiden Appenzell hoben die Bedeutung des Appenzeller Liedes hervor (Departement Bildung und Kultur, Amt für Volksschule und Sport, 2004, S. 237; Erziehungsdepartement, Volksschulamt, 2004, S. 1). Zwei Kantone verwiesen auf die ganzheitliche Bildung, die durch das Singen beziehungsweise die Stimmbildung möglich ist. Im Vorwort zum An- hang des Lehrplans Singen/Musik Oberstufe des Kantons Graubünden schrieb der Vorsteher des Amtes für Volksschule und Kindergarten: «Das menschliche Stimmorgan ist aber auch Instrument – ein vielseitiges, ein be- seeltes, ein ganzheitliches, ein einzigartiges Instrument. Die Pflege des Stimm- organs ist Aufbauarbeit am ganzen Menschen, ist ein Beitrag zur sozialen Verant- wortung, zur Ich-Stärkung und ein Ausdruck von Harmoniebedürfnis.» (Engi, 2000, S. 2) Im deutschsprachigen Teil des Kantons Wallis argumentierte der Fachberater Musik unter der für Lehrpersonen verlockend entlastend wirkenden Überschrift «Lassen wir die Kinder wieder vermehrt singen!» wie folgt: «Körper, Sprache, Stimme und Seele sind beim Singen am vollkommensten miteinander verbunden, daher sollte das Singen im Mittelpunkt des Musikunterrichts stehen» (Kämpfen, 2005, S. 1). Was gehört zum Musikunterricht? Skizzierung einer Diskussion Nach dem Verfassen des Lehrplans bemühten sich Exponenten des SKFS um eine öffentliche Diskussion zu den Inhalten des Musikunterrichts. Von den zahl- reichen Diskussionssträngen mit ihren ganz unterschiedlichen Verläufen möchte ich im Folgenden zwei mit entgegengesetzten Ausgängen kurz vorstellen. Ei- nerseits fand sich nach mehreren über fünfzehn Jahre verteilten Beiträgen ein überwiegender Konsens, dass Musik aus der unmittelbaren Lebenswelt der Ler- nenden in den Musikunterricht integriert werden soll (vgl. Jost, 1972; Chapuis, 1973; Gohl, 1976; Mittler et al., 1978; Rentsch, 1984b; Schweri, 1985; Brügger et al., 1985; Kristof, 1986; Favre, 1987). Die Rolle des Singens hingegen wurde ohne einhelliges Ergebnis diskutiert. Sowohl Befürworter wie auch Gegner einer hohen Bedeutung des Singens im Musikunterricht stellten fest, dass die Praxis stillsteht und die Diskussion sich im Kreis dreht: «Das Singen ist wohl die ur- sprünglichste aller Musikausübungen. Es wird es bleiben!» (Gohl, 1976, S. 456, Hervorhebung im Original). «Schulmusik reduziert sich nach wie vor aufs Sin- gen» (Haefeli, 1979, S. 7). So scheint die Beantwortung einer für die Fachbe- zeichnung zentralen Frage in eine Sackgasse geraten: In welchem Ausmass und 84 Kontext soll im Musikunterricht gesungen werden? Der kommende Abschnitt geht dieser Frage nach und beschreibt dafür den Vorgang der Bezeichnungs- aktualisierung für das Fach Musik und ihr Einwirken auf die inhaltliche Ausein- andersetzung des Unterrichts etwas genauer. Umbenennung als Anpassung oder Anreiz Wie in der Einleitung erwähnt, sollten Inhalte und Bezeichnung eines Schul- fachs korrelieren. Diese beiden Dinge verändern sich aber auf unterschiedliche Weise: Inhalte wandeln sich langsam und allmählich, während sich eine Bezeich- nung mit einer Lehrplanreform auf einmal ändert und mindestens bis zur nächs- ten Reform so bestehen bleibt. Der Zeitpunkt einer Bezeichnungsaktualisierung in Relation zur Entwicklung der Unterrichtsinhalte hat Einfluss auf deren Wir- kung, die damit auch gesteuert werden kann: Haben sich die Inhalte so stark ge- ändert, dass die neue Bezeichnung sie besser zusammenfasst als die alte, stellt die Aktualisierung eine Anpassung an eine gängige Praxis dar; geschieht dieser Schritt aber bereits, wenn noch nicht klar ist, ob die neue Bezeichnung die In- halte des Fachs besser zusammenfasst als die alte, muss er als Absicht interpre- tiert werden, die Inhalte in Richtung der neuen Bezeichnung zu entwickeln. Dies war im Lehrplan des SKFS der Fall: Bei Erscheinen des Lehrplans 1972 war die Diskussion um die Inhalte noch nicht abgeschlossen, sie blühte vielmehr erst auf. In der Folge konnten manche Standpunkte von der grossen Strahlkraft der neuen Bezeichnung des SKFS für ihre Anliegen profitieren. So ist davon auszu- gehen, dass durch die Proklamation eines inhaltlich breit gefächerten Unterrichts auch Verfechterinnen von Inhalten, die damals der Schulmusik noch relativ fern standen wie Bewegung (beispielsweise Willisegger, 1972; Looser-Menge 1974) oder Hören (beispielsweise Anonymus, 1977; Hunziker, 1978), zur Mitsprache ermuntert wurden. Andererseits mussten die Vertreter des früheren Singunter- richts die zentrale Rolle des Singens im Unterricht mit Argumenten untermau- ern, die auf die mediale Entwicklung reagierten. In manchen Äusserungen, die eine wissenschaftliche Orientierung im Musikunterricht als einengend bezeich- nen (beispielsweise Weder, 1972; Schwarb 1976), sind Anzeichen zu erkennen, dass das Singen nach wie vor als zentraler und nicht als paritätischer Unterrichts- gegenstand betrachtet wurde. Diametral entgegengesetzt formulierte Paul Kälin pointiert: «Die Dominanz des Liedes und des Singens sowie der Vorrang des ei- genen Tuns gegenüber der Reflexion [sind] abzubauen» (Kälin, 1976a, S. 235). Sowohl in den Beiträgen von Weder und Schwarb als auch in demjenigen von Kälin wird ein Zusammenhang zwischen der Bedeutung des Singens und einer intellektuellen oder musischen Prägung des Musikunterrichts suggeriert. Kälin 85 stellte die beiden Begriffe einander gegenüber: Mit der musischen Erziehung und Bildung werde dem Fach Musik zugleich eine Ausgleichsfunktion zur intellek- tuellen Beanspruchung anderer Fächer übertragen (ebd., S. 222). Benary wies auf die schwierige Definition des Musischen hin und erachtete den ganzheit- lichen Aspekt als dessen Kern (1985, S. 169 f.). Eine aktuelle Definition betont den Wahrnehmungsaspekt: In der «kulturellen/musisch-ästhetischen Bildung» gehe es «um Wahrnehmen und Aufnehmen, ohne gleich einzuordnen oder zuzu- ordnen» (Heyden-Busch, 2014, S. 93). Dem gegenüber sieht Cohors-Fresenborg einen intellektuellen Kern im Unterricht in metakognitiven Aktivitäten, die er allgemein als Gespräche beschreibt, in denen es «um das Verstehen von Begrif- fen […], das Erfinden von Definitionen und Beweisen sowie deren Verständnis gehen» kann (2012, S. 145). Mit dem Versprachlichen von Unterrichtsinhalten identifiziert er das charakteristische Kriterium, das in den Dokumenten des Teil- korpus intellektuell orientierten Unterricht kennzeichnet. Musisch orientierter Unterricht hingegen setzt einen Schwerpunkt auf die Wahrnehmung von Musik und deren subjektiver Bedeutung. Aussagen zum Zusammenhang dieser beiden Unterrichtsansätze zum Singen sind zur Klärung der am Ende des vorherigen Abschnitts gestellten Frage von besonderem Interesse. Im Folgenden werden deshalb weitere Äusserungen dazu in einer Projektmap dargestellt und ihre Po- sitionen erläutert. Zusammenfassende Projektmap Die abgebildete Projektmap (Grafik 1) stellt die wichtigsten Positionen bezüg- lich der Bedeutung des Singens und einer musischen oder intellektuellen Orien- tierung des Musikunterrichts grafisch dar. Ihre Standorte wurden aus relevanten Beiträgen aus dem Teilkorpus eruiert und sind als Interpretation zu verstehen. Da die Texte sich in Umfang, Anliegen und Schwerpunkt unterscheiden, kön- nen sie nicht exakt miteinander verglichen werden. Die Positionen werden in der Abbildung mit einem Buchstaben versehen, wobei die alphabetische Reihen- folge der chronologischen entspricht. Die Schriftgrösse korreliert mit der Be- deutung des Singens im Unterricht. In der Legende wird auf den entsprechenden Eintrag in den Literaturangaben verwiesen. Um die Grafik übersichtlich zu hal- ten, ist bloss ein Teil der im Teilkorpus eingenommenen Positionen darin enthal- ten. Bei der Auswahl wurde darauf geachtet, dass für alle nicht berücksichtigten Positionen quasi eine Stellvertreterposition in unmittelbarer Nähe dargestellt ist. Die Dichte der abgebildeten Positionen repräsentiert insgesamt alle Positionen im Teilkorpus. Mit Adele Clarke (2012, 165 f.) ist es mir wichtig zu betonen, dass die Positionen nicht mit den Autorinnen der Beiträge gleichzusetzen sind. Es ist 86 Grafik 1: Projektmap - Intellektuelle Musikerziehung ist wichtig. + Je weiter oben die Position, umso wichtiger ist im Beitrag die musische Musikerziehung. Je weiter rechts, umso wichtiger ist die intellektuelle Musikerziehung. Je grösser das Kürzel, umso wichtiger ist das Singen im Musikunterricht. Die Wichtigkeit wird in vier Stufen unterteilt: Geringere Bedeutung des Singens im Musikunterricht gefordert. Keine Äusserung zu einer veränderten Bedeutung des Singens im Musikunterricht. Erhöhte Bedeutung des Singens im Musikunterricht gefordert. Zentrale Bedeutung des Singens im Musikunterricht gefordert. Den Positionen zugrunde liegende Beiträge: A: Hefti, 1971a/1971b; B: Villiger, 1971b; C: Weder, 1972; D: Looser-Menge, 1974; E: Benary, 1975; F: Gohl, 1976; G: Kälin, 1976a/1976b; H: Schwarb, 1976; I: Willisegger, 1976; J: de Stoutz, 1979; K: Haefeli, 1979; L: Weber, 1981; M: Rentsch, 1984a; N: Bergamin, 1985; O: Röösli, 1997; P: Schei- degger, 2001; Q: Kämpfen, 2005; R: Caviezel, 2008. 87 - Musische Musikerziehung ist wichtig. + nicht möglich, die Komplexität eines Individuums samt seinen Veränderungen in einem kurzen Text zu repräsentieren. Betrachtet man diese Grafik, fallen die Häufungen an Positionen oben links und, etwas weniger dicht, unten rechts auf. Sie entsprechen den bereits erwähn- ten Vertretungen für musischen beziehungsweise intellektuellen Musikunter- richt. Dass sie erkennbare Haufen, umgeben von weissen Zonen, bilden, deutet auf eine Polarisierung der Diskussion hin. Ausserhalb dieser Haufen finden sich vereinzelt Positionen, die sich ungefähr auf der Diagonale von unten links nach oben rechts befinden. E setzt sich am entschiedensten für eine Inklusion von As- pekten beider Prägungen im Unterricht ein. B spricht sich sowohl für einen mu- sisch als auch für einen intellektuell ausgerichteten Musikunterricht aus. Bei D und bei Q spielen diese Ausrichtungen nur eine untergeordnete Rolle, das Sin- gen im Zusammenhang mit Bewegung (D) und dem Blockflötenspiel (Q) dafür eine umso wichtigere. In der linken Hälfte der Grafik, also bei den Positionen, die der intellektuellen Musikerziehung eine eher geringe Bedeutung beimessen, wird dem Singen die höhere Bedeutung beigemessen als in der rechten Hälfte. Die auffällige Ausnahme hierbei ist N. Im zugrunde liegenden Beitrag wird ein Lehrgang für eher intellektuell orientierten Musikunterricht vorgestellt, in dem in jeder Lektion Lieder als Anschauungs- und Arbeitsmaterial dienen. Über das ganze Bild betrachtet scheint das Singen eine besondere Rolle unter den Inhalten des Fachs Musik einzunehmen: Von achtzehn Positionen messen ihm vierzehn eine erhöhte oder zentrale Bedeutung zu. Schliesslich fällt weiter auf, dass die Aktivität in der Diskussion im Verlauf der Zeit abnahm: Bloss fünf der achtzehn Positionen fussen auf Texten, die nach 1985 veröffentlicht wurden. Auch im gesamten Datenkorpus spiegelt sich die abnehmende Beitragsdichte nach dem euro päischen Jahr der Musik: In den sechzehn Jahren zwischen 1970 und 1985 finden sich 248 Beiträge zu den Inhalten des Musikunterrichts, in den fünfund- zwanzig Jahren von 1986 bis 2010 noch 172. Angesichts der noch immer nicht entkoppelten oder geklärten Verbindung von Singen und musisch orientiertem Unterricht wäre eine breit angelegte öffentliche Diskussion wertvoll. So könnte die Fachbezeichnung Musik, die von der umstrittenen Frage zentral betroffen ist, bestätigt oder neu diskutiert und damit eine mehr als vierzigjährige Span- nung gelöst werden. Literaturangaben Aepli, B., Gaus-Hegner, E., Graser, H., Lohrer-Baier, A., Mätzler Binder, R., Schaub, R., Schwarz, B., Sidler, B. (2009). Bild und Kunst – Design und Technik. Bildung Schweiz, 154 (6), 24. 88 Alig, R., Hassler, L. (2000). Anhang zum Lehrplan der Oberstufe des Kantons Grau- bünden. Chur: Amt für Volksschule und Kindergarten des Kantons Graubünden. Anonymus (1977). Musik hören und verstehen lernen. Das Schweizer Radio über- nimmt ein Funkkolleg des Südwestfunks. Schweizer Schule, 64 (10), 319. Benary, P. (1975). Musik zwischen Kunst und Wissenschaft. Gymnasium Helveticum, 29 (1), 25–35. Benary, P. (1985). 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[Rezension von Unterricht in Musik von H. Antholz]. Schwei- zer Schule, 57, 590. Willisegger, H. (1972). Lehrgang Musizieren, Tanzen, Gestaltung und Spiel. Schweizer Schule, 59 (2), 80. Willisegger, H. (1976). Singen, Spielen und Tanzen in der Schule. Schweizer Musikpäd- agogische Blätter, 74, 2–4. 91 Das Vermitteln von Kinderliedern in der Schule als Kulturbestandteil und musikdidaktische Kernaufgabe Stefanie Stadler Elmer Zusammenfassung Dieser Text thematisiert den theoretischen Hintergrund von aktueller Forschung zum Wesen und zur Entstehung der Kompetenz, Lieder im Kindergarten und in der Primar- schule zu vermitteln. Das Lehren und der Erwerb von Liedern in der Bildung werden aus anthropologischer und strukturgenetischer Sicht begründet. Dabei erweisen sich die intergenerationelle Tradierung von Liedern, die humanspezifische vokale Lernfähigkeit und der generative Systemcharakter von Sprache und Musik als kulturpsychologische Konstanten. Jedes Kinderlied – die elementare sprach-musikalische Form – exemplifi- ziert die Anwendung einer Grammatik, die diesem Genre zugrunde liegt. Grammatik als expliziertes Regelwerk erlaubt es, wohlgeformte Lieder zu bilden und sie ästhetisch zu beurteilen. Zugleich vermitteln Kinderlieder Gefühle, die sozial geteilt und erinnert werden. Die Liedvermittlung im Kontext von formellem Klassengesang versteht sich folglich als komplexe Kulturpraxis und als musikdidaktische Kernaufgabe. Résumé Ce texte traite des recherches actuelles sur la transmission des chants à l’école et de ses justifications théoriques. Basé sur des considérations anthropologiques et structure-gé- nétiques, il fournit des arguments et des raisons pour l’enseignement, l’apprentissage et le partage des chants dans l’éducation formelle. La transmission intergénérationnelle des chants, la capacité d’apprentissage vocal spécifique à l’homme et le caractère sys- témique génératif du langage et de la musique s’avèrent être des constantes psycholo- giques culturelles. Chaque chanson pour enfants – la forme linguistique et musicale élé- mentaire – illustre l’application d’une grammaire sous-jacente à ce genre. La grammaire, en tant qu’ensemble de règles explicites, permet de conceptualiser et d’analyser les chan- sons en fonction de leur forme et de les juger esthétiquement. En plus de ce point de vue structurel, les chansons pour enfants véhiculent des sentiments qui sont médiatisés, partagés et dont on se souvient. Par conséquent, l’enseignement et l’apprentissage des chansons dans le contexte du chant formel en classe est une pratique culturelle complexe et une tâche essentielle de l’éducation musicale. 93 Abstract This text deals with current research on the transmission of songs at school and its the- oretical rationales. Based on anthropological and structure-genetic considerations, it provides arguments and reasons for teaching, learning, and sharing songs in formal edu- cation. The intergenerational transmission of songs, the human-specific vocal learning ability, and the generative systemic character of language and music prove to be cul- tural psychological constants. Each children’s song – the elementary linguistic-musical form – exemplifies the application of a grammar underlying this genre. Grammar as an explicit set of rules makes it possible to conceptualise and to analyse songs with respect to well-formedness, and to judge them aesthetically. In addition to this structural view- point, children’s songs convey feelings that are socially mediated, shared, and remem- bered. Therefore, the teaching and learning of songs in the context of formal class sing- ing is a complex cultural practice and a key task in music education. Schlüsselwörter Liedvermittlung, Strukturgenese, Affektregulation, Kinderliedgrammatik, Musikdi- daktik 1 Einleitung Unser aktuelles Forschungsprojekt The song leading capacity – developing pro- fessionalism in teacher education1 (So-Lead) entstand aufgrund von theoreti- schen Überlegungen zur Bedeutung des Singens aus strukturgenetischer und anthropologischer Sicht. Den theoretischen Hintergrund dieses Projekts auf- zuzeigen und die Vermittlung von Liedern in der Schule als musikdidaktische Kernaufgabe zu begründen, sind die Ziele dieses Kapitels. Die strukturgenetische Theorie (vgl. Seiler 2008, 2012, 2013) behandelt die Entstehung (Genese) von kulturspezifischen Strukturen im Erkennen, Wahr- nehmen, Handeln und Denken, die der Mensch aus elementaren Formen der Sensomotorik im Verlaufe des Lebens konstruiert. In der Vermittlung von Kul- turgut – wie etwa Liedern – entstehen bei den Beteiligten neue Strukturen im Ausdruck und damit einhergehend in den Gefühlen und den Erinnerungen. Die philosophische Anthropologie beschäftigt sich mit Eigenschaften des Men- schen, welche dauerhaft und daher nicht den wechselnden Moden ausgesetzt sind (vgl. Ricœur, 1983). Bezogen auf den Kulturbereich «Musik» erweist sich das Singen – neben den Bewegungen (Tanzen, Trommeln, Gebrauch von Klang- 1 SNF-Projekt (2018–2021) in Ko-Leitung mit François Joliat und in Zusammenarbeit mit Anna- maria Savona, Gabriella Cavasino, Anna Elisa Hürlimann und Armin Wyrsch. 94 objekten) und der Schallwahrnehmung – als elementare und universelle Hand- lung (Stadler Elmer, 2000), die den Menschen während seiner Anthropogenese vermutlich stets begleitet hat. Über die Entstehung – die evolutionsgeschichtlich frühen Funktionen und Strukturen der menschlichen Vokalisation – können wir mangels direkter Beweise nur mutmassen. Aus dem vergleichenden Studium der Entwicklung von Tieren – insbesondere der Primaten und Singvögel – und dem Studium der individuellen menschlichen Entwicklung (Ontogenese) lassen sich einige Schlüsse ziehen, welche als anthropologische Begründungen des Singens gelten können. Kulturspezifisches Handeln und Denken ist grundsätzlich sozial vermittelt, und der Fokus auf die Vorgänge des Tradierens und Aneignens von Liedern beinhaltet Prozesse des Lehrens und Lernens bei den Beteiligten. Das besagte Forschungsprojekt beschäftigt sich mit dem Aspekt der Vermittlung von Liedern im formalen Kontext von Schule, und wir betrachten die Fähigkeit des Singen-Leitens als eine professionelle Kompetenz, die erworben werden muss. Die verschiedenen normativen Ansprüche, Strukturen und Funktionen der Fä- higkeit des Leitens von Klassengesang treten deutlich hervor, sobald kulturhis- torische und kulturpsychologische Überlegungen bei der theoretischen Veror- tung und zur musikdidaktischen Begründung mit einbezogen werden. Die bildungspolitische Diskussion über den Bildungswert des Liedersingens ist nicht Gegenstand unserer Forschung, sie spielt als Kontext jedoch eine grosse Rolle, wie einige historische Quellen bezeugen. So beurteilte Abel-Struth (1974, S. 54) den didaktischen Stellenwert des Kinderliedes als gering und gar als «Ge- fahr einer Retardierung» aufgrund «der begrenzten Singfähigkeiten des jungen Kindes» und «der bescheidenen Auswahl an Liedgut». Abel-Struth brachte hier den damaligen Zeitgeist zum Ausdruck, als in Deutschland das Singen tabui- siert war (vgl. Klusen, 1975) und stattdessen die ästhetische Musik- und Hör- erziehung (vgl. Alt, 1968) betont wurde. So analysierte Küntzel (1984), dass das Liedersingen in den deutschen Lehrplänen der einzelnen Bundesländer, bei- spielsweise zwischen 1973 und 1983, so gut wie nie erwähnt wurde. Die Öffent- lichkeit habe erkannt, «welche schlimme Vergangenheit das Schulsingen bezüg- lich seiner ideologischen Besetztheit bis in die Nachkriegszeit hinein gehabt hat» (Küntzel, 1984, S. 38). In Ost- und Westdeutschland galt es nach dem Zweiten Weltkrieg, die musikalischen Bildungsinhalte neu zu konzipieren, wobei sich unterschiedliche Strategien rekonstruieren lassen, wie das Liedersingen als Dis- ziplinierungs- und als Emotionssteuerungsmittel eingesetzt wurde (vgl. Brauer, 2012, 2015). Die bildungspolitischen Strömungen in der Musikerziehung in Deutschland blieben nicht ohne Folgen für die deutschsprachigen Nachbarlän- der. Dem Zeitgeist der 1970er-Jahre folgte in der Schweiz beispielsweise Kälin (1976, S. 227), als er für Schweizer Musiklehrpläne vorschlug: «Vor allem geht es um den Abbau der Dominanz des Liedes und um bessere Berücksichtigung des 95 Werkhörens.» Die systematische Schulung des Hörens wurde als die Grundlage zur kritischen Teilnahme an der Kultur und als Schutz vor sozialem Missbrauch von Musik betrachtet (vgl. Joliat, 2009; Stadler Elmer, 2002, 2004). Unberück- sichtigt bei dieser didaktischen Ausrichtung bleibt die Tatsache, dass das Singen und andere Formen des aktiven Musizierens stets das Hören implizieren (Stad- ler Elmer, 2010) und folglich «Musik-Hörerziehung» das Handeln naturgemäss und notwendig umfasst. Dieser kurze historische Exkurs verdeutlicht eines der bildungspolitischen Spannungsfelder und zugleich die Notwendigkeit, bei musikdidaktischen Be- gründungen den jeweiligen bildungspolitischen Kontext mit einzubeziehen. Der inhaltliche Schwerpunkt dieses Kapitels – eine Darstellung einer anthropologi- schen und strukturgenetischen Sicht auf das Liedersingen – ergibt eine völlig an- dere musikdidaktische Bewertung als die zuvor dargestellte. Deren historische Kontextualisierung muss sinnvollerweise aus Distanz zu späteren Zeiten rekon- struiert werden. 2 Anthropologische und strukturgenetische Sicht auf die humanspezifische Vokalisation Mit Blick zurück auf die Menschheitsgeschichte fällt auf, dass in der Natur bisher kein anderes Lebewesen gefunden wurde, das die Fähigkeit hat, durch die Vo- kalisation – den stimmlichen Ausdruck – zwei verschiedene generative Systeme zu bilden: das der Sprache und das der Musik. Bestimmte Singvögel und gewisse Meeressäugetiere (Wale) fallen zwar mit ihrem vokalen Lernen – dem Wahrneh- men und Gliedern von auditiven Signalen und dem vokalen Nachahmen und Modifizieren durch Feedback – und ihrer komplexen vokalen Kommunikation auf (Janik, Slater, 1997; Nottebohm, 1972). Die spezifische menschliche Fähig- keit zum flexiblen vokalen Lernen jedoch sucht bisher vergeblich vergleichbare Modi in der Natur (Merker, 2005; Merker, Morley, Zuidema, 2015). Die Flexibi- lität der vokalen Lernfähigkeit hat nicht nur ermöglicht, 6000 bis 7000 verschie- denartige Sprachen zu generieren, sondern auch verschiedenartige Formen von Vokalmusik. Welches von beiden Systemen während der Anthropogenese zuerst ausdifferenziert wurde, ist Gegenstand vieler Debatten (vgl. Cross et al., 2013) und kann letztlich nicht beantwortet werden, weil die Bedeutungen der Begriffe Sprache und Musik in den historischen Kontexten nicht auseinanderzuhalten und daher die Problemlage auch nicht eindeutig zu rekonstruieren ist. Hingegen lassen sich in der frühen Phase der Ontogenese sowohl theoretische Argumente wie auch empirische Indizien für die Entstehung des Sprechens und Singens ausmachen. Beide vokale Ausdrucksweisen gleichzeitig zu betrach- 96 ten, bringt deren gemeinsame und unterschiedliche Strukturen und Funktionen deutlicher hervor. Nachfolgend fasse ich wichtige Gemeinsamkeiten und Unter- schiede in sieben (1–7) und Besonderheiten des Singens in drei Punkten (8–10) zusammen. Selbstverständlich haben das Sprechen und die Sprache ein breites funktionales Spektrum, dessen Thematisierung jedoch über den Rahmen dieses Kapitels hinausgeht. 1. Das Singen und Sprechen haben eine gemeinsame Geschichte und gemein- same biologische Wurzeln in der Vokalisierung und im vokalen Lernen (vgl. Merker, 2012). 2. Singen und Sprechen sind Handlungen mit unterschiedlichen Funktionen im gesellschaftlichen Leben (vgl. Lomax, 1977), deren Differenzierung bereits im ersten Lebensjahr beginnt (Stadler Elmer, 2002, 2015, 2020). So ist zu beobachten, wie das Kind seine Bedürfnisse mit sprechähnlichen Äusserungen oder mit Spre- chen mitteilt, während es mit Singen und dessen Vorformen eher Wohlbefinden und eine spielerische Stimmung veräussert. Sprechen dient typischerweise dazu, in Form von Sprechakten (Austin, 1962; Searle, 1969) Absichten der sprechenden Person – beispielsweise fordern, befehlen, bitten – zum Ausdruck zu bringen. 3. Beide Ausdrucksmodi sind im Kontext intergenerationeller Kulturvermitt- lung erworben. Ohne eine Vermittlung von den älteren an die jüngeren Genera- tionen gäbe es weder Sprache noch Musik (Merker et al., 2015) und auch keine weiteren Kulturtechniken. 4. Die Vokalisation ist in der Ontogenese anfänglich unspezifisch und formt sich allmählich zum Singen und Sprechen. Diese bringen zum Ausdruck, dass sich der Mensch Musik und Sprache seiner Umgebung aneignet. 5. Beide, Musik und Sprache, sind ein generatives System (Merker, 2002; Stad- ler Elmer, 2015), welches – kurz gesagt – auf dem Partikelprinzip basiert: Eine endliche Menge von verschiedenen Elementen, die aus einem Kontinuum aus- gewählt sind (beispielsweise aus dem vokalen Ausdruckspotenzial), kann zu immer neuen und vielseitigen Mustern kombiniert werden (Abler, 1989; Mer- ker, 2002). 6. Die Grundeinheit des Singens und Sprechens ist die Silbe, bestehend aus Vokal und optionalen Konsonanten. Die Silben werden in beiden Modi jeweils anders gebildet und nach unterschiedlichen Regeln organisiert. In der Sprache kombi- nieren sich Phoneme zu Silben, daraus zu Wörtern und zu Sätzen. Beim Singen ist das prominente Element der Silbe der Vokal, weil daran die Tonhöhe, Dauer und das Betonungsmuster (Metrum) gebunden sind (Stadler Elmer, 2002, 2015). 7. In der Regel wird im gemeinsamen Gespräch – beim dialogischen Sprechen – abwechselnd gesprochen, während das gemeinsame Liedersingen synphon2 (zu- 2 Den Begriff synphon verwende ich hier und nachfolgend gemäss der griechischen Bedeutung 97 sammen klingen) und synchron (gleichzeitig) geschieht – den Wechselgesang ausgenommen – und auch mehrstimmig sein kann (polyphon). 8. Ursprünglich bringen das Singen und singähnliche Vokalisationen positive af- fektive Zustände wie Wohlbefinden oder Verspieltheit zum Ausdruck. Erst spä- ter – sozusagen als symbolische Handlung im Sinne von Als-ob – kann das Sin- gen eingesetzt werden, um absichtlich den eigenen affektiven Zustand und jenen von anderen in Richtung angenehmer Gefühle zu verändern, beispielsweise um von Angst, Schmerz oder Langeweile abzulenken. 9. Der synphone und synchrone Charakter des gemeinsamen Singens kann so- wohl Gefühle kultureller Zugehörigkeit als auch von Gruppenkohäsion erzeu- gen, was soziale Abgrenzung nach aussen nach sich ziehen kann. Gefühle von Zugehörigkeit sind ein menschliches Grundbedürfnis (Baumeister, Leary, 1995); sie erhöhen die Bereitschaft, sich mit den Werten der Gruppe zu identifizieren und diese anzunehmen. «… ein Teil der Macht von Lieder Singen erklärt sich daraus, dass eine Teilnahme geringe Anforderungen stellt. Mitsingen ist einfach, weil die zeitliche Struktur von Liedern Regelmässigkeiten aufweist, an denen sich selbst kleine Kinder mühelos orientieren. Im Gegensatz zum Sprechen sind es diese zeitlichen Regelmässigkeiten und Wiederholungen, die dem Singen oder Sprechgesang rituellen Charakter verleihen» (Stadler Elmer, 2004, S. 226). 10. Das Liedersingen ist weltweit ein Bestandteil der rituellen Kultur (Merker, 2009); es kann – vor allem aufgrund der sozial gemeinsam organisierten, erinner- ten und physisch synchronisierten Handlungsstrukturen – zuvor erlebte affek- tive Zustände aktualisieren und auf diese Weise die Illusion herstellen, eine ver- gangene Erfahrung erneut zu erleben. Als ein «Festhalten des Vergänglichen und Entgänglichen in einer eigenen neuen Dauer» bezeichnet Gadamer (1977, S. 62) eine solche Leistung. Die synphone und synchrone Erlebnisqualität ermög- licht ein Regulieren von sozialen und von selbstbezogenen Gefühlen. Das Lie- dersingen als vokal ausdifferenzierter Ausdruck erweist sich als kulturelle Pra- xis und als affektregulierendes und – wie oben erwähnt – als identitätsstiftendes Mittel. Im kollektiven Liederrepertoire zeigen sich diese Funktionen beispiels- weise in anregenden Spielliedern, beruhigenden Schlaf- und Wiegenliedern und Heimatliedern. Die anthropologische Sicht auf die Strukturgenese der humanspezifischen Vo- kalisation und insbesondere auf das Singen liefert einige Schlussfolgerungen, die einerseits, wenn vereinzelt betrachtet, als trivial erscheinen, aber anderer- seits bei Bemühungen, musikalische Bildung zu begründen, erstaunlicherweise meist fehlen. Die erste betrifft die Stellung des Singens als ontogenetisch pri- zusammen klingen. Davon unterscheidet sich synchron mit dem Bezug auf Gleichzeitigkeit oder polyphon mit dem Bezug auf Mehrstimmigkeit in der Stimmführung. 98 mären, sprach-musikalischen Ausdruck, der sich von früh auf und gemeinsam mit der Sprache anzubahnen beginnt und der sich unter förderlichen Bedingun- gen anfänglich einfacher als das Sprechen auszudifferenzieren erweist (vgl. Ab- schnitt 3). Die zweite Schlussfolgerung betrifft den Stellenwert des Singens von Liedern, der, kurz gesagt, darin liegt, dass durch diese kulturelle Praxis die Kin- der in die Grundlagen der sprach-musikalischen Regeln – Musiktheorie, poe- tische Sprache und andere mehr – eingeführt werden (vgl. Abschnitt 4). Die sprach-musikalischen Elemente und Regeln, welche die elementare Form des Kinderliedes ausmachen, sind als Grammatik mit sieben Prinzipien und 21 Re- geln formuliert und hier als wichtiges theoretisches Bezugssystem thematisiert (Abschnitt 5). Eine dritte Schlussfolgerung lässt sich aus den Funktionen des Liedersingens ableiten, welche die Tradierung dieser affektregulierenden und regelgeleiteten Kulturtechnik zwischen den Generationen betrifft, die nicht zu- letzt die kulturelle Identität prägt. Dieser letzte Punkt – die Vermittlung von Liedgut von den älteren an die jüngeren Generationen – steht im Mittelpunkt unserer eingangs erwähnten Forschung, und zwar im Rahmen von formellen Bildungskontexten und in Hinsicht auf die Entstehung von professionellen For- men des Leitens von Klassengesang (vgl. Abschnitt 6). 3 Vokale Entwicklung: Singen als primärer sprach-musikalischer Ausdruck Für das Anliegen, Lieder zu vermitteln, ist es unwichtig, wie in der Ontoge- nese das Singen entsteht und wie diese Entwicklung mit dem Sprechen zusam- menhängt. Diese Fragen nach den Anfängen zu bearbeiten, bringt jedoch einige theor etische Einsichten in die anthropologischen Grundlagen und in die Struk- turgenese von Musik und Sprache, die für die Musikdidaktik nicht trivial sind. So haben meine jahrelangen Forschungen ergeben (vgl. Stadler Elmer, 2002, 2012, 2020), dass das Singen für das heranwachsende Kleinkind leichter zugäng- lich und einfacher in bereits differenzierter Form zu bewältigen ist als das Spre- chen. Diese Aussage gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass das Kind von Anfang an mit gemeinsamem Liedersingen als sozialer Praxis aufwächst. Die Be- gründung ist recht einfach und fächert sich zweifach auf: A) Wie zuvor erwähnt, ist aus struktureller Sicht das gemeinsame Grundelement beim Singen und Sprechen die Silbe. Aber die Funktion der Silben unterschei- det sich: Während beim Sprechen Silben zu Wörtern kombiniert werden und das Wort die Einheit des Sprechens ist, fungieren Silben beim Singen in erster Linie als Träger musikalischer Eigenschaften (Tonhöhen, Dauer, Betonungsmuster), die sich zu Melodien formen lassen, seien sie ohne oder mit Semantik, wobei sie 99 im letzteren Fall zu Wörtern kombiniert sein können. Dieser funktio nale Un- terschied der Silben ist wichtig, um zu beobachten und zu verstehen, wie junge Kinder damit umgehen. Während der Entwicklungsphase des Silbenplapperns im Alter zwischen fünf und zehn Monaten beginnen Säuglinge damit, die Pro- duktion von Silben zu erkunden. Aber in dieser Phase kann noch nicht zwischen kindlichem Sprechen und Singen und deren Vorformen unterschieden werden. Ausgehend vom Silbenplappern ist es für das Kind ungleich schwieriger, aus Sil- ben Wörter zu bilden, zu artikulieren und als Referenz auf ein Objekt zu ver- wenden, als mit Silben Melodien zu produzieren. Der Eindruck von elementa- rem Singen lässt sich erzeugen durch das Wiederholen und Variieren von Silben (Konsonanten und Vokalen), dabei insbesondere von deren Tonhöhen, zeitli- chen Strukturen als Betonungsmuster und der Dauer von Vokalen, und durch das Angleichen von zwei und mehr Stimmen als gleichzeitiger Zusammenklang (Synphonie3 und Synchronie) zuvor genannter Eigenschaften. B) Das frühe spielerische Wiederholen und Variieren von Silben ist noch an keine Bedeutungsfunktion gebunden, sondern geschieht im Gefühlszustand des Spielens, Erkundens und allgemein von Wohlbefinden (vgl. oben Punkt 8). Der Säugling und das Kleinkind bringen ihren affektiven Zustand unmittelbar vokal zum Ausdruck. Während Kinder, die sich wohl fühlen, eher geneigt sind, mit ihrer Stimme neue Ausdrucksformen zu erkunden und mit bereits erworbenen zu spielen (Vokalspiel, vgl. M. Papoušek, 1994; H. Papoušek, 2001), bringt ein Kind, das sich unwohl fühlt und gar dringende physiologische Bedürfnisse hat, sein Unbehagen vokal in unmittelbarer Form von Schreien, Quengeln und der- gleichen zum Ausdruck. Die bisherigen Erkenntnisse zur vokalen Entwicklung lassen die Schlussfolgerung zu, dass der Zustand von Wohlbefinden eine wich- tige Voraussetzung ist, die eigenen Vokalisationsmöglichkeiten zu erkunden und sich dabei an die in der unmittelbaren Umgebung verwendeten Vokalisations- formen anzupassen. Wie zeigt sich die vokale Entwicklung? Beim genaueren Betrachten des Verlaufs fällt einerseits auf, wie eng die vorsprachlichen und vormusikalischen Struktu- ren in der Vokalisation und in der Kommunikation miteinander verbunden sind, und andererseits, wie die Vokalisation gleichwohl allmählich als Sprechen und Singen auseinanderdriftet. Bereits ab dem dritten Monat sind Säuglinge fähig, vokal Tonhöhen eines Gegenübers nachzuahmen (Kessen, Levine, Wendrich, 1979; Wendrich, 1980/81). Diese frühe vokale Nachahmungsfähigkeit ist eine wichtige Quelle, um gehörte Eigenschaften und Formen ins Vokalspiel zu inte- grieren und umgekehrt, die im Vokalspiel erprobten Formen wiederum in Kom- munikationssituationen einzubringen. 3 Zum Begriff Synphonie oder synphon siehe Anmerkung 2. 100 Als Meilenstein der Sprachentwicklung gilt das Silbenplappern (canonical babb- ling, vgl. Vihman, 1996): Das Kind erkundet ab ungefähr fünf Monaten die Pro- duktion von Silben, beispielsweise durch die zyklische Bewegung des Kiefers und durch Öffnen und Schliessen des Mundes, und es beginnt die Silben zu va- riieren und der Zielsprache anzunähern. Das Silbenplappern ist fast ausschliess- lich Gegenstand linguistischer Untersuchungen. Diese Perspektive ist einseitig, denn das Silbenplappern enthält gleichzeitig sprachliche und musikalische Ei- genschaften (Nettl, 1956). Es lässt sich nicht eindeutig entscheiden, ob ein kon- kretes Beispiel von Silbenplappern als Vorform des Sprechens oder des Singens zu interpretieren ist. Silben und ihre Betonungsmuster sind die Grundelemente für beide Modi, für das Singen wie das Sprechen, bei denen sie je unterschiedlich organisiert werden. Wie beginnt das Kind, diese beiden Ausdrucksformen in seiner Vokalisation zu unterscheiden? Meine vorläufige Antwort lautet: Sie drängen sich ihm gleichsam auf, denn sie gründen auf den unmittelbar erlebten Affekten und Bedürfnissen, die das Kind vokal äussert und bei deren Regulierung es von den Bezugsper- sonen abhängig ist und beeinflusst wird. Die intuitive elterliche Fürsorge samt ihrer musikalisch geprägten Kommunikationsweise – Vereinfachen, Wieder- holen, Variieren, Überraschen, Übertreiben (vgl. Dissanayake, 2011; Papoušek, Papoušek, 1987) – und kulturelle Rituale wie das Liedersingen bieten dem Kind emotionale Sicherheit und zugleich vokale Formen an, die es allmählich und je nach affektivem Zustand in seinen Ausdruck integriert. Das Silbenplappern ist, wie schon die Bezeichnung andeutet, kein Ausdruck eines dringenden Bedürf- nisses oder von Not, sondern kann, wie gesagt, beides sein: eine Vorform des Sprechens und des Singens. Wir können somit davon ausgehen, dass das Silben- plappern als Vorform mit positiven affektiven Zuständen verbunden ist. Welche Erfahrungen bringen das Kind nun dazu, eher sing- als sprechähnliche Vokali- sationen zu äussern? Welche Eigenschaften und Strukturen kennzeichnen das frühe Singen und daher elementare, prägnant musikalische Erfahrungen? Bisher lassen sich folgende feststellen: 1. Während das Kind auf vielseitige Weise Silben produziert und variiert, erfährt es auch die Möglichkeit, die Vokale auszudehnen. Das Verlängern der Dauer von Vokalen ergibt den einfachsten Eindruck von Singen. 2. Das Kind erfährt, wie es die beim Vokalverlängern hervortretende Eigenschaft der Tonhöhe derjenigen des Gegenübers – gleichzeitig oder nacheinander – durch Nachahmung angleichen kann und dass die gegenseitige Angleichung vo- kaler Laute eine gemeinsame und gelungene Absicht ist, die positiv – sozusagen als synphone Spielhandlung – zu erleben ist. 3. Das Kind entdeckt im Monolog oder Dialog, wie es die Tonhöhe innerhalb von Silben relativ stabil produzieren und sie dadurch zwischen den einzelnen 101 Silben voneinander unterscheiden kann. Die Korrespondenz zwischen Silbe und Tonhöhe als stabile, einzelne Kategorie – noch ohne Bezug innerhalb eines Sys- tems – zeigt sich in der frühen vokalen Nachahmung. 4. Das Wiederholen von Silben, das oft mit regelmässigen Körperbewegun- gen einhergeht – eine Form des Entrainment (Jones, 1976; Clayton, Sager, Will, 2005) –, führt dazu, diese metrisch oder periodisch zu betonen. Die periodische Abfolge von abwechselnd betonten und unbetonten Silben kennzeichnet das Singen oder die poetische Sprache, aber nicht das monotone und dialogische Sprechen. Nach dem Silbenplappern und dem frühen Singen ist als nächst erscheinende Qualität das frühe Liedersingen zu nennen, in welchem erstaunlich deutliches Produzieren von Melodien bekannter Lieder zu beobachten ist. Interessanter- weise vereinfacht das Kind den Liedtext, denn es ist im Alter zwischen einem und zwei Jahren noch nicht fähig, alle Phonemverbindungen zu artikulieren, beispielsweise solche mit /pf/, /sch/ (vgl. Jakobson, 1944/1969). Trotzdem pro- duziert es nach seinen momentanen Möglichkeiten die sprachlichen Silben zu- sammen – synchron und metrisch – mit der Melodie (Stadler Elmer, 2015). Beim Wiederholen übt es sozusagen singend und nachahmend die Artikulation von Silben, welche semantisch noch unverbindlich sind. Im Vergleich dazu ist das Sprechen schwieriger: Hier regelt der Sprachrhythmus die Bildung von zwei- oder mehrsilbigen Wörtern und deren Abgrenzung von anderen durch jeweils sprachspezifische Betonungsregeln. Ein Wort verweist – im Unterschied zur Silbe – auf eine Bedeutung, beispielsweise durch die Bezugnahme auf ein Objekt. Diese beiden sprachtypischen Merkmale sind strukturell anspruchsvoller als re- petitives Produzieren von Silben und als das nachahmende oder synphone und synchrone Modulieren von Tonhöhen zu Melodien. Diese kurze Beschreibung der frühen vokalen Entwicklung liefert die theoreti- sche Erklärung, warum in der Ontogenese das Singen von Liedern einfacher ist als das Sprechen von Wörtern und Sätzen, vorausgesetzt, ein Kind wird mit bei- den Modi angeregt. Das Auseinanderdriften lässt sich empirisch durch mikro- genetische Methoden gegen Ende des ersten Lebensjahrs belegen, indem gezielt Situationen ausgewählt und untersucht werden, in denen deutlich zu erkennen ist, dass das Kind vom Sprechen zum Singen wechselt oder umgekehrt. Wechselt das Kind deutlich die Art und Weise des vokalen Ausdrucks, etwa von Quengeln oder Jammern zu einem spielerischen Modus, begleitet von entsprechendem Ge- sichtsausdruck, so kann dieser Wechsel im Ausdrucksmodus als absichtsvoll in- terpretiert werden. Hanuš Papoušek (2001) geht von einer genetischen Prädis- position in der frühen Kommunikation aus, welche eine funktional angemessene und gegenseitige Anpassung zwischen Säugling und Bezugsperson reguliert, was etwa die spontane vokale und mimische Mitteilung von Bedürfnissen und deren 102 Interpretation durch Erwachsene beinhaltet. Missachten Forschende im kindli- chen Ausdruck kontrastive Wechsel im vokalen und mimischen Ausdruck und die damit verbundenen affektiven Zustände, kann dies zu falschen Interpretatio- nen führen. Beispielsweise haben Linguisten und Spracherwerbsforschende das Silbenplappern nur als Vorläufer des Sprechens, aber nicht auch des Singens in- terpretiert.4 Im Übergang vom Silbenplappern zum Singen und Sprechen lassen sich die neu entstehenden Strukturen nur mittels solch kontrastiver Differenz ermitteln, welche sich im Wechsel von einem zum anderen Modus zeigen. Die- ser Kontrast hilft zu vermeiden, kindliche vokale Äusserungen allzu einseitig als sprachlich oder musikalisch zu interpretieren, denn wir neigen intuitiv dazu, mit unserem Gegenüber eine gemeinsame Kommunikationsform herzustellen und die Bedingungen kulturell zu interpretieren. Die Wechsel zwischen sing- und sprechähnlichen Vokalisationen im Alter von ungefähr einem Jahr signalisie- ren ein frühes Anpassen an regelgeleitete Vokalisation und dabei an die gemein- samen Eigenschaften des Sprechens und Singens – die Silben, ihr Betonungs- muster, die (kategoriale) Tonhöhenveränderungen usw. Auf der Suche nach elementaren Strukturen von Musik und Sprache findet sich in diesem Phänomen eine ontogenetisch bedeutsame und frühe Manifestation. 4 Zum Stellenwert des Kinderliedes als Kulturpraxis und Bildungsinhalt Dem vokalen Lernen als der spezifisch menschlichen Fähigkeit zum Erwerb jeg- licher Sprachen und von Gesang entspricht das Motiv von älteren Generationen, die jüngeren in die soziale Gemeinschaft zu integrieren und sie beim Erwerb der kulturellen Fähigkeiten – unter anderem von Sprache und Musik – unterstützen zu wollen. Als soziale und kulturelle Wesen sind Menschen grundsätzlich an der Weitergabe von kulturellen Errungenschaften an die jüngeren Generationen in- teressiert. Dieses Motiv ist die Grundlage von Bildung, sei sie informell im Rah- men von Familie und Verwandtschaft oder sei sie formal im Kontext von Schule und Bildung. Nun gehört das Liedersingen zu den kulturellen Praktiken, die keinerlei materi- elle Voraussetzungen benötigen, sondern allein kraft der anwesenden Menschen und ihrer Erinnerungen und Fähigkeiten als ein strukturiertes und wiederhol- bares Erlebnis erzeugt werden können. Im selben Rang – ohne Materialien und Werkzeuge – sind als typische Beispiele das Geschichtenerzählen, das Tanzen 4 Für eine ausführliche Diskussion dieser Aussage samt Belegen in Form von Literaturangaben siehe Stadler Elmer (2020). 103 und Gedichterezitieren zu erwähnen, wobei das Liedersingen die am einfachsten und frühesten aktiv zugängliche Kulturpraxis ist und sich durch den synphonen und synchronen Charakter auszeichnet. Das alleinige oder synphone Produzieren, das nachahmende Reproduzieren von Liedern und die Mischformen entstehen ursprünglich in positiven affekti- ven Zuständen, die mit Bezugspersonen gemeinsam geteilt sind (vgl. Abschnitt 2, Punkt 8); erst später ist das Kind fähig, sich selbst absichtlich durch Singen in einen positiven Zustand zu bringen, beispielsweise, wenn es für sich selbst ein Schlaflied singt. Liedersingen einsetzen, um sich selbst und andere in ihren affek- tiven Zuständen zu beeinflussen, ist ein kulturelles Mittel oder – in den Worten von Wygotsky (1976) – eine Gefühlstechnik. Erwachsene verwenden sie meist intuitiv, indem sie beruhigende oder aktivierende Lieder verwenden, um die Ge- fühle der Kinder und von sich selbst zu beeinflussen (vgl. Abschnitt 2, Punkte 9 und 10). Die prägende Phase der vokalen Entwicklung hin zum Singen und Sprechen spielt sich im direkten Kontakt mit den nächsten Bezugspersonen ab. Allmählich weitet sich der informelle Kreis aus auf erste pädagogische Einrichtungen wie die Kindertagesstätte oder den Kindergarten. 5 Formale Strukturen im Kinderlied: Die Kinderliedgrammatik Das erste musikalische Genre und die erste musikalische Kulturpraxis, die direkt an Kinder gerichtet und für sie intendiert sind und mit denen sie daher vermut- lich aufwachsen, ist in der Regel das Kinderlied. Wie zuvor gesagt, besteht es aus Silben, die einen Liedtext ergeben, und aus einer Melodie; beide sind durch ein Metrum zu einer kohärenten vokalen Form, gegliedert in Phrasen, zusammen- gesetzt. Das Kinderlied gilt fälschlicherweise oft als einfach, und dabei wird ver- kannt, wie sich darin Silben mit ihren Tonhöhen, ihren unterschiedlichen Dau- ern und dem Betonungsmuster – dem Metrum – zu komplexen Konfigurationen im Zeitverlauf kombinieren. Das Ganze ergibt eine dicht organisierte Form, die sich beliebig wiederholen, variieren und in der Komplexität erweitern lässt. Das immanente Regelwerk, durch welches sich die elementare Form des Kin- derliedes auszeichnet, habe ich als Grammatik ausformuliert (Stadler Elmer, 2015). Historisch gesehen entwarfen bereits Sundberg und Lindblom (1976) me- lodische Regeln von schwedischen Wiegenliedern, und Lerdahl und Jackendoff (1983) formulierten bezüglich tonaler Musik eine «Generative Theory of Tonal Music» (GTTM). Zu erwähnen ist auch das Werk von Dirk Povel (2010), der Al- gorithmen für die Generierung von Melodien entwickelte, indem er Melodien als hierarchische Einheiten, bestehend aus Tonalität und Zeitstruktur, behan- 104 delte. Dabei definierte er die melodische Zeit in Begriffen von metrisch basier- ten Dauern mit proportionalen Werten. So elaboriert diese grammatikalischen Ansätze auch sein mögen, sie klammern jegliche sprachlichen Anteile aus, und damit fehlt ihnen eine wesentliche Komponente, die das Kinderlied auszeichnet. Auf meiner Suche nach formalen Normen zum Kinderlied (vgl. Stadler Elmer, 2002, S. 114 ff.) war die Bemerkung von Baroni, Dalmonte und Jacobini (1995) wichtig, dass die beiden Komponenten, Melodie und Text, zeitlich synchroni- siert und parallel hierarchisch organisiert sind. Mein erster Entwurf einer Kinderliedgrammatik umfasst sieben Prinzipien und 21 Regeln, welche die tonalen, zeitlichen und sprachlichen Komponenten der einfachsten Formen von Kinderliedern betreffen (Stadler Elmer, 2015). Diese immanenten Prinzipien und Regeln explizit zu machen, mag in den Einzelteilen als trivial erscheinen, aber im Gesamten ergibt sich eine Konstellation, welche theoretisch in vielerlei Hinsicht bedeutsam ist. Die sieben Prinzipien lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Ein Kinderlied besteht aus Liedtext (Vers, Spruch oder Gedicht) und Melodie. 2. Wie das Sprachsystem – und dabei etwa das Bilden von Wörtern und von ge- sprochenen Sätzen – funktioniert auch die Musik (Merker, 2002) und folglich das Liedersingen als generatives System (vgl. Humboldt, 1836; Abler, 1989). Als solche erlauben sie die Konstruktion von unendlich vielen Formen von Liedern. 3. Das Grundelement beim Liedersingen ist die Silbe mitsamt der dazugehöri- gen Tonhöhe, Dauer und Akzent (betont – unbetont). 4. (Kinder-)Lieder sind hierarchisch organisiert (vgl. Baroni et al., 1995). 5. Text und Melodie sind je relativ autonom. Dieses Verhältnis ermöglicht unter anderem das Bilden von Strophen. 6. Die Silben sind gleichzeitig durch das Versmass und durch das Metrum der Melodie organisiert. Das kann Spannungen erzeugen. 7. Die verschiedenartigen Symmetrien in der zeitlichen und klanglichen Orga- nisation zielen darauf ab, Wohlgeformtheit zu erzeugen. Diese Prinzipien, welche vor allem die systemische Generativität von Sprache und Musik betreffen, sind allgemein, und daher liegt es nahe, sie auch in Kultu- ren mit anderen tonalen Ordnungssystemen als dem abendländischen und mit anderen Sprachen auf ihre formale Gültigkeit zu studieren und beispielsweise die universellen und kulturspezifischen Strukturen und Funktionen zu untersuchen. Ohne hier explizit auf die 21 Regeln einzugehen (vgl. Stadler Elmer, 2015, Kap. 4), bietet die folgende Aufzählung von Eigenschaften einen Einblick in die prototypische Form eines einfachen Kinderlieds (vgl. die Prototypentheorie von Rosch, 1999): – kleiner Tonumfang (Quinte, Oktave) – Tonwiederholungen 105 – kleine Intervalle – alle Töne gehören zur selben Tonart – Töne haben zwei, höchstens drei unterschiedliche Einheiten der Dauer – jede Silbe korrespondiert mit einem Ton – acht Takte, symmetrischer Aufbau – Wiederholung von Phrasen Typische Exemplare von einfachen Kinderliedern sind etwa Alle meine Entchen, Ringel, Ringel, Reihe, Twinkle little star, Mary had a little lamb, Au clair de la lune, Alouette. Aus dem Gesamtkomplex von Themen rund um die Kinderliedgrammatik greife ich hier nur gerade zwei auf – das Streben nach Wohlgeformtheit und die analy- tischen Funktionen der Kinderliedgrammatik. Beide Themen beziehen sich auf Prozesse, die mit der Vermittlung von Liedern als Kulturpraxis und mit deren Erforschung zu tun haben. 1. Das Streben nach Wohlgeformtheit bei der vokalen Gestaltung hängt mit den Gestaltprinzipien einerseits (vgl. zum Beispiel von Ehrenfels, 1890, Wertheimer, 1923) und mit dem rituellen Charakter (vgl. Merker, 2009) des Liedersingens an- dererseits zusammen, was der ästhetischen Dimension entspricht (vgl. Merker, 2014). Der Begriff der Wohlgeformtheit stammt aus der Linguistik und bezeich- net ein als korrekt oder stimmig empfundenes Anwenden von generativen Re- geln, beispielsweise beim Erzeugen eines Satzes (vgl. zum Beispiel Meyer, 2009), eines Liedes (vgl. Stadler Elmer, 2015) oder beim Zeichnen eines bestimmten Bildtyps (vgl. Plümacher, 1999; Stadler Elmer, Weniger, 2019). Als wohlgeformt erscheinen intuitiv ein Satz, eine Melodie oder ein Lied, welche mit grammati- kalischen Regeln übereinstimmen. Sprach- und Musikkompetenzen zeigen sich demnach im implizit grammatikalisch orientierten Beurteilen sowie im Bilden von Aussagen oder Ausdrucksweisen mit Bezug zu Wohlgeformtheit. Dieses grammatikalische Wissen erwerben wir von früher Kindheit an, und es manifes- tiert sich in den sozial geteilten Kulturpraktiken und meist ohne explizites Be- wusstsein (Stadler Elmer, 2020). Generell lässt sich sagen, dass Systeme, die aus definierten Elementen und kombinatorischen Regeln bestehen – sogenannte ge- nerative Systeme –, die Eigenschaft der Wohlgeformtheit mit Bezug auf die dar- aus entstehenden Produkte implizieren. 2. Analytische Funktionen der Kinderliedgrammatik: Die immanenten Regeln des Liedersingens in Form eines Regelwerks oder einer Grammatik auszufor- mulieren, trägt dazu bei, die komplexe Praxis der Liedvermittlung und -aneig- nung anhand eines normativen Bezugssystems zu analysieren und besser zu ver- stehen. Ohne Kenntnis der kulturellen Regeln, die die vokale Äusserung in der Gestaltung als Lied bestimmen, fehlt ein struktureller und begrifflicher Rahmen, der eine Grundlage des Beschreibens, Analysierens und Theoretisierens ist. So 106 ermöglicht es die Kinderliedgrammatik, ein Lied aufgrund der angewandten sprach-musikalischen Regeln als Exemplar zu identifizieren, das mit der Gram- matik übereinstimmt. Gleichzeitig lässt sich bestimmen, inwiefern dieses Exem- plar davon abweicht. Eine Abweichung von den einfachen Regeln kann bedeu- ten, dass das Lied komplexer ist, dass es nicht mehr als ein typisches Kinderlied gelten kann, oder dass es gar einem anderen Genre zuzuordnen ist. Das Bestim- men der strukturellen Komplexität eines Liedes kann somit klären, ob ein Lied aus sprach-musikalischer Sicht für die vorgesehene Zielgruppe angemessen ist. Da sich mit Liedern im Unterricht viele und verschiedenartige Lernziele verfol- gen lassen, hilft eine grammatikalische Analyse des vorgesehenen Liedes, die ein- fachen und schwierigeren Stellen zu identifizieren und das Anforderungsn iveau zu klären. Auch bringt eine grammatikalische Analyse Klarheit, inwiefern ein Kinderlied wohlgeformt komponiert ist – die ästhetische Dimension – oder wel- che Unstimmigkeiten vorliegen, die man eventuell selbst bereinigen möchte. Die Kinderliedgrammatik erlaubt zudem, die konkrete Äusserung eines Liedes auf seine geregelte Struktur hin zu analysieren und Hinweise zu gewinnen, welche Aspekte des strukturellen Aufbaus bei der Produktion noch verbessert werden können. Bei der Evaluation des gemeinsamen Singens gilt oft vor allem das Kri- terium der genauen Intonation, was sich mit Bezug zum gesamten Regelwerk als einseitig erweist. 6 Erforschung der Vermittlung von Liedern im Schulkontext Im anfangs erwähnten Forschungsprojekt untersuchen wir die Vermittlung von Liedgut von den älteren an die jüngeren Generationen im formalen Kontext des Klassengesangs im Kindergarten und in der Primarschule. Unser bisheriges Studium der Fachliteratur hat drei Themenbereiche ergeben: A) Theoretische Analysen: Nennenswert ist jene zur schulischen Liedvermittlung von Lemmer- mann (1977). B) Empirische Studien: Liao und Campbell (2014, 2016) interes- sierten sich für kulturelle Unterschiede in der formalen Liedvermittlung in Tai- wan und den USA, konnten jedoch keine erwähnenswerten finden. Gleichwohl bietet diese Studie aufgrund detaillierter deskriptiver Analysen eine fruchtbare Grundlage. C) Ermittlung von Problemen: Die Mehrheit der englischsprachigen Studien zur Liedvermittlung beziehen sich auf die Analyse von Problemen, wel- che Kindergarten- und Primarlehrpersonen angeben (vgl. Übersichten von Hen- nessy, 2017; Jeanneret, Degraffenreid, 2012). Zusammenfassend sind in der Lite- ratur folgende Probleme aufgeführt: Lehrpersonen fühlen sich unzureichend auf das Leiten von Klassengesang vorbereitet, die Ausbildungszeit sei nicht ausrei- chend, um vorgängige Vernachlässigungen in der formalen Bildung zu kompen- 107 sieren, Musikunterricht sei nicht wertgeschätzt, und die materielle und räum- liche Ausstattung sei mangelhaft. Dieses dritte, in der Literatur zu findende Thema – Probleme und Fragen rund um die Qualität der musikalischen Aus- und Weiterbildung von Klassenlehrpersonen – bezieht sich unweigerlich auf bildungspolitische Diskussionen und auf Normen. Die normative Natur dieser Thematik erfordert ein konstantes Aushandeln unter den Verantwortlichen (vgl. von Wright, 1963) und eine historische Kontextualisierung, wie sie in der Ein- leitung dieses Textes angesprochen ist. Die inhaltlichen Schwerpunkte unseres Forschungsprojekts tangieren unvermeidlich bildungspolitische Themen. Die anthropologischen und strukturgenetischen Analysen und der empirische For- schungsprozess jedoch richten sich in erster Linie auf das Gewinnen von neuen Erkenntnissen und können daher nur indirekt auf die Debatten von bildungs- politischen Problemen einwirken. In unserer Studie haben wir zwei Schwerpunkte zur Fähigkeit, Klassengesang zu leiten, ausgewählt: Wir untersuchen diese einerseits anhand der Entwicklung von zukünftigen Lehrpersonen während ihrer dreijährigen Ausbildung und an- dererseits anhand von erfahrenen Lehrpersonen. Wir definieren die Fähigkeit, Klassengesang zu leiten, als ein Konglomerat aus Fertigkeiten, Strategien und Wissen, – das sich grossenteils intuitiv, automatisiert in In-situ-Handlungen manifestiert – mit dem Ziel, Lieder einer Gruppe (von Kindern, anderen Generationen) zu vermitteln, – indem Zeichen (Vokalisation, Blickkontakt, Gesten, Bewegungen, Sprache, Singstimme, Notation, Visualisierung, Bilder usw.) – und Konventionen (Regeln, Ästhetik) angewendet werden – und indem durch zeitliches Strukturieren von Handlungen – wie Vorsingen, Vormachen, Einfordern, Rückmelden, Wiederholen, Erklären, Aufträge erteilen usw. – die Gruppe geführt wird. Diese Definition ist eine erste Annäherung an die Komplexität dieser Kultur- praxis. Sie impliziert eine Hierarchie von Handlungen, welche die leitende Per- son im Zeitverlauf ausführt und damit das Ereignis strukturiert. Dabei ist eine offene Frage, inwiefern sie diese Handlungen bewusst plant und steuert, welche Absichten – beispielsweise sprach-musikalische, soziale, motorische – sie verba- lisiert oder in den Handlungen umsetzt. Wir videografieren jedes Jahr im Prak- tikum angehende Lehrpersonen während der Durchführung einer Singlektion und erfahrene Lehrpersonen während einer einzigen Lektion. Jeweils unmittel- bar anschliessend führen wir – während des gemeinsamen Sichtens der Video- aufnahme – mit der angehenden oder der erfahrenen Lehrperson ein Interview durch. Die Beteiligten thematisieren Situationen, die sie als bedeutungsvoll er- achten und erlebt haben. Diese Interviewform kann als dialogische Introspek- 108 tion (vgl. zum Beispiel Valsiner, 2017; Burkhardt, 2018) oder als «durch Video angeregtes Interview» bezeichnet werden. Zusätzlich erstellen wir Feldnotizen. Angesichts der Gestaltung von Klassengesang durch angehende Lehrpersonen während ihrer dreijährigen Ausbildung und durch erfahrene Klassenlehrperso- nen liegt uns eine vielfältige Praxis vor. Der formelle Bildungskontext zeichnet sich durch die Anforderung aus, eine Schulklasse professionell zu leiten und erwarteten Normen gerecht zu werden (Joliat, 2011). Eine beginnende und angestrebte Professionalität löst in der Regel die persönliche Erfahrung von Unsicherheit aus, die individuell verschiedene Bereiche betrifft (Güsewell, Joliat, Terrien, 2017). Viele Handlungsabläufe sind neu und noch nicht eingeübt, beispielsweise das Leiten einer Gruppe, sprach- musikalisches Vorzeigen und schrittweises Anleiten, schnelles Beurteilen und Entscheiden. Auch die Normen und Inhalte der Kulturpraxis, sowie die curri- cularen Ansprüche an sich selbst und an die Kinder, sind noch wenig vertraut. Von den angehenden Lehrpersonen wird die Bereitschaft erwartet, sich im Ver- laufe der Ausbildung und darüber hinaus weiter zu qualifizieren und normative Erwartungen, nicht zuletzt die im Lehrplan beschriebenen, zu erfüllen (Joliat, Terrien, Güsewell, 2017). Individuelle biografische Voraussetzungen, diese ge- sellschaftlichen Erwartungen und die Art und Weise der Unterstützung, Sank- tion, Selektion und Legitimierung sind Bestandteile der lokalen und nationalen Bildungspolitik. Frühe Förderung und aufbauende musikalische Bildung wäh- rend der Schulzeit erleichtern es, professionelles Leiten von Klassengesang und Selbstvertrauen zu erwerben, während die Vernachlässigung der musikalischen Bildung aufgrund systemischer Bedingungen einen Teufelskreis aufrechterhält. Wir nehmen auf die vielseitigen biografischen Bedingungen mit Bezug zu Nor- men und Werten Rücksicht, indem wir die individuellen Entwicklungsverläufe rekonstruieren und indem wir zwischen den Absichten und Handlungen der leitenden (angehenden) Lehrperson und der Perspektive von uns Forschenden unterscheiden. Unser Vorgehen korrespondiert mit folgenden Forschungsfragen: – Wie lehren angehende Lehrpersonen einer Kindergarten- oder Unterstufen- klasse ein neues Lied? Wie strukturieren sie eine Lektion? Welche Absichten verfolgen sie? – Wie entwickeln sie die entsprechenden Fähigkeiten, Fertigkeiten und das Wis- sen während der Ausbildung? – Wie führen erfahrene Lehrpersonen diese Aufgabe aus? Welche Absichten verfolgen sie? – Wie lässt sich die Fähigkeit des Leitens von Klassengesang als professionelle Handlung und als deren Entwicklung beschreiben und verstehen? – Welches sind die normativen, kulturspezifischen Referenzsysteme, anhand 109 derer die Handlungen beim Singen-Leiten beschrieben und analysiert werden können? – Wie unterscheiden sich die Perspektiven auf die eigene Leitung von Klassen- gesang von jenen der Forschenden? Welche Normen und Werte kommen jeweils im Handeln und im Sprechen zur Geltung? – Wie lassen sich die beobachteten Handlungen beschreiben, in Verbindung mit den gleichzeitig und nachträglich geäusserten Gedanken und Emotionen bringen und auf mehreren Ebenen analysieren, darstellen, interpretieren und erklären? Das schrittweise Vorgehen, wie wir die Komplexität einer Klassengesangslek- tion segmentieren, zusammenfassen und als aufeinanderfolgende Lektionen überblickend darstellen, führt als Zwischenergebnis zu Einzelfallstudien und in weiteren Schritten zu allgemeinen Analysen des Aufbaus der professionel- len Fähigkeit und zur allgemeinen Analyse der Normen und Werte, wie sie in der Vielfalt von erfahrenen Lehrpersonen praktiziert und reflektiert werden. Erste veröffentlichte Einzelfallstudien zeigen auf, wie vielschichtig und dicht die Ereignisse während eines Klassengesangsunterrichts organisiert sind (Stad- ler Elmer, Savona, 2019; Savona, 2019; Hürlimann, 2019; Cavasino, 2019; Stadler Elmer, Hürlimann, 2019; Savona, Stadler Elmer, 2019; Stadler Elmer, Joliat, Sa- vona, Cavasino, 2019). Das Ziel besteht im Konzeptualisieren wesentlicher As- pekte dieser regelbasierten Kulturpraxis, indem wir implizite Bestandteile und die zeitliche Strukturierung durch Visualisieren, explizite Bezeichnungen und durch Bezüge zu Normen und Werten dem allgemeinen Bewusstsein zugäng- lich machen. 7 Schlussbemerkungen Abschliessend fasse ich meine Argumentation zusammen. Mit Bezug zu struk- turgenetischen und anthropologischen Überlegungen habe ich hier versucht zu begründen, warum das Vermitteln von Kinderliedern in der Schule – und schon vorher – die musikdidaktische Kernaufgabe darstellt. Kinderlieder sind die elementare Kulturpraxis schlechthin, anhand welcher Kinder in das sprach- musikalische Regelwerk – in die elementaren Regeln der Musiktheorie und in die der poetischen Sprache – eingeführt werden. Für die musikdidaktische Praxis bedeutet dies, dass mit Kindern zuerst die Kinderlieder praktiziert werden, um darauf aufbauend dann komplexere Formen zu verwenden. Entgegen den Aus- sagen, etwa von Abel-Struth (1974) und anderen ihrer Zeitgenossen, die Sing- fähigkeit von Kindern sei begrenzt und die Auswahl an Liedern zu gering, habe ich hier (und an anderen Stellen, vgl. Stadler Elmer, 2015), erstens, neue Erkennt- 110 nisse und Argumente mit Bezug zur humanspezifischen vokalen Lernfähig keit vorgebracht, die belegen, dass die Singfähigkeit von Kindern eine lange Zeit unter schätzt wurde. Zweitens habe ich mit den Bezügen zur systemischen Ge- nerativität von Sprache und Musik – und folglich auch von sprach-musikalischen Gebilden, wie es Lieder sind – das Argument entkräftet, es läge nur eine geringe Auswahl an Liedern vor: Generative Systeme erlauben das Bilden von vielen neuen Formen. Beide Argumente sprechen dafür, Kinderlieder und deren Ver- mittlung in der formalen Bildung als allgemeine Kulturpraxis und zugleich als die primäre Aufgabe der Musikerziehung zu betrachten. Ihre Strukturen – die handlungsleitenden Elemente und Regeln – lassen sich als Grammatik des Kin- derliedes formulieren, welche das Regelwerk der elementaren Formen expliziert. Wir Menschen haben eine spezifische Prädisposition zum vokalen Lernen, was bedeutet, dass Kinder von früh auf im sozialen Kontext gewillt sind, sich die Re- geln des Singens und Sprechens anzueignen. Auch in der Schule erwerben Kin- der mit jedem Lied, das ihnen die Lehrpersonen vermitteln, exemplarisch und implizit die abstrakten sprach-musikalischen Regeln. Diese vermittelten und er- worbenen Exemplare sind im wörtlichen Sinne Einzelstücke, die aufgrund der- selben abstrakten Grammatik einer gleichartigen Menge oder derselben Gat- tung angehören. Der Bezug zur Kinderliedgrammatik als abstraktem Regelwerk vermag die Aussage von Stern (1914/1965) zu unterstreichen: Das Liedersingen sei der erste Kulturbereich, dem sich das Kleinkind und auch das ältere Kind anpassen könne. Im frühen Liedersingen zeigt sich die Fähigkeit, sich sprach- musikalische Regeln anzueignen und dieselben zu veräussern. Vermutlich sind es die ersten kulturellen Regeln überhaupt, die der Mensch dank seiner spezifi- schen vokalen Lernfähigkeit samt den dabei vermittelten Gefühlen zu überneh- men fähig ist. Selbstverständlich lässt sich aufgrund einer oder weniger Veräusserungen eines Liedes weder auf ein explizites Bewusstsein der eigenen Handlung noch auf ein explizites Wissen über Kinderlieder schliessen. Die Veräusserung der Regeln ist manifest im Singen selbst, und das Wissen darüber ist entwicklungsmässig eine späte Errungenschaft, die der besonderen Anleitung bedarf. Angehende Lehr- personen jedoch sollten die strukturellen Regeln von Liedern und ihre Funk- tion als affektregulierende Mittel kennen und umsetzen lernen, sozusagen als Bestandteil ihrer Fähigkeit, Klassengesang zu leiten und damit Gemeinschafts- gefühle zu erzeugen. 111 Literaturangaben Abel-Struth, S. (1974). 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Orig. 1925). 115 L’enseignement intégré de la musique et enseignement des langues Défis et ouvertures Sabine Chatelain, Gabriele Noppeney Résumé En nous référant au modèle d’enseignement intégré de la musique, proposé par Zulauf et Cslovjecsek (2018), deux séquences d’enseignement musique-langues élaborées dans deux institutions de formation d’enseignants, respectivement en Suisse romande et en Suisse alémanique, vont être présentées ici. Tandis que le premier exemple aborde la composition de paroles de chanson en lien avec l’enseignement de la langue première, le second exemple présente une séquence d’enseignement musical bilingue qui traite d’une tradition musicale anglaise typique dans la langue cible. Dans notre article, nous exami- nerons ces deux approches dans une perspective de l’enseignement intégré musique-lan- gues. Nous reviendrons sur les dimensions intra- et interdisciplinaires, -personelles et -culturelles du modèle de référence afin de mettre en évidence quelques ouvertures et obstacles dans la mise en œuvre d’une telle séquence d’enseignement. Nous avons choisi de présenter notre contribution de façon bilingue. Zusammenfassung Unter Bezugnahme auf das von Zulauf und Cslovjecsek (2018) vorgeschlagene Modell für eine integrative Musikpädagogik (Integrated Music Education) werden hier zwei Unterrichtssequenzen vorgestellt, die an zwei Lehrerausbildungsstätten in der franzö- sischen beziehungsweise deutschsprachigen Schweiz entwickelt wurden. Während sich das erste Beispiel mit der Komposition von Liedtexten im Zusammenhang mit dem Erstsprachenunterricht befasst, wird im zweiten Beispiel eine bilinguale Musikunter- richtssequenz vorgestellt, die sich mit einer typisch englischen Musiktradition in der Zielsprache auseinandersetzt. In unserem Beitrag werden wir die Relevanz der pädago- gischen Entscheidungen für einen integrierten Musikunterricht in Bezug auf das Spra- chenlernen und das musikalische Lernen diskutieren. Wir kehren zu den intra- und in- terdisziplinären, persönlichen und kulturellen Aspekten des Referenzmodells zurück, um einige Möglichkeiten und Hindernisse bei der Umsetzung einer solchen Unter- richtssequenz aufzuzeigen. Wir haben uns dafür entschieden, unseren Beitrag zweispra- chig zu präsentieren. 117 Abstract With reference to the integrated music teaching model proposed by Zulauf and Cslo- vjecsek (2018), two sequences of music-language teaching developed in two teacher training institutions in French and German-speaking Switzerland, respectively, will be presented here. While the first example deals with the composition of song lyrics in connection with first language teaching, the second example presents a bilingual music lesson on English bell ringing. In this contribution, we will discuss the relevance of the pedagogical choices made for an integrated teaching of music in relation to language learning and musical learning. We return to the intra- and interdisciplinary, personal and cultural dimensions of the reference model in order to highlight some openings and obstacles in the implementation of a teaching sequence. We have chosen to present our contribution in a bilingual way. Mots-clés Enseignement intégré de la musique, enseignement bilingue, content and language inte- grated learning (CLIL), interdisciplinarité, formation des enseignants L’enseignement intégré de la musique – points de repère En partant de la volonté de dépasser la séparation entre les disciplines scolaires, l’idée d’un enseignement intégré de la musique a fait son chemin en éducation musicale dès le début du XXe siècle. En partant des approches interdisciplinaires prônées dans les années 1920 en Allemagne par les réformes de Kestenberg (Gruhn, 2019), on trouve des tentatives de cerner ce problème notamment dans la théorie et la pratique d’une pédagogie musicale intégrative (Roscher, 1983/84) en Autriche ou encore dans des travaux anglophones de Bresler (2002, 2011) et de Russell-Bowie (2009). Au cœur du questionnement reste la notion de l’inté- gration qui définit le statut de chacune des disciplines dans un projet d’éduca- tion plus vaste. Le modèle d’integrated music education récemment développé par Zulauf et Cslovjecsek (2018) s’inscrit dans cette perspective en tenant compte de trois buts de l’éducation: le développement personnel et culturel de l’apprenant ainsi que l’acquisition d’une compétence liée à la discipline scolaire. Les auteurs abordent la problématique au travers des dimensions intra- et interpersonelles, -cultu- relles et -disciplinaires. L’intégration est ainsi comprise en tant que notion qui met en lien ce qui est spécifique avec ce qui est générique. Selon ce point de vue, c’est une opération «win-win», permettant le renforcement de chaque élément spécifique (perspective intra) en mettant en même temps l’accent sur l’ensemble des éléments (perspective inter). De ce fait, un projet d’enseignement intégré 118 contribuerait à mieux connaître les spécificités d’une discipline en la situant dans un contexte plus vaste. Le but premier d’une telle approche consisterait donc à donner plus de sens aux apprentissages scolaires. Dans cette optique, l’intégra- tion n’est pas considérée comme une forme extrême de l’interdisciplinarité, mais comme une possibilité de mettre en évidence les qualités spécifiques (intra) et gé- nériques (inter) d’une idée ou d’une discipline. Notons aussi que les définitions de l’interdisciplinarité varient considérablement selon les champs d’application (Roegiers, De Ketele, 2001) et les auteurs. Rap- pelons par exemple le point de vue d’Origgi et Darbellay (2010) selon lequel les notions génériques à deux disciplines relèvent davantage de la transdisciplina- rité que de l’interdisciplinarité. Cette dernière met en avant des notions com- munes aux disciplines et se distingue quelque peu de la définition donnée par les auteurs du modèle d’integrated music education. Nous ajoutons que la mise en œuvre de ce modèle repose sur des approches didactiques adéquates afin de dé- velopper des compétences des élèves en référence au plan d’études. Ainsi, le défi pour l’enseignant consiste d’une part à mobiliser sa propre créativité pour réali- ser un tel projet à partir des fondements didactiques disciplinaires auxquels il se réfère. D’autre part, il est amené à prendre en considération des aspects intra- et interculturels et -personnels relatifs à son objet d’enseignement et au contexte socio-culturel des élèves. Dans cette contribution, deux projets d’enseignement musique-langues élabo- rés dans deux institutions de formation d’enseignants, respectivement en Suisse romande et en Suisse alémanique, vont être présentés. Dans un premier temps, nous allons exposer une brève justification des choix pédagogiques, le déroule- ment des activités et mettre en évidence les compétences potentiellement déve- loppées par les élèves. Dans un deuxième temps, nous allons esquisser quelques conclusions pour la mise en œuvre d’une séquence d’enseignement intégré de la musique en combinaison avec l’apprentissage d’une langue en nous référant au modèle de l’integrated music education. Pourquoi combiner apprentissages linguistiques et musicaux? Selon les prescriptions du Plan d’études romand (PER) en vigueur dans la partie francophone de la Suisse depuis les années 2010, la création de paroles de chan- son touche à la fois le domaine de l’éducation musicale (Axe 1 Expression) et des langues (domaine Langue 1 Français, production de l’écrit). De prime abord, cette activité semble avant tout axée sur le développement de compétences lin- guistiques par l’écriture de textes poétiques (Bemporad, Chatelain, 2018). À y regarder de plus près, les élèves peuvent mobiliser des notions musicales telles 119 que le rythme, la métrique et la phrase musicale au travers des activités vocales et rythmiques variées, aidant à saisir la structure du matériau musical. En mettant les élèves dans une situation de création collective, ces derniers développent no- tamment leurs capacités transversales de collaboration, de communication et de pensée créatrice, comme prescrit par le Plan d’études romand. Les notions communes aux deux disciplines telles que la mélodie, le rythme nous renvoient à la part de musicalité contenue dans la construction d’une langue, no- tamment par le concept de musilanguage (Brown, 2000). Selon certains auteurs, l’apprentissage de la musique et celui d’une langue partagent non seulement les mêmes racines (Marjanen, 2015), mais aussi des processus d’appropriation si- milaires (Gruhn, 2010, 2018). Toutefois, la théorie de l’apprentissage musical de Gordon1 à laquelle se réfère Gruhn, postule que les apports extramusicaux ne fa- voriseraient pas le développement des savoirs spécifiques dans la discipline. Or, l’enseignement intégré de la musique a pour ambition d’incorporer les apports d’autres disciplines. En abordant des savoirs dans une perspective transdisci- plinaire, cette approche se distingue d’une séquence interdisciplinaire.2 Il s’agit donc de concevoir des tâches qui rendent les spécificités de chaque discipline ex- plicite dans un projet plus global. Ce principe n’est certes pas nouveau, comme le rappelle Gruhn (2019), mais nécessite une réflexion approfondie sur les savoirs disciplinaires en jeu et sur la conception des dispositifs didactiques. Si la composition de paroles sur une mélodie mobilise des connaissances en langue maternelle et en musique, des enseignants généralistes, souvent moins ex- perts en musique (Schertenleib, 2013), pourraient néanmoins être tentés de foca- liser leur attention sur les aspects linguistiques ou transversaux. Or, cette tâche créative a pour but de développer des compétences dans les deux disciplines. Dès lors, nous nous demandons dans quelle mesure la planification d’une sé- quence d’enseignement intégré de la musique peut présenter un défi pour les en- seignants généralistes en formation. Comment concilier des approches intra- et extramusicales sans trahir les principes de l’enseignement-apprentissage musi- cal? Comment concevoir des tâches qui soutiennent les apprentissages dans les deux disciplines sans tout simplement juxtaposer les activités? Pour répondre à ces questions, nous nous référons aux traces telles que les plani- fications, le journal de bord des enseignantes et les vidéos des leçons. Ces données ont été récoltées au cours d’un projet de recherche-action sur l’enseignement in- tégré musique-langues en troisième année de formation du cursus Bachelor pri- maire. Dans le cadre du présent article, nous revenons sur quelques constats qui 1 Dans cette théorie, l’audiation, c’est-à-dire la capacité de se représenter des éléments musicaux, même en absence du phénomène sonore, est la base et la condition de l’apprentissage musical (voir Gruhn, 2018, pp. 16–42). 2 Pour une distinction des notions d’inter- et de transdisciplinarité, voir Origgi, Darbellay (2010). 120 constituent un début de réflexion sur la formation didactique des enseignants. Nous allons ainsi prolonger notre réflexion sur le potentiel de l’enseignement in- tégré de la musique (Marjanen, Chatelain, 2016) en mettant l’accent sur l’aspect intra- et interdisciplinaire du modèle de Zulauf et Cslovjecsek, aspect particuliè- rement pertinent dans la séquence choisie. Toutefois, une recherche systématique sur les obstacles et les chances de ce projet reste encore à faire. Description de la séquence d’enseignement La séquence d’enseignement analysée a été réalisée par trois futures enseignantes avec une classe de 6 HarmoS (élèves de 9 ans environ) durant trois semaines. Ayant pour objectif de créer de nouvelles paroles sur une chanson déjà apprise par les élèves, ce projet portait sur une courte chanson folklorique d’origine sud-américaine. Les élèves ont travaillé de façon collective par petits groupes. Pendant six leçons, réparties entre l’enseignement de la musique et du français, les élèves ont abordé des notions musicales et linguistiques dans une situation de création musicale collective. Une première version de la séquence était avant tout orientée sur l’utilisation d’un vocabulaire pour créer les nouvelles paroles. Les activités rythmiques étant conçues pour soutenir le travail sur les syllabes (scander le texte), le développe- ment de compétences linguistiques était au centre de cette planification. Après analyse commune par les étudiantes et la formatrice, une deuxième version a été élaborée, mettant en évidence les compétences à développer dans les deux disciplines tout en gardant le même objectif final. En partant des concepts trans- disciplinaires tels que la métrique et la phrase, les notions spécifiques à chaque discipline ont pu être abordées dans une perspective plus holistique. Problématiques observées dans la mise en œuvre En accompagnant le travail des étudiantes, nous avons pu mettre en évidence quelques défis auxquels ces futures enseignantes ont été confrontées. La plani- fication détaillée des leçons met en lumière le rapport entre les deux disciplines. Force est de constater que l’apprentissage linguistique à l’aide de la musique a guidé le premier essai de planification proposée par les étudiantes. La première séquence d’enseignement-apprentissage étant conçue pour consoli- der et soutenir l’usage du vocabulaire et la composition de rimes, le développe- ment de compétences musicales a été perdu de vue. Malgré des activités de per- cussions corporelles prévues pour scander les paroles, les liens entre les notions 121 musicales et langagières sont restés implicites. À défaut d’une vision holistique pour aborder l’apprentissage dans les deux disciplines par des tâches adéquates, les relations «de service» (Russell-Bowie, 2009) entre la musique et le français ont été privilégiées. À partir de ce constat, une deuxième planification a pu être élaborée. Fruit d’un travail collaboratif intense entre les futures enseignantes, elle a été fondée sur des activités qui abordent les notions musicales explicitement tout en travail- lant sur les connaissances liées à la langue française. Ainsi, des jeux rythmiques ont permis de mobiliser les notions de pulsation, de métrique et de phrase mu- sicale à partir de la chanson tout en donnant un cadre pour la phase d’inven- tion. Les exercices musicaux ont été travaillés de façon intégrée, servant de balises pour la création des paroles, touchant à la fois des aspects musicaux et linguistiques. À la suite de nos observations et de l’analyse de la séquence, nous pouvons noter que les élèves ont été amenés à développer ou à consolider des compétences mu- sicales, comme: – Frapper une pulsation régulière à l’aide de percussions corporelles tout en chantant la chanson – Marquer les temps forts et identifier de la métrique – Prendre conscience des phrases musicales et de la structure de la chanson Les élèves ont pu travailler les compétences linguistiques telles que: – Scander une phrase sur une pulsation et une métrique donnée – Identifier des rimes et en composer – Inventer un nouveau texte à partir d’un thème en utilisant un vocabulaire donné Des aspects intra- et interculturels concernant le texte et la musique ont pu être abordés par le choix de la chanson sud-américaine. À travers la tâche de création de nouvelles paroles, les élèves ont pu mettre à profit leur propre culture et leur imagination. Des compétences transversales ont été travaillées au niveau intra- et interperson- nel en demandant aux élèves de: – Coordonner leurs gestes de percussion corporelle avec les paroles scandées – Synchroniser leurs gestes et le débit de langage avec ceux des camarades – Collaborer au sein d’un groupe en apportant leurs propres idées en respectant celles des autres – Présenter leur production devant leurs camarades Le constat d’une des étudiantes illustre les apports possibles de ce projet pour la formation des enseignants: «Grâce à cette recherche, j’ai compris que les élèves pouvaient être créatifs et que cela était souvent induit par la façon de planifier. Je pense que l’enseignement-ap- 122 prentissage intégré est une modalité que je vais mettre en place dans ma classe. En effet, il permet de voir l’apprentissage dans sa globalité et favorise la diversification des apprentissages qui ont été laborieux dans ma propre scolarité.» (Lorenz, 2016) Quelques conséquences pour la formation des enseignants L’observation de ce projet nous a montré que la conception des séquences d’en- seignement intégré nécessite une réflexion approfondie sur l’importance des sa- voirs spécifiques à chaque discipline et la mise en place du dispositif didactique. La planification et la mise en œuvre ont présenté effectivement un défi pour les enseignants. Ce travail nécessite une compréhension claire des notions discipli- naires et génériques ainsi qu’une capacité de les combiner de façon créative à tra- vers les approches didactiques adéquates. D’une part, nous constatons que les concepts tels que l’inter- et la transdiscipli- narité, ainsi que l’enseignement intégré ont besoin d’être clarifiés en référence aux travaux de recherche existants. D’autre part, il semble nécessaire de sensibi- liser les étudiants aux fondements de l’apprentissage musical et linguistique. À notre avis, la distinction entre savoirs intra- et extramusicaux mise en avant par Gruhn, est difficile à établir. En explorant les aspects musicaux dans des activi- tés langagières, la complémentarité entre les savoirs propres à chacune des deux disciplines apparaît clairement. Nous arrivons à la conclusion que ce n’est pas la séparation entre savoirs musicaux et linguistiques, mais une prise en compte de leurs spécificités dans un concept global qui pourrait apporter une solution à la mise en œuvre de séquences d’enseignement intégré. Selon notre analyse, les dif- ficultés rencontrées par les enseignantes en formations étaient avant tout liées à une compréhension lacunaire des concepts spécifiques et génériques aux deux disciplines. Ces constats nous amènent à travailler sur les concepts spécifiques et génériques aux disciplines concernées en collaboration avec le département de la didactique des langues. Bell ringing als Thema des bilingualen Musikunterrichts der Sekundarstufen Weshalb Musik in der Fremdsprache unterrichten? Zunächst stellt sich die Frage, weshalb überhaupt Musik in einer Fremdsprache unterrichtet wird. Besteht hierdurch nicht die Gefahr, dass das ohnehin gering dotierte Fach Musik seinen Fokus verliert, indem dort auch Sprachunterricht 123 stattfindet? Tatsächlich konnten mehrere Studien häufig artikulierte Bedenken bezüglich bilingualen Musikunterrichts entkräften oder relativieren (Falken- hagen, 2014; Rosenbrock, 2008, 2009; Bartels, 2010). Worin bestehen Stärken von bilingualem Musikunterricht beziehungsweise content and language inte- grated learning (CLIL), der international üblichen Bezeichnung des Unter- richtsmodells? Zum einen findet eine Aufwertung des Randfachs Musik durch die Kombination mit dem Kernfach Englisch statt. Zudem steht beiden Fächern durch die «Symbiose» mehr Zeit zur Verfügung. Eine optimale Passung von Unterrichtsinhalt und Sprache unter Verwendung authentischer Materialien erleichtert vielen Schüler/-innen die Identifikation mit dem Unterrichtsgegen- stand. Da sich die Schüler/-innen aufgrund der sprachlichen Herausforderung stärker konzentrieren müssen und die Inhalte zur sprachlichen und inhaltlichen Sicherung mehrfach umgewälzt werden, ergibt sich eine stärkere Verarbeitungs- tiefe. Diese Umstände können zu einer erhöhten Motivation bei Schüler/-innen führen, insbesondere wenn der Musikunterricht in Form von Modulen phasen- weise in der Fremdsprache durchgeführt wird. Vergleicht man verschiedene Sachfächer miteinander, so erscheint Musik sogar als besonders geeignet für bilingualen Unterricht. Durch hohe musikpraktische Anteile sind gute Rahmenbedingungen für ein eher rezeptives, ungezwunge- nes Eintauchen in die Fremdsprache gegeben. Das vergleichsweise geringe Ab- straktionsniveau und das häufige Wiederholen einzelner Übungsschritte in mu- sikpraktischen Phasen erleichtern den Schüler/-innen den bilingualen Zugang. Darüber hinaus eignet sich Singen als wichtiges Element des Musikunterrichts hervorragend zum Lernen von Vokabeln und Phrasen. So erlangen die Schüler/- innen nach und nach eine Vertrautheit mit dem Klang, Rhythmus und der Beto- nung der Sprache. Kurze Beschreibung der Unterrichtseinheit Das englische bell ringing ist eine faszinierende Tradition des Glockenläutens, das auf mathematischen Permutationen von Glocken-Pattern basiert. Während auf dem europäischen Kontinent Kirchenglocken vielerorts in zufälliger Rei- henfolge erklingen, folgt man in England festen Regeln, die vorschreiben, wann welche Glocke zu erklingen hat. Im Unterricht lernen Schüler/-innen diese im englischsprachigen Raum verbreitete Tradition im Rahmen eines bilingualen Moduls über bell music kennen und können selbst einfache Kompositionen re- produzieren und komponieren. Das Modul wurde für den zweiten Band des Studien- und Praxisbuchs Bilingualer Musikunterricht in Theorie und Praxis (Falkenhagen, Noppeney, 2020) entwickelt und ist dort umfänglich beschrieben. 124 Abb. 1: Change ringers. (https://uchicagochangeringers. files.wordpress.com/2015/04/ old-wood-carving.jpg) Auf Youtube finden sich zahlreiche Aufnahmen von change ringers, die einen ersten Einblick in die Thematik gewähren.3 Das Thema des bell ringing eignet sich in besonderem Masse für den bilingualen Musikunterricht, da es sich um ein genuin angelsächsisches Phänomen handelt. Gleichzeitig ist das Thema spannend für mathematikaffine Schüler/-innen, denn je nach Anzahl der Glocken eröffnet sich für die Komponierenden eine immense Zahl von Kombinationsmöglichkeiten. So vereint das Thema des bell ringing im bilingualen Unterricht mathematische, musikalische, landeskundlich-kulturelle und sprachliche Aspekte. Was ist English bell ringing? English bell ringing ist ein kultureller Teamsport aus dem 17. Jahrhundert. Bell ringer teams wetteifern, möglichst viele peals auswendig fehlerfrei spielen zu können. Eine Komposition wird als peal bezeichnet, wenn sie aus 5000 oder mehr Permutationen mit sieben oder mehr Glocken besteht. Ein solcher peal dauert rund drei Stunden. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass bell ringing als rhythmic and mental fitness training angesehen wird, welches einzigartige Hörerfahrungen ermöglicht. Grundsätzlich müssen Komponierende in der Tradition des englischen Wech- selläutens folgende vier Regeln beachten: 1. Jedes Läuten beginnt und endet mit sogenannten rounds: Die Glocken wer- den mehrere Runden lang von der höchsten bis zur tiefsten Glocke gespielt. 3 Youtube: zum Beispiel Schlagwort «Liverpool Bells – Birmingham Band»: www.youtube.com/ watch?v=pugRM2Nsnyo. 125 Abb. 2: Beispiel Plain Hunt. (www.nagcr.org/pamphlet.html) 1 2 3 4 2 1 4 3 2 4 1 3 4 2 3 1 4 3 2 1 3 4 1 2 3 1 4 2 1 3 2 4 1 2 3 4 2. Anschliessend folgen sogenannte rows. Hierbei handelt es sich um kurze Tonfolgen, bei denen alle Glocken nacheinander erklingen, jedoch jede Glocke pro row nur einmal ertönen darf. 3. Keine row darf wiederholt werden. 4. Beim Wechsel von einer zur nächsten row muss beachtet werden, dass eine Glocke aus spieltechnischen Gründen nicht um mehr als eine Position verscho- ben werden kann. Anhand des Beispiels Plain Hunt lässt sich schnell nachvollziehen, wie die Re- geln zu verstehen sind. Für dieses einfache, kurze Stück werden vier Glocken benötigt. Jeder spielenden Person wird eine Glocke zugewiesen. Zunächst spie- len die Spieler/-innen die erste Zeile (round) mehrfach hintereinander in gleich- mässigem Metrum: Nummer eins ist die höchste Glocke, Nummer 4 die tiefste. Daraufhin spielen die Spieler/-innen die folgenden Zeilen, wobei Spieler 2 be- ziehungsweise Glocke 2 in der zweiten und dritten Zeile an erster Position ist und dann jeweils um eine Position wechselt (siehe blaue Markierung). Ausser der round wird keine Zeile zweimal gespielt und pro Zeile erklingt jede Glocke genau einmal. Das Stück endet wiederum mit der round. Mathematisch Geschulte erkennen schnell, dass sich bei diesem Kompositions- spiel unzählige Kombinationsmöglichkeiten ergeben. Verfügt ein Glocken- gestühl über sechs Glocken, so gibt es bereits 720 denkbare Permutationen.4 4 Die Zahl 720 ergibt sich aus folgender Rechnung: 1 × 2 × 3 × 4 × 5 × 6 = 720. 126 Tab. 1: Mögliche Kombinationen der Glocken Beteiligte Glocken Mögliche Wechsel Läuteart 3 3! = 6 Singles 4 4! = 24 Minimus 5 5! = 120 Doubles 6 6! = 720 Minor 7 7! = 5040 Triples 8 8! = 40 320 Major 9 9! = 362 880 Caters 10 10! = 3 628 800 Royal 11 11! = 39 916 800 Cinques 12 12! = 479 001 600 Maximus Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Wechselläuten. St Paul’s Cathedral in London mit ihren zwölf Glocken ermöglicht theoretisch bereits 479 001 600 rows. Würden Spieler/-innen diese Herausforderung anneh- men, so würden sie dreissig Jahre lang nonstop Glocken läuten. Welche Ziele können mit dem Modul «Bell ringing» verbunden werden? Schüler/-innen lernen eine typisch englische Tradition des Glockenläutens ken- nen. Sie musizieren eine kurze bell-ringing-Komposition, beispielsweise Plain Hunt, mit schuleigenem Instrumentarium, zum Beispiel Stabspielen oder Boom- whackers, und lernen dabei auch eine neue Form der Notation kennen. Sie kom- ponieren ein Stück gemäss den Regeln des bell ringing und erfahren auf diese Weise, dass bestimmte Kompositionstechniken sehr strengen Regeln unterlie- gen. Der fremdsprachliche Fokus liegt auf dem Verstehen eines Sachtextes über das bell ringing. Die Schüler/-innen lernen, wesentliche Inhalte des Textes so- wohl auf Englisch als auch auf Deutsch wiederzugeben. Entsprechend den Zielen könnten mögliche Aufgabenstellungen für eine 10. Klasse folgendermassen lauten: 1. Read the information text and look at the picture. Make sure you understand the four basic rules of bell ringing. 2. Have a look at the composition Plain Hunt. Show how the rules of change rin- ging are applied here. 127 3. Play a number of rounds on mallets, resonator bells or boomwhackers before you attempt to play Plain Hunt. 4. Invent ten rows for four to six players and write them down as it was done for Plain Hunt. Pay attention to the rules described earlier. Rehearse your composi- tion with your group and present it to class. Can you perform your piece from me- mory like real bell ringers? 5. Can you figure out how many possible combinations there are? 6. Summarize in German for your parents or a good friend what you have learnt about English Bell ringing. Write about five sentences and say what you find most interesting about this activity. Durch die verschiedenen Aufgaben werden vielfältige Kompetenzen adressiert und unterschiedlich intensiv gefördert. Musikbezogene Kompetenzen: – Sich auf fremde Musik (emotional) einlassen (Offenohrigkeit) – Einen Einblick in eine fremde Musiktradition erhalten – Eine musikalische Notationsform verstehen und umsetzen – Eine Tonfolge in gleichbleibendem Metrum spielen – Den eigenen Einsatz selbstständig finden und präzise ausführen – Eine kurze Komposition nach vorgegebenen Regeln schreiben – Eine kurze Komposition in einer Gruppe selbstständig einstudieren – Eine kurze Komposition auswendig lernen – Eine kurze Komposition als Gruppe vorspielen (Auftrittskompetenz) – … Sprachbezogene Kompetenzen: – Einen musikbezogenen englischen Sachtext verstehen – Wesentliche Inhalte eines Sachtexts wiedergeben – Arbeitsanweisungen verstehen und ausführen – Aussprache- und Grammatikregeln anwenden – … Selbstkompetenzen: – Dem Unterrichtsgeschehen aufmerksam folgen – Sich am Unterrichtsgeschehen aktiv beteiligen – Aufgaben selbstständig ausführen – Sprachliche/musikalische Hemmungen überwinden – … Soziale Kompetenzen: – Eine Aufgabe als Gruppe bearbeiten und präsentieren – Sich gegenseitig beim Ausführen der Aufgaben unterstützen – … 128 Eine bilinguale Unterrichtssequenz zu bell ringing vereint somit Aspekte aus dem Bereich der Landeskunde und Kultur, der Musik, der Mathematik und der Sprache und eröffnet Lehrpersonen vielfältige Möglichkeiten, an unterschied- lichen Kompetenzen mit den Schüler/-innen zu arbeiten. Allerdings werden vor allem intra- und interpersonale sowie -kulturelle Dimen- sionen erarbeitet. Inwieweit es sich dabei um ein Beispiel integrierter Musikpäd- agogik in Bezug auf die intra- und interdisziplinären Aspekte handelt, wird im folgenden Absatz diskutiert. Conclusion Rappelons la thèse défendue par Zulauf et Cslovjecsek (2018) selon laquelle l’enseignement intégré de la musique nécessite des capacités d’innovation et de créativité, touchant des aspects intra- et interdisciplinaires, -culturels et -personnels. Les deux séquences d’enseignement-apprentissage présentées dans cet article il- lustrent la complexité d’un enseignement intégré de la musique. En effet, quels sont les critères qui permettent de distinguer l’enseignement interdisciplinaire ou l’enseignement bilingue d’un enseignement intégré de la musique? Selon Zulauf et Cslovjecsek, un enseignement intégré devrait tenir compte à la fois de ce qui est spécifique et générique. Dans le premier exemple, nous avons pu mettre en évidence la difficulté des futurs enseignants à trouver des liens génériques entre concepts musicaux et linguistiques dans la conception de leur séquence. Le deu- xième exemple montre les acquisitions possibles dans les deux disciplines, tout en faisant apparaître une problématique similaire au premier projet. Dans ce cas, les aspects culturels du bell ringing sont certes mis en avant, mais sans travailler sur des notions linguistiques et musicales communes. En effet, le lien entre ces dis- ciplines est tissé par l’utilisation de la langue étrangère en tant que langue d’en- seignement. Les savoirs mathématiques et musicaux sont travaillés par rapport à une pratique culturelle en amenant les élèves à mobiliser leurs compétences lin- guistiques par rapport à un phénomène musical de cette culture. Selon le mo- dèle d’integrated music education, le niveau intradisciplinaire est privilégié ici sans tenir compte des concepts génériques aux deux disciplines. À notre avis, la mise en œuvre des concepts interdisciplinaires (selon la définition proposée par Zulauf et Cslovjecsek) mérite une attention accrue lors de la planification d’une séquence d’enseignement intégré. Revenons maintenant sur la terminologie pro- posée par Origgi et Darbellay (2010), selon laquelle l’interdisciplinarité permet de travailler des notions communes aux deux disciplines tandis que la transdisci- plinarité aborde des concepts génériques n’appartenant pas spécifiquement à une 129 des disciplines. Nous arrivons à la conclusion qu’une pensée conceptuelle claire constitue une des conditions pour aboutir à une véritable intégration des notions communes, voire génériques, dans la conception d’un tel enseignement. Afin d’étayer ces premiers constats et d’identifier avec plus de précisions des besoins de formation disciplinaire et didactique, l’analyse systématique de sé- quences d’enseignement intégré musique-langues à l’aide du modèle proposé pourrait constituer une prochaine étape de travail. Références Bartels, D. (2010). Bilingualer Musikunterricht. Herausforderungen & Möglichkei- ten – Unterrichtsforschung im Rahmen einer englischsprachigen Einheit zu Jazz/ Rock/Pop. In G. Blell, R. Kupetz (éd.), Der Einsatz von Musik und die Entwick- lung von Audio Literacy im Fremdsprachenunterricht (pp. 167–178). Francfort- sur-le-Main: Peter Lang. Bemporad, C., Chatelain, S. (2018). De la musicalité avant toute chose. Quand la pédagogie musicale et les approches du texte poétique se rejoignent. Éducateur, (11), 11–12. Bresler, L. (2002). Out of the trenches. The joys (and risks) of crossdisciplinary colla- borations. Bulletin of the Council for Research in Music Education, (152), 17–39. Bresler, L. 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Berne: Peter Lang. 131 Adäquate Umsetzung von Popmusik im Klassenunterricht auf der Sekundarstufe II Ein neuer Weg zur kognitiven Aktivierung und zum autonomen Musikmachen Dieter Ringli Zusammenfassung In einem Forschungsprojekt der Hochschule Luzern – Musik wurde mittels qualita- tiver Analyse- und Evaluationsverfahren eine Methode entwickelt und evaluiert, die Popmusik im Musikunterricht auf Gymnasialstufe in einer dem Charakter der Musik angemessenen Weise vermittelt und zugleich die unbeliebte Musiktheorie mit der be- liebten musikalischen Praxis verbindet. Anhand von qualitativen Interviews und Um- fragebogen mit Schülerinnen und Schülern (SuS) sowie Lehrpersonen der Gymna- sialstufe wurden Präferenzen, Wünsche und Probleme ermittelt und daraus – unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse der allgemeinen Pädagogik – eine Me- thode entwickelt, die den SuS einen erlebnisorientierten, aktiven Zugang zur Umset- zung von Musik mit gleichzeitigem Theoriebezug ermöglicht; eine Methode, die SuS im Sinn einer Aktivierung, die über den Musikunterricht hinaus andauern soll, befähigt, Popsongs aktiv selber zu gestalten. Die Methode wurde dann mit zwei Versuchsklassen ausprobiert und anschliess end evaluiert. So konnten eine hohe Akzeptanz von SuS und Lehrpersonen festgestellt und einige Schwächen und Probleme der Methode korrigiert oder verbessert werden. Résumé Dans le cadre d’un projet de recherche à la Haute école spécialisée de Lucerne – Mu- sique, une méthode a été développée pour transmettre la musique pop dans les cours de musique à l’école secondaire. Cette méthode, adaptée au caractère de cette musique et combinant la théorie musicale impopulaire avec une pratique musicale populaire, a été évaluée à l’aide de procédures d’analyse et d’évaluation qualitatives. Sur la base d’entretiens et de questionnaires qualitatifs avec les élèves et les enseignants du secon- daire II (lycée), les préférences, les souhaits et les problèmes ont été déterminés et à partir de là – en tenant compte des connaissances actuelles de la pédagogie générale – une méthode a été développée permettant aux élèves d’avoir une approche active de la musique, orientée vers l’expérience tout en faisant référence à la théorie; une méthode dont la portée devrait aller au-delà des leçons de musique, incitant les élèves à créer eux-mêmes des chansons pop. La méthode a ensuite été testée dans deux classes ex- périmentales, puis évaluée. De cette façon, un niveau élevé d’acceptation par les élèves 133 et les enseignants a été établi et certaines faiblesses et problèmes de la méthode ont été corrigés ou améliorés. Abstract In a research project at the Lucerne School of Music, a method was developed whereby pop music can be included in secondary school music lessons in a genre-appropriate manner by combining popular musical practice with less-than-popular music theory. Based on qualitative interviews and questionnaires with pupils and teachers at the gram- mar school level, preferences, wishes and problems were determined. Using this infor- mation – and taking into account the current findings of general pedagogy – a method was developed which enables pupils to have an experience-oriented, active approach to the music while simultaneously building a theoretical understanding; a method which, aiming to inspire interest that lasts beyond music lessons, enables pupils to actively cre- ate pop songs themselves. The method was then tested in two experimental classes and subsequently evaluated. In this way, a high level of acceptance by pupils and teachers was established and some weaknesses and problems of the method were corrected or improved. Schlüsselwörter Popmusik, Klassenunterricht, Musiktheorie, Singen Gedanken zur Popmusik im Unterricht und zur Ausrichtung des Musikunterrichts Es gibt unbestritten einen Widerspruch zwischen den im Musikunterricht erleb- ten Musikformen und der eigenen musikalischen Lebenswelt der Jugend lichen. Musik ist für die allermeisten Jugendlichen gleichzusetzen mit Popm usik.1 In ihrem ausserschulischen Alltag spielen andere Formen von Musik eine unter- geordnete bis verschwindend kleine Rolle. Im Musikunterricht zeigt sich eine andere Situation: Popmusik ist dort oft nur eine Randerscheinung. Popmusik findet zwar zunehmend statt im schulischen Musikunterricht, davon zeugt die steigende Zahl von Lehrmitteln zu diesem Thema genauso wie die grosse Zahl von musikpädagogischen Untersuchungen. Meist werden aber ältere Formen von Popmusik behandelt, die nicht der Lebenswelt der SuS entstammen, son- dern einen retrospektiven, historisierenden Charakter aufweisen. So entsteht 1 Der zweideutige Begriff «Popmusik» wird im vorliegenden Aufsatz nicht als Stilbegriff ver- wendet, sondern als Gattungsbezeichnung, die alle Formen von populärer (Jugend-)Musik umfasst von Rock über Hip-Hop bis Techno. 134 ein Widerspruch zwischen der musikalischen Alltagswelt der SuS und den im Musikunterricht behandelten und dargestellten Themen. Dort, wo (aktuelle) Popmusik tatsächlich Platz findet im Musikunterricht, handelt es sich meist um Instrumentalunterricht, wo den Schülerinnen und Schülern die Grundlagen der popspezifischen Instrumentaltechniken beigebracht werden (Ahlers, 2015; Schwarz, 2015). Insbesondere der Ansatz von Schwarz scheint sehr vielver- sprechend, allerdings sind die SuS beim Musizieren dort sehr stark mit dem In- strument beschäftigt und können sich wenig auf das gemeinsame Musikmachen einlassen. Für Popbands im Klassenunterricht, wie sie in angelsächsischen und skandinavischen Ländern betrieben werden (Green, 2008; Väkevä, 2006), fehlt es an fast allen Gymnasien der Deutschschweiz an Ressourcen, auch wenn die meisten Mittelschulen inzwischen über einen mehr oder weniger gut ausgestat- teten Bandraum verfügen. Ebenso besteht ein Widerspruch zwischen den – verbreiteten und erfolgrei- chen – schulmusikalischen Aktivitäten und der musikalischen Betätigung nach dem Ende der Schulzeit. Während der Schule beschäftigen sich zahlreiche Ju- gendliche intensiv mit Musik, sei dies im Instrumentalunterricht, im Klassen- musizieren, in Chören oder Ensembles im Rahmen der Schule (vgl. Lehmann- Wermser, Krupp-Schleussner, 2017). Mit dem Ende der Schulzeit enden im Normalfall diese musikalischen Aktivitäten. Rund zwei Drittel der musikalisch aktiven SuS beenden ihre musikalische Tätigkeit nach der Schulzeit (Bundesamt für Statistik, 2011). Die erfolgreiche Aktivierung der SuS verpufft also relativ wirkungslos nach dem Verlassen der Schule. Diese beiden Widersprüche – beziehungsweise der Verdacht auf einen kausa- len Zusammenhang zwischen diesen beiden Widersprüchen – waren Ausgangs- punkt des hier beschriebenen Projekts «Adäquate Umsetzung von Popmusik im Klassenunterricht auf der Sekundarstufe II», das in einer ersten Phase der ite- rativ-zirkulären Methode der Grounded Theory folgte (Strauss, Corbin, 1996). In längeren und kürzeren Einzel- und Gruppeninterviews und schriftlichen Be- fragungen mit Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern (SuS) des Gymna- siums wurde der Status quo ermittelt und wurden Probleme und Bedürfnisse mittels inhaltsanalytischer Auswertung der erhobenen Daten nach Mayring (1996) festgehalten. Aus dieser Situationsanalyse wurde vor dem Hintergrund der pädagogischen Theorie mit Fokus auf handlungsorientierten Unterricht und kognitive Aktivierung eine Methode neu entwickelt, wie Popmusik in den Schulunterricht integriert werden kann. Diese Methode wurde schliesslich durch Lehrpersonen in der Unterrichtspraxis angewandt und durch Beobachtung und Befragung evaluiert. In einem letzten Schritt wurde die Methode entsprechend den Resultaten der Evaluation angepasst und hinsichtlich ihrer Praxistauglich- keit bewertet. 135 Musikalische Präferenzen der SuS ausser- und innerhalb des Musikunterrichts Zunächst wurden mittels eines Fragebogens die Präferenzen der SuS zum Mu- sikunterricht erfragt. 97 Teilnehmende aus fünf Klassen (Typus Altsprachliches Profil [5. Klasse], Wirtschaft und Recht [4. Klasse], Naturwissenschaftliches Profil [4. Klasse], Musisches Profil [5. und 6. Klasse]) aus zwei Gymnasien des Kantons Zürich beantworteten die Umfrage im Rahmen des Musikunterrichts. Erfragt wurde die Beliebtheit verschiedener Aspekte des Musikunterrichts, Ver- änderungswünsche und musikalische Präferenzen.2 Die Einstiegsfrage «Wie gefällt dir der Musikunterricht?» erreichte die durch- schnittliche Bewertung «ziemlich gut», wobei die Aussagen je nach Profil und Lehrperson beträchtlich differierten. Grundsätzlich stehen die SuS dem Musik- unterricht also eher positiv gegenüber, was keine Überraschung ist, können die SuS das Fach Musik doch wählen, entweder als Profil (musisches Profil) oder als Wahlpflichtfach mit der Alternative des Faches Bildnerisches Gestalten. Die Be- liebtheit verschiedener Aspekte des Musikunterrichts zeigt sich in der Grafik 1. Bei der Frage, was aus persönlicher Sicht der SuS im Unterricht mehr oder weni- ger Gewicht erhalten soll, zeigt sich ein Bild wie in Grafik 2. Die Frage nach den persönlichen musikalischen Präferenzen beantworteten die SuS wie in Grafik 3. Um diesen groben Aussagen etwas genauer auf die Spur zu kommen, wurden acht Einzel- und Gruppeninterviews mit total 19 SuS geführt. Zunächst einmal zeigte sich, dass praktisch alle SuS Musik grundsätzlich positiv gegenüberstehen. Alle hören nach eigenen Angaben sehr viel Musik im Alltag, die meisten fast ausschliesslich Popmusik, wobei hier nur am Rande darauf eingegangen wurde, welche Art von Popmusik gehört wird. Die meisten bevorzugen ein weites, rela- tiv unspezifisches Feld von radiotauglicher Popmusik, Radio Energy NRJ ist der meistgenannte Radiosender, aber auch Youtube und Spotify werden als wichtige Quellen genannt. Einzelne haben einen spezifischer ausgerichteten Geschmack («Indie-Rock» oder «politischer Hip-Hop» wurden explizit erwähnt). Electro- nic Dance Music (EDM) wird fast ausschliesslich in den Clubs im Ausgang ge- hört, Hip-Hop und Rock polarisieren stark. Einige wenige begeistern sich stark dafür, die meisten lehnen sie aber ab. Rock gilt als Musik der Elterngeneration, während Hip-Hop oft als «primitiv» und «langweilig» oder «unmelodisch» be- schrieben wird. Niemand hat sich aber ausschliesslich auf eine bestimmte Mu- 2 Beantwortet wurden von den 97 Teilnehmenden die Fragen mit einer fünfstufigen Skala mit ent- sprechenden Punkten (-2 «überhaupt nicht», -1 «wenig», 0 «neutral», 1 «ziemlich gut», 2 «sehr gut»). Maximalwert war somit 194, Minimalwert -194, neutraler Mittelwert 0. 136 Grafik 1: Was gefällt dir im Musikunterricht? Musiktheorie und Musikgeschichte sind klar negativ konnotiert beziehungsweise wenig beliebt. Projektarbeiten (ein breit gefächertes Feld von Rechercheaufgaben bis zu Com- putermusik-Kompositionen) werden neutral bewertet, während Singen und «Musik machen» deutlich beliebt sind. An erster Stelle der Beliebtheitsskala steht das Hören von Musik. Grafik 2: Was möchtest du mehr/weniger? Musiktheorie und Musikgeschichte sollten aus Sicht der SuS deutlich weniger vorkom- men im Musikunterricht. Projektarbeit ist zwar nicht unbeliebt, scheint aber schon ge- nügend zum Einsatz zu kommen; sie wird nur geringfügig als zu viel bewertet. Aktives Musikmachen hingegen sollte aus Schülerinnen- und Schülerperspektive klar häufiger gepflegt werden. 137 Grafik 3: Welcher Stil gefällt dir? Pop steht überdeutlich zuoberst in der Beliebtheit. Jazz ist für die meisten kein Thema, Volksmusik ebenso wenig. Klassik hingegen wird mehrheitlich neutral bis leicht positiv bewertet. Hier fällt zudem auf, dass die SuS aus dem musischen Profil deutlich klassik- affiner sind als diejenigen aus anderen Bereichen. Eine ähnliche Tendenz ist auch hin- sichtlich Theorie und Musikgeschichte zu beobachten: Im musischen Profil schneiden die beiden Teilbereiche zwar auch schlecht ab, aber doch etwas besser als in den ande- ren Profilen. sikrichtung festgelegt. Die Ansicht, dass je nach Kontext verschiedene Arten von Musik gehört werden, ist Konsens. Klassik wird zwar neutral bis positiv bewer- tet, gehört wird klassische Musik aber relativ selten, was auch mit der Hörhal- tung zusammenhängt. Musik wird via Smartphone in allen möglichen Alltags- situationen als Begleitung oder Hintergrund gehört. Dazu eignet sich klassische Musik nur schon aufgrund der breiten Dynamik wenig. Jazz ist zwar allen als Begriff bekannt, kaum jemand hat aber einen Zugang dazu oder nur schon eine konkrete Vorstellung davon, was Jazz ist. «So schrä- ges Zeugs» wurde mehrfach als Charakterisierung genannt. Auffällig ist, dass hier eine Art normativ-zirkuläre Definition angewendet wird: Musik, die gefällt, ist Pop, Musik die nicht gefällt, ist Jazz. Angesprochen auf Bands wie Snarky Puppy oder Vulfpeck kam sofort die Antwort: «Das ist doch kein Jazz.» Mit Volksmusik verbinden die meisten SuS volkstümlichen Schlager der entspre- chenden Fernsehshows à la «Musikantenstadl». Angloamerikanische Folkmusic wird unter Pop subsummiert, ebenso die Worldmusic. Die Aussagen über die Stilpräferenzen sind also für diese Altersgruppe nicht überraschend. 138 Bei den Präferenzen und Wünschen zum Musikunterricht gibt es doch einige Aussagen, die zunächst etwas erstaunen, die sich aber im Gespräch meist klä- ren liessen. So wird «Musiktheorie» am wenigsten geschätzt (Wert -182). Als Gründe für diese Ablehnung wurden folgende Argumente vorgebracht: «Das ist total nutzlos», «Wozu soll das gut sein?», «kein Zusammenhang mit der Pra- xis». Die SuS scheinen also keinerlei praktischen Nutzen erkennen zu können in der Theorie, die sich auf dieser Stufe vor allem um Intervalle und Harmonie- lehre dreht. Nicht einmal die SuS des musischen Profils (mit einer einzigen Aus- nahme) erkennen einen praktischen Gewinn in der Musiktheorie. Wenn sie sich dafür interessieren, dann nur, weil sie sich theoretische Kenntnisse im Hinblick auf die Aufnahmeprüfung für eine Musikhochschule aneignen müssen. Aller- dings überrascht in den Einzelgesprächen, dass die SuS durchaus ein Interesse an einem theoretischen Verständnis für Musik haben. Aussagen wie «Ich würde gern besser verstehen, wie Musik funktioniert» oder «Ich hätte gern eine theo- retische Grundlage, die mir beim Musikmachen hilft» weisen darauf hin, dass die SuS zwar ein Interesse für Musiktheorie haben, die angebotene Theorie aber nicht mit der musikalischen Praxis in Verbindung bringen können.3 Auch Musikgeschichte wird sehr negativ bewertet, was schon eher erstaunt. Für die SuS ist Musikgeschichte oft gleichbedeutend mit Formenlehre und mit dem Auswendiglernen von Begriffen und Jahreszahlen. Das Auswendiglernen von Zahlen und Begriffen kennen sie bereits aus anderen Fächern wie Geschichte oder Geografie. Von Musik erhoffen sie sich eher eine Alternative zu den üb- rigen, intellektuell ausgerichteten Fächern. Zur Formenlehre fehlt ihnen jeder Bezug. Wer noch nie eine Sonate oder höchstens ausschnittweise eine Sinfonie oder Oper gehört hat, kann keinen Bezug herstellen zur Sonatenhauptsatzform oder zur Da-capo-Arie. Da werden die SuS im Unterricht offenbar nicht da ab- geholt, wo sie stehen. Weiter ist erstaunlich, dass die SuS zwar dem Hören von Musik eine hohe Priorität zuordnen, Musikgeschichte trotzdem sehr unbeliebt ist. Dies lässt darauf schliessen, dass Musikgeschichte eher theoretisch-abstrakt und nicht anhand von Hörbeispielen abgehandelt wird. Ebenfalls zunächst überraschend ist, dass «Musik machen» im frei gewählten Fach Musik nicht den höchsten Stellenwert einnimmt. Im Gespräch zeigen sich dafür folgende Gründe: Ein Teil der Schüler (Schülerinnen waren in dieser spezi- fischen Gruppe nicht auszumachen) wählte das Fach nicht primär aus Interesse, sondern ex negativo, um Bildnerisches Gestalten zu vermeiden – besonders im 3 Einige wenige SuS schätzen zwar den Theorieunterricht, aber nicht, weil sie sich dafür inter- essieren oder sie einen Zusammenhang zur musikalischen Praxis, zur erklingenden oder selber gespielten Musik herstellen können, sondern weil es ihnen leichtfällt. Musiktheorieprüfungen – beispielsweise das Schichten von Intervallen zu Akkorden – sind eine einfache Möglichkeit, eine gute Note zu erzielen. 139 wirtschaftlich-rechtlichen Profil WR. Diese Schüler haben weder einen beson- deren Bezug zur Musik, noch spielen sie ein Instrument. Sie erhoffen sich aber, dass das Fach weniger Aufwand erfordert als das Bildnerische Gestalten, zu dem sie auch keine Neigung haben – keine einfache Situation für die Lehrpersonen. Aber auch für viele andere SuS hat das Interesse für Musik keinen zwingenden Zusammenhang mit dem Interesse fürs Musikmachen. Der Musikbegriff ist für die junge Generation selbstverständlich gekoppelt ans Hören von medial ver- mittelter Musik. Für diese Generation ist das musikalische Handwerk nur noch eine exotische Unterkategorie von Musik. Dass das Hören von Musik so hoch- geschätzt wird, überrascht darum wenig: «Musik hören» steht für diese Gene- ration synonym für «Musik».4 Trotzdem steht der Wunsch nach aktivem Musi- zieren ebenfalls hoch in der Priorität der SuS; eine musikalische Aktivierung ist also sowohl erwünscht als auch aus pädagogischer Sicht notwendig, denn das Erlebnis gemeinsamen Musikmachens ist durch nichts zu ersetzen. Insbesondere die Resonanztheorie (Rosa 2016) weist sehr deutlich auf den Wert gemeinsamen Musikmachens hin, was hier aber bloss angemerkt und nicht weiter ausgeführt werden kann.5 Ansichten der Lehrpersonen zur Popmusik im Musikunterricht Im Rahmen der Studie wurden sechs ausführliche Interviews geführt und 18 Kurz- interviews zum Thema erhoben. Daneben wurden zwölf informelle Gespräche mit aktiven und angehenden Lehrpersonen einbezogen. Die Interviews lassen eine klare Tendenz erkennen, die sich auch mit der Selbsteinschätzung der Musiklehr- personen deckt: Je vertrauter die Lehrpersonen mit Popmusik sind, desto posi- tiver stehen sie dieser gegenüber (Grafik 4). Wer mit Pop aufgewachsen ist beziehungsweise wer mit Popmusik sozialisiert wurde, steht der Integration von Popmusik in den Unterricht zwanglos gegen- über und empfindet diese als selbstverständlich. Wer eher mit klassischer Musik sozialisiert wurde, hat mehr Mühe oder sieht weniger Notwendigkeit dafür. Al- lerdings gibt es auch Ausnahmen von dieser Ansicht: Zwei Lehrpersonen be- zeichnen sich als sehr popaffin, finden aber, Popmusik zeichne sich gerade durch die Autonomie der Jugend in diesem Bereich aus und wollen darum bewusst 4 Dass es entsprechend den SuS-Wünschen auch eine Rezeptionsdidaktik bräuchte, welche Popmusik angemessen berücksichtigt, sei hier nicht bestritten. Die hier vorgestellte Methode verbindet darum Hören und Analysieren mit Umsetzen, fördert also durchaus auch eine diffe- renzierte Rezeptionshaltung. 5 Auch die didaktische Umsetzung der Resonanztheorie müsste bei anderer Gelegenheit detail- liert diskutiert werden. 140 Grafik 4: Selbsteinschätzung der Lehrpersonen (Eigendeklaration) Pop-nah Pop-positiv Pop-negativ Pop-fern Popmusik nicht verschulen und in den Unterricht einbauen. Auf der anderen Seite gibt es einige Lehrkräfte, die sich in der Popmusik wenig bis gar nicht aus- kennen, es aber trotzdem nötig finden, diese im Unterricht zu behandeln. Die einen wollen sie als Gegensatz zur «elaborierteren» und «wertvolleren» Kunst- musik thematisieren, um so die «Andersartigkeit» der Kunstmusik herauszustel- len. Andere halten es für notwendig, die musikalische Lebenswelt der Jugend- lichen nicht auszuklammern aus einem ernstzunehmenden Musikunterricht. Es sei unbedingt zu vermeiden, dass der Musikunterricht zu etwas werde, das mit dem, was Jugendliche unter Musik verstehen, kaum mehr etwas zu tun habe. Dass die letzten beiden Gruppen auf praktische Schwierigkeiten stossen, eine Musikform, die ihnen fremd ist, im Unterricht kompetent und überzeugend zu behandeln, ist nicht weiter erstaunlich. Zunächst überraschend ist hingegen, dass auch diejenigen, die mit Popmusik vertraut sind, es als schwierig empfinden, Popmusik in die Unterrichtspraxis zu integrieren. Folgerungen Als Konsequenz aus dieser Befragung sind verschiedene Dinge festzuhalten: Erstens ist Popmusik aus dem heutigen Musikunterricht nicht mehr wegzuden- ken. Sowohl die SuS als auch fast alle Lehrpersonen sind sich einig darin, dass 141 ein zeitgemässer Musikunterricht das Thema nicht mehr ausklammern kann. Al- lerdings stossen die Praxisanwendungen oft an Grenzen. Die SuS empfinden die Popmusik, die im Musikunterricht behandelt wird, als veraltet, die Lehrperso- nen tun sich schwer damit, für die Praxis einen geeigneten Umgang zu finden. Der zweite Punkt betrifft die musikalische Praxis. Schülerinnen und Schüler wünschen sich musikalische Praxis, das heisst Musikmachen sollte ein wesent- licher Schwerpunkt des Musikunterrichts sein. Das Erlebnis des Singens gehört darum nach wie vor zu den zentralen Momenten des Musikunterrichts.6 Drittens existiert ein Problem mit der Musiktheorie. Die SuS sind zwar nicht grundsätzlich theoriefeindlich eingestellt, sie sehen aber kaum einen Zusammen- hang zwischen dem, was in der Musiktheorie gelehrt wird, und der musikali- schen Praxis. Hier müsste es also gelingen, Formen der Musiktheorie zu finden, die praxisnäher und somit motivierender sind. Ziel eines sinnvollen Musikunterrichts wäre also sowohl aus pädagogischer Sicht als auch aus der Perspektive der SuS die kognitive Aktivierung: Die kogni- tive Aktivierung der Schüler wird von Lipowsky als die Anregung «zum ver- tieften Nachdenken und zu einer elaborierten Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsgegenstand» beschrieben (2015, S. 89 f.). Hier wird also gefordert, dass «alle Lernenden zur aktiven Auseinandersetzung mit den Lerninhalten auf einem für sie angemessenen Niveau angeregt werden» (Leuders, Holzäpfel 2011, S. 213), wobei sich der Begriff der Aktivität auf das Denken und nicht auf das Verhalten der Lernenden bezieht (Lipowsky, Lotz, 2015, S. 106). Es geht also darum, eine Methode zu entwickeln, die die Lust der SuS am Singen nutzt und gleichzeitig einen musiktheoretischen Anspruch stellt. Gelingt uns das im Rah- men der Popmusik, so können wir davon ausgehen, dass diese Form von Unter- richt auch über die Schulzeit hinaus wirksam bleibt. Mit der Hinführung auf eine kognitive Aktivierung, also ein besseres theoretisches Verständnis von Musik, und der gleichzeitigen Praxisumsetzung könnte das Problem entschärft werden, dass Jugendliche und junge Erwachsene nach dem Verlassen der Schule ihre mu- sikalischen Aktivitäten einstellen, weil sie auch ohne Anleitung durch Lehrper- sonen in der Lage wären, sich musikalisch weiterhin zu betätigen. 6 Dies mag teilweise überraschen, war doch «Singen» lange Zeit Synonym für Musikunterricht. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich der Musikunterricht aber stark gewandelt und so ist das Singen – zumindest teilweise – merklich zurückgegangen. 142 Umsetzung von Popmusik Kognitive Aktivierung ist zwar seit einiger Zeit ein sehr aktuelles Thema in der pädagogischen Forschung, für den Musikunterricht gibt es aber hierzu noch einigen Nachholbedarf, insbesondere was Musiktheorie anbelangt. «Für den Musik unterricht gibt es keine, mit der empirischen Unterrichtsforschung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer auch nur annähernd vergleich- bare Forschung zur kognitiven Aktivierung» (Gebauer 2016, S. 28). Ähnliches gilt für den Einbezug von Popmusik in den Musikunterricht: Zwar gibt es inzwischen reihenweise Popsongs, die für den Schulchor arrangiert wur- den, das Resultat bleibt aber oft etwas unbefriedigend. Ich will hier keineswegs in Abrede stellen, dass einige Lehrpersonen inzwischen sehr erfolgreich Pop- chöre aufgebaut haben und mit ihnen auf hohem Niveau und mit grosser Be- geisterung seitens der SuS arbeiten. In den meisten Fällen haften dem Singen von Popsongs im Chor aber zwei Mängel an: Erstens ist das musikalische Material nicht sehr ergiebig, das heisst, es gibt für Chöre wesentlich spannenderes Ma- terial zu singen als Popsongs, und zweitens verlieren Popsongs im Chor ihren «Popappeal». Um diese beiden Probleme zu verstehen und zu lösen, müssen wir uns klar wer- den über die Eigenheiten von Popmusik. Pop ist harmonisch einfach, und Pop ist keine «Werkmusik», die musikalische Struktur, das heisst das musikalische Ma- terial, ist relativ unwichtig; die Stärke eines Popsongs liegt in seiner Interpreta- tion.7 Zwar lassen sich manche Popsongs auch zu überzeugenden Chorarrange- ments umarbeiten, in der Mehrzahl der Fälle liefern sie aber zu wenig ergiebiges Material. Popsongs sind grundsätzlich solistische Musik, das heisst, es stehen Charakter und individueller Ausdruck einer Einzelstimme im Zentrum. Dieser Umstand lässt sich nicht in einen Chorsatz übertragen. Ein Chor macht keine Popmusik, auch wenn er Popsongs singt. Dieser Widerspruch zwischen Chor und Popsong lässt sich nicht auflösen, er ist unüberwindbar. Die geringe harmonische Komplexität von Popsongs ist nun aber keine Bestäti- gung der immer noch teilweise vorhandenen Ansicht, dass Pop eben doch min- derwertige Musik sei und es eine blosse notwendige Anbiederung an den noch unterentwickelten Musikgeschmack der SuS sei, sich mit Pop zu beschäftigen.8 Pop hat, wie jede Musik, seine eigenen Gesetzmässigkeiten, und das wichtigste 7 Wer daran zweifelt, höre sich als Beispiel den Song «Tennessee Whiskey» in der Fassung von David Allan Coe von 1981 und von Chris Stapleton 2015 an – einmal seichter Country-Pop, einmal ein Weltklasse-Popsong. 8 Harmonische Komplexität ist ja auch in der abendländischen Kunstmusik kein Wert an sich; ansonsten wäre Mozart kaum so geschätzt, ist doch die Harmonik der Werke Mozarts eher trivial, verglichen mit derjenigen von beispielsweise Dietrich Buxtehude. 143 Merkmal im Popsong ist – neben Beat und Sound – der individuelle Ausdruck. Im Pop liegt das Gewicht also auf drei Ebenen: Rhythmus, Klang und indivi- dueller Ausdruck. Diese Faktoren eignen sich unterschiedlich für die Umsetzung im Musikunter- richt. Klang, also «Sound», ist im Schulkontext kaum adäquat umsetzbar. Die klangliche Ebene im Pop ist ein hochspezialisiertes Handwerk, das einerseits viel Routine und Übung braucht, andererseits eine technische Ausrüstung, die im Schulkontext kaum finanzierbar ist. Zudem sind die Sounds des Pop einer ex- trem schnellen Veränderung unterworfen; was heute angesagt ist, ist im nächs- ten Jahr schon veraltet. Rhythmus hingegen lässt sich relativ einfach umsetzen, mit Perkussionsinstrumenten, mit Bodypercussion und Beatboxing. Allerdings bedürfen Poprhythmen langer Übung, sie müssen absolut präzis sein, damit das entsteht, was im Pop «Groove» genannt wird und was die Voraussetzung für jeden gelungenen Popsong ist (vgl. Senn, 2017; Senn, Kilchenmann, Bechtold, Hoesl, 2018). Der individuelle Ausdruck verweist auf eine Hauptqualität der Popmusik: auf die Handlungsautonomie des Individuums. Im Pop ist grund- sätzlich jeder und jede selber verantwortlich für das, was er oder sie spielt oder singt. Pop ist keine «Interpretationsmusik», sondern «Selbstgestaltungsmusik». Diese zentrale Qualität geht verloren, wenn Popsongs in ausarrangierte Chor- sätze verwandelt werden. Es muss also bei der Umsetzung darum gehen, den Schülerinnen und Schülern möglichst viel Handlungsautonomie zuzugestehen, auch im Hinblick darauf, dass sie auch ausserhalb des Unterrichts und ohne Un- terstützung durch Lehrpersonen Popsongs selber gesanglich umsetzen können. Umsetzung im Unterricht Pop ist solistische, prozessorientierte Musik. Popmusik erfordert darum eine eigene Herangehensweise, die sich von der interpretatorischen der Klassik und der improvisatorischen des Jazz grundlegend unterscheidet. Die hier vor- gestellte Methode ist darum nicht resultat- und produktorientierte Reproduk- tion, sondern eine prozess- und handlungsorientierte Herangehensweise an die Musik. Das Produkt ist die Tätigkeit, das Handeln, das musikalische Erlebnis; Ziel ist die Befähigung zur eigenen Umsetzung von Popsongs. Daraus entsteht erst musikalische Autonomie, die über den Unterricht hinaus Bestand hat (vgl. Small, 1998). Das Gewicht dieser Popmethode liegt auf der nichtschriftlichen, auditiven Ver- mittlung. Schriftlichkeit spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, dafür wird mit Audiofiles gearbeitet, die den SuS zur Verfügung gestellt werden. Anhand einer Aufnahme und eines Textblatts lernen alle SuS die Leadstimme zu singen. 144 In einem nächsten Schritt werden sie angeleitet, selber ein Arrangement zu ent- werfen und auszuführen. Dazu bekommen die Schülerinnen und Schüler eine Textversion des ausgewählten Songs, auf der die Akkordsymbole eingetragen sind und eine Akkordtabelle, auf der alle Dur-, Moll- und Dominantseptakkorde sowie verminderten und übermässigen Akkorde aufgeführt sind. Analog zur Methode «Lesen durch Schreiben» von Jürgen Reichen (1988–1995) sollen sich die SuS so Harmonielehrekenntnisse durch praktisches Singen aneignen. Mittels der Akkordtabelle und der angegebenen Akkordsymbole können sie feststellen, welche Töne als Begleitung passen und so eine eigene harmonische Begleitung entwickeln.9 Zunächst werden sie nur die Grundtöne zur Leadstimme mitsin- gen. Dann werden sie die Begleitung zunehmend verfeinern, zusätzliche Noten verwenden, die Begleitung rhythmisieren, Textabschnitte in die Begleitung ein- bauen usw. Die rhythmische Begleitung erfolgt durch Bodyperkussion oder Beatboxing, wozu die SuS einen eigenen Beat entwickeln oder sich an die Vorlage anleh- nen. Dabei wird sich die Gruppe zunehmend spezialisieren. Die einen singen die Leadstimme, die anderen begleiten harmonisch oder rhythmisch. So entsteht sukzessive ein eigenes Arrangement, bei dem sich alle einbringen können. Durchführung Die Methode wurde an zwei Klassen während dreier 45-Minuten-Lektionen ausprobiert.10 Als Beispielsong wurde «Love the Way You Lie» ausgewählt, den Eminem zusammen mit Rihanna 2010 veröffentlicht hat. Die SuS lernten als Hausaufgabe den Song anhand eines Textblatts und eines Audiofiles mitzu- singen, sowohl die Melodie des gesungenen Refrains als auch den Rap-Part der Strophe.11 In der ersten Lektion wurde dann der Song gemeinsam gesungen mit Klavierbegleitung durch die Lehrperson und im Rap-Teil übernahm ein Teil der Klasse den Beat mit einem einfachen Body-Percussion-Pattern. Anhand die- ses Songs wurden dann die theoretischen Grundlagen eines Arrangements ein- geführt. Zum Einstieg ins Arrangieren sahen sie sich gemeinsam zwei Videos an, eines mit «Gradhäbe», der typischen akkordisch gesungenen Begleitung des 9 Haupteinwand gegen Reichens Methode ist die problematische Rechtschreibung, da sich die Kinder nicht an richtige Wortbilder gewöhnen. In der Popmusik fällt dieses Problem weg, weil es keine «richtige» und «falsche» harmonische Verbindungen gibt. Erlaubt ist, was gut tönt. 10 Nicht zu unterschätzen ist die Schwierigkeit, Versuchsklassen zu finden. Aufgrund der dichtge- drängten Lehrpläne ist es kaum möglich, mehr Unterrichtszeit zu erhalten für solche Projekte. Zur Verfügung standen eine 5. M-Klasse mit Schwerpunktfach Musik und eine 6. A/WR- Klasse. 11 Aufgrund der knappen Zeit wurde der Rap-Teil in einer verkürzten Version abgegeben. 145 Naturjodels,12 das andere mit der Gruppe «Pentatonix», die eine A-cappella- Version von Leonard Cohens «Hallelujah» vorträgt.13 Dann wurden die Klas- sen in Fünfer- bis Sechsergruppen aufgeteilt und erhielten den Auftrag, ein ei- genes Arrangement zum Song auszuarbeiten. Dazu erhielten sie ein Drittel der ersten und eine weitere 45-Minuten-Lektion Zeit, während deren sie in einem eigenen Raum am Song arbeiten konnten. In der dritten Lektion wurde noch- mals in Gruppen am Song gearbeitet und zum Schluss die Resultate in der Klasse vor getragen. Die Lehrperson zirkulierte in den Gruppen und leistete, wo nötig, Hilfe mit Anregungen und Tipps. Auswertung Die Resultate der einzelnen Gruppen waren sehr vielfältig. Teilweise wurden verblüffende Chorsätze ausgearbeitet, manche Gruppen praktizierten eher eine Art «Gradhäbe» mit Grundtonbegleitung einer einzigen Leadstimme, konzen- trierten sich dafür auf den Beat und den Rap-Teil, der mit viel Enthusiasmus aus- geführt wurde.14 In den nachfolgenden Gruppengesprächen mit den SuS zeigten sich diese sehr motiviert. Praktisch alle möchten wieder so arbeiten. Positiv erwähnt wurde, dass man sich entsprechend seiner Neigung und Fähigkeit einbringen konnte. Diejenigen, die gern singen, konnten sich solistisch profilieren, diejenigen, die wenig Neigung zum Singen verspüren, konnten sich als Rapper, als Beatboxe- rinnen oder als Bodyperkussionisten und -perkussionistinnen betätigen und so trotzdem am musikalischen Ereignis teilhaben. Die Stimmung war in fast allen Gruppen gut und produktiv. Einzelne SuS bemerkten, dass ihnen nun zum ers- ten Mal der Zusammenhang zwischen Harmonielehre und musikalischer Praxis klar geworden sei. Die Lehrpersonen waren positiv überrascht, wie konzentriert die SuS in den Gruppen gearbeitet haben. Auch sie schätzten den Erlebniswert sehr hoch ein, auch wenn zum Teil das klangliche Resultat – nicht zuletzt aufgrund der knap- pen Zeit, die zur Verfügung stand – nicht überwältigend war. Ebenfalls positiv wurde bemerkt, dass Harmonielehre praxisorientiert zur Anwendung kam und so ein grösseres Interesse entstand, sich mit Musiktheorie zu befassen. 12 www.youtube.com/watch?v=1H9MUwOZ0cQ [16. 7. 2019]. 13 www.youtube.com/watch?v=LRP8d7hhpoQ [16. 7. 2019]. 14 Ich habe bewusst darauf verzichtet, die Resultate mit Video- oder Audioaufnahmen zu doku- mentieren, da die Methode nicht resultat-, sondern erlebnisorientiert ist und daher nicht am ersten Resultat gemessen werden soll. 146 Probleme bei der Umsetzung Einzelne SuS waren mit der eigenständigen harmonischen Umsetzung über- fordert. Diese konnten sich aber auf der rhythmischen Ebene einbringen und so trotzdem am musikalischen Erlebnis teilhaben und zum Gelingen beitragen. Von einer – eher popfernen – Lehrperson wurde bemängelt, dass sie kaum Hilfe- stellung leisten konnte, weil sie sich mit der Materie zu wenig auskenne. Ebenso erwies sich der Raumbedarf als problematisch; die einzelnen Gruppen brauchen einen eigenen Raum, wenn möglich mit Klavier, damit sie in Ruhe selbständig arbeiten können. Ein weiterer Nachteil der Methode besteht darin, dass sich nicht sofort ein vorzeigbares Resultat erarbeiten lässt; mit einem ausgeschriebe- nen Chorsatz lassen sich schneller überzeugende Resultate erzielen. Die Fokus- sierung auf den musikalischen Prozess und nicht auf das musikalische Produkt wird sich aber längerfristig als Vorteil erweisen, weil die SuS zur musikalischen Eigenaktivität angeleitet und angeregt werden. Zudem soll die hier vorgestellte Methode das Chorsingen ja nicht ersetzen, sondern eine zusätzliche Alternative zum herkömmlichen Singunterricht sein. Konklusion Die hier vorgestellte Methode bietet nicht nur einen hohen Erlebnisfaktor, sie fördert auch die Gemeinschaftsbildung und trägt zur Stimmbildung und zu einem verbesserten Rhythmusgefühl bei.15 Die SuS erleben Musik als selbstbe- stimmte Aktivität und lernen ein Handwerk, das sie auch ausserhalb des Schul- unterrichts anwenden können. Zudem erhalten sie einen praxisorientierten Zu- gang zur Harmonielehre, gewinnen dadurch erste Kenntnisse und entwickeln bestenfalls auch ein Interesse für Musiktheorie. Die Schülerinnen und Schüler sind motiviert – insbesondere auch, wenn sie ei- gene Songs auswählen dürfen, was in der hier beschriebenen Durchführung aus Zeitgründen nicht möglich war – und profitieren darum musikalisch davon. Kurz: Die kognitive Aktivierung gelingt hier in einer Art und Weise, die über den Musikunterricht hinaus von Bedeutung ist. Im Idealfall werden die Schü- lerinnen und Schüler, die im Unterricht nach dieser Methode angeleitet wer- den, somit auf dem Pausenplatz und in der Freizeit selber Songs gestalten und ausführen. 15 Sie ersetzt aber, das sei hier nochmals betont, weder den herkömmlichen Sing- noch den Theo- rieunterricht, sondern versteht sich als Ergänzung dazu. 147 Literaturangaben Ahlers, M. (2015). Popmusik-Vermittlung. Zwischen Schule, Universität und Beruf. Berlin: Lit. Ansohn, M. (2014). Popsongs in der Schule singen. Funktionen von Songs im Hin- blick auf Singbedürfnisse von SchülerInnen. AfS-Magazin, (37), 14–19. Lehmann-Wermser, A., Krupp-Schleussner, V. (2017). Jugend und Musik. Eine Studie zu den musikalischen Aktivitäten Jugendlicher in Deutschland. 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Die sängerische Auseinandersetzung mit einem Werk über einen längeren Zeitraum fördert jedoch auch ein tieferes Werkverständnis, welches in dieser Art im Schulunterricht nur schwer vermittelt werden kann. Auch deshalb sollte Chorsingen besser in den Lehrplänen verankert und begründet werden. Im zweiten Teil des Beitrags werden die Schulchöre der Nordwestschweiz genauer be- schrieben. Die Leitung der Chöre wird zunehmend durch Lehrerteams übernommen. Dabei gibt es verschiedene Formen und Ausprägungen der Zusammenarbeit. Im dritten Teil wird die Rolle der schulmusikalischen Ausbildung an den Musikhochschulen im Hinblick auf die Leitung von Schulchören dargestellt. Dabei werden die Begriffe «im- plizite Fachdidaktik» und «artistic research» speziell beleuchtet und deren Funktion bei der Vermittlung von Berufswissen im Hinblick auf die Chorleitung beschrieben. Résumé Dans les cantons du nord-ouest de la Suisse, les chorales scolaires constituent un pi- lier important de l’offre musicale des écoles. Ni les programmes d’études des cantons suisses alémaniques ni les publications didactiques spécialisées en langue allemande n’examinent de près le rôle des chœurs scolaires et leur interaction avec les cours de musique «réguliers». En ce qui concerne le chant choral, l’acquisition de compétences musicales pratiques est généralement mentionnée. Cependant, l’engagement vocal dans une œuvre sur une période plus longue favorise également une compréhension plus profonde de l’œuvre, difficilement atteignable de cette manière dans le cadre de l’ensei- gnement scolaire. Pour cette raison, le chant choral devrait être mieux ancré et justifié dans les programmes scolaires. Dans la deuxième partie de l’article, les chorales scolaires du nord-ouest de la Suisse sont décrites plus en détail. Les chœurs sont de plus en plus souvent dirigés par des équipes d’enseignants. Il existe diverses formes et modalités de 151 coopération. Dans la troisième partie sera présenté le rôle que joue la formation à l’en- seignement de la musique à l’école dans des hautes écoles de musique pour la direction des chorales scolaires. Les termes «didactique implicite des matières» et «recherche ar- tistique» seront examinés et leur fonction dans la transmission de connaissances profes- sionnelles en matière de direction de chœur sera décrite. Abstract In the cantons of northwestern Switzerland, school choirs form an important pillar of the musical offerings in schools, yet the role of school choirs and their interaction with “regular” music lessons has received little attention, both in the curricula of the Ger- man-speaking Swiss cantons and in German-language specialist didactic publications. In connection with choral singing, the acquisition of practical musical skills is usually mentioned. However, the vocal engagement with a work over a longer period of time also promotes a deeper understanding of that work, something that is difficult to con- vey in school lessons, lending support to the idea that choral singing should be bet- ter anchored and justified in the curriculum. The second part of the article describes the school choirs of northwestern Switzerland in more detail and discusses the various forms of cooperation used by the teams of teachers who usually lead them. The article’s third section considers the role of school music education at the conservatories of music with regard to the leadership of school choirs. In particular, the terms “implicit subject didactics” and “artistic research” will be examined, and their function in imparting pro- fessional knowledge with regard to choral conducting will be described. Schlüsselwörter Schulchor, implizite Fachdidaktik, ästhetische Bildung, Generierung von Berufswissen In den Nordwestschweizer Kantonen Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau und Solothurn haben die Schulchöre an fast allen Gymnasien und Kantonschulen Tra- dition und bilden einen wichtigen Pfeiler im musikalischen Angebot der Schulen. Die Frage nach der Rolle der Chöre für das Fach Musik auf der Sekundarstufe II ist im deutschsprachigen musikdidaktischen Diskurs jedoch noch wenig erörtert. Am ehesten finden sich entsprechende Aussagen und Hinweise in den Publikatio- nen zu den Selbstkonzepten der Lehrpersonen (Hammel, 2012) oder in deutschen Studien über Chorklassen (Naacke, 2010; Regniet, 2014; Riemer, Zieske, 2009), deren Konzepte sich jedoch von denjenigen der Chöre der schweizerischen Se- kundarstufe II wesentlich unterscheiden. Die Lehrpläne der Deutschschweizer Kantone erwähnen im Bereich Musik die Schulchöre meist nur am Rande und im Zusammenhang mit den Stundendotationen. Trotz dieser Marginalisierung hat die Chorarbeit einen hohen Bildungswert. Durch das Chorsingen werden 152 viele Kompetenzen im Bereich der rhythmischen und melodischen Schulung, der Gehörbildung und Harmonielehre und im Umgang mit der eigenen Stimme ge- schult. Zudem eröffnen sich vielfältige soziale und klassenübergreifende Lernas- pekte (vgl. Cerachowitz, 2012; Kreutz, 2004; Vogt, Hess, Rolle, 2011). Ein wichtiger Aspekt des musikalischen Lernens, der im Zusammenhang mit dem Chorsingen jedoch wenig erwähnt wird (siehe dazu auch die Lehrplanana- lyse in diesem Beitrag), ist die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Werk an sich: In der mehrmonatigen Arbeit an einem Werk kann bezüglich Form, Auf- bau, Instrumentierung, aber auch Phrasierung und vieler weiterer Elemente ein tieferes Werkverständnis geschaffen werden, als dies im «normalen» Musik- unterricht je möglich ist. Es braucht den Schulchor also auch, um auf eine «mu- sikalische» Weise grössere Kompositionen erschliessen und erfahren zu können. Gerade weil im Chorsingen ein einzigartiges Werkverständnis gefördert werden kann, sollte es in den Lehrplänen vermehrt – didaktisch begründet – ausgeführt werden. Chorsingen als musikalisch praktische Werkbetrachtung kann als ästhe- tische Bildung verstanden werden. Christian Rolle schreibt dazu: «Musikalisch ästhetische Bildung findet statt, wenn Menschen in musikalischer Praxis ästhetische Erfahrungen machen, sodass sich ästhetische Rationalität ver- wirklicht. Pädagogisches Handeln, dem daran gelegen ist, muss vielfältige Räume für ästhetisch rationales musikalisches Handeln eröffnen, in denen ästhetische Er- fahrungen möglich sind, angeregt und unterstützt werden.» (Rolle, 1999, S. 5) Natürlich bietet der Schulchor nur eine von vielen Möglichkeiten, um solche mu- sikalisch ästhetischen Erfahrungen zu ermöglichen. Es braucht solche Räume in stilistisch vielfältiger Weise, sei es im Musizieren in der Klasse oder in kleineren Ensembles und Formationen. Wenn im Chorsingen dem Werkverständnis be- sondere Beachtung geschenkt werden soll, so muss auch die Frage der Werkwahl und ganz besonders der Umgang mit geistlichen Werken diskutiert werden. Wie kann beispielsweise Mendelssohns «Elias» mit seinen alttestamentarischen Tex- ten vermittelt werden, mit welcher Haltung lässt sich dieser Inhalt singen, wenn die Schülerinnen und Schüler sich nicht dem Alten Testament verpflichtet füh- len beziehungsweise einen anderen oder keinen Glauben haben. Hier haben die Lehrpersonen eine besondere Vermittlerrolle inne, und ein speziell reflektierter musikpädagogischer Ansatz ist notwendig. Ein musikdidaktischer Diskurs zu den Chören auf der Sekundarstufe II müsste solchen Fragen vertiefter nachgehen, um Schulchöre in den Lehrplänen besser begründet zu verankern. Im Folgenden soll nun die Situation in der Nordwestschweiz vorgestellt werden. Nach einer Analyse der Lehrpläne in Bezug auf die Chorarbeit wird deren prak- tische Umsetzung an den Mittelschulen erläutert; zum Schluss soll aufgezeigt werden, wie angehende Lehrpersonen an der Hochschule für Musik/FHNW in Basel auf die Arbeit mit Schulchören vorbereitet werden. 153 Die Stellung der Chöre in den Lehrplänen auf der Sekundarstufe II Im Lehrplan des Kantons Aargau stossen wir unter «Stundendotation Schwer- punktfach Musik» auf folgende Formulierung: «Die Stundendotation bezieht sich auf die Anzahl der Lektionen im Fach Musik. Die Schülerinnen und Schü- ler belegen zusätzlich eine Lektion Instrumentalunterricht sowie eine Lektion in Chor, Orchester oder Ensembles» (Kanton AG, 2016). Bei den allgemeinen Bil- dungszielen wird danach ausgeführt: «Der Unterricht in der Kursgruppe baut auf den Kenntnissen des Grundlagenfachs Musik auf und steht in ständigem Wechselspiel mit dem praktischen Musizieren, das vorwiegend im Instrumental- unterricht sowie im Chor beziehungsweise in Ensembles erfolgt» (ebd.). Im Kanton Solothurn ist dazu Folgendes zu lesen: Die Schülerinnen und Schüler «erweitern und vertiefen durch das Musizieren im Chor ihren musikalischen Er- fahrungshorizont (Erarbeiten anspruchsvoller geistlicher und weltlicher Chor- werke zum Beispiel Mozart-Messe; Bach: Motetten; Händel: Anthem)» (Kanton SO, 2014). Im Kanton Basel-Stadt wird in Bezug auf den Chor wiederum allgemeiner und vager formuliert: «Das Schwerpunktfach Musik besteht aus den Bereichen Musik im Klassenverband, Mitwirkung im Ensemble (Chor, Orchester, Band, Kammermusik) sowie Instrumental- oder Vokalunterricht in enger Zusammen- arbeit mit der Musik-Akademie Basel. Es kann verstärkt auf ein weiterführendes Studium im Bereich Musik vorbereiten» (Kanton BS, 2014–2021). Offenbar ist hier der Chor eine von mehreren Alternativen für die Schülerinnen und Schüler im Schwerpunktfach. Im Kanton Baselland wiederum werden im Zusammenhang mit der Stundentafel bereits Grobziele und Lerninhalte für das obligatorische Chorsingen formuliert: Chorsingen – Stimmbildung – Erlangen einer möglichst grossen Sicherheit im mehrstimmigen Chorsingen; Entfalten der eigenen Stimme – Aktive Auseinandersetzung mit Werken verschiedener Epochen, a cappella und instrumental begleitet – Erfahrung mit der Aufführungspraxis verschiedener Musikstile (Kanton BL, 2014) Die knappe Dokumentenanalyse der vier Kantone zeigt auf, dass der Chor fast ausnahmslos über das Schwerpunktfach Musik in der Stundentafel verankert ist. Dies bedeutet, dass einerseits Schulen mit dem Schwerpunktfach Musik zwingend einen Schulchor führen müssen und andrerseits Schulen, welche kein Schwerpunktfach Musik anbieten, die Chöre nur über die Freifachgefässe führen können. In Baselland ist Chor, zumindest noch zurzeit, ein sogenanntes «obli- 154 gatorisches Freifach», was bedeutet, dass alle Gymnasien verpflichtet sind, den Chor über die Freifachschiene anzubieten. Ausserdem wird in den Lehrplänen erwähnt, dass das Chorsingen als praktische musikalische Tätigkeit im Wechselspiel mit dem «regulären Musikunterricht» stehe, dass damit eine aktive Auseinandersetzung mit Werken verschiedener Epochen, a cappella und instrumental begleitet, stattfinde und dass die Schüle- rinnen und Schüler Erfahrungen mit der Aufführungspraxis verschiedener Mu- sikstile machen. Im Kanton Solothurn werden Werke von Bach, Händel und Mozart erwähnt, es bestehen hier also konkrete Repertoirevorstellungen; inter- essant wäre es zu erfahren, wieso gerade diese Komponisten Erwähnung finden. Eine Beschreibung, wie und was im Chor gelehrt und gelernt wird, findet jedoch nicht «en détail» statt. Die Lehrpläne führen nur für das Fach Musik (Grund- lagenfach, Ergänzungsfach und Schwerpunktfach) Inhalte und Kompetenzen auf, kaum aber für den Chor. Aufgrund von eigenen Erfahrungen in Lehrplan- kommissionen können folgende Gründe dafür vermutet werden: – Der Chor befindet sich in einem Graubereich: Er wird zwar im Lehrplan im Schwerpunktfach explizit erwähnt, jedoch nicht explizit in der Stundentafel auf- geführt, weshalb die Lehrplankommissionen diesen Bereich auch nicht antasten wollen. – Die Musiklehrpersonen selber wollen sich nicht gegenseitig vorschreiben, was sie unterrichten sollen und damit eine grösstmögliche Freiheit bewahren. – Die Musiklehrpersonen sind sich (auch aufgrund ihrer heute viel heterogene- ren Berufsbiografien) nicht einig, welche Rolle der Chor in der Schule spielen soll, ob er überhaupt obligatorisch sein soll. – Die Schulleitungen, welche in den Steuerungskommissionen der Lehrpläne vertreten sind, möchten den Chor nicht zu prominent im Lehrplan verankert wissen, da Chöre für Schulleitungen organisatorische Herausforderungen sind. Schulchöre in der Region Nordwestschweiz Erfreulicherweise führen die meisten Schulen der Sekundarstufe II im Raum Nordwestschweiz dennoch einen eigenen Chor. Diese Chöre werden mittler- weile zum allergrössten Teil von Lehrerteams mit zwei bis vier Lehrpersonen geleitet. Dies ist vermutlich die grösste Änderung der letzten zwanzig Jahre im Bereich der Schulchöre. Das Modell, in dem eine einzige Person an der Schule als «Schulmusikalischer Lokalmatador» für das Fach Musik steht, hat – glücklicher- weise – ausgedient. Die Lehrerteams arbeiten entweder mit einem Hauptleiter, einer Hauptleiterin mit Koleitungen oder mit Hauptleitungen in einem gewis- sen (oft jährlichen) Turnus. Die Lehrpersonen berichten durchwegs von positi- 155 ven Erfahrungen in diesen Teamteachingmodellen. Eine Lehrperson hat dies im Gespräch mit dem Autor so formuliert: «Diese Teamleitungen bedeuten zwar Mehrkosten, welche sich jedoch durch höhere Effizienz und folglich eine hö- here Qualität der Arbeit mehr als auszahlen, was aber nicht alle Schulleitungen gleichermassen einsehen.» Die Chöre setzen sich in der Regel aus 60 bis 120 Schülerinnen und Schülern zu- sammen, wobei oft nur ein Drittel von ihnen das Schwerpunktfach Musik be- legt, durch das der Chor eigentlich im Lehrplan verankert ist. Beachtliche zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler singen freiwillig mit. In der Regel finden zwei Chorlektionen pro Woche statt, und die meisten Schulen kennen Chorlager und spezielle Probetage. Einige Schulen führen zwei Chöre, entweder mit einem Kammerchor oder einem Popchor als zweitem Gefäss. Die erarbeitete Literatur in den grossen Chören ist meist eine Mischung von grösseren Werken und einem stilistisch bunten Chorrepertoire. Viele der Chöre arbeiten mit schuleigenen In- strumentalensembles zusammen, die aus Schülerinnen, Schülern und Instrumen- tallehrpersonen zusammengesetzt sind. In den letzten Jahren haben die Chorlei- terinnen und Chorleiter vermehrt auch professionelle Ensembles (besonders im Bereich der historischen Aufführungspraxis) beigezogen. Mit dem Aufbau von Vermittlungsangeboten durch die professionellen Orches- ter der Region haben sich für die Schulen der Sekundarstufe II neue Formen der Zusammenarbeit ergeben. So konnten im Oktober 2018 die Chöre der Gymna- sien Muttenz und Liestal Felix Mendelssohns «Elias» mit dem Sinfonieorchester Basel und einem professionellen Solistenensemble unter der Leitung von Chris- topher Moulds aufführen. Die Aufführung war ein voller Erfolg und dies erfreu- licherweise nicht nur für die Schulen, sondern auch für die Musikerinnen und Musiker des Orchesters. Viele von ihnen waren von diesem Projekt begeistert und äusserten sich sehr motiviert, auch zukünftig solche Projekte anzugehen. Die Schülerinnen und Schüler wiederum konnten eine intensive und aufwändige Probephase mit einem eindrücklichen Erfolgserlebnis abschliessen, wie die von den Schulen durchgeführten Evaluationen zeigen. In einem vor einigen Jahren realisierten Radioporträt über die Solothurner Sing- knaben sagte einer der Chorsänger im Interview, dass er die Musik, die er mit den Singknaben aufführe, niemals freiwillig zu Hause hören würde, dass er sie aber sehr gerne singe (Schweizer Radio und Fernsehen, 2013). Ich denke, dies gilt ebenso für viele Schülerinnen und Schüler der Schulchöre: Sie würden die Musik, die sie erarbeiten, zwar zu Hause nicht hören, oder vielleicht auch noch nicht hören, sie lassen sich aber singenderweise dafür begeistern, und sie werden sich lange an solche Aufführungen erinnern. 156 Die Ausbildung an der Hochschule für Musik der FHNW Wie bereitet die Hochschule für Musik der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Basel die angehenden Lehrpersonen auf die Leitung von Schulchö- ren vor, und welcher Stellenwert wird der Chorarbeit in den Schulen der Sekun- darstufe II während der Ausbildung beigemessen? Die Zugangswege zu den Schulmusikstudien sind durch Bologna vielfältiger ge- worden, und angehende Lehrpersonen für das Fach Musik auf der Sekundar- stufe II bringen heute unterschiedliche Kompetenzen mit. Ein einheitliches, na- tionales Kompetenzprofil für die Studienabgänger gibt es nicht mehr. Versuche der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), hier einzugreifen, blieben bisher erfolglos. In der Studienrichtung Schul- musik II gehen die Verantwortlichen der Hochschule für Musik in Basel mittler- weile von einem breitgefächerten Berufsbild aus. Die zukünftigen Lehrpersonen sollen in den Musikfachschaften unterschiedliche Schwerpunkte setzen können. Das Fach Chorleitung müssen die Schulmusikstudierenden in Basel entweder als Hauptfach über fünf Jahre oder als Pflichtfach über zwei Jahre belegen. Das Konzept der fünfjährigen Bachelor- und Masterausbildung sieht vor, dass die Schulmusikstudierenden im Bachelorstudium mindestens zwei Jahre im Kam- merchor singen (die meisten hängen ein freiwilliges drittes Jahr an). Unterstützt durch den Einzelunterricht Gesang erweitern die Studierenden ihre stimmlichen Kompetenzen und erleben gleichzeitig die Probenarbeit der Chorleiter/-innen. Damit erhalten sie das, was als «implizite fachdidaktische Inputs» zur Erarbei- tung von Chorwerken bezeichnet werden kann. Über diese Inputs müssen die Studierenden noch nicht reflektieren, sie sind aber in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Die Studierenden lernen beispielsweise, wie Chorleiter/-innen das Einsingen gestalten, wie sie an Phrasierungen arbeiten oder intonatorische Schwierigkeiten angehen. Dies ist Teil des Fachstudiums der Studierenden und Bedingung, um sich später mit expliziten fachdidaktischen Inhalten zur Chorlei- tung im Masterstudium auseinandersetzen zu können. Im Masterstudium besuchen die Studierenden die Fächer «Chor- und Ensemble- leitung» und «Dirigierpraxis und Probenmethodik». Diese Fächer knüpfen an die im Bachelorstudium erworbenen Kompetenzen an. Einerseits werden die Grundlagen des Dirigierens und der damit zusammenhängenden Bereiche ver- mittelt (Partiturstudium, Korrepetition, Gestik etc.), andrerseits wird das Er- lernte im Studienchor ausprobiert und reflektiert. Studierende erhalten auch in diesen Fächern sowohl fachliche als auch implizite und explizite fachdidaktische Inputs, welche sie in Praxisgefässen anwenden können. Entscheidend dabei ist, dass einerseits eine Chordidaktik entlang der vielfältigen Chorliteratur stattfin- det, andrerseits immer auch eine Brücke zur Schule geschlagen werden kann. 157 Von der impliziten zur expliziten Fachdidaktik/Künstlerische Fachdidaktik 2014 hatte die Hochschule für Musik der FHNW an einer Studie mit dem Titel Generierung von Berufswissen im Spannungsfeld von Theorie und Pra- xis (Schmid, 2015) mitgearbeitet. Drei Teilschulen der FHNW, die Pädagogische Hochschule, die Hochschule für Soziale Arbeit und die Hochschule für Musik, untersuchten, inwiefern die Studierenden die im Studium vermittelten Inhalte mit der Berufspraxis in Verbindung bringen konnten. Ein wichtiges Fazit der Studie zeigt auf, dass gerade im Vergleich zu den beiden anderen Hochschulen die Verknüpfung von Fachdisziplin, Fachdidaktik und Praxis an der Hochschule für Musik sehr eng ist und dass dies von den Studierenden sehr positiv wahr- genommen wird. In der Studie ist dazu nachzulesen: «Die Wissensgenealogie der HSM [Hochschule für Musik] basiert damit vorrangig auf latenten, komplexen Prozessen und ist damit eher implizit als explizit in der Hochschulkultur verankert. Dies ist wohl auf die Tatsache zurückzuführen, dass Wissensformen wie das künstlerische Wissen zwar per se reflexiv sind, jedoch in weiten Teilen (noch) jenseits explizierter Verschriftlichung liegen. Im hochschul- übergreifenden Diskurs zeigte sich, dass den professionsspezifischen Wissensfor- men ihre eigene Dignität zuerkannt werden muss, insbesondere auch dem künst- lerischen Wissen.» (Schmid, 2015, S. 40) Der Begriff «künstlerisches Wissen» oder «artistic knowledge» ist deshalb wich- tig, weil er darauf hinweist, dass die Referenz für den Lehrberuf im Fach Musik nicht in der Wissenschaft, sondern in der Kunst zu suchen ist, ein Umstand, der in der Lehrerbildung noch viel zu wenig Beachtung findet (vgl. Koch, Schilling- Sandvoss, 2017). Oder anders gesagt: Die künstlerischen Fächer Musik und Bild- nerisches Gestalten haben sich nicht primär an der Wissenschaft, sondern an der Kunst zu orientieren, da diese Lehrberufe die Vermittlung der Kunst beinhal- ten, zumindest wenn man die Inhalte der Lehrpläne der Sekundarstufe II ent- sprechend umsetzen will. Die Hochschule für Musik Basel orientiert sich in der Ausbildung und bei den Forschungsvorhaben unter anderem an «artistic know- ledge» und «artistic research». Der Begriff der «artistic research» wird in der Welt der Wissenschaften zurzeit noch kontrovers diskutiert. «Artistic research» untersucht die impliziten und ex- pliziten Wissensformen, welche im Medium Musik dynamisch weiterentwickelt und kommuniziert werden. Hier spielt der Begriff des «situated knowledge», der grundsätzlichen Kontext- und damit auch Personenabhängigkeit allen Wissens eine grosse Rolle – mit einem entsprechenden Fokus auf die Wissensakteure. Inter essanterweise nehmen die Dozierenden die Pädagogik als eigene Kunst- form wahr. In der oben erwähnten Studie zur Generierung von Berufswissen liest man dazu: 158 «Dozierende bringen aus den diversen Berufsfeldern Kompetenzen und Praxis- wissen ein, welche für die Ausbildung an der HSM umfänglich berufsrelevant sind. Ziel ist das Erreichen einer musikalisch-künstlerischen Vermittlungskom- petenz. Dabei fällt auf, dass Pädagogik als eigene Kunstform betrachtet wird – päda gogisches Wissen dynamisiert in den Augen der Akteure das künstlerische Wissen. Als ein zentrales Anliegen hinsichtlich der Funktion dieses hochschu- lisch erworbenen Wissens wird die Qualitätssicherung im Berufsfeld zum Beispiel die Gewährleistung fachspezifischer Unterrichtsqualität an Schulen sichtbar.» (Schmid, 2015, S. 59) Es wird betont, dass nicht nur fachliches, künstlerisches Wissen, sondern auch berufsrelevantes Praxiswissen gefragt ist. Im Handeln der Dozierenden erleben die Studierenden – nicht nur im Bereich der Chorleitung – Methoden und Vor- gehensweisen, welche als implizite fachdidaktische Anteile identifiziert wer- den können und welche das zukünftige Handeln der Studierenden stark prägen. In der «expliziten» oder eigentlichen Fachdidaktik der Hochschule für Musik werden diese Methoden kommentiert, reflektiert und mit musikpädagogischen Theorien verknüpft. Dadurch erhalten die Studierenden fachliche und fach- didaktische Kompetenzen, die sie aufeinander beziehen und somit ein Hand- lungsrepertoire entwickeln können, welches ihnen ermöglicht, Schulchöre auf der Sekundarstufe II erfolgreich zu unterrichten. Literaturangaben Cerachowitz, C. (2012). Musizieren – Zentrum des Musiklernens in der Schule. Mo- delle – Analysen – Perspektiven. Augsburg: Wissner. Hammel, L. (2012). Selbstkonzepte fachfremd unterrichtender Musiklehrerinnen und Musiklehrer an Grundschulen. Eine Grounded-Theory-Studie (Theorie und Pra- xis der Musikvermittlung, Bd. 10). Münster: Lit. Kanton Aargau, Departement Bildung, Kultur und Sport (2016). 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Die konkrete Unterrichtsgestaltung im Fach Musik wird zudem stark von den strukturellen Rah- menbedingungen in den Kindergärten und Schulen, den unterschiedlichen Kindern und den persönlichen Fähigkeiten und Vorlieben der Lehrpersonen beeinflusst. Um sich in dieser Vielfalt von Kontexten zu orientieren, bietet sich ein Blick von oben, eine Meta- perspektive auf Musikunterricht als metaphorische Bilder (Jorgensen, 2011) oder als Rahmenmodell (Schippers, 2011) an. Optimistisch gedacht kann so Musikunterricht in den Kindergärten und Schulen offen, kreativ, subjektorientiert und strukturiert, auf- bauend und kompetenzorientiert konzipiert, durchgeführt und weiterentwickelt wer- den, ohne dabei beliebig und unverbindlich zu sein. Im Artikel werden einige in der Schweiz wirksame Ansätze und Lehrmittelpublikationen in Bezug zu den vorgestellten Metaperspektiven gesetzt und diskutiert. Zudem wird ein Rahmenmodell auf gezeigt, welches in der Ausbildung von Lehrpersonen an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (PH FHNW) angewendet und weiterentwickelt wird. Damit wird auf die Pluralität von Musiken, Lern- und Lehrkonzeptionen und auf musikbiografische Erfahrungen und Präkonzepte von Musikunterricht der Studieren- den reagiert und es werden Orientierungen und Perspektiven auf schulischen Musik- unterricht ermöglicht. Résumé Au cours des dernières décennies, diverses approches théoriques et du matériel péda- gogique ont été développés et publiés dans les pays germanophones pour les cours de musique au jardin d’enfants et à l’école primaire. Une pluralité de concepts est appa- rue, qui se situent dans les champs de tension entre ouverture et structure, entre tradi- tion et innovation, entre individualisation et norme culturelle. En outre, l’enseignement concret de la musique est fortement influencé par les conditions structurelles des jardins 161 d’enfants et des écoles, les différents enfants, et les capacités et les préférences person- nelles des enseignants. Afin de s’orienter dans cette diversité de contextes, une vue d’en- semble, une métaperspective sur les leçons de musique en tant qu’images métaphoriques (Jorgensen, 2011) ou en tant que modèle-cadre (Schippers, 2011) s’avère être un bon moyen afin de se faire une idée du sujet. En développant cette perspective de façon op- timiste, l’enseignement de la musique au jardin d’enfants et à l’école pourrait ainsi être conçu, réalisé et développé de manière ouverte, créative, axée sur les matières et structu- rée, stimulante et orientée vers les compétences, sans être arbitraire. Dans cet article, des approches et des ouvrages de matériel pédagogique utilisés efficacement en Suisse sont exposés et discutés en relation avec les métaperspectives produites. En outre, un mo- dèle-cadre, appliqué et développé dans la formation des enseignants de la Haute école pédagogique de la Haute école spécialisée du nord-ouest de la Suisse (PH FHNW), sera présenté. Ce modèle est une réponse à la pluralité des concepts de musique, d’ap- prentissage et d’enseignement ainsi qu’aux expériences biographiques et aux préconcep- tions des étudiants quant à l’enseignement de la musique. Il fournit une orientation et des perspectives pour l’enseignement de la musique à l’école. Abstract Over the last decades, various theoretical approaches and teaching materials have been developed and published in German-speaking countries for use in kindergarten and pri- mary school music lessons. A plurality of concepts has become apparent, situated on a continuum between openness and structure, between tradition and innovation, be- tween individualisation and cultural norm. In addition, the concrete teaching of music is strongly influenced by the structural conditions in kindergartens and schools, the dif- ferent children and their personal abilities and the preferences of the teachers. In order to orient oneself in this diversity of contexts, a view from above, a metaphorical per- spective on music lessons as metaphorical pictures (Jorgensen, 2011), or a framework (Schippers, 2011) is a good way to get the feel for the subject. Optimistically speaking, music lessons in kindergartens and schools can thus be conceived, carried out, and fur- ther developed in an open, creative, subject-oriented and structured, uplifting and com- petence-oriented manner without being arbitrary and without obligation. In this arti- cle, some approaches and teaching material publications that are effective in Switzerland are discussed in relation to these meta-perspectives. In addition, a framework model is presented which is being applied and further developed in the training of teachers at the University of Teacher Education at the University of Applied Sciences Northwestern Switzerland (PH FHNW). This model is a response to the plurality of music, learning and teaching concepts, and music biographical experiences and pre-concepts of music lessons held by students, and provides orientation and perspectives for music lessons in schools. 162 Schlüsselwörter Rahmenmodell, musikdidaktische Konzeptionen, Metamodell, Lehrpersonenausbil- dung, Musikpädagogik, Fachdidaktik Musik, Pluralität Jede Lehrperson fragt sich, wie sie mit ihren eigenen musikalischen Fähigkei- ten den Musikunterricht mit ihrer spezifischen Klasse kompetenzorientiert pla- nen, durchführen und auswerten soll. Der Lehrplan gibt methodisch dazu keine konkreten Angaben und bisher sind auch in wenigen Kantonen obligatorische Lehrmittel für das Fach Musik vorgegeben.1 Für den schulischen Musikunter- richt im Kindergarten und in der Primarschule liegen zahlreiche und durchaus unterschiedlich ausgerichtete Publikationen vor, welche die Diskussionen in der Musikpädagogik zum schulischen Musikunterricht mehr oder weniger aufneh- men. Neben diesen Orientierungsangeboten und Strukturierungshilfen spie- len die eigenen musikalischen und musikbezogenen Erfahrungen der Lehrper- son und die daraus entwickelten Individualkonzepte (siehe Niessen, 2014) oder Selbstkonzepte (siehe Hammel, 2011) eine wesentliche Rolle für die Gestaltung des Musikunterrichts. Aus Rückmeldungen von Kolleginnen und Kollegen und aus eigenen Erfahrungen wird der Musikunterricht in den Primarschulen, wenn er denn überhaupt regelmässig in der Klasse stattfindet, häufig situativ und nach persönlichen Interessen der Lehrpersonen durchgeführt.2 In der Ausbildung von Lehrpersonen für den Kindergarten und die Primar- schule an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule der Nordwest- schweiz (PH FHNW) haben wir uns die Frage gestellt, wie wir die unterschied- lichen Ansätze, Modelle und Konzeptionen in ihrer Vielfalt für die Studierenden nachvollziehbar und anschaulich in die Fachdidaktik integrieren können. Das Resultat war die Entwicklung eines Rahmenmodells. Dieses stellt Spannungs- felder zwischen verschiedenen Konzeptionen auf unterschiedlichen Dimensio- nen und ihre Bezüge zueinander dar. Für die Studierenden ermöglicht der Rah- men eine Verortung unterschiedlicher Ansätze und damit eine Orientierung in der Vielfalt. Nach einem Überblick über die aktuellen Diskussionen werden verschiedene unterschiedliche Konzeptionen aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum dargestellt, um die Spannungsfelder zu illustrieren. Daran anschliessend werden zwei Rahmenmodelle vorgelegt, welche aus einer kultur- und stilübergreifenden 1 In Kanton St. Gallen beispielsweise ist das im eigenen Verlag herausgegebene Lehrmittel M usAik (Merki, Berger, 2015a, 2015b) obligatorisch für die Primarstufe 1.–6. Klasse. 2 Darauf haben einige Kantone mit der Integration in die Stundentafel von musikalischer Grund- schule oder Musik und Bewegung reagiert, um eine solide fachliche Ausbildung zu gewährleis- ten. 163 Analyse entwickelt wurden und eine Verortung der unterschiedlichen Konzep- tionen anbietet. Die Ableitung eines Rahmenmodells für die Praxis der Ausbil- dung von Lehrpersonen für den Kindergarten und die Primarschule und einige daraus sich ergebenden Konsequenzen bilden den Abschluss des Artikels. Situation: Heterogenität und Pluralität der Ansätze Für die Ausbildung von Lehrpersonen für Kindergarten und Primarstufe in der Schweiz liegt als verbindliche Orientierung der Lehrplan 21 vor. Dieser be- schreibt die zu erreichenden Kompetenzen in sechs Bereichen und mit aufbau- enden Stufen. Damit die Schülerinnen und Schüler diese Kompetenzen erreichen können, braucht es einen über mehrere Jahre dauernden systematischen Unter- richt, welcher sich auf wissenschaftliche Grundlagen stützen soll und sowohl in der langfristigen Planung wie auch in den einzelnen Lernsituationen einen di- daktisch stimmigen Aufbau hat. Den Lehrpersonen werden für ihren Unterricht eine grosse Vielfalt an Unterstützungen in der Literatur angeboten: Sammlungen von Unterrichtsideen (Grohé, Jasper, 2016; Grohé, Junge, 2014; Mayer-Makein, Bauder-Reissing, Tille-Koch, 2011; Silberg, 1999; Zihlmann, Zihlmann, 2017), Lehrmittel (Albisser, Held, Lang, 2013; Held, Lang, Albisser, 2011; Held, Lang, Steffen, 2010; Jakobi-Murer, Rohrbach, Leupold, Wurmb, Schmidmeier, 2017; Küntzel, 2012a, 2012b; Merki, Berger, 2015a, 2015b), Liederbücher mit metho- dischen Hinweisen (Heeb, Schär, 2011; Nussbaumer, Winiger, 2010; Zihlmann, Zihlmann, 2017), ausgearbeitete Konzeptionen (Fuchs, 2010) und Grundlagen- werke (Dartsch, 2014; Dartsch, Knigge, Niessen, Platz, Stöger, 2018; Helms, Schneider, Weber, 2009).3 In den Publikationen lassen sich Unterschiede im Ver- ständnis des Musikbegriffs, in den formulierten Zielsetzungen, in den Metho- den und Umgangsweisen und in den Begründungen feststellen, die sich zu wi- dersprechen scheinen und die Frage aufwerfen, was wir den Studierenden als verbindliche Orientierungen für ihren zukünftigen, möglichst gelingenden und guten4 Unterricht mitgeben sollen. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Konzeptionen und Spannungs- feldern wird schon längere Zeit geführt. Zum Beispiel als angestrebte Balance zwischen «natürlichem» und «verordnetem angeleiteten künstlichen Lernen» bei Christoph Richter (vgl. Fuchs, 2006, S. 68) oder zwischen «musikalische[m] Lernen im Alltag und musikalische[m] Lernen in schulischen Institutionen» bei Gruhn (Gruhn, Röbke, 2018, S. 33). Heterogenität und Pluralität wird auch in 3 Die Auswahl ist nicht abschliessend. 4 Die Diskussion um «guten Musikunterricht» kann an dieser Stelle nicht geführt werden. 164 Titeln von aktuellen Publikationen deutlich: So trägt ein 2017 erschienenes Buch zum Diskurs von musikdidaktischen Konzeptionen den Titel Insel-Bilder (Bai- ler, 2017). Das impliziert eine «landschaftliche Vorstellung» von «Diskursinseln» zwischen denen der Orientierungssuchende aktiv sammelnd und segelnd unter- wegs ist (Bailer, 2017, S. 5, 18). In der Publikation Musikdidaktische Konzeptionen (Lehmann-Wermser, 2016) werden drei etablierte Konzepte als solche benannt: die didaktische Interpretation, die ästhetische Erziehung und der aufbauende Mu- sikunterricht. Im kürzlich erschienenen Handbuch der Musikpädagogik hingegen wird der «aufbauende Musikunterricht» als einziges Konzept bezeichnet, welches «über die Schuljahre hinweg konsequent umgesetzt wird» (Ott, 2018, S. 286). Vereinfachend und polarisierend lässt sich Musikunterricht in der Primarschule aus zwei Perspektiven modellieren und konzipieren (Oravec, Weber-Krüger, 2016, S. 21). Die eine Richtung orientiert sich am schulischen Musikunterricht der Sekundarstufe (Fuchs, 2010, 2015; Schatt, 2007), die andere an der elemen- taren Musikpädagogik (Dartsch, 2014; Küntzel, 2009). Erst in den letzten Jah- ren erfolgen eine Annäherung und konstruktive Diskussion der beiden Zugänge in gemeinsamen Publikationen (Dartsch, Knigge, Niessen, Platz, Stöger, 2018; Fuchs, 2015; Loritz, 2015). Neben der Pluralität der wissenschaftlichen Publikationen ist eine fast unüber- sichtliche Vielfalt an Lehrmitteln und Unterrichtshilfen auf dem Markt. Diese Veröffentlichungen zum Musikunterricht können grob in drei Bereiche aufge- teilt werden, wobei die Übergänge fliessend sind: 1. Konzeptionen, Methoden und Musikdidaktiken mit wissenschaftlichem Bezug; 2. Lehrmittel zur konkreten Unterrichtsgestaltung mit strukturiertem Aufbau; 3. Ideensammlungen zur Gestaltung von einzelnen musikalischen Aktionen und Lernanlässen. Für die Ausführungen werden nur Beispiele aus den ersten beiden Bereichen be- rücksichtigt, obwohl zu vermuten ist, dass der dritte Bereich in der Praxis des Musikunterrichtens und für die schulische Alltagsgestaltung einen sehr grossen Einfluss hat. Dass dies nicht ganz unproblematisch ist, lässt sich schon aus ein- zelnen Titeln ablesen: Musik unterrichten für «Unmusikalische» (Silberg, 1999) oder Musik fachfremd unterrichten (Freitag, Dittmar, 2013; ähnlich auch Mayer- Makein, Bauder-Reissing, Tille-Koch, 2011; Mechler-Schmitt, 2009; Schellberg, 2014). Diese als Ideensammlungen, Rezepte oder als «Ratgeberliteratur» (Vogt, 2005, S. 8) in der wissenschaftlichen musikpädagogischen Diskussion umstritte- nen Bücher sind dennoch in der Praxis der Schule und bei den Studierenden in der Ausbildung sehr beliebt. Im Folgenden werden zuerst zwei deutschsprachige Publikationen zum Musik- unterricht auf der Primarstufe vorgestellt, um das anfangs erwähnte Spannungs- 165 feld an konkreten Beispielen deutlich werden zu lassen. Danach wird der Blick auf drei Perspektiven mit anderen Schwerpunkten aus dem englischsprachigen Raum gerichtet. Zwei Konzeptionen aus dem deutschsprachigen Raum Mechtild Fuchs hat 2010 den Musikunterricht in der Grundschule neu gedacht (Fuchs, 2010) und den aufbauenden Musikunterricht, welcher im Kreis um Wer- ner Jank mit dem Schwerpunkt auf die Sekundarstufe entwickelt wurde (Jank, 2013; Jank, Schmidt-Oberländer, 2010), auf die Primarstufe übertragen. Die Konzeption, verstanden als ein Blick der Didaktik auf die «grundlegende[n] Be- dingungen und Verfahrensweisen» (Fuchs, 2010, S. 8), beinhaltet theoretische Grundlagen und praktische Anwendungen in Form von Unterrichtsbausteinen für einen aufbauenden nachhaltigen Musikunterricht. Obwohl für die Metho- den des Unterrichtens ein «Ausgleich zwischen instruktiven – von der Lehrerin gesteuerten – und konstruktiven – von den Schülerinnen und Schülern selbst ge- steuerten – Verfahren gesucht werden» (ebd., S. 16) soll, liegt der Schwerpunkt auf einem systematischen Aufbau von Kompetenzen in den drei Themenberei- chen Metrum und Rhythmus, Melodik und Tonalität und Parameter der Musik. Pointiert formuliert steht die Musik im Zentrum oder, genauer, die «Musikali- sierung des Kindes» (ebd., S. 15) und der «Aufbau von musikalischen Basisfähig- keiten» (ebd., S. 16). Begründet wird die Konzeption auf entwicklungspsycholo- gischen (Stadler Elmer, 2000, 2015), lernpsychologischen (Spychiger, 2006) und neurobiologischen (Gruhn, 2008) Erkenntnissen. Bettina Küntzel hingegen stellt das Kind ins Zentrum, das «Prinzip des eige- nen Lernens» (Küntzel, 2009, S. IX) oder des «selbstbestimmten Lernens von Musik», und entwickelt die Konzeption von dem aus, was die Kinder schon können. Es geht um «die Aneignung von Wirklichkeit mit musikalischen Mit- teln» (ebd., S. 3). Musik und musikalische und musikbezogene Handlungen sind Formen des Weltzugangs und der Weltaneignung des Kindes. Damit verbunden ist die Entwicklung des «musikalische[n] Selbstkonzepts», das heisst dessen, was ein Mensch in Bezug zur Musik über sich selbst denkt, was als «entscheidende[r] Motor für das Lernen [gilt]» (ebd., S. 9). Die Begründungen für diese Orien- tierungen gründen in eigenen Erfahrungen als Lehrerin und als «reflektierende Praktikerin mit dem konstruktivistischen Ansatz» und haben nicht den An- spruch auf Wissenschaftlichkeit (Oravec, Weber-Krüger, 2016, S. 99). Schon in dieser kurzen Darstellung zweier Konzeptionen werden Spannungsfel- der wahrnehmbar, in denen sich Musikunterricht in der Schule bewegt. Werden noch Konzeptionen zu Musik und Bewegung (Danuser-Zogg, 2013), der Rhyth- 166 mik (Hirler, 2014), der elementaren Musikpädagogik (Beck-Neckermann, 2014; Dartsch, 2014; Ribke, Dartsch, 2004) oder der eher fachübergreifenden ästheti- schen Erziehung berücksichtigt, so wird das Feld noch mehr erweitert und bald einmal unübersichtlich. Die in der Schweiz gebräuchlichen Lehrmittel zum Musikunterricht5 beziehen sich mehr oder weniger explizit auf die oben erwähnten Konzeptionen. Zudem stützen sie sich auf bildungspolitische Vorgaben (Lehrpläne) oder beruhen auf anthropologischen oder philosophischen Ansichten. Auch hier zeigt sich eine grosse Vielfalt und Heterogenität. Dazu sind die Lehrmittel verschieden gestal- tet und visualisiert, anders strukturiert und unterscheiden sich stark im Um- fang und im Ausdifferenzierungsgrad der Beschreibungen. Das reicht von zu- sammenfassenden Unterrichtsplanungen, Liedersammlungen mit didaktischen Hinweisen bis zu detaillierten, wörtlich formulierten Auftragsbeschreibungen inklusive Bastelanleitungen und Kopiervorlagen. Das oben erwähnte Bedürfnis nach Rezepten oder «Ratgebern» wird zum Teil durch diese Lehrmittel erfüllt. Anderseits macht die Vielfalt der Angebote die Auswahl für die Ausbildung und die Praxis in der Schule nicht leichter. Drei Perspektiven aus dem englischsprachigen Raum Im Folgenden werden drei Perspektiven aus dem englischsprachigen Raum zum Unterricht auf der Primarschule zusammengefasst und als Denkanregungen in andere Richtungen dargestellt. In Janet Mills in dritter Auflage vorliegendem Music in the Primary School steht im Vorwort: «I think of music education as an active experience in which pupils compose, perform, and listen» (Mills, 2009, S. 1). Interessant ist hier die Reihen- folge: Compose, perform and listen. Und als weitere Setzung: «[…] music is for all pupils, for all teachers, for fun» (ebd., S. 3). Für alle Kinder, für alle Lehrper- sonen und es macht Spass! So beginnt das Buch folgerichtig mit musikalischen Spielen («Games»), gefolgt vom Komponieren, was hier verstanden wird als «all acts of musical invention by anyone in any stile, or blend of stiles». Ausgegan- gen wird von klingenden Materialien und Impulsen («Stimuli»),6 die Methode basiert auf Experimenten in geregeltem Rahmen (zum Beispiel: jede/r spielt erst 5 Beispiele: MusAiK (Merki, Berger, 2015a, 2015b), Kreschendo (Held, Lang, Steffen, 2010; Held, Lang, Albisser, 2011; Albisser, Held, Lang, 2013), Tipolino (Jakobi-Murer, Rohrbach, Leupold, Wurmb, Schmidmeier, 2017), Kompetenzorientierter Musikunterricht (Joschko, 2013a, 2013b, 2014a, 2014b), Musikunterrichten mit kooperativen Lernmethoden (Evelein, 2015). 6 Gedichte, Geschichten, Gegenstände, Instrumente, ein Bild, eine verbale Beschreibung, eine andere Musik, Software usw. 167 auf mein Zeichen), das zentrale Begleiten des Lernens geschieht durch forschen- des Nachfragen («response»): Warum wurde so gestartet, gefällt euch die Musik, warum, was kann verbessert werden etc. Danach werden Vorschläge durch die Lehrperson («suggestions») zur Weiterführung oder Veränderung angeboten. Erst dann folgen das Singen mit Kindern («performing») und das Zuhören («lis- tening»), verstanden als gerichtetes und differenzierendes Zuhören von schon vorhandener Musik. Der Ansatz wird von Pamela Burnard in ihrem Buch mit dem programmati- schen Titel Teaching Music Creatively weiterverfolgt (Burnard, Murphy, 2013). «The leitmotif […] is a particular approach to thinking about creativity as the practice of teaching music creatively. This includes the ways in which, in our everyday practice, we strive to teach creatively, to listen and see what children’s creativity in music looks like, and to be ready for anything and everything» (S. xvii). Burnard bezieht somit auch die Art des Unterrichtens mit ein, die selbst explizit kreativ sein soll und sich damit auch einer Kunst des Unterrichtens nä- hert (vgl. Jorgensen, 2008). Randall Everett Allsup entwirft in seinem Remixing the Classroom (Allsup, 2016) eine offene Form der Didaktik (Untertitel: Toward an Open Philosophy of Music Education).7 Visionär sieht er Musikunterricht als eine Möglichkeit, auf die Herausforderungen der postmodernen Gesellschaft mit ihren Unsicherhei- ten, dem Verlust von verbindlichen Orientierungen, der hohen Durchmischung von Ethnien und ästhetischen Normen usw. zu reagieren. In der Schule wird am Beispiel Musik gelebt, wie durch Offenheit, durch Berücksichtigung von Unterschiedlichkeiten in experimentierender und entdeckender Weise in einem nicht hierarchischen Lehrer-Schüler-Verhältnis in Klassenzimmern als «Labo- ratorien» Grenzen überschritten werden und Neues entwickelt werden kann. «The beauty of pluralism speaks to the fact that there are more meanings availa- ble in music, as in life, than we can ever account for – more perspectives, more truths, more way of knowing» (ebd., S. 140). Das bleibt ein nicht abschliessbares Projekt mit einer Perspektive auf die Schönheit, die im unheiligen Durcheinan- der liegt: «The best we can do, is to make an unholy muddle to fit all. There is a beauty in that. I think» (Allsup, 2016, S. 141). Diese Ansätze beziehen sich auf soziologische, sozialphilosophische oder philo- sophische Grundlagen (Dewey, 2016; Elliott, Silverman, 2014) und auf diffe- renzierte Systematisierungen von eigenen Erfahrungen und Kenntnissen. In vergleichbare Richtungen haben Stefan Hametner (2006) mit einem konstrukti- vistisch orientierten Ansatz, Andreas Doerne (2010) mit dem Ansatz einer inte- 7 Zur Schwierigkeit der Übersetzung des Begriffs Musikdidaktik auf Englisch vergleiche bei- spielsweise Kertz-Welzel (2014, S. 32). 168 grativen Musikpädagogik oder Peter Röbke mit dem Begriff des «wilden Ler- nens» (Ardila-Mantilla, Röbke, 2009) die Diskussionen im deutschsprachigen Raum angestossen und angeregt. Damit ist das Feld mit grundsätzlichen Fragen aufgespannt: Wie sollen Kinder welche Musik wozu und warum lernen? Für welches Lehrmittel soll sich die Lehrperson warum entscheiden? Welche didaktischen Konzeptionen vermitteln wir an der PH und wie begründen wir die Auswahl? Welche Bezüge haben die Konzeptionen zueinander? Rahmenmodelle als Metaorientierungen Rahmenmodelle bieten Orientierungen durch eine Art von Metakonzept, wel- ches unterschiedliche Konzeptionen und Praktiken in ihrer Unterschiedlichkeit stehen lässt und sie in einer übergeordneten, dialektischen Ordnung mitein- ander in Bezug setzt. Zwei Ansätze aus dem englischsprachigen Raum werden vorgestellt, welche einen sehr weiten Blick auf verschiedene Formen des musi- kalischen Lernens in verschiedenen ethnologischen und soziologischen Kultu- ren untersuchen und diese Unterschiedlichkeiten in Rahmenmodelle integrie- ren. Ähnliche Rahmungen werden auch im deutschsprachigen Raum diskutiert, wenn zum Beispiel «Alltagslernen, entschultes Lernen» mit «schulischem Ler- nen» verglichen wird, wobei sich das Lernen «auf einem Kontinuum [bewegt], welches viele Übergänge und Überschneidungen zulässt» (Gruhn, Röbke, 2018, S. 34). Facing the Music Huib Schippers (2010) vergleicht als Musikethnologe und Sitarspieler aus kul- turübergreifender Perspektive unterschiedliche Formen von Lernen und Leh- ren von Musik und entwirft daraus ein Rahmenmodell («framework») mit zwölf Dimensionen der Vermittlung («transmission»). Dabei sind die Achsen als ein Kontinuum zwischen den Polen zu verstehen, auf denen sich verschiedene Lern- und Lehrkulturen zuordnen lassen. Mit dem Rahmen ist es möglich, unterschiedliche vorhandene Kulturen des Mu- sikunterrichtens in diesen Dimensionen zu beschreiben und zu vergleichen. Dies soll dabei aus den vier Perspektiven der Tradition, der Institution, der Lehren- den und der Lernenden geschehen. (Schippers, 2010, S. 125). Die Beschreibun- gen und Vergleiche setzen eine intensive und vertiefte Auseinandersetzung mit den jeweiligen Lehr- und Lernkulturen voraus. 169 Tab. 1: Twelve continuum transmission framework (TCTF) von Schippers Fragen des Kontexts Issues of context statische Tradition ständiger Fluss static tradition constant flux rekonstruierte Authentizität Authentizität «neuer Identität» «reconstructed» authenticity «new identity» authenticity ursprünglicher Kontext Rekontextualisierung «original» context recontextualization Formen der Übermittlung Modes of transmission vereinzelt/analytisch ganzheitlich, holistisch atomistic/analytic holistic auf Notation basierend aural, über Gehör notation-based aural greifbar, fassbar nicht greifbar, unfassbar tangible intangible Dimensionen der Interaktion Dimensions of interaction grosses Machtgefälle kleines Machtgefälle large power distance small power distance Individuum im Zentrum Kollektiv im Zentrum individual central collective central streng geschlechtsspezifisch geschlechtsneutral strongly gendered gender neutral Unsicherheit vermeidend Unsicherheit tolerierend avoiding uncertainty tolerating uncertainty langfristige Orientierung kurzfristige Orientierung long-term orientation short-term orientation Ansätze der kulturellen Vielfalt Approaches to cultural diversity multikulturell interkulturell multicultural intercultural monokulturell transkulturell monocultural transcultural Deutsche Übersetzung vom Autor. Quelle: Schippers (2010, S. 124). 170 Für den Unterricht in den Schulen kann der Einbezug von Aspekten der Weltmu- sik und der damit verbundenen Art des Lehrens und Lernens eine Bereicherung und Erweiterung sein. Dafür stehen zum Beispiel nur schon die vielen von afri- kanischer Musik inspirierten Bewegungs- und Tanzlieder oder Lieder und Tänze mit ungeraden Takten aus östlichen Ländern, die zwar nicht im engeren Sinne «authentisch» in unsere Schulen kommen, aber dennoch etwas von dieser Kultur erahnen lassen und auch mit anderen Methoden wie circle songs, call and response oder mit improvisierenden Elementen vermittelt werden (vgl. dazu beispielsweise Capol, Burkhalter, Arnez, 2005). Das Modell kann auch in der Ausbildung von (Musik-)Lehrpersonen oder in der Praxis von Musikerinnen und Musikern sehr hilfreich sein. Das Wissen und die Erfahrung, dass das Lernen eines Instrumentes wie beispielsweise die japanische Bambusflöte Shakuh achi mit ihrer strengen Tra- dition durch Imitation im Gegenüber von Meister und Schüler oder das immer in Gruppen stattfindende Erlernen von afrikanischem Trommeln auf anderen Konzepten von Lehren und Lernen erfolgt, bereichert das eigene Verständnis von Musik und von Musikunterricht und lässt sich durch das Rahmenmodell be- schreiben und besser verstehen. Das Modell dient weiter für die vergleichende Er- forschung von Musikkulturen in der Ethnomusiko logie und zur Untersuchung und Beschreibung von Musik, die in Kollektiven informell oder beiläufig gelernt wird, wie es zum Beispiel in der Volksmusik sehr häufig geschieht. Pictures of Music Education Estelle Jorgensen geht einen anderen Weg, um unterschiedliche Formen des Ler- nens und Lehrens von Musik zu fassen. Sie entwirft in ihrem Buch Pictures of Music Education (Jorgensen, 2011) zwölf metaphorische Bilder zur Beschrei- bung von unterschiedlichen Lern- und Lehrsituationen und entwickelt zu jedem Bild ein Strukturmodell in den Dimensionen der Musik («music»), des Lehrens («teaching»), des Lernens («learning»), der Form der Interaktionen («instruc- tion»), des curricularen Aufbaus («curriculum») und der Organisationsform («administration»). Sie wählt Metaphern zur Beschreibung, da diese die Grenzen der Beschreibungs- möglichkeiten von Musik und Musikpraktiken erweitern und durch ihre Bild- haftigkeit assoziative Bedeutungsfelder eröffnen, die zwar unschärfer, aber viel- leicht dennoch zutreffender sind als wissenschaftlich klar abgegrenzte Begriffe. Sie werden subjektiv und phänomenologisch verstanden und können nicht wörtlich genommen werden. Das Sprechen über Musik ist häufig metaphorisch (hoch, tief, rau, dicht, samtig, weich usw.). Im Unterrichten wird sehr häufig eine metaphorische Sprache verwendet (die Melodie steigt in den Himmel, das seuf- 171 Tab. 2: Rahmenmodell nach Estelle Jorgensen Gruppe 1 Gruppe 2 Traditionelle Sichtweisen, Musik Entwicklung von Neuem didaktische Sichtweise Rezeptives Lernen Lernen Konstruktives Lernen Hierarchische Interaktion Lehren Dialogische und gleichwer- tige Interaktion Vorgegebener Aufbau, Unterricht Rhapsodisch, emergierend themen- und produkt- («serendipity»), orientiert menschen- und prozess- orientiert Konvergierender, einheit- Curriculum Divergierend, licher Aufbau unterschiedlicher Aufbau Streng und formal struk- Administration Kommunikativ, turiert offen und locker organisiert Metaphern und Modelle Metaphern und Modelle Konsum, Lehre, Regel, Gemeinschaft, Transgression, Produktion, Pädagogik Wachstum, Heilung, Energie, Ungezwungenheit, Kommu- nikation Quelle: Estelle Jorgensen (2010, S. 260–264). zende Motiv, spiele leicht wie eine Feder). Metaphern erweisen sich als hilfreich, da sie Aktionen und Gedanken anregen, diese in einem Begriff zusammenfassen können und Raum für Vieldeutigkeit lassen. Sie stellen eine Form von symboli- schem Verständnis von Kunst dar.8 In welchen Metaphern und Modellen Musikunterricht gedacht wird, bestimmt mit, wie wir als Musikpädagogen handeln und uns selbst verstehen: «Thinking is at the root of doing and being» (Jorgensen, 2011, S. 264). Ob die eigene Rolle als Therapeutin, als Führerin, Künstler oder Revolutionär verstanden wird, die Ver- ortung des Unterrichts in einem Konservatorium oder in der Dorfgemeinschaft, 8 Zur Metapher als Beschreibung von Musik vgl. im deutschsprachigen Raum beispielweise Oberschmidt (2011) und zur grundlegenden Bedeutung von Metaphern für das Denken und die Sprache Lakoff und Johnson (2014). 172 im Netzwerk oder im Garten gedacht wird, die Institution als Hier archie oder Gemeinschaft wahrgenommen und modelliert wird, beeinflusst die Werte und Zielsetzungen, die mit dem Musikunterricht verbunden sind. Es ist ein gross er Unterschied, ob es im Musikunterricht um die Weitergabe von Traditionen im Meister-Schüler-Verhältnis geht oder um Entdeckung von Neuem innerhalb von Peergroups, ob Standardisierung oder Individualisierung angestrebt wird, ob es um die Förderung des Wohlbefindens oder um das Bestehen auf dem Markt geht. Dabei geht es darum, nicht in einfachen Kategorien von Entweder-oder oder in Gegensätzen zu denken, sondern dialogisch, dialektisch, dynamisch und integrierend. Als eine Art Zusammenfassung können die unterschiedlichen Metaphern und Modelle auf Achsen und in zwei Gruppen gefasst werden (ebd., S. 260): Es zeigen sich dabei Ähnlichkeiten zum Rahmenmodell von Schippers in den In- teraktionen und den Formen des Lehrens und Lernens und Unterschiede in der Art der Kategorisierung und in einzelnen Ausprägungen der Dimensionen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Beide Modelle erweitern den Blick auf das Lernen und Lehren von Musik. Sie haben das Potenzial, unterschiedliche Arten von Musikunterricht gedanklich und konzeptionell zu strukturieren und zu ordnen. Ableitung eines Rahmenmodells für die Ausbildung in den Studiengängen Kindergarten-Unterstufe und Primarstufe PH FHNW Aus den erwähnten Modellen wurde für die Ausbildung in den Studiengängen Kindergarten-Unterstufe und Primarstufe an der PH FHNW ein Rahmenmodell abgeleitet. Es dient der Übersicht und ist eine vereinfachende Darstellung der komplexen Situation von Musikunterricht. Im Folgenden werden kurz einige Möglichkeiten und Konkretisierungen des Modells beschrieben. Es wird allmählich in der Ausbildung angewendet und im Kollegium und mit den Studierenden diskutiert und weiterentwickelt. Die anfangs erläuterten unterschiedlichen Konzeptionen von schulischem Mu- sikunterricht können in den Spannungsfeldern der verschiedenen Dimensionen (Musik, Lehren, Lernen, Inhalt, Bewertungen und Interaktionen) verortet wer- den. Vereinfachend und stark reduzierend werden die Begriffe «Konservato- rium» und «Laboratorium»9 als metaphorische Überbegriffe für die beiden Sei- 9 Damit sind keine realen Orte gemeint; Dewey verwendet «Museum» und «Laboratorium» (vgl. Allsup, 2016, S. 70). 173 Tab. 3: Rahmenmodell PH FHNW Bestehende Musik Entstehende Musik Musik Notiert Nicht notiert Strukturierter Aufbau Lehren Spontan, situativ Anleitungen «Wildes Lernen» Lernen Rezeptives Lernen Konstruktivistisches Lernen Sache im Zentrum Inhalt Mensch im Zentrum Produkt Bewertungen Prozess Hierarchische Interaktion Interaktionen Dialogische Interaktion Konservatorium Laboratorium ten des Modells verwendet. Es wird deutlich, dass die unterschiedlichen Formen von Musikunterricht andere Schwerpunkte setzen und es nicht eine einzig rich- tige Form geben kann. Musikunterricht kann als dynamisches Geschehen ver- standen werden, welches sich auf den Achsen der Dimensionen des Rahmens be- wegt und einen Ausgleich zwischen den Polaritäten anstrebt. Das Denken im Rahmenmodell ermöglicht es, auf die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen der Hochschule konstruktiv zu reagieren. Sehr heterogene musikalische Voraussetzungen bei den Studierenden, eine kurze Ausbildungs- zeit für die Erweiterung der fachlichen und fachdidaktischen Kompetenzen, die vorgegebenen organisatorischen Strukturen (Stundengefässe, Modularisie- rung, Leistungsüberprüfungen und Notensetzung), ein erweitertes Verständ- nis von Musik und die höchst ambitionierten Zielsetzungen10 bedingen einen Studienaufbau, welcher sowohl Standards und Verbindlichkeiten setzt («Kon- servatorium») als auch Gestaltungsräume und Experimente («Laboratorium») ermöglicht. Das Modell leitet den Aufbau des Studiums (Curriculum), die Strukturierung und Ausbringung der einzelnen Lehrveranstaltungen (Module), die Konzeption und Formulierung von Aufgabenstellungen und Leistungsnachweisen und den Verlauf einzelner Lektionen. Damit sind Veränderungen im Rollenverständnis 10 Wie weit das Feld ist, zeigt sich daran, wenn man nur schon die Kompetenzbereiche des LP 21 als Orientierung nimmt, in denen die Studierenden sowohl fachlich als auch fachdidaktisch kompetent werden sollen. 174 der Studierenden und der Dozierenden, im Verständnis des Musikbegriffs,11 in den Formen von Interaktionen und in der Kommunikation, in den Zielsetzun- gen und in den Leistungsanforderungen, in den Unterrichtsmethoden und in der Organisation des Teams verbunden. Das Rahmenmodell wird anderseits in den Veranstaltungen der Fachdidaktik den Studierenden vorgestellt. Es ermöglicht ihnen, einen Überblick über unterschied- liche Konzeptionen von Musikunterricht zu erhalten, und gibt ihnen Hilfe für die Gestaltung von vielfältigen musikbezogenen Lernsituationen. Die Studieren- den lernen durch eigene musikpraktische reflektierte Erfahrungen verschiedene Konzeptionen und Lehrmittel kennen und können sie miteinander vergleichen. Einige Konkretisierungen an der PH FHNW Nachstehend werden einige Konkretisierungen in einzelnen Dimensionen (je- weils in Klammern) dargestellt. Vorweg werden zum besseren Verständnis die Situation und der Kontext zusammengefasst. Aufbau des Studiums Das Studium im Fach Musik in den beiden Studiengängen Kindergarten/Un- terstufe (KU) und Primarstufe (PS) an der PH FHNW besteht aus vier Modulen: Fachwissenschaft/Fachpraxis Musik 1 (eine Lektion Instrumentaleinzelunter- richt pro Woche über ein Jahr), Fachdidaktik 1, Fachwissenschaft/Fachpraxis Musik 2 und Fachdidaktik 2 mit jeweils zwei Lektionen über ein Semester. Fachliche Schwerpunktsetzungen sind durch die Belegung von zusätzlichen drei Lehrveranstaltungen Musik kombiniert mit der Durchführung einer grösse- ren Projektarbeit als benotete individuelle Arbeitsleistung (IAL) und durch das Schreib en einer Bachelorarbeit in Musik möglich. Inhalte und Aufbau der Lehrveranstaltungen In der Ausbildung wird das Rahmenmodell in der Fachdidaktik 1 vorgestellt und mit zwei bis drei unterschiedlichen Konzeptionen aus der Literatur prak- tisch handelnd konkretisiert. Die Studierenden erarbeiten sich ein Liedreper- 11 Was ist Musik, welche Musik, welche Formen des Umgangs mit Musik (vgl. beispielsweise Geuen, 2018). 175 toire für die Zielstufe und können den Kindern in improvisatorischen Settings musikalische Erfahrungen ermöglichen (Musik). Sie erfahren und reflektieren in den Veranstaltungen sowohl stark strukturierte Leitungssituationen, bei- spielsweise im Singen eines Kanons, wie auch offene improvisatorische For- men in Klangimprovisationen mit Alltagsgegenständen (Lernen). Methoden des aufbauenden Musikunterrichts oder die Solmisation sind genauso vertre- ten wie kooperative Lernmethoden oder creative teaching (Lehren). Sie lernen Grundprinzipien12 kennen und bearbeiten eigene individuelle Projekte in Ver- anstaltungen wie Songwriting, Instrumentenbau, Komponieren und Arrangie- ren (Inhalt). Standardisierte Überprüfungen von stimmlichen Fähigkeiten und musiktheore- tischem Basiswissen, individuelle Lernzielvereinbarungen und kreative perfor- mative Leistungsnachweise ermöglichen unterschiedliche Formen von Bewer- tungen (Bewertung). Die Lehrveranstaltungen werden am Anfang stärker durch die Dozierenden strukturiert und geführt und entwickeln sich allmählich zu Lektionen, die immer mehr von den Studierenden geleitet werden. Die Dozie- renden werden zu Coachs und professionellen Feedbackgebern (Interaktionen). Wie wir über Musik und Musikunterricht nachdenken, beeinflusst unsere Hand- lungen und unsere Haltungen. Mit einer Perspektive auf einen offeneren Ansatz des Verstehens von Musikdidaktik, bei dem klar und begründbar ist, was, wer, wann mit wem, wozu, wie, womit und warum (Jank, 2013) musikalisch han- delnd ist, geht es weder um die Reduktion auf nur einen Ansatz noch auf eine Ausweitung auf «anything goes», sondern um eine dynamische Balance zwi- schen Polaritäten. Literaturangaben Albisser, K., Held, R., Lang, P. (2013). Kreschendo 5/6. Musik für die 5. und 6. Klasse. Zug: Comenius. Allsup, R. E. (2016). Remixing the Classroom. Toward an Open Philosophy of Music Education. 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Stundenbilder und Praxismaterialien für das gesamte Schuljahr – schnell und einfach umsetzbar (2. Auflage). Donauwörth: Auer. Joschko, J. (2013b). Kompetenzorientierter Musikunterricht 2. Klasse. Stundenbilder und Praxismaterialien für das gesamte Schuljahr – schnell und einfach umsetzbar. Donauwörth: Auer. Joschko, J. (2014a). Kompetenzorientierter Musikunterricht 3. Klasse. Stundenbilder und Praxismaterialien für das gesamte Schuljahr – schnell und einfach umsetzbar. Donauwörth: Auer. Joschko, J. (2014b). Kompetenzorientierter Musikunterricht 4. Klasse. Stundenbilder und Praxismaterialien für das gesamte Schuljahr – schnell und einfach umsetzbar. Donauwörth: Auer. Kertz-Welzel, A. (2014). Musikpädagogische Grundbegriffe und die Internationa- lisierung der Musikpädagogik: Ein unlösbares Dilemma? In J. Vogt, F. Hess, M. Brenk (Hg.), (Grund-)Begriffe musikpädagogischen Nachdenkens. Entste- hung, Bedeutung, Gebrauch (Wissenschaftliche Musikpädagogik, Bd. 6, S. 19–35). Münster: Lit. 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Basel: Zytglogge. 179 Musikpädagogische Unterrichts- und Wissenschafts- kulturen im Kontext von Internationalisierung und Globalisierung Alexandra Kertz-Welzel Zusammenfassung Internationalisierung und Globalisierung scheinen in einem Bereich wie Musikpäd- agogik unkompliziert zu sein: Wissenschaftler arbeiten in multinationalen Forscher- teams, publizieren in internationalen Journals oder besuchen internationale Konfe- renzen. Auch im schulischen und ausserschulischen Unterrichtsalltag suggerieren Konzepte wie das Orff-Schulwerk oder die Methoden von Kodály und Dalcroze durch ihre globale Präsenz die erfolgreiche Internationalisierung von Musikpädagogik. Aber ist die Globalisierung von musikpädagogischen Unterrichts- und Wissenschaftskultu- ren wirklich so unproblematisch? Allzu oft wird sie mit einer Angloamerikanisierung verwechselt, in der angloamerikanische Standards als internationale Standards einfach übernommen werden. Dies betrifft viele Bereiche wie musikpädagogische Terminolo- gie, Konzepte und Methoden, aber auch Englisch als internationale Wissenschaftsspra- che. Angesichts dieser Problematik ist eine kritische Untersuchung der Frage, wie mit musikpädagogischen Unterrichts- und Wissenschaftskulturen im Kontext von Interna- tionalisierung umgegangen werden soll, notwendig. Ziel ist dabei eine kultursensible, die verschiedenen musikpädagogischen Traditionen berücksichtigende Internationali- sierung von Musikpädagogik. Das Ideal einer von Vielfalt, aber auch Gemeinsamkeiten geprägten internationalen Musikpädagogik kann hierbei leitend sei. So könnten natio- nale Unterrichts- und Wissenschaftskulturen berücksichtigt werden und damit die bis- herige Dominanz angloamerikanischer Ideen überwunden werden. Das kann sich auf in verschiedenen Ländern bedeutsame pädagogische Ideen (beispielsweise Bildung), auf wissenschaftliche Terminologie (beispielsweise nichtenglische Begriffe) oder auf er- folgreiche Unterrichtskonzepte im Hinblick auf kulturelle Diversität (beispielsweise in multilingualen Ländern) beziehen. Auch die internationale Wissenschaftskultur, bei- spielsweise bei Tagungen, würde von einer grösseren sprachlichen, methodischen und konzeptionellen Vielfalt profitieren. Angesichts der vielen Fragen, die sich im Kontext der Internationalisierung von musikpädagogischen Unterrichts- und Wissenschafts- kulturen ergeben, ist dringend mehr Forschung notwendig, die die Entwicklung einer intern ationalen Musikpädagogik unterstützt, die durch Vielfalt, aber auch Gemeinsam- keiten gekennzeichnet ist. 181 Résumé L’internationalisation et la mondialisation semblent être peu compliquées dans un do- maine comme l’éducation musicale: les scientifiques travaillent dans des équipes de re- cherche multinationales, publient dans des revues internationales ou participent à des conférences internationales. Même dans l’enseignement scolaire et extrascolaire quoti- dien, des concepts tels que le Orff Schulwerk ou les méthodes de Kodály et Dalcroze suggèrent une internationalisation réussie de l’éducation musicale grâce à leur pré- sence mondiale. Mais la mondialisation de l’enseignement de l’éducation musicale et des cultures scientifiques est-elle vraiment si peu problématique? Trop souvent, on la confond avec une anglo-américanisation, dans laquelle les normes anglo-américaines sont simplement adoptées en tant que normes internationales. Cela touche de nombreux domaines tels que la terminologie, les concepts et les méthodes de la pédagogie musicale, mais aussi l’anglais en tant que langue scientifique internationale. Face à ce problème, il est nécessaire d’examiner de façon critique la manière de traiter des cultures d’enseigne- ment de la musique et des cultures scientifiques en pédagogie musicale dans le contexte de l’internationalisation. L’objectif est une internationalisation de l’éducation musicale qui tienne compte des différentes traditions de ce champs. L’idéal d’une pédagogie mu- sicale internationale caractérisée par la diversité, mais aussi par des points communs, peut être un principe directeur dans ce processus. De cette façon, les cultures natio- nales dans le domaine de l’enseignement et de la science peuvent être prises en compte, permettant ainsi de surmonter la domination des idées anglo-américaines. Il peut s’agir d’idées pédagogiques importantes dans différents pays (par exemple l’éducation), de terminologie scientifique (par exemple des termes non anglais) ou de concepts d’ensei- gnement réussis en matière de diversité culturelle (par exemple dans les pays multilin- gues). La culture scientifique internationale, par exemple lors de conférences, bénéficie- rait également d’une plus grande diversité linguistique, méthodologique et conceptuelle. Compte tenu des nombreuses questions qui se posent dans le contexte de l’internatio- nalisation de l’enseignement de la musique et des cultures scientifiques, il est urgent de mener davantage de recherches pour soutenir le développement d’une pédagogie musi- cale internationale qui se caractérise par la diversité, mais aussi par des points communs. Abstract Internationalisation and globalisation seem to be uncomplicated in a field like music ed- ucation: researchers work in multinational teams, publish in international journals, and attend international conferences. Even in everyday school and extracurricular teach- ing, concepts such as the Orff Schulwerk or the methods of Kodály and Dalcroze sug- gest the successful internationalisation of music education through their global pres- ence. But is the globalisation of music education teaching and research cultures really so unproblematic? Too often, it is confused with Anglo-Americanisation, in which An- glo-American standards are simply adopted as international standards. This affects not 182 only many areas such as music education terminology, concepts, and methods, but also English as an international language of research. In view of this problem, a critical inves- tigation of what to do with music education teaching and research cultures with regard to internationalisation seems crucial. The aim is a culturally sensitive internationalisa- tion of music education that takes into account the different music education traditions, being characterised by unity and diversity. Then, national teaching and research cul- tures can be taken into account, thus overcoming the dominance of Anglo-American ideas. This can refer to educational ideas that are significant in different countries (for example, Bildung), to scholarly terminology (for example, non-English terms) or to successful teaching concepts with regard to cultural diversity (for example, in multilin- gual countries). The international music education culture, for example at conferences, would also benefit from greater linguistic, methodological, and conceptual diversity. In view of the many questions that arise in the context of the internationalisation of teach- ing and research cultures in music education, more research is urgently needed to sup- port the development of united yet divers global music education community. Schlagwörter Unterrichtskulturen, Wissenschaftskulturen, Internationalisierung, Globalisierung, Kult ursensibilität, global mindset, educational transfer Wir sind täglich auf unterschiedliche Weise mit Internationalisierung und Glo- balisierung konfrontiert, seien es politische Herausforderungen wie Migration und Populismus oder die gleichen Mode- und Fastfoodketten in Innenstädten weltweit. Auch in Musikpädagogik begegnen wir regelmässig Internationalisie- rung, beispielsweise in Form von Unterrichtskonzepten wie dem Orff-Schul- werk oder der Suzuki-Methode, aber auch englischsprachigen Publikationen zu musikdidaktischen Themen. Meistens verstehen wir Internationalisierung und Globalisierung als einen normalen Teil unseres pädagogischen beziehungsweise wissenschaftlichen Alltags – der uns zwar manchmal irritiert, den wir aber letzt- lich akzeptieren, weil wir glauben, nichts daran ändern zu können. Aber stimmt das wirklich? Müssen wir uns mit dem momentanen Stand von Internationali- sierung und Globalisierung in Musikpädagogik wirklich abfinden, insbesondere mit der Dominanz angloamerikanischer Musikpädagogik? Sicherlich nicht. Internationalisierung und Globalisierung sind komplexe Pro- zesse, die nicht automatisch auf eine bestimmte Weise ablaufen, sondern bewusst gestaltet werden können. Um sie zu beeinflussen, ist allerdings Wissen darüber notwendig, wie sie funktionieren und was sie für Musikpädagogik bedeuten. Leider gibt es innerhalb der Musikpädagogik bisher zu wenig Forschung zu die- sen Themen. Mein Buch Globalizing Music Education (Kertz-Welzel, 2018) ver- 183 sucht erstmals, Musikpädagogik im Kontext von Globalisierung und Internatio- nalisierung systematisch zu untersuchen, Probleme aufzuzeigen und Lösungen vorzuschlagen. Das kann aber erst der Anfang einer umfangreicheren Diskus- sion sein. Dabei geht es insbesondere um die Frage, wie mit musikpädagogischen Unterrichts- und Wissenschaftskulturen im Kontext von Internationalisierung und Globalisierung umgegangen werden soll. Dieser Thematik widmet sich der vorliegende Beitrag aus verschiedenen Perspekt iven. Im ersten Abschnitt wird zunächst untersucht, was musikpädago- gische Unterrichts- und Wissenschaftskulturen sind. Danach wird der Einfluss von Intern ationalisierung und Globalisierung auf Musikpädagogik genauer be- trachtet. Eine umfangreichere Untersuchung von musikpädagogischen Unter- richts- und Wissenschaftskulturen im Kontext von Internationalisierung und Globalisierung führt schliesslich zur Entwicklung neuer Perspektiven für die inter nationale Musikpädagogik. Was sind musikpädagogische Unterrichts- und Wissenschaftskulturen? In jedem Land gibt es eine spezifische Art des Unterrichts, des Lehrens und Forschens. Sie ist geprägt von der jeweiligen Geschichte eines Landes, seinem Bildungssystem und pädagogischen Idealen. Während der Begriff «Wissen- schaftskulturen» eine spezifische Forschungs- und Lehrkultur im akademischen Kontext beschreibt, fassen Unterrichtskulturen die Art und Weise, wie innerhalb und ausserhalb von Schulen gelehrt und gelernt wird, zusammen. Musikpädagogische Unterrichtskulturen sind von verschiedenen Faktoren be- einflusst: Allgemeine Ideen wie musikalisch-ästhetische Bildung oder Kom- petenzen und Standards spielen ebenso eine Rolle wie das Schulsystem und der Stellenwert des Musikunterrichts, beispielsweise aufgrund seines Status als Pflicht- oder Wahlfach. Bevorzugte didaktische Konzepte und Methoden – etwa Aufbauender Musikunterricht oder die Suzuki-Methode – sind ebenso wichtig wie Lehrer/-innenbildung und Studienprogramme. Zudem beeinflussen Curri- cula und Lehrbücher die musikpädagogische Unterrichtskultur, aber auch die in ihnen vorgeschlagenen Formen der Bewertung von Schüler/-innenleistungen – zum Beispiel Vorsingen, schriftliche Tests oder Portfolios. Spezifische musika- lische Traditionen, etwa Volksmusik oder Popmusik, sind ebenso wichtig wie die Verbindung von Musikunterricht innerhalb und ausserhalb von Schulen, ins- besondere bezüglich Musikschulen. Spezifische Unterrichtskulturen können sich aber auch auf unterschiedliche Ebenen beziehen: Es gibt nationale musikpäd- agogische Unterrichtskulturen wie in Frankreich, regionale wie im Südtirol oder auch lokale, in einer spezifischen Stadt oder einem bestimmten Stadtteil – even- 184 tuell sogar eine bestimmte Unterrichtskultur an einzelnen Schulen, zum Beispiel an einer Montessori-Schule. Unterrichtskulturen sind weltweit vielfältig und oft von den entsprechenden Wissenschaftskulturen beeinflusst, die in der Aus- bildung von Musikpädagog/-innen wichtig sind. Gleichzeitig beeinflussen aber auch Unterrichtskulturen entsprechende Wissenschaftskulturen, beispielsweise durch neue pädagogische Praxen wie etwa den Umgang mit Popularmusik im Musikunterricht. In Ländern wie England führte eine bestimmte unterrichtliche Praxis beziehungsweise Unterrichtskultur zu neuen musikpädagogischen Kon- zepten (Green, 2009). Der Begriff «Wissenschaftskultur» wird häufig in Diskussionen über die Be- sonderheiten einzelner Fachdisziplinen verwendet, insbesondere bezüg- lich bestimmter Länder – es fehlen aber systematische Untersuchungen. Die Literaturwissenschaftlerin Marie Antoinette Glaser (2005, S. 33) beschreibt Wis- senschaftskulturen so: «Es sind die Gewohnheiten und Wertvorstellungen, Traditionen und Bräuche einer Disziplin, die zur Kultur einer Wissenschaft gehören. Darüber hinaus zählen die Praktiken und Vorstellungen, die Überzeugungen und die moralischen Nor- men und Regeln des Verhaltens ebenso wie die kollektive Umgangsweise mit den symbolischen und sprachlichen Formen und die Kommunikationsformen zu den Elementen einer Wissenschaftskultur. Sie alle bilden jenes Gesamtgebilde an Wis- sen, das sich Neueintretende aneignen müssen, um erfolgreich in die Community aufgenommen zu werden und arbeiten zu können.» Hier wird ein offenes Verständnis von Wissenschaftskulturen vorgestellt. Sie be- ziehen sich auf alles, was sich im Laufe einer Zeit in einer bestimmten Disziplin an Verhaltensweisen, Normen, wichtigen Ideen oder Paradigmen entwickelte, die die Wissensgenerierung bestimmen. Das beinhaltet bestimmte Arten zu kommunizieren beziehungsweise zu präsentieren sowie spezifische Formen des Diskurses. Wissenschaftskulturen werden als Gesamtsystem beschrieben, das sich diejenigen, die in einem bestimmten Fach tätig sein wollen, aneignen müs- sen – im Sinne einer wissenschaftlichen Sozialisation. Was sind nun musikpädagogische Wissenschaftskulturen? Sie repräsentieren die spezifische Forschungs- und Lehrkultur an Hochschulen im Fach Musikpäd- agogik, zum Beispiel in einem bestimmten Land oder Sprachraum. Sie sind von verschiedenen Faktoren geprägt: Das Hochschulsystem und die entsprechenden Studienprogramme beeinflussen wesentlich musikpädagogische Wissenschafts- kulturen – auch die Art von Hochschulen (beispielsweise Musikhochschulen, Universitäten oder Fachhochschulen), an denen man Musikpädagogik studieren kann und auch, wer zum Studium zugelassen ist. Ausserdem spielt das Verständ- nis von Musikpädagogik als Wissenschaft eine grosse Rolle. Hier ist insbeson- dere das Verhältnis zu Nachbardisziplinen und Bezugswissenschaften wichtig. 185 In verschiedenen Ländern sind andere Fachgebiete bedeutsam. In Deutschland und Italien war beispielsweise lange Zeit die Musikwissenschaft Bezugswissen- schaft für Musikpädagogik, während in den USA eher Musikpsychologie und Musikethnologie wichtig sind (Kertz-Welzel, 2015). Angesichts der starken Be- deutung solcher etablierten Disziplinen ist die Professionalisierung eines Faches wie Musikpädagogik – etwa im Hinblick auf eigene Studiengänge, Professuren oder Promotionsmöglichkeiten – nicht immer einfach und in manchen Ländern auch noch nicht vollkommen abgeschlossen. Darüber hinaus basiert die spe- zifische Wissenschaftskultur im Fach Musikpädagogik auf entsprechenden er- ziehungswissenschaftlichen Konzepten wie Bildung oder bestimmten Unter- richtsprinzipien, beispielsweise Handlungs- und Lebensweltorientierung. Auch Ideen wie forschendes Lehren oder Lernen können insbesondere im Hoch- schulbereich einflussreich sein. Verbunden damit sind auch wichtige didaktische Konzepte wie interkultureller Musikunterricht oder Szenische Interpretation von Musik, die nicht nur in Seminaren theoretisch vorgestellt, sondern oft auch praktisch umgesetzt werden. Zudem gehört eine spezifische Fachterminologie zur musikpädagogischen Wissenschaftskultur, die sich in verschiedenen Län- dern und Sprachräumen unterscheidet. Sie bildet die Grundlage eines Faches und des entsprechenden Diskurses. Die musikpädagogische Wissenschaftskul- tur in einzelnen Ländern ist zudem von bestimmten Forscher/-innen und ihren Publikationen geprägt. Hier bilden insbesondere Lexika und Handbücher wich- tige Bezugspunkte, aber auch herausragende Veröffentlichungen in spezifischen Forschungsbereichen. Im angloamerikanischen Bereich haben die Schriften von Patricia Shehan Campbell zum multikulturellen Musikunterricht eine solche Be- deutung. Allerdings sind wichtige Publikationen als Teil von Wissenschaftskul- tur jeweils auch von einer spezifischen Schreibkultur geprägt, die je nach Sprach- raum variieren kann (Thielmann, 2009). Zudem prägen spezifische Karrierewege eine Wissenschaftskultur. Dabei sind insbesondere die Voraussetzungen, um zur Professorin oder zum Professor ernannt zu werden, wichtig, beispielsweise im Hinblick auf vorherige Schul- oder Forschungserfahrung. Ausserdem spielen die Profile von Professuren eine Rolle, ob sie beispielsweise nur auf Forschung oder nur auf die didaktisch-methodische Ausbildung von Musiklehrkräften aus- gerichtet sind. Musikpädagogische Unterrichts- und Wissenschaftskulturen in verschiedenen Ländern sind also von vielfältigen Faktoren geprägt. Wie soll man aber nun im Kontext von Internationalisierung und Globalisierung mit nationalen Besonder- heiten umgehen? 186 Internationalisierung, Globalisierung und Musikpädagogik Auch wenn es manchmal so scheint, als seien Internationalisierung und Glo- balisierung spezifische Herausforderungen unserer Zeit, sind sie doch nicht neu. Es gab schon immer intensive Austauschprozesse zwischen verschiedenen Ländern, auch in Pädagogik beziehungsweise Musikpädagogik. An Pädagogik Intere ssierte reisten beispielsweise im 19. Jahrhundert in die Schweiz, um Pes- talozzis Ideen in der pädagogischen Praxis kennenzulernen. Zur gleichen Zeit war der deutsche Musikunterricht attraktiv für Musikpädagogen wie die Eng- länder John Hullah und John Curwen,1 die 1878 Köln und Berlin besuchten (Kertz-Welzel, 2015). Im Mittelpunkt stand dabei der Wunsch, von erfolgrei- chen pädagogischen Systemen oder Konzepten zu lernen, also insbesondere im Hinblick auf musikpädagogische Unterrichtskulturen. In der internationa- len Pädagogik werden diese Austauschprozesse, auch im Hinblick auf Wissen- schaftskulturen, als educational transfer bezeichnet und sind schon lange ein wichtiges Forschungsthema (Steiner-Khamsi, Waldow, 2012). Die entsprechen- den Austauschprozesse können sich dabei auf die Übernahme eines gesamten Systems des Musik unterrichts beziehen wie im Japan des ausgehenden 19. Jahr- hunderts; hier wurde der amerikanische Musikunterricht zunächst exakt ko- piert, einschliesslich Lehr büchern (Ogawa, 2010). Es kann aber auch um die Übernahme bestimmter Methoden, beispielsweise zum Singenlernen, gehen, bei der der gröss ere bildungstheoretische Kontext ausser Acht gelassen wird (Gruhn, 2001). Heute spielt Educational Transfer zudem im Kontext von PISA (Program for International Student Assessment), das durch die Untersuchung von Schüler/-innenleistungen die effektivsten Bildungssysteme weltweit zu fin- den versucht, eine besondere Rolle – die weniger erfolgreichen Länder sollen von den erfolgreichen lernen (Kamens, 2013).2 Educational Transfer im Sinne pädagogischer Austauschprozesse zwischen verschiedenen Ländern ist also ein wichtiger Teil von Internationalisierung. Was versteht man nun aber allgemein unter Internationalisierung? Das zu be- stimmen, ist nicht leicht, weil dieser Begriff zwar oft benutzt, aber selten sys- tematisch untersucht wird. Zunächst bezeichnet er wirtschaftliche Aktivitäten, die über nationale Grenzen hinausgehen, zum Beispiel die Anpassung einer in 1 Curwen (1901) berichtet in seinem Reisebericht auch von seinen positiven Erfahrungen in der Schweiz. Für genauere Informationen siehe www.epos.uni-osnabrueck.de/buch.html?id=1. 2 Das verweist schon darauf, dass Educational Transfer keineswegs unumstritten ist – auch wenn solche Erfolgsmodelle wie das Orff-Schulwerk, das durch eine geschickte Kombination von grundlegenden Prinzipien und variablen Faktoren ausgesprochen anpassungsfähig an Situatio- nen in verschiedenen Ländern ist, überzeugen mögen. Educational Transfer ist insbesondere dann problematisch, wenn er unreflektiert oder auch im kolonialistischen Kontext eingesetzt wird. 187 einem bestimmten Land entwickelten Software an die Bedingungen des globalen Marktes (Business Dictionary). In der Politik beschreibt Internationalisierung eine Zusammenarbeit von Staaten in verschiedenen Bereichen, die die nationalen Grenzen überschreitet. Im Hochschulbereich werden darunter Aktivitäten ver- standen, die die globale Vernetzung unterstützen, zum Beispiel durch Koope- rationen, multinationale Forscherteams, englischsprachige Studieng änge oder Studierendenaustausch. Gerade im Hochschulbereich gibt es oft ein einseitig positives Verständnis von Internationalisierung als Garant wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolges – insbesondere belegt durch internationale Ran- kings. Das ist aber zu oberflächlich. Knight (2012, S. 2) beschreibt Internatio- nalisierung als «integrating an international, intercultural and global dimension into the goals, functions and delivery of higher education». Das verweist darauf, dass es bei Internationalisierung um tiefer greifende Veränderungen geht als die Anzahl ausländischer Studierender oder gute Platzierungen in Rankings. Viel- mehr sollten Interkulturalität, kultursensible Lehr- und Lernstile oder trans- parente und anschlussfähige Verwaltungsprozesse im Mittelpunkt stehen. Die Internationalisierung von Hochschulen soll Studierende auf einen globalen Ar- beitsmarkt vorbereiten und insbesondere ihre interkulturellen Kompetenzen fördern. Das bedeutet aber keineswegs, dass man die Besonderheiten des ei- genen Hochschulsystems zugunsten internationaler Standards aufgeben sollte. Vielmehr ist eine kritische Perspektive auf Internationalisierung notwendig, die auch nationale, regionale oder lokale Wissenschafts- und Unterrichtskulturen wertschätzt und integriert. In der Musikpädagogik kann Internationalisierung unterschiedliche Bereiche beeinflussen, von konkreten Unterrichtsmethoden bis hin zu einem allgemei- neren Verständnis von Musikpädagogik als internationalem Fachgebiet. Die irisch-amerikanische Musikpädagogin Marie McCarthy (2012, S. 57) versteht Internationalisierung zudem als einen Prozess, der die Bildung einer weltwei- ten musikpädagogischen Gemeinschaft (global community) zum Ziel hat. Sie unterscheidet verschiedene globale Herausforderungen: In vielen Ländern wird die Stellung von Musik als Schulfach hinterfragt, beispielsweise als Pflicht- oder Wahlfach und als ausserschulische Aktivität. Zudem gibt es einen ständigen Rechtfertigungszwang von Musikunterricht, gerade in Zeiten eines neoliberalen Verständnisses von Schule, die vor allem zukünftige Arbeitskräfte für den glo- balen Markt produzieren soll – dafür werden Fächer wie Mathematik als wichti- ger angesehen. Musikpädagog/-innen in verschiedenen Ländern sehen sich auch mit Curriculum-Reformen konfrontiert, die beispielsweise statt der früheren Bildungsorientierung nun Standards und Kompetenzen in den Mittelpunkt stel- len. Zugleich ergibt sich weltweit die Problematik, welche Musik im schulischen Musikunterricht Unterrichtsgegenstand sein sollte – und wie mit veränderten 188 Lehr- und Lernkulturen umgegangen werden soll. Das betrifft beispielsweise die Rolle von informellem Lernen (Green, 2009) oder auch die Verbindung von schulischem und ausserschulischem Musikunterricht. Angesichts dieser welt- weiten Herausforderungen gewinnt die musikpädagogische Verbandsarbeit und Interessenvertretung eine besondere Bedeutung, insbesondere durch interna- tionale Perspektiven auf die Begründung von Musik als Schulfach.3 McCarthy (2012, S. 57) beschreibt die internationale Musikpädagogik insgesamt als «glo- bal tapestry of music education»: Sie besteht aus vielen verschiedenen Unter- richts- und Wissenschaftskulturen, die trotz aller Verschiedenheit eine Einheit zu bilden scheinen. Allerdings weist McCarthy nicht deutlich auf die Proble- matik einer von angloamerikanischen Traditionen dominierten Musikpädago- gik hin. Diese Dominanz wird beispielsweise durch die Anzahl an Publikatio- nen von Autor/-innen aus dem angloamerikanischen Bereich in internationalen Fachzeitschriften,4 durch entsprechende Konferenzbeiträge5 oder auch durch die sich in internationalen Organisationen in Führungspositionen befindlichen Persönlichkeiten deutlich.6 Im Zuge einer kultursensiblen Internationalisierung musikpädagogischer Unterrichts- und Wissenschaftskulturen wäre es wichtig, Möglichkeiten zu finden, diese Dominanz zu überwinden – eine sicherlich nicht leichte Aufgabe, der sich die internationale Musikpädagogik aber stellen muss. Musikpädagogische Unterrichts- und Wissenschaftskulturen im Kontext von Internationalisierung und Globalisierung Eine grundsätzliche Problematik von Internationalisierung besteht darin, dass sie als Angloamerikanisierung missverstanden werden kann – im Sinne einer un- reflektierten Übernahme angloamerikanischer Unterrichts- und Wissenschafts- kulturen. Das kann aber nicht das Ziel von Internationalisierung sein. Vielmehr sollte es darum gehen, bewusst zu entscheiden, in welchen Bereichen internatio- 3 Ein Beispiel hierfür ist das Advocacy Standing Committee der International Society for Music Education (ISME): www.isme.org/our-work/standing-committee/advocacy-standing-com- mittee-asc [22. 1. 2019]. 4 Ein Beispiel hierfür ist der Band 120 des Arts Education Policy Review, einer internationalen Fachzeitschrift, die sich mit bildungspolitischen Fragestellungen in Hinblick auf Unterricht in den verschiedenen Künsten beschäftigt: www.tandfonline.com/toc/vaep20/120/4?nav=tocList. 5 Das 12. Symposium der International Society for the Philosophy of Music Education (ISPME) ist hier ein gutes Beispiel: https://ispme.net/index.php/minutes/2019-the-xii-symposium-wes- tern-university-london-canada. 6 Die drei letzten Präsidenten der International Society for Music Education (ISME) sind in der angloamerikanischen Musikpädagogik beheimatet: Sheila Woodward (USA, 2014–2016), Lee Higgins (Grossbritannien, 2016–2018), Susan O’Neill (Kanada, 2018–2020). Für mehr Infor- mationen siehe www.isme.org. 189 nale beziehungsweise angloamerikanische Standards wichtig sind, wo aber auch an den jeweils eigenen Unterrichts- und Wissenschaftskulturen festgehalten werden sollte. Dies zu unterscheiden, ist aber oft nicht einfach. In meinem Buch Globalizing Music Education (Kertz-Welzel, 2018) entwickle ich deshalb ein «Framework» im Sinne eines Bezugssystems, das eine kultursen- sible Internationalisierung von Musikpädagogik ermöglichen soll. Es definiert verschiedene Kategorien wie Educational Transfer, Sprache oder Bildungspoli- tik. Anhand verschiedener Bereiche ist es möglich, den momentanen Stand von Internationalisierung in einem bestimmten Land zu bewerten und neue Perspek- tiven zu entwickeln, die sich sowohl auf internationale Standards als auch auf eigene musikpädagogische Traditionen beziehen. Angewandt auf Unterrichts- und Wissenschaftskulturen ergeben sich so drei verschiedene Bereiche, in denen Musikpädagogik neu gedacht werden sollte: (1) Sie muss als globales Fachgebiet und als transnationales Handlungsfeld verstanden werden, bei dem Diversität als Grundprinzip gilt. (2) Englisch fungiert als Lingua Franca, aber wichtige musik- pädagogische Begriffe anderer Sprachen sollten mit einbezogen werden. (3) Die Entwicklung eines «Global Mindsets» im Sinne eines globalen Bewusstseins sollte die Akzeptanz von Diversität fördern. Wenn diese drei Aspekte berück- sichtigt werden, kann eine kultursensible Internationalisierung von Musikpäd- agogik unterstützt werden. (1) Musikpädagogik als globales Fachgebiet und transnationales Handlungsfeld zu verstehen, führt zu verschiedenen neuen Perspektiven. Einzelne Themen wer- den nun nicht mehr nur von der nationalen, sondern auch von einer internatio- nalen Perspektive aus untersucht. Das bereichert die Forschung in einzelnen Be- reichen – beispielsweise im Hinblick auf den Umgang mit Unterrichtsstörungen im Sinne von classroom management –, aber auch unterrichtliches Handeln, weil schon Wissen zu bestimmten Themen vorliegt. Es ermöglicht den Anschluss an internationale Forschungsgebiete beziehungsweise Handlungsfelder und erwei- tert so die hauptsächlich von einem nationalen Verständnis geprägten Perspekti- ven in einem bestimmten Bereich. Gleichzeitig hilft es, einige scheinbar nationale Herausforderungen als globale zu verstehen – beispielsweise den Umgang mit Geflüchteten im schulischen und ausserschulischen Musikunterricht, bei dem Forscher/-innen wie die Australierin Kathryn Marsh bereits intere ssante Unter- suchungen vorlegten (Marsh, 2013). Internationale Publikationen, Tagungen, Organisationen sowie multinationale Teams von Forschern und Forscherinnen unterstützen diese Internationalisierung von Wissenschaftskulturen. Musikpäd- agogik als transnationales Handlungsfeld zu verstehen, bezieht sich auch auf ein erweitertes Verständnis von Unterrichtskulturen. Durch globale Austausch- prozesse im Sinne von Educational Transfer sind viele musikdidakt ische Kon- zepte und Methoden wie das Orff-Schulwerk, Kodály- oder Dalcroze-Methode 190 schon weltweit verfügbar, in jeweils national geprägten Adaptionen. Im Kon- text einer kultursensiblen Internationalisierung von Musikpädagogik ist es sinn- voll, bewusst und kritisch voneinander zu lernen und auch Konzepte oder Me- thoden, die in einem bestimmten Land wie der Schweiz erfolgreich sind, in den intern ationalen musikpädagogischen Diskurs einzubringen. Insgesamt soll die- ser Austausch die Diversität der Unterrichts- und Wissenschaftskulturen in der inter nationalen Musikpädagogik fördern. (2) Im Kontext einer kultursensiblen Internationalisierung von Musikpädago- gik spielt Sprache eine besondere Rolle. Englisch ist zwar internationale Wis- senschaftssprache, das sollte aber keineswegs zur Aufgabe nationaler Fachter- minologien führen. Englisch ist als internationale Wissenschaftssprache nicht unumstritten. Durch die Verwendung einer Fremdsprache können nicht nur kommunikative Probleme entstehen, sondern es fehlen semantische Differen- zierungsmöglichkeiten. Zudem könnte durch die Verwendung von Englisch als Wissenschaftssprache die Weiterentwicklung einer beispielsweise deutschspra- chigen Terminologie und entsprechender Grundbegriffe vernachlässigt werden.7 Musikpädagogische Grundbegriffe sind die Grundlage wissenschaft lichen Den- kens beziehungsweise einer entsprechenden Wissenschaftskultur. Ihre Über- setzung, etwa vom Deutschen ins Englische, ist nicht unproblematisch. Music education beispielsweise bezieht sich sowohl auf Musikpädagogik als wissen- schaftliche Fachdisziplin als auch auf die Praxis des Musikunterrichts, was zu Verwirrungen und zusätzlichen Umschreibungen führen kann wie «music edu- cation as a field of research». Ausserdem gibt es Übersetzungsfallen: Music ped- agogy ist keine adäquate Übersetzung für Musikpädagogik, weil pedagogy übli- cherweise für bestimmte instrumentalpädagogische Bereiche wie piano pedagogy oder bezüglich der Didaktik eines spezifischen Bereiches verwandt wird, bei- spielsweise world music pedagogy. Vergleichbares gilt für bestimmte Konzepte wie musikalisch-ästhetische Bildung: Education ist nicht nur eine unzureichende Übersetzung für Bildung; vielmehr kann die scheinbar wörtliche Übersetzung aesthetic education zu Verwirrungen führen, weil sie den Ballast einer kompli- zierten Begriffsgeschichte trägt (Fossum, Varkøy, 2012). Zudem erschwert die unterschiedliche Argumentationsweise in englischen und deutschen wissen- schaftlichen Texten die Klärung terminologischer Fragen, weil englischsprachige Autoren oft weniger Interesse an der genaueren Definition und Diskussion von Fachterminologie haben (Thielmann, 2009). Trotz aller Schwierigkeiten ist es aber nicht möglich, auf Englisch als internationale Wissenschaftssprache zu ver- zichten. Deshalb ist es wichtig, bewusst und kritisch damit umzugehen, ohne die 7 Weitere Informationen zur Problematik von Englisch als Wissenschaftssprache bietet die Web- site des Arbeitskreises Deutsche Wissenschaftssprache: http://adawis.de/start [22. 2. 2019]. 191 eigenen Grundbegriffe aufzugeben. Das beinhaltet auch die Entwicklung einer globalen musikpädagogischen Terminologie, die wichtige Begriffe verschiedener Sprachen enthält wie etwa Bildung, Ubuntu oder Ren. Dafür ist allerdings mehr Forschung zu musikpädagogischer Terminologie in einzelnen Ländern notwen- dig, die wichtige Begriffe und Konzepte eruiert und in den internationalen Dis- kurs einbringt. Erste Versuche hierzu liegen bereits vor (Kertz-Welzel et al., 2019). Auch mehrsprachige Tagungen oder Publikationen (Cslovjecsek, Zulauf, 2018) unterstützen diese Entwicklung. (3) Für eine kultursensible Internationalisierung ist zudem eine internatio- nale wissenschaftliche Sozialisation von Musikpädagog/-innen bedeutsam. Sie umfasst das Wissen über wichtige internationale Publikationen (zum Beispiel McPherson, Welch, 2012) und Autor/-innen (Patricia Shehan Campbell oder Estelle R. Jorgensen), bedeutende Konzepte wie Praxial Music Education und mit ihr verbundene Wissenschaftler/-innen wie David J. Elliott. Durch die in- tensive Auseinandersetzung mit entsprechenden Themen und Diskursen er- schliesst sich internationale Musikpädagogik und man wird zur aktiven Teil- nahme befähigt. Ergänzt werden sollten diese Sozialisationsprozesse durch die Mitgliedschaft in internationalen Verbänden wie der International Society for Music Education (ISME) oder der Teilnahme an internationalen Tagungen, bei- spielsweise der alle zwei Jahre stattfindenden ISME World Conference. Diese wissenschaftlichen Sozialisationsprozesse unterstützen auch die Entwicklung eines Global Mindsets. Es umschreibt eine globale Denkweise im Sinne einer Offenheit für Diversität, über die kultursensible Menschen verfügen. Kultursen- sibel zu sein umfasst die Fähigkeit, unterschiedliche Blickwinkel einnehmen zu können, auch verschiedene Wertesysteme zu schätzen. In Anlehnung an Bour- dieus Differenzierungen werden drei verschiedene Aspekte des Global Mind- sets unterschieden (Clapp-Smith, Luthans, Avolio, 2007): das psychologische, das intellektuelle und das soziale Kapital. Das psychologische Kapital umfasst persönliche Einstellungen wie Neugier und Flexibilität, Empathie, Interesse an kultureller Diversität sowie Respekt vor anderen Wertesystemen. Das intellek- tuelle Kapital ist gekennzeichnet durch Wissen über verschiedene Schulsysteme, Unterrichts- und Wissenschaftskulturen. Soziales Kapital beschreibt die Bezie- hungen und Netzwerke, die aufgebaut und erhalten werden müssen, um wissen- schaftlich erfolgreich sein zu können. Was bedeutet das Global Mindset nun im Kontext von Musikpädagogik? Es beschreibt eine Offenheit für verschiedene Unterrichts- und Wissenschafts- kulturen. Es bezieht sich auch auf eine interkulturelle Lernbereitschaft, wenn beispielsweise Kommunikationen durch Sprachprobleme erschwert oder alter- native Meinungen kaum nachvollzogen werden können. Die Entwicklung eines Global Mindsets unterstützt eine kultursensible Internationalisierung von Mu- 192 sikpädagogik, bei der die eigenen nationalen Perspektiven aber auch bewusst in den internationalen Diskurs eingebracht werden sollten. Dies alles ist Teil einer kritischen Internationalisierung von Musikpädagogik, die zu mehr Forschung und zur Entwicklung einer entsprechenden Forschungsagenda führen sollte. In deren Mittelpunkt könnte die Untersuchung von nationalen Besonderheiten, etwa von musikpädagogischen Unterrichts- und Wissenschaftskulturen in ver- schiedenen Ländern, stehen – aber auch das, was uns verbindet. Durch Semi- nare oder Workshops zu Musikpädagogik in einzelnen Ländern und den Bedin- gungen einer kritischen Internationalisierung kann die Entwicklung des Global Mindsets von Musikpädagog/-innen gefördert werden, so dass sie einen Beitrag zur Verbesserung von Musikpädagogik weltweit leisten können, ohne ihre eige- nen musikpädagogischen Wurzeln zu vergessen. Ausblick Die Frage, wie mit musikpädagogischen Unterrichts- und Wissenschaftskulturen im Kontext von Internationalisierung und Globalisierung umgegangen werden soll, ist nicht leicht zu beantworten. Wichtig ist aber, dass Musikpädagog/-innen lernen, international zu denken und international wissenschaftlich aktiv zu sein. Das beinhaltet, die eigenen Unterrichts- und Wissenschaftskulturen zu unter- suchen, zu bewahren, aber auch zu verändern und in den internationalen Diskurs einzubringen. Dadurch wird die Diversität internationaler Musikpädagogik ge- fördert und Alternativen zu Ideen und Konzepten angloamerikanischer Musik- pädagogik aufgezeigt. Insgesamt ist aber mehr Forschung notwendig, die untersucht, wie eine kultur- sensible Internationalisierung von Musikpädagogik aussehen könnte. Canagara- jah (2005, S. 20) zeigt folgende Möglichkeiten auf: «It is possible to develop a pluralistic mode of thinking where we celebrate differ- ent cultures and identities, and yet engage in projects common to our shared hu- manity. Breaking away from the history of constructing a globalized totality with uniform knowledge and hierarchical community, we should envision building a network of multiple centers that develop diversity as a universal project and en- courage an actively negotiated epistemological tradition.» Es kann also ein sinnvoller Weg sein, internationale Forschungszentren aufzu- bauen und einen Dialog über das zu beginnen, was uns verbindet beziehungs- weise unterscheidet. In diesem Kontext ist auch der Schweizer Beitrag zur inter- nationalen Musikpädagogik wichtig. Gerade im Hinblick auf kulturelle Vielfalt, Mehrsprachigkeit, den Umgang mit Föderalismus oder auch dem Verhältnis von schulischem und ausserschulischem Musikunterricht könnten Schweizer 193 Musikpädagog/-innen einen bedeutsamen Beitrag zum internationalen Diskurs leisten. Es ist wichtig, dass mehr Schweizer Musikpädagog/-innen international aktiv sind und mit ihren Perspektiven Musikpädagogik weltweit bereichern und verbessern helfen – auch wenn es vielleicht manchmal so scheint, als wäre der Fokus auf die Entwicklung von Musikpädagogik als wissenschaftliche Disziplin in der Schweiz wichtiger. Internationalisierung ist ein langwieriger Prozess, ein Veränderungsprozess von Musikpädagogik als Wissenschaft und auch ein Lernprozess einzelner Musikpädagog/-innen, dessen Dynamik sich niemand wirklich entziehen kann. Man kann diesen Prozess aber mitgestalten und so Einfluss auf ihn nehmen, um eine kultursensible Internationalisierung von Musikpädagogik zu ermöglichen, die musikpädagogische Unterrichts- und Wissenschaftskulturen weltweit ver- bessern hilft. Literaturangaben Canagarajah, A. S. (2005). Reconstructing local knowledge, reconfiguring language studies. In A. S. Canagarajah (Hg.), Reclaiming the Local in Language, Policy and Practice (S. 3–24). 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Während elf Jahren unterrichtete er Musik an einer Sekundarschule. 2018 promovierte er mit einer Dissertation zum Thema «Hegemonie im Musikunterricht – Ein Bei- trag zur Befremdung der eigenen Kultur». Marc-Antoine Camp (Prof. Dr.) promovierte an der Universität Zürich nach einem Studium in Historischer Musikwissenschaft, Musikethnologie und Ethno- logie. Weitere Studien absolvierte er in Brasilien (Universidade Federal de Minas Gerais, UFMG, Universidade de São Paulo, USP). Er war Assistent am Musiketh- nologischen Archiv der Universität Zürich. Seine Publikationen befassen sich mit musikpädagogischen Fragen und der Vermittlung des immateriellen Kulturerbes. Sabine Chatelain (PhD) est professeure associée à la Haute école pédagogique du canton de Vaud (HEP Vaud, Suisse) où elle enseigne la didactique de la mu- sique. Après une longue pratique dans l’enseignement de la musique à tous les niveaux de l’école obligatoire et postobligatoire en Allemagne et en Suisse ro- mande, elle se consacre désormais à la formation des enseignants de musique. Elle est cofondatrice du laboratoire CREAT (HEP Vaud). Ses recherches portent sur les liens entre la musique et d’autres disciplines, notamment avec les arts vi- suels, ainsi que sur la créativité et la création dans l’enseignement de la musique à l’école. Beat Hofstetter (Prof.) studierte Saxophon, Blasmusikdirigieren und Schulmu- sik an der Musik-Akademie Basel, Saxofon und Dirigieren an der Northwestern University in Chicago und schloss mit dem Master of Music ab. Er ist Preisträ- ger mehrerer Wettbewerbe, Mitbegründer des ARTE Quartetts und Dirigent verschiedener Orchester und Ensembles. Von 1999 bis 2009 war er Professor für Fachdidaktik Musik an der Pädagogischen Fachhochschule Nordwestschweiz. Seit 1993 ist er Professor an der Hochschule Luzern. Seit 1999 ist er Studien- gangleiter und Professor für Schulmusik I und II an der Hochschule für Musik/ FHNW. Darüber hinaus leitet er Weiterbildungen und Schulentwicklungspro- gramme für Musik- und Maturitätsschulen. 197 Jürg Huber hat Schulmusik und Dirigieren an der Akademie für Schul- und Kir- chenmusik Luzern sowie Musikwissenschaft, Musikethnologie und Medienlin- guistik an der Universität Zürich studiert und unterrichtete an verschiedenen Gymnasien und Seminaren. Schwerpunkt seiner derzeitigen Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Hochschule Luzern ist die Schulmusik. Weiter unterrich- tet er Musikgeschichte an der Pädagogischen Hochschule Luzern, arbeitet als Musikj ournalist und ist als Ensembleleiter aktiv. François Joliat (Prof. Dr.) est professeur pour le domaine ARTS à la Haute école pédagogique des cantons de Berne, Jura et de Neuchâtel (HEP-BEJUNE). For- mateur d’enseignants et chercheur, il a publié plusieurs ouvrages qui traitent de la professionnalisation des enseignants de musique, de nombreux articles scien- tifiques sur l’expertise musicale, la didactique de la musique ainsi que du maté- riel d’enseignement de la musique. Il est chargé d’enseignement de la recherche au Conservatoire national supérieur de musique et de danse de Paris (CNSMDP). Alexandra Kertz-Welzel (Prof. Dr.) ist Professorin und Leiterin des Institutes für Musikpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 2002 bis 2005 war sie Gastwissenschaftlerin an der University of Washington in Seattle, USA. Zu ihren Forschungsinteressen zählen die Bereiche Internationale Musikpädagogik, Philosophy of Music Education, Music Education Policy und Community Music. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen, darunter Globali- zing Music Education. A Framework (Bloomington 2018).Von 2016 bis 2018 war sie Co-Vorsitzende der Forschungsgruppe zu Music Education Policy der Inter- national Society for Music Education, von 2017 bis 2019 Vorsitzende der Inter- national Society for the Philosophy of Music Education. Christoph Marty studierte Klarinette und Schulmusik II an der Hochschule Lu- zern – Musik und schloss beide Studien erfolgreich ab. Er arbeitet als wissen- schaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Luzern – Musik, wo er einen CAS Musikforschung absolviert hat. Er unterrichtet an der Musikschule Schwyz und ist als freischaffender Musiker tätig. Gabriele Noppeney, Dozentin für Musikpädagogik am Institut für Sekundar- stufe I und ll der Fachhochschule Nordwestschweiz und Referentin in der Leh- rerfortbildung, hat sich als Lehrerin für Musik und Englisch an einem Berliner Gymnasium mit bilingualem Zug sowie in der Hochschule intensiv mit Fragen des bilingualen Musikunterrichts beschäftigt. 198 Dieter Ringli (Dr.) studierte Musikwissenschaft, Musikethnologie und Philoso- phie in Zürich und promovierte 2003 mit einer Dissertation über die Geschichte der Schweizer Volksmusik. Er arbeitete als Oberassistent am Ethnologischen Seminar der Universität Zürich, als Forschungsdozent an der Hochschule Lu- zern – Musik und ist heute als Dozent für Popästhetik, Musikethnologie und Forschungsmethodik sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zürcher Hochschule der Künste und als freischaffender Musiker tätig. Stefanie Stadler Elmer (Prof. Dr. Dr. h. c.) ist Forschungsprofessorin für Fach- didaktik der Künste an der Pädagogischen Hochschule Schwyz und Titularpro- fessorin für Psychologie an der Universität Zürich. Ihre Forschungsinteressen sind vokale, affektive und kulturelle Entwicklung, Musikdidaktik, räumliches Darstellen und Zeichnen, strukturgenetische Theorie, Ästhetik, Forschungs- methoden und Erkenntnistheorie. Regula Steiner hat nach einer kaufmännischen Grundausbildung und mehrjäh- riger Berufserfahrung im In- und Ausland an der Pädagogischen Hochschule Luzern studiert und die Lehrbefähigung auf der Sekundarstufe in den Fächern Musik, Geschichte, Englisch und Deutsch erlangt. Ab 2010 unterrichtete sie an Volksschulen im Kanton und in der Stadt Luzern. Seit Februar 2017 ist sie tätig als Assistentin der Leitung im Kompetenzzentrum Forschung Musikpädagogik an der Hochschule Luzern. Au bénéfice d’une licence et d’un diplôme en psychologie ainsi que d’un certi- ficat en théorie musicale, Madeleine Zulauf a travaillé comme psychologue cli- nicienne puis comme chef de projets de recherche et enfin comme professeur de psychologie, pédagogie et méthodologie de la recherche dans plusieurs hautes écoles. Conférencière et auteure de nombreuses publications en éducation musi- cale, elle a aussi réalisé des expertises d’institutions de formation et conduit des études sur les systèmes éducatifs. Elle est directrice du bureau Formation Mu- sique Recherche Zulauf, qu’elle a fondé en 2002 (www.fmrzulauf.ch, fmrzu- lauf@gmail.com). Jürg Zurmühle (Prof.) ist Leiter der Professur Musikpädagogik des Instituts Pri- marstufe der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz und Präsident des Verbands Fachdidaktik Musik Schweiz (vfdm.ch). Er ist als Flötist und Shakuhachispieler in verschiedenen Formationen aktiv. 199