Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Mit Fokus auf Unterstützungsbedürfnisse von jungen Menschen mit Mehrfachproblematiken Impressum Begleitgruppe Projektleitung Claudia Almy, Sozialhilfe Winterthur; Fernanda Benz, Gabriela Felder, Nationale Plattform gegen Armut, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV); Beda Furrer, Bundesamt für Sozialversicherungen Case Management Berufsbildung BE; Patricia Furrer, Mütter-in-Ausbildung (MiA) Innerschweiz; Karin Hunziker, Gisela Hochuli, Forschung und Evaluation, Caritas Luzern; Bruno Kunz, maxi.mumm Langenthal; Bundesamt für Sozialversicherungen Eva Schaffner, Erziehungsdirektorenkonferenz; Christoph Walter, JuAr Basel;Thomas Vollmer, BSV; Laurence Dévaud, SECO;Nadia Jaggi, Bundesamt für Gesundheit; Tindaro Ferraro, Auskünfte Staatssekretariat für Migration; Monika Tschumi, BSV Bundesamt für Sozialversicherungen, Geschäftsfeld Familie, Generationen und Gesellschaft, Nationale Plattform gegen Mitwirkende Armut, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Tel. +41 (0) 58 462 75 94, E-Mail: gegenarmut@bsv.admin.ch – Sieben junge Mütter und fünf junge Erwachsene aus den Kantonen Basel-Stadt und Luzern – 15 Fachpersonen aus der Deutschschweiz, 13 aus Copyright französischsprachigen Kantonen, 12 aus dem Tessin (je aus Kantonen, Städten, Gemeinden oder privaten Bundesamt für Sozialversicherungen, 3003 Bern Organisationen der beruflichen und sozialen Integration) – 11 Fachpersonen aus dem Kanton Basel-Stadt und 5 Fach- Auszugsweiser Abdruck – ausser für kommerzielle Nutzung – personen aus dem Kanton Genf aus den Bereichen Berufs- unter Quellenangabe und Zustellung eines Belegexemplars an bildung, Sozialhilfe, Gesundheit, Arbeitslosenversicherung, das Bundesamt für Sozialversicherungen gestattet. Invaliden versicherung und Jugendarbeit – Punktuell weitere Fachpersonen der Bundesverwaltung Gestaltung Ihnen allen gebührt ein besonderer Dank! Cavelti AG, 9201 Gossau Autorinnen Kostenlose Bestellung und Download Dorothee Schaffner, Rahel Heeg, Lalitha Chamakalayil, Magdalene Schmid BBL, Verkauf Bundespublikationen, 3003 Bern, www.bundespublikationen.admin.ch Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwest- schweiz FHNW Bestellnummer: 318.870.6D Download unter www.gegenarmut.ch › Berufswahl/-einstieg Quelle in Deutsch, Französisch und Italienisch Schaffner Dorothee, Heeg Rahel, Lalitha Chamakalayil, Schmid Magdalene (2022): «Unterstützung von Jugendlichen und jungen Menschen mit Mehrfachproblematiken an den Naht- stellen I und II». Nationale Plattform gegen Armut. Hrsg. BSV, Beiträge zur sozialen Sicherheit, Forschungsbericht 2/22 Vorwort Bis ins Alter von 25 Jahren findet das Gros der jungen Menschen den Weg von der obliga­ torischen Schule in eine berufliche Grundbildung und in die Arbeitswelt. Sie schaffen damit eine wichtige Grundlage für ihr späteres Berufsleben. Ein Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist allerdings auf diesem Weg mit grösseren Problemen in mehreren Lebens­ bereichen konfrontiert. Warum sie bis 25 keinen Abschluss auf Sekundarstufe II erreichen, hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie der sozialen Herkunft, psychosozialen Belastun­ gen, der Aufenthaltsdauer in der Schweiz und den Bildungsverläufen während der obligato­ rischen Schulzeit. Gemeinsam ist diesen jungen Menschen, dass sie häufig Schwierigkeiten haben beim Einstieg in die Arbeitswelt und – oft ein Leben lang – einem höheren Armuts­ risiko ausgesetzt sind. Damit ihnen der Berufsstart dennoch gelingt, benötigen sie oft inten­ sive oder auch längerfristige Unterstützung aus verschiedenen Hilfesystemen. Dabei geht es nicht nur um berufliche Integration. Viel dringlicher ist häufig, dass sie Unterstützung finden dabei, in unterschiedlichen Lebensbereichen Tritt zu fassen. Die Begleitung dieser jungen Menschen ist herausfordernd für ihr Umfeld und für die Akteure der Hilfssysteme. Der vorliegende Leitfaden will Herangehensweisen und Lösungsansätze aufzeigen. Er richtet sich an Führungskräfte und Fachpersonen der strategischen Steuerung, der Fallführung und der Fallbegleitung in Übergangs­ und Hilfesystemen aus Kantonen, Städten und Gemeinden sowie an spezialisierte Akteure der sozialen und beruflichen Integra­ tion und Interessierte. Ihnen bietet der Leitfaden Anregungen für die kritische Selbstreflektion und Weiterentwicklung ihrer Hilfsstrukturen. Im Namen der Steuergruppe der Nationalen Plattform gegen Armut Astrid Wüthrich Vizedirektorin Bundesamt für Sozialversicherungen und Leiterin Geschäftsfeld Familie, Generationen und Gesellschaft Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 3 Inhaltsverzeichnis Was der Leitfaden bietet und an wen er sich richtet 6 Ziele des Leitfadens 6 Zielpublikum des Leitfadens 6 Handlungsebenen und Zuständigkeiten 7 Teil 1: Merkmale erfolgversprechender Übergangssysteme 8 Zentrale Grundsätze bei Mehrfach problematiken 9 Übersicht zu Erfolgsfaktoren von Übergangssystemen 9 Erfolgsfaktoren auf Ebene der strategischen Steuerung (E0) 10 Erfolgsfaktoren auf Ebene der Fallführung (E1) 11 Erfolgsfaktoren auf Ebene der Fallbegleitung (E2) 12 Teil 2: Mehrfachproblematiken und Übergänge – was Sie wissen sollten 14 Mehrfachproblematiken verstehen und erfassen 15 Unterstützung im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 18 Unterstützungsangebote aus Sicht von Betroffenen und Fachpersonen 20 Wie Fachpersonen die Angebote im Übergangssystem einschätzen 21 Beispiele innovativer Übergangss ysteme 23 Anhang 26 Praxisbeispiele zu einzelnen Erfolgsfaktoren 27 Rechtliche Rahmenbedingungen und Tätigkeiten auf Bundesebene 33 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 5 systeme in Kantonen entlang der Nahtstellen I und II vorgestellt, Was der Leitfaden bietet mit dem Ziel, die Unterstützung von jungen Menschen mit und an wen er sich richtet Mehrfachproblematiken zu verbessern. In Teil II folgen wichtige Hintergrundinformationen aus der zugrunde liegenden Studie (Schaffner, Heeg, Chamakalayil, Schmid 2022). Möglichst alle jungen Menschen sollen eine nachobligatorische Teil I: Ausbildung absolvieren – dieses Ziel wird breit geteilt. Ein Ab- • nennt Erfolgsfaktoren zur Weiterentwicklung der kantonalen schluss auf Sekundarstufe II (berufliche Grundbildung oder All- Übergangssysteme auf unterschiedlichen Ebenen (S. 8–13) gemeinbildung) sichert die nachhaltige berufliche Integration und ist damit eine wichtige Basis zur Existenzsicherung. Gleich- Teil II: zeitig sind die Anforderungen in der Berufsbildung und Arbeits- • befasst sich mit dem Verständnis und der Erfassung von Mehr- welt gestiegen. Ausbildungswege sind deshalb insgesamt fachproblematiken (S. 14–18) komplexer und länger geworden. Dies stellt viele Jugendliche • bietet einen Überblick über die zentralen Unterstützungs- vor erhöhte Herausforderungen, erfordert von ihnen viel Flexi- angebote im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt bilität und bringt längere Suchprozesse mit sich. Insbesondere (S. 18–20) bei jungen Menschen mit Herausforderungen in verschiedenen • gibt in kompakter Weise Einblick in die Lebenssituation von Lebensbereichen – sog. Mehrfachproblematiken – können sich jungen Menschen mit Mehrfachproblematiken (S. 20–21) die Bildungsverläufe weit ins Erwachsenenalter ausdehnen. • macht aktuelle Herausforderungen des Übergangssystems in der Begleitung von jungen Menschen mit Mehrfachproble- Weil sich ein fehlender Ausbildungsabschluss nachhaltig auf matiken sichtbar (S. 21–23) den Lebensverlauf auswirkt und hohe Kosten für die Systeme • liefert Einblicke in zwei kantonale Beispiele (S. 23–25) der sozialen Sicherheit entstehen können, sind Investitionen in die berufliche und soziale Integration bei jungen Menschen wichtig. Ergänzend zum Berufsbildungssystem etablierte sich Zielpublikum des Leitfadens in der Schweiz ein vielfältiges Hilfesystem für junge Menschen mit Schwierigkeiten bei der Berufsintegration. Das sogenann- Der Leitfaden richtet sich erstens an kantonale und kommuna- te Übergangssystem wird von kantonalen Akteuren aus den le Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger auf Bereichen Bildung/Berufsbildung, Arbeit/Wirtschaft, Soziale der Ebene der strategischen Steuerung, das heisst Amts- und Sicherheit, Gesundheit, Integration und Migration bereitgestellt. Stellenleitungen der Berufsbildungs-, Arbeitsmarkt-, Invaliden- Übergreifendes Ziel ist, dass möglichst allen ein Abschluss auf versicherungs-, Sozial- oder Migrations-/Integrationsbehörden. Sekundarstufe II gelingt. Zu den Angeboten zählen bspw. Brü- Sie gestalten Hilfen in den kantonalen Übergangssystemen – ckenangebote, Motivationssemester, Berufsintegrationsangebo- unter Beachtung der nationalen Vorgaben – und setzen sie auf te, das Case Management Berufsbildung oder Beratungs- und kantonaler und kommunaler Ebene operativ um. Coachingangebote. Bundesgesetzgebungen strukturieren das Übergangssystem, umgesetzt wird es in den Kantonen, gemein- Zweitens adressiert der Leitfaden Fachpersonen auf Ebene sam mit den Städten und Gemeinden. von fallführenden Stellen, welche Klientinnen und Klienten mit Mehrfachproblematiken beraten, sowie von auftraggeben- Die Angebote im Übergang in die nachobligatorische Ausbil- den Stellen, welche Leistungsaufträge an spezialisierte Ange- dung (Nahtstelle I), während der Ausbildung und im Übergang bote vergeben. in die Erwerbsarbeit (Nahtstelle II) bieten einem grossen Teil der jungen Menschen geeignete Unterstützung im Berufsfindungs- Drittens bietet der Leitfaden Überlegungen, wie sich Fach- prozess. Trotz des umfangreichen Angebots im Übergangssys- personen auf Ebene von spezialisierten Angeboten bei der tem bestehen aber Lücken, insbesondere für junge Menschen Weiterentwicklung im System aktiv einbringen und mit auftrag- mit Mehrfachproblematiken. Diese jungen Menschen benöti- gebenden und fallführenden Stellen über geeignete Rahmen- gen individuelle, bedarfsorientierte Hilfen aus verschiedenen In- bedingungen diskutieren können. Das sind Fachpersonen, wel- stitutionen. Hierbei stösst das gegenwärtige Übergangssystem che junge Menschen in Beratungssettings, Zwischenlösungen, an Grenzen. Der Leitfaden setzt hier an und fokussiert auf die Angeboten der beruflichen und sozialen Integration oder im Optimierungen des Systems. Rahmen der Volksschule oder Berufsbildung begleiten. Für die Bereitstellung von Hilfen für junge Menschen mit Mehr- Ziele des Leitfadens fachproblematiken in den Kantonen sind somit alle drei Ebenen entscheidend. Alle drei leisten unterschiedliche Beiträge für eine Der Leitfaden bietet Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung erfolgreiche Problembewältigung. Der Leitfaden bietet Ansatz- von kantonalen Übergangssystemen. Der Fokus liegt dabei auf punkte dazu, wie die Übergangssysteme zielgerichtet und wir- der Koordination und Verknüpfung der Hilfen. In Teil I werden kungsvoll zugunsten junger Menschen mit Mehrfachproblema- konkrete Anregungen zur Weiterentwicklung der Übergangs- tiken weiterentwickelt werden können. 6 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Tabelle 1: Zielpublikum auf drei zentralen Ebenen bestehen und welche weiteren sind allenfalls nötig? Gerade am Beispiel von jungen Menschen mit Mehrfachproblematiken lässt Ebene der Politiker, Entscheidungsträgerin- sich jedoch gut zeigen, dass eine gelingende Unterstützung strategischen nen und -träger aus den Bereichen mehr beinhaltet: Es müssen passende Angebote vorhanden Steuerung Volksschul-, Mittelschul- und Berufs- sein, diese müssen zugänglich sein, und bei mehrfachen Unter- Departements- und bildung, Arbeit (ALV), Invalidenver- stützungsbedarfen müssen die unterschiedlichen Hilfen sinn- Amtsleitungen sicherung (IV), Soziales (Sozialhilfe), voll miteinander verknüpft werden können. Es braucht somit Migration, Gesundheit, Kinder- Entwicklungen im gesamten System. Aus diesem Grund liegt und Jugenddienste, Kindes- und der Fokus des vorliegenden Leitfadens auf dem Gesamtsystem Erwachsenenschutzbehörde (KESB), und den Entwicklungsmöglichkeiten auf verschiedenen System- Jugendstaatsanwaltschaft ebenen. Unterschieden werden drei zentrale Ebenen: Ebene der Fachpersonen, die für die Fall- Fallführung führung zuständig sind, beraten, Tabelle 2: Ebenen kantonaler Übergangssysteme Ämter, Dienste, abklären, Leistungen sprechen, Fachstellen Leistungsverträge mit Anbieten- Ebene der strategischen • Gesamtverantwortung für Lösung den abschliessen, z. B. Verantwort- Steuerung (E0) von strukturellen Problemen liche der Berufs-, Schul- und Lauf- Departements- und • systemübergreifende, politisch bahnberatungsstellen, des Case Amtsleitungen abgestützte Zielsetzungen Managements Berufsbildung oder • Festlegung von Rahmenbedingun- von Fachstellen wie RAV, IV, soziale gen und Aufträgen Dienste/Sozialbehörden, regionale • Regelung der interinstitutionellen KESB-Dienste, jugendpsychiatrische Zusammenarbeit und Bereitstellung Dienste von Hilfen Ebene der Fachpersonen, die die Betroffenen Horizontale und vertikale Kooperation Fallbegleitung begleiten, aber nicht fallführend Spezialisierte sind, z. B. in der Schulsozialarbeit, Ebene der Fallführung • Zuständigkeit für Fallführung Anbietende Jugendarbeit, in Brückenangebo- (E1) und Finanzierung von Massnah- ten, Motivationssemestern und Ämter, Dienste, Fachstellen men (Angebote Ebene 2 und weiteren Berufsintegrationsange- Einzelfallhilfen) boten der IV, Sozialhilfe oder der • Organisation der interinstitutionellen Einzelfallbegleitung Zusammenarbeit zwischen unter- schiedlichen Ämtern/Fachstellen Auf nationaler Ebene legen Parlament, Bundesrat sowie Bundes- ämter über die Gesetzgebung (z. B. IVG, AVIG, BBG) und Aus- Horizontale und vertikale Kooperation führungsbestimmungen wichtige Rahmenbedingungen fest (s. Anhang). Sie legen somit die Handlungsspielräume für die Ebene der Fallbegleitung • Angebote, Projekte zur Unterstüt- Umsetzung in den Kantonen fest. Diese Eckwerte sind bei Wei- (E2) zung von jungen Menschen mit terentwicklungen in Richtung der nachfolgenden Empfehlun- Spezialisierte Anbietende Mehrfachproblematiken bei der gen selbstverständlich mit zu berücksichtigen. Berufs- und Arbeitsintegration Die Gestaltung und Umsetzung von Übergangssystemen sind stark Auf der strategischen Ebene werden Entscheidungen für die Be- kantonal geprägt, sei es durch kantonale Spezialgesetzgebungen reitstellung von Hilfen und die interinstitutionelle Kooperation (z. B. Sozialhilfegesetze) oder dadurch, dass Kantone federführend getroffen (E0). Hieraus werden Aufträge an die Ebene 1 erteilt Bundesgesetzgebungen (z. B. AVIG, IVG, BBG) umsetzen. Der Leitfa- und Rahmenbedingungen für die Ebenen 1 und 2 festgelegt. den richtet sich an entsprechende Stellen in den Kantonen, Städten Auf der fallführenden Ebene (E1) setzen die involvierten Fach- und Gemeinden sowie an die Anbietenden von Hilfen. stellen, Dienste u. a. die interinstitutionelle Kooperation um und koordinieren die Unterstützungsangebote im Einzelfall. Auf Ebe- ne der Fallbegleitung (E2) in Angeboten der beruflichen (und Handlungsebenen und sozialen) Integration werden die jungen Menschen von speziali- Zuständigkeiten sierten Anbietenden begleitet und gecoacht bei der Umsetzung von ausbildungsbezogenen Zielen. Bei der Weiterentwicklung von Unterstützungsangeboten in den Übergängen Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt liegt der Entscheidend für gelingende Unterstützung bei Mehrfachprob- Fokus in der Regel auf den konkreten Unterstützungsangeboten, lematiken ist sowohl die Qualität der Arbeit auf den verschiede- nicht jedoch auf Fragen des Zugangs zu bedarfsorientierter Hilfe. nen Ebenen als auch die Qualität der Kooperationen zwischen Im Fokus steht dann die Frage: Welche Unterstützungsangebote den Ebenen. Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 7 TEIL 1 MERKMALE ERFOLGVERSPRECHENDER ÜBERGANGSSYSTEME 8 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt In diesem Teil werden Merkmale für erfolgversprechende Über- als punktuelle Regulierungen und Anpassungen auf Ebene der gangssysteme bei Mehrfachproblematiken vorgestellt. Aus- einzelnen Angebote es sind. gangspunkt bot die Analyse der Situation von jungen Menschen mit mehrfachem Unterstützungsbedarf (vgl. S. 20–21). An dieser Gruppe vulnerabler Personen lassen sich Grenzen im Hilfesystem Übersicht zu Erfolgsfaktoren von besonders deutlich zeigen. Aus Diskussionen mit Fachpersonen Übergangssystemen aller Ebenen (vgl. S. 21–23) sowie der Suche nach innovativen Beispielen (vgl. S. 23–25) liessen sich erfolgv ersprechende Nachfolgend werden basierend auf zwei Praxisbeispielen der Merkmale im Umgang mit Herausforderungen identifizieren. Kantone Basel-Stadt und Genf (vgl. Seiten 23 und 25) Erfolgs- Die Schlussfolgerungen sind über diese Gruppe hinaus für die faktoren von Übergangssystemen auf unterschiedlichen Ebenen Weiterentwicklung von Übergangssystemen i nsgesamt relevant. benannt. «Erfolg» bezieht sich hier auf die zentralen Grundsätze bedarfsgerechter und koordinierter Hilfen. Der Fokus der Erfolgs- faktoren liegt entsprechend auf der Ebene der Systeme/der Ver- Zentrale Grundsätze bei netzung. Mehrfachp roblematiken Niederschwelligkeit meint Unterstützungsangebote, die Barrieren Für eine erfolgsversprechende Unterstützung von jungen Men- und Hürden für Adressatinnen und Adressaten abbauen und Zugänge schen mit Mehrfachproblematiken sind zwei übergreifende möglichst unbürokratisch, offen und lebensweltnah schaffen, d. h. An- Grundsätze zentral: gebote mit kleinen Zugangshürden, die bedarfsorientiert ausgerichtet • bedarfsgerechte Abklärung/Beratung/Begleitung sind. Zentrale Prinzipen sind: gute Erreichbarkeit; Offenheit gegenüber • Fallkoordination über institutionelle Zuständigkeiten hinweg den Anliegen der Adressatinnen und Adressaten; wertschätzende, ressourcenorientierte Haltung; Partizipation; Freiwilligkeit; Transparenz; Bedarfsgerechte Abklärung/Beratung/ jugendgerechte Sprache und Informationen. Begleitung Junge Menschen mit Mehrfachproblematiken haben unter- schiedlichste Unterstützungsbedarfe und benötigen eine be- Tabelle 3: Übersicht über zentrale Erfolgsfaktoren darfsgerechte Abklärung, Beratung und Begleitung. Bedarfsge- recht sind sie, wenn: Ebene 0 Erfolgsfaktoren • alle relevanten Lebensaspekte und darin eingelagerte Prob- Strategische 1. Politischer Wille zur interdepartementalen leme berücksichtigt werden; Steuerung Kooperation und zur Regelung der • die Beratung und Begleitung niederschwellig, jugendgerecht interi nstitutionellen Zusammenarbeit und beziehungsorientiert ist; Departements- und 2. Regelung der Finanzierung • Hilfen aus unterschiedlichen Systemen zugänglich sind; Amtsleitungen • Hilfen bei Bedarf kombiniert, zeitlich flexibel und in der nöti- Ebene 1 gen Intensität bezogen werden können. Fallführung 3. U msetzung und Pflege der interinstitutionel- len Strukturen Eine Bedarfsorientierung bei der Abklärung und Beratung und Ämter, Dienste, eine zeitliche Flexibilisierung der Angebote stellen zentrale 4. Etablierung einer Case-Management-Struktur Fachstellen Elemente der Unterstützung bei Mehrfachproblematiken dar. 5. Schaffung einer vorgelagerten Erstanlaufstelle Die Flexibilisierung beinhaltet erstens eine flexible Dauer der zur niederschwelligen Abklärung Angebote (Verlängerungsoptionen bei Bedarf ) und zweitens 6. Sicherstellung von flexiblen Rahmenbedin- die Ausdehnung der Unterstützungsangebote über das 25. Al- gungen für fallbegleitende Angebote und tersjahr hinaus. Wie Erfahrungen im Kontext der Kinder- und die Koordination von Angeboten Jugendhilfe oder bei spätmigrierten Jugendlichen zeigen, kann Ebene 2 der erfolgreiche Übergang in die berufliche Grundbildung fünf und mehr Jahre dauern. Junge Menschen mit Mehrfachproble- Fallbegleitung 7. Sensibilisierung von Fachpersonen für Mehr- matiken müssen darum auch deutlich nach dem 20. Altersjahr fachproblematiken entlang den Nahtstellen I die Möglichkeit haben, eine Ausbildung zu absolvieren. Spezialisierte und II Anbietende 8. Entwicklung von neuen Formen von Koordination über institutionelle Integrationsangeboten Zuständigkeiten hinweg 9. Stärkung der Anliegen der spezialisierten Für die bedarfsgerechte Unterstützung ist die Koordination von Angebote in Interessenverbänden Hilfen auf Ebene 1 und 2 zentral. Dies setzt eine geregelte inter- institutionelle Kooperation voraus. Die Regelung der interde- partementalen und interinstitutionellen Zusammenarbeit – im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten – ist deshalb wichtiger Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 9 Deutlich wird in den Erfolgsfaktoren: Es geht um die Weiterent- Neben den Kooperationen innerhalb des Hilfesystems muss wicklung im System und nicht um die Frage, wie einzelne Hilfe- auch die Zusammenarbeit mit Partnern aus Wirtschaft und angebote konkret gestaltet werden sollten. Denn bei komple- Berufsbildung (z. B. mit Verbänden und Ausbildungsbetrieben) xem Hilfebedarf ist nicht allein die Qualität einer einzelnen Hilfe gepflegt werden. Die Ebene der strategischen Steuerung soll entscheidend, sondern insbesondere die sinnvolle Verknüpfung auch in diesem Bereich für gute Rahmenbedingungen der Zu- verschiedener Unterstützungsangebote. sammenarbeit sorgen. Erfolgsfaktor 2: Regelung der Finanzierung Erfolgsfaktoren auf Ebene der Wichtig sind Regelungen dazu, wie die übergeordneten Struk- strategischen Steuerung (E0) turen finanziert werden, bspw. durch Umverteilung, Zusammen- führung, Neubudgetierung. Ein kantonales Finanzierungsmodell Von hoher Bedeutung für ein funktionierendes kantonales und für Projekte und für erhöhte Fallpauschalen bei besonderem kommunales Übergangssystem ist die Ebene der strategischen Bedarf kann kommunale und institutionelle Unterschiede aus- Steuerung. Diese Ebene: gleichen. Im Kanton Genf erfolgt die Finanzierung durch Zu- • trägt eine übergreifende Verantwortung für die gemeinsame sammenlegen von Ressourcen der Partnerorganisationen aus Lösung der aktuellen gesellschaftlichen und strukturellen unterschiedlichen Bereichen. Im Kanton Basel-Stadt wurde ein Probleme (Gesamtstrategie); Krisenfonds zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit ein- • schafft kantonale Rahmenbedingungen für eine strukturell gerichtet, um bei Bedarf Pilotprojekte finanzieren zu können. verankerte und verbindliche interinstitutionelle Kooperation; Es empfiehlt sich, ergänzend einen Ressourcenpool (Personal, • schafft Rahmenbedingungen für ein wirksames Case Manage- Sachkosten) für bedarfsorientierte Fallbegleitungen einzurich- ment. ten. Die strategische Ebene trifft Grundsatzentscheide darüber, unter Reflexionsfragen für Entscheidungsträgeri nnen welchen Bedingungen junge Menschen mit Mehrfachproble- und Entscheidungsträger matiken welche Unterstützung erhalten. In Bezug darauf sind • Problem- bzw. Situationsanalyse: Wie ist die Lage ent- auf dieser Ebene folgende zwei Faktoren massgeblich: lang der Nahtstellen  I und II zu beurteilen? Wie viele junge Menschen haben Schwierigkeiten an diesen Nahtstellen? Ebene 0 Erfolgsfaktoren Welche Gruppen sind speziell herausgefordert oder welche Strategische 1. P olitischer Wille zur interdepartementalen Benachteiligungen lassen sich entlang von Merkmalen wie Steuerung Kooperation und zur Regelung der inter- Schulabschluss, Gender, Migrationshintergrund, soziale Her- Departements- und institutionellen Zusammenarbeit kunft erkennen? Welche gesamtgesellschaftlichen und/oder Amtsleitungen wirtschaftlichen Entwicklungen stehen damit im Zusammen-2. R egelung der Finanzierung hang? • Analyse Unterstützungssystem: Welche Unterstützungs- angebote bestehen im Kanton oder in der Region? Welche Erfolgsfaktor 1: Politischer Wille zur interdeparte- jungen Menschen mit Mehrfachproblematiken werden damit mentalen Kooperation und zur Regelung der gut erreicht, welche weniger? Wie können unterschiedliche inter institutionellen Zusammenarbeit Hilfen miteinander verknüpft werden? Wo bestehen Lücken, Es ist Aufgabe der kantonalen Politik und der Amtsleitungen, zeigt sich Entwicklungsbedarf? für angemessene Rahmenbedingungen für interinstitutionelle • Rechtliche Grundlagen im Kanton überprüfen: Sind die Zusammenarbeit zu sorgen. Dazu gehört die Klärung von Pro- kantonalen Gesetze, Verordnungen und Reglemente (Sozial- zessen, Finanzierungsmechanismen, Aufgaben, Zuständigkeiten hilfe, ALV, Berufsbildung), soweit dies für eine verbindliche und Kompetenzen. interinstitutionelle Kooperation nötig ist, harmonisiert? Kön- nen rechtliche Rahmenbedingungen angepasst werden, um Gefordert ist nicht ein Gesamtumbau der Angebotslandschaft. systemübergreifende Hilfe bei Mehrfachproblematiken zu Es braucht vielmehr die Haltung, Massnahmen und Angebote erleichtern? im Übergangssystem als eine interinstitutionelle und interde- • Relevante Akteursgruppen bestimmen: Welche Akteure partementale Aufgabe zu verstehen. In einer breit abgestützten sind relevant für die Entwicklung einer verbindlichen kanto- Kultur der Zusammenarbeit sind gemeinsame Entwicklungen nalen Strategie im Übergangssystem oder in. einer gemein- des Übergangssystems möglich, können Ressourcen effizient samen Policy? Welche Akteure auf kommunaler Ebene sind genutzt und Angebote erfolgreich gesteuert werden (ge- einzubeziehen? Wer kann/soll/muss wann in welcher Weise meinsames Übergangsmanagement). Ein weiterer Vorteil einer eingebunden werden? Wo sind welche Widerstände zu er- interinstitutionellen kantonalen Strategie besteht darin, dass warten und wie kann diesen begegnet werden? bei neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklun- • Systemübergreifende Strategie: Inwiefern besteht ein gen (Zuwanderung, Inklusion) und in Krisen (bspw. Covid-19- politischer Wille für eine systemübergreifende Strategie zur Pandemie) vergleichsweise schnell Unterstützungsmassnahmen Weiterentwicklung des Übergangssystems? Welche Akteurs- in die Wege geleitet werden können. 10 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Erfolgsfaktor 3: Umsetzung und Pflege der gruppen unterstützen dies? Haben sich die Akteure auf ein interinstitutionellen Strukturen übergreifendes Ziel verständigt – bspw. «Bildung vor Arbeit»? • Steuerung der IIZ: Besteht ein interinstitutionelles Gremium, Während die Ebene der strategischen Steuerung für die Festle- das die Gesamtverantwortung für den Prozess der Strategie- gung der Rahmenbedingungen von Kooperationen für die fall- entwicklung trägt? Wenn ja: Sind alle relevanten Akteure ver- führende Ebene verantwortlich ist, sorgt die operative Ebene treten und ist das Gremium sinnvoll verankert? Wenn nicht: der fallführenden Stellen/Dienste für eine funktionierende und Wie müsste dies zusammengesetzt sein und verankert wer- verbindliche Kooperationsstruktur mit definierten Rollen/Kom- den? petenzen, Finanzierungsmodalitäten und Prozessen. Die Verant- • Einbezug der Ebene 1 und 2: Mit welchem Ziel, wann und wortung für die Kooperation kann bei einem interprofessionell wie sollen die fallführende und die fallbegleitende Ebene ein- zusammengesetzten Gremium liegen. bezogen werden? • Regelung der interinstitutionellen Kooperation: Wie wird Erfolgsfaktor 4: Etablierung einer die interinstitutionelle Kooperation auf Ebene 1 durch die Case-Management-Struktur Ebene 0 geregelt? Welche Formen der Zusammenarbeit sind Für eine erfolgversprechende Fallführung bei Mehrfachproble- für die jeweiligen bestehenden regionalen bzw. kantonalen matiken ist die Rolle des Case Managements Berufsbildung oder Strukturen praktikabel und sinnvoll? Wie werden Kompeten- weiterer Case-Management-Strukturen klar zu regeln – so wie es zen, Ressourcen und Aufgaben sowie Ziele in der interinsti- bei der Pilotierung des CM BB durch das SBFI empfohlen wurde. tutionellen Kooperationsstruktur verteilt, damit die interinsti- Das CM BB ist auf eine etablierte interinstitutionelle Kooperation tutionelle Zusammenarbeit gut gelingt? angewiesen, um Einzelfallhilfen bedarfsorientiert bereitstellen zu können. Wenn verschiedene einzelfallbezogene Kooperations- strukturen bestehen (z. B. Case Management Berufsbildung und Erfolgsfaktoren auf Ebene der im Rahmen interinstitutioneller Zusammenarbeit) muss deren Fallführung (E1) Verhältnis zueinander geklärt sein. Die Ebene der fallführenden Stellen ist zuständig: Die Einzelfallhilfe des CM BB für junge Menschen mit Mehrfach- • für die bedarfsorientierte Fallabklärung und -führung und problematiken soll so ausgelegt sein, dass sie diese «abholt». Die Finanzierung von Massnahmen; Arbeit mit jungen Menschen erfordert jugendgerechte Sprache • für die Bereitstellung von Massnahmen und Angeboten; und niederschwellige Zugänge. Die Anforderungen sind so zu • für die Umsetzung und Pflege der interinstitutionellen Zu- gestalten, dass diese auch von jungen Menschen in Krisensi- sammenarbeit und die übergreifende Steuerung der Ange- tuationen erfüllt werden können (Unterstützung bei Terminen, botslandschaft. Formularen etc.). Weiter soll das CM BB Bedarfe thematisch breit einbeziehen, freiwillig zugänglich sein und Leistungen aus un- Da bei Mehrfachproblematiken verschiedene Stellen involviert terschiedlichen Institutionen bedarfsgerecht zusammenführen sind, müssen die unterschiedlichen fallführenden Stellen ihre können. Hilfen untereinander koordinieren. Bei jungen Menschen über- nimmt teilweise das Case Management Berufsbildung (CM BB) Erfolgsfaktor 5: Schaffung einer vorgelagerten diese Funktion. Voraussetzung für ein erfolgreiches Case Ma- Erstanlaufstelle zur niederschwelligen nagement ist eine klare Einbettung in bestehende Strukturen Abklärung der interinstitutionellen Kooperation. Im Rahmen der «Cité des Métiers» im Kanton Genf (vgl. S. 23–24) hat sich ein niederschwelliges Eingangsportal mit Triagefunktion bewährt. Hier können sich Jugendliche wie Erwachsene nieder- Ebene 1 Erfolgsfaktoren schwellig und anonym im Sinne einer Erstberatung darüber in- Fallführung 3. U msetzung und Pflege der inter- formieren, wie sie Unterstützung erhalten können. Gleichzeitig institutionellen Strukturen besteht die Möglichkeit einer Triage an eine geeignete Stelle: Ämter, wie z. B. das Case Management Berufsbildung, das Arbeitsamt 4. Etablierung einer Dienste, oder den Sozialdienst. Eine niederschwellige Erstberatungsstelle Case-Management-Struktur Fachstellen muss freiwillig und ohne Bedingungen genutzt werden können, 5. Schaffung einer vorgelagerten auch im Sinne eines Rückkehrrechts nach Beratungsabbruch. Erstanlaufstelle zur niederschwelligen Empfehlenswert ist in Bezug auf junge Menschen eine Zusam- Abklärung menarbeit mit niederschwelligen Angeboten aus der Jugend- 6. S icherstellung von flexiblen Rahmen- arbeit. bedingungen für fallbegleitende Angebote und die Koordination von Erfolgsfaktor 6: Sicherstellung von flexiblen Rah- Angeboten menbedingungen für fallbegleitende Angebote und die Koordination von Angeboten Bedarfsorientierte Unterstützung in Brückenangeboten, Mo- tivationssemestern und Angeboten der sozialen und beruf- Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 11 lichen Integration der IV oder der Sozialhilfe ist entscheidend Zusammenarbeit auf Fallebene? Haben die jungen Menschen bei der Bewältigung komplexer Herausforderungen. Für eine über lange Zeit verlässlich die gleichen Ansprechpersonen? Unterstützung, die sich am Bedarf der Klientinnen und Klienten • Niederschwellige Erstabklärung und Triage: Wie kann in orientiert, müssen berufsbildungsbezogene Zielsetzungen er- der jeweiligen kantonalen bzw. regionalen Struktur eine nie- weitert werden können. Zielsetzungen wie «Unterstützung bei derschwellige Erstberatungsstelle mit Triagefunktion imple- der Lebensbewältigung» und «soziale Integration» sind für die mentiert werden? Bearbeitung von Mehrfachproblematiken notwendig. Dazu sind • Angebotslandschaft im Überblick: Wie sieht die Ange- die Rahmenbedingungen (Auftrag/Ziele, Zeit, Fallpauschalen) botslandschaft für Fallbegleitungen von jungen Menschen für die Angebote auf Ebene E2 zu flexibilisieren. Erforderlich sind mit Mehrfachproblematiken aus? Gibt es Bedarfe/Bereiche/ meist mehr Zeit und flexiblere Programmvorgaben sowie zu- Themen mit Über- oder Unterversorgung? Bestehen struk- sätzliche Ressourcen für intensive Begleitung junger Menschen. turelle Benachteiligungen im Kanton, in Regionen oder Ge- meinden? Gibt es die Möglichkeit, bei jungen Menschen mit In diesem Zusammenhang ist auch eine Flexibilisierung von Mehrfachproblematiken das Ziel Berufsbildung (zeitweise) Ausbildungen voranzutreiben. Dabei sind Partner aus Wirtschaft zurückzustellen oder die Angebote zeitlich zu flexibilisieren, und Berufsbildung aktiv einzubeziehen, wie dies im Kontext der um Unterstützungsformen zu nutzen, die die Bearbeitung Initiative «Berufsbildung 2030» bereits geschieht. anderer Probleme ermöglichen? Gibt es neue und flexible Formen der Berufsbildung resp. wie können diese aufgebaut Darüber hinaus empfiehlt es sich, die Angebotslandschaft in- und gefördert werden? Wer sind mögliche Partner für den stitutionsübergreifend besser abzustimmen (Übergangsma- Ausbau flexiblerer Formen der Berufsbildung? nagement). Ziel ist eine bessere Verzahnung der Regelschule • Rahmenbedingungen für Angebote: Wie sehen aktuell die (Früherkennung) mit weiteren Angeboten im Übergang, insbe- Rahmenbedingungen für die fallbegleitenden Angebote aus? sondere die frühzeitige Vernetzung der Regelstrukturen mit dem In welcher Weise fördern oder behindern diese eine klientin- Case Management Berufsbildung oder der Erstanlaufstelle. So nen- und klientenorientierte Arbeit in den Angeboten? Wie lassen sich auch Jugendliche und ihre Eltern mit nachfolgenden kann den fallbegleitenden Angeboten in komplexen Fällen Unterstützungsangeboten bekannt machen. Dies erleichtert die die notwendige Flexibilität und Langfristigkeit ermöglicht Triage zu geeigneten Angeboten und ermöglicht eine nachhal- werden? tige Entwicklung des Übergangssystems. • Finanzierung von Mehraufwand für Begleitung: Welche Möglichkeiten der systemübergreifenden Finanzierung (ge- Reflexionsfragen für Verantwortliche von meinsamer finanzieller Ressourcenpool) für bedarfsorientier- fallführenden Stellen te zusätzliche Aufgaben und Projekte bestehen? Wie können • Analyse Kooperationsstruktur: Wie ist die aktuelle interin- diese geschaffen oder ausgebaut werden? stitutionelle Zusammenarbeit zu beurteilen (horizontal zwi- • Weiterbildung: Welche Weiterbildungen benötigen die Fach- schen den Ebenen und vertikal innerhalb der Ebene)? Wie klar kräfte, um für das Thema Mehrfachproblematiken sensibilisiert und verbindlich sind die Strukturen der interinstitutionellen zu werden? Zusammenarbeit (horizontal und vertikal)? Wer trägt die Ge- samtverantwortung für die Kooperationsstrukturen? Welche Akteure sind relevant auf der Ebene der fallführenden Fach- Erfolgsfaktoren auf Ebene der stellen/Dienste für eine verbindliche institutionelle Zusam- Fallbegleitung (E2) menarbeit? Welche weiteren wichtigen Ansprechpartner be- stehen (z. B. zu Themen Migration, Berufsbildung)? Wer kann/ Spezialisierte Angebote der beruflichen und sozialen Integration soll/muss wann in welcher Weise eingebunden werden? Wie übernehmen die konkrete Fallbegleitung der jungen Menschen. werden relevante Akteure der Gemeinden einbezogen? Wie Sie sind in ihrer Ausgestaltung der Angebote direkt abhängig können spezialisierte Angebote in geeigneter Weise einbezo- von den Rahmenbedingungen, welche durch die fallführende gen werden? Besteht ein spezifischer Ansprechpartner für die Ebene, durch die kantonale strategische Ebene und durch Bun- Anbietenden? Wo zeigen sich Entwicklungsbedarfe (z. B. Vor- desgesetzgebungen definiert wurden. gaben zum Informationsaustausch)? Wo sind welche Wider- stände zu erwarten und wie kann diesen begegnet werden? Ebene 2 Erfolgsfaktoren • Analyse der Einbettung und Funktionsweise des Case Fallbegleitung 7. Sensibilisierung von Fachpersonen für Managements: Wie sind bestehende Case Managements Mehrfachproblematiken entlang den für junge Menschen aktuell zu beurteilen? Wie klar und ver- Spezialisierte Nahtstellen I und II bindlich sind die Strukturen der Zusammenarbeit auf der Fall- Anbietende 8. Entwicklung von neuen Formen von ebene? Falls ein Case Management Berufsbildung besteht: Ist Integrationsangeboten das CM BB in bestehende Strukturen interinstitutioneller Ko- 9. Stärkung der Anliegen der spezialisier- operation eingebettet? Wie umfangreich und professionell ten Angebote in Interessenverbänden werden die Fallabklärungen vorgenommen? Wer trägt die Ge- samtverantwortung für die Kooperation auf Fallebene? Wel- che Akteure sind relevant für eine verbindliche institutionelle 12 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Erfolgsfaktor 7: Sensibilisierung für Mehrfach- problematiken jungen Menschen? Welche Möglichkeiten der Abklärung be- stehen bei erhöhtem Unterstützungsbedarf? Welche Weiter- Die Sensibilisierung für Mehrfachproblematiken ist in allen Bil- bildungen benötigen die Fachkräfte (z. B. zu diagnostischen dungs- und Unterstützungsangeboten entlang der Nahtstellen I Verfahren und Instrumenten)? und II wichtig. Insbesondere auf der Volksschulstufe kann Früh- • Entwicklung von spezialisierten Angeboten: Welche er- erkennung und -intervention einen wichtigen Beitrag zur Prä- weiterten Begleitungsmöglichkeiten haben die fallbegleiten- vention leisten. Da Mehrfachproblematiken hierüber aber nicht den Angebote in komplexen Problemsituationen? Wie flexibel grundsätzlich vermieden werden können, ist innerhalb aller An- (Zugang, zeitliche Kapazitäten) können die Angebote Unter- gebote die Klärung wichtig, wann wer eine Ersteinschätzung stützung anbieten? Wie können bestehende Angebote für vornimmt und welche Möglichkeiten der Unterstützung inner- junge Menschen mit Mehrfachproblematiken weiterentwi- halb der jeweiligen Strukturen bestehen. Dazu sind geeignete ckelt werden, dass sie deren Bedarfen besser entsprechen? Leitfäden für die Ersteinschätzung einzusetzen. Darüber hinaus Welche Möglichkeiten für die Flexibilisierung von Ausbil- brauchen Angebote Klarheit darüber, wer bei Bedarf eine umfas- dungsformen bestehen (bspw. Teilzeitausbildungen, modula- sende, qualifizierte Abklärung treffen kann, um erweiterte Hilfen re Ausbildungen als Pilotprojekte)? Wie können Vernetzungen zu ermöglichen. Hier ist – je nach Alter – die Zusammenarbeit mit Jugend- und Familienberatungsstellen gefördert werden? mit dem CM BB oder mit Familien- und Jugendberatungsstellen • Pflege der Vernetzung zwischen den Ebenen: Wie sehr erfolgversprechend. pflegen die fallbegleitenden Angebote untereinander einen fachlichen Austausch (horizontale Vernetzung innerhalb der Erfolgsfaktor 8: Neue Formen von Integrations- Region, aber auch schweizweit)? Wie fliessen die Erfahrun- angeboten gen der fallbegleitenden Angebote in die Entwicklung der Für junge Menschen mit Mehrfachproblematiken sind die beste- Angebotslandschaft ein? Wie können die Angebote sicher- henden Angebote der Berufsintegration nur teilweise geeignet, stellen, dass ihre gemeinsamen Anliegen an die Ebenen 0 und da sie nur bedingt bedarfsorientiert reagieren können. Dazu be- 1 adressiert werden können (Verbände, Interessengruppen)? nötigen die Angebote flexiblere Rahmenbedingungen (vgl. Er- folgsfaktor 6). Wichtig sind ferner Wissen und Erfahrungen in der Begleitung von jungen Menschen in schwierigen Lebenslagen. Weiterhin ist erfolgversprechend, im Rahmen von Pilotprojek- ten eine Flexibilisierung der Ausbildungen zu erproben (bspw. Teilzeitausbildungen, Unterbrechungsmöglichkeiten von Aus- bildungen, Bildungsgutscheine, Begleitung am Ausbildungsort). Denkbar ist auch eine enge Zusammenarbeit mit weiteren Bera- tungsstellen, z. B. Jugend- und Familienberatungsstellen, um die jungen Menschen breit bei der Bewältigung von Lebensthemen (z. B. Finanzen, Gesundheit oder Wohnen) zu unterstützen. Erfolgsfaktor 9: Anliegen durch Interessen- verbände stärken und vertreten In einem erfolgversprechenden kantonalen Übergangssystem werden die Erfahrungen der fallbegleitenden Angebote (Ebe- ne 2) durch die fallführende Ebene (Ebene 1) aufgenommen und in die Weiterentwicklung des Übergangssystems (Ebene 0) ein- bezogen (Bottom-up-Entwicklung). Dazu sind gut organisierte Interessengruppen (bspw. als Verein, Dachverband u. a.) wichtig. Interessenverbände sind adressierbar für die fallführende und die strategische Ebene und können ihre Anliegen, Erfahrungen und Entwicklungsideen gezielt einbringen. Reflexionsfragen für Verantwortliche von begleitenden Angeboten • Sensibilisierung stärken: Welche Ansätze im Umgang mit Mehrfachproblematiken bestehen innerhalb von Angeboten? Wie kann die Sensibilisierung für Mehrfachproblematiken ge- stärkt werden? Welche Instrumente für eine Ersteinschätzung bestehen? Verfügen die jungen Menschen über eine langfris- tige Ansprechperson (vgl. auch Ebene 1)? Wie ist der Umgang mit unvorhergesehenen Änderungen der Lebenssituation der Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 13 TEIL 2 MEHRFACHPROBLEMATIKEN UND ÜBERGÄNGE – WAS SIE WISSEN SOLLTEN 14 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Nachfolgend werden zentrale Ergebnisse aus der zugrunde lie- Tabelle 4: Ausgewählte Risikofaktoren genden Studie pointiert zusammengestellt. Einbezogen wer- den Ergebnisse der Analyse der Fachliteratur, Sichtweisen von Lebensbereich Beispiele von Risikofaktoren in den jungen Menschen und von Fachpersonen sowie Good-Practice- Übergängen in die Erwerbsarbeit Beispiele. Die Ergebnisse geben die Hintergrundinformationen Person z. B. gesundheitliche Belastungen oder Behinderun- und Argumentationen zu den erfolgversprechenden Merkma- gen, eingeschränkte kognitive Fähigkeiten, geringe len, die in Teil I vorgestellt wurden. Sozialkompetenzen und Selbstkompetenzen, unkla- rer Berufswunsch, unpassende Berufswahl … Familie/ z. B. niedriger sozioökonomischer Status, Armut, Mehrfachproblematiken verstehen Bezugspersonen ungünstige Wohnbedingungen, wenig anregender und erfassen und autonomiefördernder Erziehungsstil, Krank- heit/Sucht in der Familie, Gewalt und konflikthafte In diesem Teil wird der Begriff Mehrfachproblematiken diskutiert. Beziehungen, Scheidung/Trennung der Eltern, Wie der Begriff verwendet wird, beeinflusst direkt die Sichtwei- fehlende Unterstützung durch Familienmitglieder, se auf junge Menschen mit Mehrfachproblematiken. Folgende kaum ausserfamiliäre Bezugspersonen, fehlende Fragen werden dabei beleuchtet: familiäre Unterstützung nach dem Auszug … • Was meint der Begriff Mehrfachproblematiken? Freizeit und z. B. fehlende Zugänge zu Freizeitaktivitäten, feh- • Wie sind Mehrfachproblematiken zu erfassen und Interven- Peergroup lende soziale Netzwerke, negative Einflüsse durch tionen zu planen? Peergroup … • Was können Prävention, Früherkennung und Frühintervention leisten? Schule, Berufs- z. B. Schultyp mit Grundansprüchen oder Beschu- • Wie viele junge Menschen sind von Mehrfachproblematiken schule, Zwischen- lung nach individuellem Lehrplan, schlechte Bezie- betroffen? lösungen hungen der Lehrkräfte zu den Lernenden, fehlende Vernetzung der Schule mit weiteren Unterstüt- Verständnis von Mehrfachproblematiken zungssystemen, fehlende integrative/inklusive Der Begriff «Mehrfachproblematiken» wird in Fachpublikatio- Beschulung, negative Schulerfahrungen wie z. B. nen und der Praxis meist als Sammelbegriff verwendet. Die Be- Mobbing sowie strukturelle Benachteiligungen griffe «komplexe Problemlagen», «Mehrfachbelastungen» und aufgrund von Merkmalen wie soziale Herkunft, «prekäre Problemlagen» können als Synonyme zu «Mehrfach- Migration, Geschlecht, Schulabschlussniveau … problematiken» verstanden werden. Gemeint ist, dass Heraus- Ausbildungs- z. B. monotone Arbeit (wenig Anregungsgehalt), forderungen in verschiedenen Lebensbereichen vorliegen. Der betrieb wenig Handlungsspielräume für Lernende, ungenü- Begriff legt ausserdem nahe, dass die Betroffenen in dieser gende pädagogische und soziale Kompetenzen der Situation mehrfache Unterstützung benötigen. Die Hilfesysteme Ausbildenden, gesundheitliche Risiken am Arbeits- sind demgegenüber in der Regel auf eine bestimmte Heraus- platz sowie strukturelle Benachteiligungen bei forderung (z. B. Ausbildungslosigkeit, Arbeitslosigkeit etc.) aus- Auswahl aufgrund von Merkmalen wie soziale Her- gerichtet. kunft, Migration, Geschlecht, Schulabschlussniveau oder fehlende Ausbildungsangebote … Die Gründe für Mehrfachproblematiken liegen bei jungen Men- Beratung/ z. B. fehlende Früherkennung, fehlende Unterstüt- schen im Übergang in die Erwerbsarbeit meist in unterschied- Begleitung, zungsangebote, konflikthafte Beziehungen oder lichen Lebensbereichen. Dies verlangt zusätzlich zur Unterstüt- Unterstützungs- fehlende Vertrauensbasis zwischen Beratenden und zung bei der Berufsfindung nach weiteren Hilfen, die zeitlich angebote Ratsuchenden, keine Kontinuität in der Begleitung, und thematisch bedarfsgerecht bereitgestellt werden müssen. fehlende Koordination von Unterstützungsange- Exemplarisch wird hier eine Auswahl von möglichen Risiko- boten, keine Vernetzung zur Arbeitswelt, Über- faktoren beschrieben, die individuell zu sehr unterschiedlichen forderung der Betroffenen und der Familien beim Problemkonstellationen beitragen können: Zugang zu Hilfen … Gesellschaft und z. B. ungenügendes Ausbildungsangebot, zu hohe Wirtschaft Anforderungen an Ausbildungen und erhöhter Wettbewerb um Ausbildungsplätze, fehlende Aus- bildungsmöglichkeiten ohne Aufenthaltsstatus, gesellschaftliche Verhältnisse, die zu ungleichen Chancen beitragen … Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 15 So vielfältig die Risikofaktoren sind, so unterschiedlich entwi- Zugleich ist wichtig, dass die abklärende, möglichst unabhängi- ckeln sich Problemsituationen. Nicht zuletzt beeinflussen sich ge Stelle bei Mehrfachproblematiken Hilfen aus unterschiedli- die verschiedenen Problembereiche dynamisch und können chen Institutionen zusammenführen oder triagieren kann. Dazu sich in kurzer Zeit gegenseitig verstärken. ist breites Wissen zu den einzelnen Unterstützungssystemen nötig: bspw. zu Leistungen, Zugangserfordernissen, Teilnahme- Um die Situation einer mehrfach belasteten Person verstehen bedingungen etc. Dafür sind gut funktionierende Zusammen- und geeignete Unterstützung anbieten zu können, sollten auch arbeitsmodelle über die Grenzen einzelner Hilfesysteme hinweg Schutzfaktoren einbezogen werden. Schutzfaktoren erhalten notwendig (vgl. Erfolgsfaktoren 3–4). Menschen gesund, mildern schädigende Einflüsse ab und unter- stützen die Bewältigung von Problemen. Schutzfaktoren können Gegenwärtig findet man noch wenig Ansätze und Instrumente in allen oben genannten Lebensbereichen vorliegen. zur breiten Fallabklärung bei Mehrfachproblematiken im Über- gang in die Ausbildung und Erwerbsarbeit. Eine Orientierung Bei Mehrfachproblematiken braucht es deshalb eine fundierte dazu können bspw. Ansätze der «sozialen Diagnostik» bieten.1 fachliche Abklärung, die alle relevanten Probleme in unter- schiedlichen Lebensbereichen berücksichtigt und zugleich Soziale Diagnostik Schutzfaktoren und Ressourcen einbezieht. Soziale Diagnostik meint das professionelle, mehrperspekti- vische Verstehen von sozialen Problemstellungen (Fall- Strukturelle Risikofaktoren nicht vergessen verstehen). Dabei werden jeweils relevante Dimensionen Die Auflistung von persönlichen Risikofaktoren und Risiken im sozialen auf verschiedenen Ebenen berücksichtigt: der biologischen, Kontext zeigen eindrücklich auf, dass die Ursachen für Probleme nicht psychologischen, sozialen und der kulturellen Ebene. Der allein in der Person liegen. Vielmehr beeinflussen auch sozial-strukturel- Fokus liegt insbesondere auf der sozialen Dimension. Fälle le und gesellschaftliche Einflussfaktoren die Übergänge in die Erwerbs- werden dabei wissens- und methodengestützt, werte- arbeit. Erschwerend können bspw. demographische Entwicklungen sein basiert, multiperspektivisch entlang eines diagnostischen (geburtenstarke Jahrgänge) oder eine schlechte regionale Arbeitsmarkt- Modells erfasst. Die verschiedenen Beteiligten mit ihren lage (wenig Ausbildungsplätze). Weiter haben Menschen je nach ihrer jeweiligen Perspektiven verständigen sich in einem dialogi- sozialen Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrem Migrationshintergrund schen Prozess über ihre Einschätzungen der Situation. unterschiedliche Chancen auf einen Ausbildungsplatz. Bei gleicher Soziale Diagnosen haben eine erklärende, eine handlungs- kognitiver Leistungsfähigkeit müssen bspw. Jugendliche mit Migrations- leitende und eine prognostische Funktion. Eine soziale Dia- hintergrund deutlich mehr Bewerbungen schreiben und benötigen gnose bildet die Basis für fallspezifische Zielformulierungen häufiger Zwischenlösungen als Schweizer Jugendliche. Diese strukturel- und Interventionen. Diese wird als Hypothese verstanden, len Benachteiligungen im Übergang sind zu berücksichtigen und abzu- die einer ständigen Überprüfung und Anpassung bedarf. bauen. Hier steht das Übergangssystem in der (Mit)Verantwortung, am (vgl. www.soziale-diagnostik.ch) Ziel der Chancengleichheit zu arbeiten. Wichtig ist auch, dass Betroffene selber verstehen, dass ihre Situation von solchen strukturellen Aspekten beeinflusst wird. Dies kann dazu beitragen, individuelle Gefühle des «Versagens» zu lindern und neue Motivation zu fördern. Prävention, Früherkennung und Früh intervention Im Fachdiskurs wird der Prävention, der Früherkennung von ge- fährdeten Jugendlichen und der Frühintervention hohe Bedeu- tung beigemessen. Der Volksschule kommt hierbei eine Schlüs- Erfassung von Mehrfachproblematiken und Inter- selrolle zu. Entsprechend findet man dort Präventionskonzepte ventionsplanung zu einzelnen Themen (z. B. Konsum, Sucht, Gewalt, Sexualität) Bei Mehrfachproblematiken ist eine fachlich breite Fallabklä- sowie umfassende Konzepte aus dem Gesundheitsbereich mit rung erforderlich. Dazu ist vorgängig im Übergangssystem zu dem Ziel der «gesunden Schule». Einige Kantone entwickelten klären, wer unter welchen Bedingungen für die Abklärung bei Leitfäden zur Früherkennung, in denen oftmals die Schulsozial- Mehrfachproblematiken zuständig ist (vgl. Erfolgsfaktoren 3–4). arbeit als Abklärungsstelle vorgesehen ist. Inwiefern die Instru- Die umfassende Fallabklärung muss sich auf das Verstehen der mente und Konzepte in der Praxis tatsächlich eingesetzt werden Fallkonstellation beziehen. Der Blick richtet sich dazu auf viel- und mit welchem Erfolg, ist allerdings nicht bekannt. fältige Lebensfelder: bspw. Familie, soziale Ressourcen, Schu- le/Ausbildung, Betrieb, Integrationsangebote u. a. Dabei sind Wichtig ist bei jungen Menschen, bei denen Mehrfachproble- sowohl biologische, psychologische, soziale als auch kulturelle matiken vermutet werden, zu prüfen, wer innerhalb der Schule Dimensionen zu berücksichtigen sowie Risiko- und auch Schutz- zu welchem Zeitpunkt und wie eine erste Standortbestimmung faktoren. Zentral dabei ist auch ein partizipativer Einbezug und eine jugendgerechte Ansprache der Klientinnen und Klienten. 1 Buttner, Peter, Silke B. Gahleitner, Ursula Hochuli Freud und Dieter Röh, Eine solche Fallabklärung bildet die Basis für die anschliessende (Hrsg.) (2018). Handbuch Soziale Diagnostik. Perspektiven und Konzepte für die Interventionsplanung. Soziale Arbeit. Berlin: Verlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. 16 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Prävention zielt auf die vorbeugende und umfassende • 10 % der Schulabgängerinnen und -abgänger besuchen we- Stärkung der Gesundheit. Für eine erfolgreiche Prävention gen fehlenden Anschlusslösungen nach der obligatorischen 2 sind alle Institutionen entlang der Nahtstellen I und II (Schu- Schulzeit ein Brückenangebot. len, Berufsschulen, Zwischenlösungen, Integrationsangebo- • Ein relevanter Teil der Jugendlichen hat auch nach einer Zwi- te) gefordert, ein Lernklima zu schaffen, das die Gesundheit schenlösung noch keine Anschlusslösung: Nach Brückenan- der jungen Menschen stärkt und in welchem sie lernen, mit geboten sind dies 20 bis 40 % und nach Motivationssemestern 3 Belastungen gut umzugehen. 54 %. • 26,9 % der Jugendlichen lösen den Lehrvertrag innerhalb Früherkennung meint das rechtzeitige Erkennen von des ersten Jahres auf4. Dies führt zu weiteren Verzögerungen Anzeichen, dass junge Menschen stark belastet sind. Dazu im Bildungsverlauf. 9,6 % der 25-Jährigen haben keinen Ab- müssen Aussenstehende Symptome wahrnehmen und schluss auf Sekundarstufe  II, also weder eine Grundbildung richtig deuten, also bereits früh eine erste Falleinschätzung noch eine Allgemeinbildung.5 vornehmen. Hilfreich sind hier Instrumente zur Früherken- • 2,4 % der 15- bis 24-Jährigen sind von Arbeitslosigkeit betrof- nung. fen.6 Frühintervention meint Unterstützungsangebote, die • Sozialhilfe beziehen 3,5 % der 18- bis 25-Jährigen, davon ha- frühzeitig zur Verfügung stehen und nicht erst, wenn sich ben 62,2 % keinen Abschluss auf Sekundarstufe II (SKOS 2021, problematische Situationen verfestigt haben. Bundesamt für Statistik 2019). • Weder in einer Ausbildung noch in Arbeit sind 6,2 % der 15- bis 24-Jährigen (sogenannte NEET: weder in Ausbildung noch vornimmt und was innerhalb der Schule an Unterstützung mög- in Arbeit).7 lich ist. Dies gilt auch für alle weiteren Bildungs- und Unterstüt- • 80 % der jungen Mütter beziehen Sozialhilfe (Städteinitiative zungsangebote entlang der Nahtstellen I und II. Auch hier sind Sozialpolitik/Berner Fachhochschule Soziale Arbeit 2017). Sie Sensibilität für Mehrfachproblematiken und angemessene Um- haben wegen ihren Betreuungspflichten oftmals Schwierig- gangsstrategien wichtig. keiten, eine Ausbildung zu absolvieren. Auch wenn Prävention, Früherkennung und Frühintervention Besonders relevant ist, dass rund 10 % der 25-Jährigen keinen insbesondere im Schulkontext wichtig sind, zeigen sich gera- Abschluss auf Sekundarstufe II haben. Junge Menschen mit Mi- de bei Mehrfachproblematiken Grenzen von früh ansetzenden grationshintergrund, also im Ausland geborene Schweizerinnen ersten Standortbestimmungen und niederschwelligen Angebo- und Schweizer (ca. 15 %) oder junge Menschen ohne Schweizer ten. Mit diesen Ansätzen können häufig nicht alle komplexen Staatsangehörigkeit (ca. 24 %)8, sind deutlich stärker betroffen. Problemlagen frühzeitig genug erkannt resp. abgeklärt werden. Junge Erwachsene ohne nachobligatorischen Abschluss haben Auch sind in dieser frühen Phase bestehende Unterstützungs- ein hohes Risiko für langfristige prekäre Arbeitsbedingungen angebote oft zu wenig bedarfsorientiert oder es dauert lange, und Arbeitslosigkeit. Viele davon sind vorübergehend, einige bis weitere Stellen involviert werden können. Daher muss auch langfristig auf Sozialhilfe angewiesen: So verfügen bspw. rund geprüft werden, wann welche weiteren Stellen für eine vertiefte 62 % der 18- bis 25-jährigen Sozialhilfebeziehenden über keinen und qualifizierte Abklärung einbezogen werden. Denn oftmals Abschluss auf Sekundarstufe II, und 80 % der jungen Mütter sind braucht es eine solche, um bedarfsgerechte Hilfen bereitstellen auf Sozialhilfe angewiesen. Besondere Risiken werden auch bei zu können (vgl. Erfolgsfaktoren 6–7). der Gruppe der NEET vermutet. Wenig belastbare Zahlen und Fakten zu Mehrfachproblematiken Schwierigkeiten und Umwege beim Versuch, eine passende 2 Golder, Lukas, Martina Mousson, Aaron Venetz und Daniel Bohn. (2019) Ausbildung zu finden, sind weit verbreitet. Probleme im Bil- «Nahtstellenbarometer 2019/August. Umfrage bei Jugendlichen und Unterneh- dungsverlauf wie z. B. Repetitionen, Schulabbrüche, fehlende men im Auftrag des Staatssekretariats für Forschung, Bildung und Innovation Anschlusslösungen, Lehrvertragsauflösungen müssen allerdings SBFI». Bern: gfs. noch nicht per se langfristige negative Folgen haben. 3 Landert, Charles und Daniela Eberli (2015) «Bestandsaufnahme der Zwischenlösungen an der Nahtstelle I: Bericht». Zürich: Landert Brägger Partner. 4 Bundesamt für Statistik. «Lehrvertragsauflösung, Wiedereinstieg, Bei wie vielen und bei welchen jungen Menschen kritische Er- Zertifikationsstatus: Resultate zur dualen beruflichen Grundbildung (EBA und EFZ)». eignisse wie diese zu Mehrfachproblematiken beitragen, lässt Neuchâtel: BFS, 2020. sich nur grob schätzen. Tendenziell sind Mehrfachproblematiken 5 Bundesamt für Statistik. «Sekundarstufe II: Abschlussquote». Neuchâtel: BFS, umso wahrscheinlicher, je mehr kritische Ereignisse im Einzelfall 2020. zusammentreffen. Folgende Eckdaten geben eine Vorstellung 6 SECO. «Die Lage auf dem Arbeitsmarkt 2019». Bern: SECO, 2020. dazu, wie viele junge Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten 7 Bundesamt für Statistik. «NEET: Jugendliche, die weder erwerbstätig noch in den Übergängen I und II Schwierigkeiten haben: in Ausbildung sind – Anteil der nichterwerbstätigen Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren, die weder an Bildung noch an Weiterbildung teilnehmen – In Prozent». Neuchâtel: 2020. 8 Bundesamt für Statistik. «Sekundarstufe II: Abschlussquote». Neuchâtel: BFS, 2020. Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 17 Der knappe Einblick in die vorhandenen Zahlen verdeutlicht, Unterstützung im Übergang Schule – wie schwierig es ist, aussagekräftige Zahlen zu Mehrfachpro- Ausbildung – Arbeitsmarkt blematiken im Übergang in die Erwerbsarbeit zu erhalten. In der Regel werden Daten aus einer bestimmten institutionellen Hier wird ein Überblick gegeben zu den vorhandenen Perspektive erfasst: Bildungs-, Sozialhilfe-, Arbeitslosenstatistiken Unterstützungsa ngeboten im Übergang zu: oder Statistiken zur Invalidität oder zum Migrationshintergrund. • Angeboten im bestehenden Übergangssystem; Diese Statistiken werden kaum zusammengeführt und unter • bestehenden Kooperationsstrukturen. dem Aspekt von Mehrfachproblematiken ausgewertet. Angebote im Übergangssystem Unterschiedliche gesellschaftliche Institutionen bieten Unter- stützung im Übergang von der Schule in die Ausbildung, wäh- rend der Ausbildung und im Übergang in die Erwerbsarbeit. Zu- sammen bilden diese das sogenannte Übergangssystem, das sich parallel zum Berufsbildungssystem etabliert hat. Konkret stellen Akteursgruppen aus den Bereichen Bildung, Arbeit, Soziale Sicherheit, Migration/Integration und Gesundheit vielfältige Unterstützungsangebote bereit. Sie alle orientieren sich am bildungspolitischen Ziel, möglichst allen jungen Men- schen eine Ausbildung zu ermöglichen.9 Berufliche Grundbildung für (fast) alle als gemeinsames Ziel Es besteht eine breit getragene bildungspolitische Strategie «kein Abschluss ohne Anschluss». Danach sollen 95 % der Schulabgängerinnen und Schulabgänger bis zum Alter von 25 Jahren einen nachobligatorischen Abschluss erwerben können. Alle Kantone stellen ein Grundangebot an Massnahmen zur Unterstützung der Bildungsverläufe bereit. Dazu gehören: die berufliche Orientierung auf der Sekundarstufe  I, Zwischen- lösungen wie Brückenangebote und Motivationssemester, Be- rufs-, Studien- und Laufbahnberatung, Lehrstellenvermittlung, Coaching und Mentoring. Zusätzlich bestehen für Jugendliche mit erschwerten Bedingungen und für junge Erwachsene mit verspäteter oder abgebrochener Ausbildung vielfältige Inte- grationsangebote. Die folgende Tabelle stellt diese Angebote exemplarisch dar: 9 Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung und die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren. «Erklärung 2019: Bekräftigung der bildungspolitischen Ziele». Bern: WBF/EDK, 2019. 18 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Tabelle 5: Angebote im Übergang Schule – Ausbildung – Erwerbsarbeit Systeme Grundangebote Zusätzliche Angebote für junge Menschen mit erweitertem Unterstützungsbedarf Volksschule – Sek I Berufliche Orientierung Berufsfindungsprojekte (wie LIFT10) Schulsozialarbeit Abklärung und (Berufs-)Beratung durch die Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung Invalidenversicherung (IV) (BSLB), Berufsinformationszentren (BIZ) Case Management Berufsbildung Berufsvorbereitende Schulische und berufspraktische Lehrstellenvermittlung Lehrstellennachweis Angebote Brückenangebote Mentoring bei Lehrstellensuche Integrationsklassen Coaching Motivationssemester SEMO Stipendien Sonderschulische Brückenangebote Case Management Berufsbildung Vorlehre, Integrationsvorlehre Spezifische Berufsintegrationsangebote im Praktika Auftrag der IV, Sozialhilfe, KESB, Jugendanwalt- Div. Zwischenjahre (z. B. Sprachkurse) schaft oder im Bereich Gesundheit/Psychiatrie BSLB / BIZ (vorherige Abklärung erforderlich) (Berufs-)Ausbildung Fachkundige individuelle Begleitung (FiB) Übernahme von Mehrkosten der Ausbildung, im Rahmen einer Ausbildung mit z. B. während einem EBA, einer EFZ12 und wei- Eidgenössischem Berufsattest (EBA) tere Leistungen im Bereich von IV-unterstützten Nachteilsausgleich11 Ausbildungen Berufsabschluss für Erwachsene Unterstützung bei Lehrvertragsauflösung Case Management Berufsbildung (bis 25 Jahren) Ausbildung – Vorbereitung auf Übergang II Eingliederungsmassnahmen der Arbeitslosen- Erwerbsarbeit Vermittlung von Stellen durch Regionale versicherung (z. B. Berufspraktika, Einstiegs- Arbeitsvermittlungszentren RAV praktika) oder auch der Invalidenversicherung Case Management Berufsbildung bis 25 Jahre Der exemplarische Überblick zeigt eindrücklich die Vielfalt des • Auf der Fallebene koordinieren Institutionen ihre Hilfen mit Übergangssystems. Hinzu kommt, dass sich all diese Angebote dem Ziel, bedarfsorientierte Einzelfallhilfen zu schaffen und innerhalb des gesetzlichen Rahmens von Bund und Kantonen Leistungen über Systemgrenzen hinweg sinnvoll zu ver- bewegen (vgl. im Anhang). Dies erhöht die Komplexität im Sys- knüpfen. tem und führt zu Herausforderungen bei der Abstimmung und Gegenwärtig bestehen zwei Hauptansätze von interinstitutio- der Koordination von Angeboten. neller Kooperation auf Ebene der Kantone, die für die Unter- stützung von jungen Menschen mit Mehrfachproblematiken Bestehende Kooperationsstrukturen relevant sind. Der erste Ansatz ist das Case Management Be- Da bei jungen Menschen mit Mehrfachproblematiken oft ver- rufsbildung CM BB mit Fokus auf 15- bis 25-Jährige, der zweite schiedene Unterstützungsangebote aus unterschiedlichen In- Ansatz bezieht sich auf Formen fallunabhängiger Kooperation stitutionen nötig sind, ist die Federführung zu klären und eine mit Fokus auf junge Erwachsene ab dem 18. Altersjahr. gute Kooperation zwischen den verschiedenen Institutionen sicherzustellen (vgl. Erfolgsfaktoren 1–4). Case Management Berufsbildung (CM BB): Das CM BB be- gleitet Jugendliche und junge Erwachsenen (bis 25 J.). Ziel ist es, Interinstitutionelle Kooperation hat immer zwei Ebenen: Jugendliche und junge Erwachsene mit erhöhten Problemlagen • Auf der Systemebene geht es darum, dass die verschiede- bei der Berufsintegration und beim Zugang zu passenden Hilfen nen beteiligten Organisationen sich gegenseitig kennen, den zu unterstützen. Das CM BB orientiert sich am Handlungsansatz Austausch pflegen und ihre Vorgehensweise aufeinander ab- und der Methodik des Case Managements aus dem Gesund- stimmen. heits- und Sozialbereich. Im Mittelpunkt steht ein jugendgerech- 10 LIFT ist ein freiwilliges Integrations- und Präventionsprogramm für Jugendliche ab der 7. Klasse mit erschwerter Ausgangslage. Kernelemente sind regelmässige Kurzeinsätze, sogenannte «Wochenarbeitsplätze», in Gewerbebetrieben der jeweiligen Region neben dem Schulbesuch. 11 Unter dem Begriff «Nachteilsausgleich für Menschen mit Behinderung» werden spezifische Massnahmen verstanden, die zum Ziel haben, behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen, Diskriminierungen zu verhindern und individuelle Anpassungen zu gewähren (vgl. dazu Berufsbildungsgesetz und -verordnung). 12 Berufsabschlüsse: 2-jährige Ausbildung mit Eidgenössischem Berufsattest EBA und 3- bis 4-jährige Ausbildung mit Eidgenössischem Fähigkeitszeugnis EFZ Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 19 Nahtstelle II Ausbildung Nahtstelle I ter, ganzheitlicher Beratungsansatz. Das CM BB besteht in fast gemeinsam führt dazu, dass sie sich eher spät bei Fachstellen allen Kantonen. In einigen Kantonen ist das CM BB Teil einer melden, wenn sich die Probleme bereits vervielfacht haben (z. B. übergeordneten interinstitutionellen Struktur, in anderen wird Verschuldung, Wohnungslosigkeit). es als relativ eigenständiges Angebot geführt. Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ): Interinstitutio- «Ich hatte niemanden, der mir half.» nelle Zusammenarbeit bezieht sich auf eine fallunabhängige Kooperationsstruktur zwischen IIZ-Partnern der sozialen Sicher- «Ich habe einfach kein Fundament gehabt, und dann heit, Integration und Bildung. Die Fallführung wird unter den häufen sich die Probleme.» Kooperationspartnern geklärt – dazu lassen sich unterschied- «Ich habe Arztrechnungen nicht weitergeleitet, und das hat liche Modelle finden. Die IIZ soll gewährleisten, dass Hilfen dort kumuliert und es hat Betreibungen gegeben.» fallunabhängig bedarfsgerecht verknüpft werden. In einigen Kantonen bzw. Gemeinden wird im Rahmen der IIZ-Struktur ein spezifischer Fokus auf junge Menschen gelegt. Erschwerter Zugang zu Hilfen Undurchsichtiges Hilfesystem: Als Kinder und Jugendliche Unterstützungsangebote aus Sicht von erlebten die Betroffenen Hilfe als eine «fremde Macht» – Dinge Betroffenen und Fachpersonen passierten in ihrem Empfinden ohne ihre Mitsprache in intrans- parenter Weise. Ab Volljährigkeitsalter sind die jungen Menschen Wie junge Menschen Mehrfachproblematiken erleben,13 wird dann allein für den Umgang mit Behörden verantwortlich, und entlang folgender Fragen dargestellt: gleichzeitig verändert sich das Hilfesystem. Oft wissen die Be- • Was ist schwierig? troffenen nicht, an wen sie sich wenden können und welche • Was erschwert den Zugang zu Hilfen? Unterstützung es gibt. Unterschiedliche Zuständigkeiten sind für • Was sind Herausforderungen für junge Mütter? sie schwer zu durchschauen und häufig unklar. In dieser Phase • Welche Unterstützung wäre nötig? sind die jungen Menschen oft auf sich allein gestellt im Um- gang mit den Behörden, denn in der Familie finden sie selten Unterstützung. Schwierigkeiten aus Sicht der Betroffenen Die befragten jungen Menschen erleben ihre aktuelle Lebens- situation als sehr schwierig: Ihre Kindheit und Jugend war oft «Wir haben nicht gewusst, welche Angebote geprägt von familiären Konflikten, schulischen Misserfolgen, geeignet wären.» zum Teil von Heimaufenthalten. Viele haben eine abgebrochene «Wenn sie dann sagen, das bearbeiten wir nicht, das Ausbildung, gesundheitliche Sorgen, finanzielle Schwierigkei- müssen Sie woanders beantragen. Aber dass jemand, der ten und leben in prekären Wohnsituationen. Kommen weitere aussenstehend ist, eigentlich keine Ahnung hat, was Sache Schicksalsschläge hinzu, verschlechtert sich ihre Lebenssituation ist, das wird nicht bedacht.» innerhalb von kurzer Zeit stark. «Wenn du keine Ahnung hast, dann kommt man nicht «Wenn Probleme erst einmal da sind, kommen schnell neue Probleme wirklich weiter, dann musst du eigentlich Hilfe holen, um dazu.» das zu verstehen, was du tun musst.» «… dann wird man plötzlich aus der Bahn geworfen und muss alles selbst machen.» Angst vor Scham und Stigmatisierung: Die Anmeldung zu Hilfen löst oft Scham und Angst vor Stigmatisierung aus. Einige haben eine solche Stigmatisierung schon erlebt. Fehlende informelle Hilfe: Wenig überraschend fehlt den jun- gen Menschen vielfach die nötige Hilfe, Zuversicht und Energie, «Und wenn ich sage, ich war im Heim, dann denken sie um ihre Probleme anzupacken. Häufig fehlt auch die Unterstüt- immer, ich hätte jemanden zusammengeschlagen. Dabei zung durch die Herkunftsfamilie oder das weitere soziale Um- kann ich ja eigentlich gar nichts dafür. Aber die denken, die feld. Die Komplexität der Probleme scheint nicht bewältigbar ist blöd, negativ, Abschaum, so, dabei kann ich ja eigentlich und führt zu einem Gefühl der allgemeinen Überforderung. gar nichts dafür.» Gleichzeitig wissen die Betroffenen oft nicht genau, an wen sie sich wenden können, um Unterstützung zu erhalten. Beides Kaum bewältigbare administrative Vorgaben: Eine weitere Hürde sind für junge Menschen mit Mehrfachbelastungen die 13 Im Rahmen der hier zugrunde liegenden Studie (Schaffner, Heeg, Chamaka- layil, Schmid 2022, S. 41–57, 79–81) wurden eine Gruppendiskussion mit jungen formellen Vorgaben des Hilfesystems: Termine sind einzuhalten, Erwachsenen und zwei mit jungen Müttern durchgeführt. Die Zitate stammen Formulare auszufüllen und fristgerecht einzureichen. Für junge aus zusammenfassenden Protokollen zu den Gruppendiskussionen. Menschen in akuten Lebenskrisen ist dies äusserst schwierig. Sie 20 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt sehen sich damit vor dem Dilemma, dass sie Hilfe benötigen, Beziehungen von Seiten der Fachpersonen. Im bestehenden aber den Vorgaben des Hilfesystems kaum genügen können. System sind allerdings oft viele Ansprechpersonen punktuell Auch mit Unterstützung der fallbegleitenden Fachpersonen und oft nur über kurze Zeit verfügbar. bleiben die administrativen Abläufe eine Herausforderung. Eine Ansprechperson für alles: Junge Menschen wünschen sich daher eine dienstleistungsorientierte, verlässliche Anlaufstelle «Es kommt dann der Tag, wo man mit riesigen Bergen von oder eine Bezugsperson, die die Begleitung über einen langen Administration beworfen wird.» Zeitraum übernimmt, die für alle Themen ansprechbar ist, die die verschiedensten Probleme im Blick hat, auf ihre individuelle «Mir ist es psychisch auch nicht gut gegangen, ja, und Situation eingeht und die jungen Menschen dort abholt, wo dann kommt da dieser ganze Stress wegen dem Geld und sie sind. Die Anlaufstelle oder Ansprechperson kann sie unter- so, und dann habe ich gedacht, nee, ich melde mich nicht stützen, adäquate Hilfe zu finden und die administrativen An- an.» forderungen zu erfüllen. «Sie [die Fallbearbeitenden] wollen dir helfen, sind sozial, aber es ist ein Kampf, bis du deine Sachen erledigt hast.» «Ein Schalter nur für uns.» «… dass man sich nicht abschrecken lässt vom Ganzen, «Ein Coach, der einen zur Seite nimmt und sagt, jetzt weil wenn man sich anmeldet, dann muss man ja pünkt- machen wir das und dies.» lich das Zeugs abliefern, und wenn man wartet, gibt es wieder Probleme.» Flexible Ausbildungsmöglichkeiten: Alle befragten jungen Menschen sehen Ausbildung und Berufstätigkeit als Schlüssel für ein eigenständiges Leben und für finanzielle Unabhängig- Herausforderungen für junge Mütter keit. Für junge Menschen mit Mehrfachbelastungen ist dies Das Beste wollen für das Kind: Die Lebenssituationen der jun- aber trotz hoher Motivation oft schwierig zu erreichen. Im Fall gen Mütter waren meist schon vor der Mutterschaft belastet. Mit der jungen Mütter passen die Anforderungen einer Vollzeitaus- der Geburt des Kindes bringen Sorgearbeit und Erziehungsfra- bildung schlecht zur Kinderbetreuung. In anderen Situationen gen weitere Herausforderungen mit sich. Mit dem Kind sehen macht es die hohe Gesamtbelastung schwierig, eine reguläre viele eine neue Dringlichkeit, ihre Probleme aktiv zu bearbeiten: Vollzeitausbildung zu absolvieren. So wünschen sich die jungen Sie sind nicht mehr nur für sich selbst verantwortlich, sondern Erwachsenen neue, flexiblere Ausbildungsmodelle und weitere müssen auch das Wohl ihres Kindes im Blick haben. Dies moti- Unterstützung, z. B. durch Stipendien. viert die jungen Mütter, Veränderungen in Angriff zu nehmen. «Du machst etwas nicht nur für dich, sondern auch Wie Fachpersonen die Angebote im für [Kind].» Übergangssystem einschätzen Fachpersonen aus unterschiedlichen Hilfesystemen14 nehmen Finanzielle Sorgen und die Angst vor der Kindes- und bei Mehrfachproblematiken folgende Herausforderungen im Erwachsenenschutzbehörde KESB: Übereinstimmend berich- Übergangssystem wahr: ten die jungen Mütter von finanziellen Sorgen. Dies belastet sie • herausfordernde Prävention und Früherkennung insbesondere mit Blick auf ihre Kinder: Es schmerzt sie, ihnen nur • Vorgaben begrenzen breite Abklärung wenig bieten zu können. Die finanzielle Situation der jungen • enge Zielsetzung von fallbegleitenden Unterstützungs- Mütter ist oft unübersichtlich. Häufig bestehen ungeklärte Un- angeboten terhaltsfragen. Gleichzeitig befürchten sie, dass die Abhängig- • Gefahr der Risikoselektion keit von staatlicher Unterstützung zu Nachteilen führt. Sie müs- • unübersichtliches und unflexibles Übergangssystem sen in ihrer Wahrnehmung immer wieder beweisen, dass sie • suboptimale Zusammenarbeit ausreichend für ihr Kind sorgen können. Vor dem Hintergrund • Datenschutz versus Informationsaustausch dieser Furcht werden Strukturen, die (auch) als Unterstützung und Hilfe gedacht sind, wie die KESB, vorwiegend als Bedrohung Herausfordernde Prävention und Früh erkennung wahrgenommen. von Mehrfachproblematiken Aus Sicht der Fachpersonen braucht es in allen Institutionen ent- «Wenn ich einen Fehler mache, dann kommt [Kind] weg lang der Nahtstellen I und II eine höhere Sensibilität für Problem- und wird auch bestraft, wegen mir.» 14 Im Rahmen der hier zugrunde liegenden Studie (Schaffner, Heeg, Chama- kalayil, Schmid 2022, S. 59–77) wurden drei sprachregionale Workshops mit je Benötigte Unterstützung ca. 15 Fachpersonen aus unterschiedlichen Bereichen und Handlungsebenen durchgeführt. Die Zitate stammen aus zusammenfassenden Protokollen zu Die mangelnde Unterstützung durch die Herkunftsfamilie und den Workshops. In einem Fall handelt es sich um eine Aussage aus einem For- das weitere soziale Umfeld erfordern dauerhafte und stabile schungsbericht, die in den Workshops bestätigt wurde durch die Fachpersonen. Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 21 lagen von jungen Menschen, insbesondere auch in der Volks- Ausbildungsplatzsuche). Die Angebote sind bezüglich zeitlicher schule. Nur so kann eine überfordernde Situation früh erkannt und personeller Ressourcen begrenzt und auf das Ziel der Be- und auch früh darauf reagiert werden. Des Weiteren ist oftmals rufsintegration fokussiert. zu wenig geklärt, wer innerhalb der Angebote für eine erste Falleinschätzung und für Interventionen vor Ort zuständig ist. Auch bei Integrationsangeboten der Invalidenversicherung oder Unklar ist auch häufig, an welche Stellen man sich wenden soll, der Sozialhilfe steht die Vorbereitung und Vermittlung in eine wenn eine vertiefte Abklärung nötig ist. Die Volksschulen weisen Ausbildung im Zentrum. Dies führt häufig dazu, dass kaum Res- Jugendliche oft erst dann dem Case Management Berufsbildung sourcen vorhanden sind, um auf Bedarfe in anderen Lebens- zu, wenn sich Problemlagen bereits verfestigt haben. Die Zu- bereichen zu reagieren. Dies wäre aber bei jungen Menschen sammenarbeit zwischen Volksschule und Case Management mit Mehrfachproblematiken unbedingt nötig. Integrationsan- Berufsbildung dürfte proaktiver geschehen. gebote, die einen engen Fokus auf berufliche Integration und nicht auf soziale Integration legen, sind daher für Jugendliche mit Mehrfachproblematiken nur bedingt geeignet. «Ja, Früherfassung und -intervention sind wichtig – aber nicht nur auf der Volksschulstufe. Entscheidend ist auch, wie die Angebote damit umgehen.» «Die Rahmenbedingungen und der Fokus auf die Berufs- bildung sind bei komplexen Fällen zu eng, es lässt nicht zu, «Zugleich darf man aber nicht in eine «Machbarkeitsphantasie» was nötig wäre. Insbesondere der zeitliche Rahmen ist selbst verfallen und denken man könne mit genügend Prävention komplexe bei zielgruppenspezifischen Angeboten wie dem CM BB oft Problemlagen vermeiden. Meist erkennt man Fälle erst, wenn Problem- zu begrenzt.» lagen bereits komplex sind, dies liegt in der Natur von Mehrfach- problematiken.» «Ein strenges beratungstechnisches Vorgehen im Case Management ist oftmals nicht angebracht. Vielfach müssen kleine Entwicklungsschritte begleitet werden.» Institutionelle Zuständigkeiten begrenzen «Der Wunsch nach Selbstständigkeit und Eigenver- breite Abklärung und Unterstützung antwortung setzt jeweils eine umfassende, ganzheitliche Bei Anzeichen von Mehrfachproblematiken braucht es eine fun- (360°) Unterstützung voraus.» dierte, breite Abklärung, die verschiedene Lebensbereiche ein- bezieht. Ungeklärt ist häufig, welche Stelle dafür zuständig ist. Je nachdem, von wem, aus welchem Grund und zu welchem Gefahr der Risikoselektion Zeitpunkt eine Abklärung veranlasst wird, werden unterschied- Die Marktförmigkeit der Angebotslandschaft und die Vereinba- liche Stellen damit betraut: bspw. schulpsychologischer Dienst, rungen von engen Leistungszielen mit der Auftraggeberschaft Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, Sozialhilfe, Case Ma- können dazu beitragen, dass Anbietende von Zwischenlösun- nagement Berufsbildung. Jede dieser Stellen trifft Abklärungen gen, ihrem Auftrag geschuldet, eine Risikoselektion vornehmen. entsprechend ihrem Auftrag und ihrer Zuständigkeit. Bei einem Gemeint ist damit, dass «erfolgversprechende» Jugendliche be- engen institutionellen Blick, der auf die eigenen «Kernthemen» vorzugt aufgenommen werden, weil mit diesen die Vorgaben fokussiert, ist die Gefahr gross, dass komplexe Problemlagen eher erfüllt werden können. Damit werden diejenigen ausge- nicht adäquat erkannt und vor allem nicht adäquat bearbeitet schlossen, die am meisten Hilfe benötigen würden. werden. Die Ausdifferenzierung des Systems erschwert somit eine bedarfsorientierte, breite Abklärung und die Verknüpfung von Hilfen aus unterschiedlichen Unterstützungssystemen. «Eine Risikoselektion ist insofern Teil der Triage bei den Auch gesetzliche Vorgaben können als sinnvoll erachtete Kom- Brückenangeboten, als unmotivierten und an Disziplin binationen von Hilfen erschweren oder verhindern. mangelnden Jugendlichen sowie kranken Jugendlichen und Drogen oder unmässig Alkohol Konsumierenden der Zutritt zu einem Brückenangebot verwehrt bleibt.» «Die Abklärung erfolgt zu häufig im Rahmen eines spezifischen (Landert und Eberli 2015, «Bestandsaufnahme der Zwischenlösungen Auftrags und bezogen auf eine spezifische Institution, beispielsweise an der Nahtstelle I». Zürich) die Arbeitslosenversicherung.» «Jeder pflegt seinen Garten, aber niemand ist zuständig für den Unübersichtliches und unflexibles Gartenzaun.» Ü bergangs system Das unübersichtliche Übergangssystem mit seinen vielfältigen Enge Zielsetzungen in Unterstützungs angeboten Angeboten trägt auch für Fachpersonen zu einem grossen Auf- Besonders sichtbar werden die Folgen von engen Zielvorga- wand bei und erschwert die Übersicht. Noch viel herausfordern- ben bei Zwischenlösungen wie Brückenangeboten und Moti- der ist das komplexe System aus Sicht der Fachpersonen aber vationssemestern. Die Zwischenlösungen haben die Aufgabe für junge Menschen und deren Umfeld. Dies erhöht die Zu- der Vorbereitung auf die Berufsbildung (Berufsorientierung und gangsschwelle der Angebote und trägt zu Verzögerungen bei. 22 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Wenn dann auch noch – wie es oft der Fall ist – die Abklärungen unklar, welche Informationen unter welchen Bedingungen aus- lange dauern und geeignete Angebote nicht zeitnah zugänglich getauscht werden müssen resp. dürfen (Vollmachten, Verein- sind, kann sich in der Wartephase die Situation der jungen Men- barungen, Gesetze). Hier besteht insgesamt ein Klärungsbedarf. schen massiv verschlechtern. Auf den Punkt gebracht: Was es braucht … aus Sicht von Betroffenen und Fachpersonen: «Das Hilfesystem ist für Jugendliche und auch Eltern • Es braucht mehr Sensibilität für Mehrfachproblematiken in al- unübersichtlich und überfordernd. Das hat zur Folge, dass len Unterstützungsangeboten entlang der Nahtstellen I und II. sich die jungen Menschen oft nicht an die ‹richtige Stelle› • Es sind nachhaltige Beziehungsangebote und niederschwel- wenden, sondern dass der Zufall entscheidet, wo sie sich lige Anlaufstellen für Erstabklärung nötig. Unterstützung holen. Und dann kommen noch die ad- • Es braucht eine abklärende Stelle, die bei vielfältigen Fragen ministrativen Hürden dazu, die einschüchternd sind.» jugendgerecht berät, den Bedarf der jungen Menschen um- fassend abklärt und bedarfsorientiert Hilfen über institutionel- le Grenzen hinweg aufgleist (ein Case Management). Suboptimale Zusammenarbeit • Es braucht eindeutige Zuständigkeiten für die Koordination Bei Mehrfachproblematiken ist eine Koordination von verschie- der Hilfen auf Ebene 1. Die interinstitutionellen Kooperationen denen Hilfen nötig. Dazu ist zwingend eine enge Zusammen- und Zuständigkeiten zwischen den relevanten Stellen sind zu arbeit zwischen den verschiedenen Stellen nötig. Gegenwärtig klären und die Kooperationen sind horizontal und vertikal – bestehen vielfältige kantonale/regionale Formen der Zusam- mit entsprechenden Ressourcen – zu pflegen. menarbeit auf unterschiedlichen Ebenen und zwischen ver- • Zwischenlösungen oder Angebote der beruflichen und sozia- schiedenen Partnerorganisationen. Trotzdem fällt gemäss den len Integration sind für junge Menschen mit Mehrfachproble- Fachpersonen die Koordination von Hilfen aus unterschiedli- matiken im Einzelfall in Bezug auf Ziele, Dauer und Umfang der chen Systemen oft schwer, da die Zusammenarbeit ungenü- Unterstützung etc. flexibel und bedarfsorientiert auszurichten. gend geregelt ist. Es besteht Klärungsbedarf in Bezug auf Kom- munikation, Zuständigkeiten, Kompetenzen, Ressourcen und in Bezug auf die Steuerung der interinstitutionellen Kooperation Beispiele innovativer Übergangs­ und der Koordination der Angebote. Die suboptimale Klärung systeme der interinstitutionellen Kooperation führt zu Doppelspurigkeit bei der Fallbearbeitung und zu hohem Absprachebedarf. Zu- Die folgenden zwei kantonalen Beispiele geben Einblick, wie die gleich bleibt die Pflege der Zusammenarbeit, wenn diese nicht Kantone Genf und Basel-Stadt15 mit den Herausforderungen im geregelt ist, abhängig vom Engagement von einzelnen Fach- Übergangssystem umgehen. Die beiden Beispiele zeigen, dass personen. Des Weiteren sind die Zuständigkeitsbereiche zwi- unterschiedliche Lösungsansätze verfolgt werden und welche schen dem CM BB und anderen Strukturen interinstitutioneller Erfolgsfaktoren sich auf unterschiedlichen Ebenen lokalisieren Kooperation oft unklar. lassen. «Die Verknüpfung und interinstitutionelle Koordination Kanton Genf «Cité des Métiers» und von Leistungen ist zentral für die Qualität der Hilfen, denn «Cap Formations» dies garantiert Chancengleichheit und eine Systematik. Die «Cité des Métiers» CdM ist ein spezifisches Beratungs- und Hier bestehen noch zu viele Unklarheiten und Heraus- Informationszentrum zu Themen der Berufsbildung und Arbeit. forderungen.» Die CdM der Region Genf besteht seit 2008 als Kooperation zwischen dem Departement für Sicherheit, Arbeit und Gesund- heit, dem Erziehungsdepartement und dem Departement für Datenschutz versus Informationsaustausch Sozialen Zusammenhalt. Die Zusammenarbeit basiert auf den Eine grosse Herausforderung wird in Bezug auf den Austausch Vorgaben des internationalen Modellprojekts «Cité des Métiers». von Fallinformationen bei komplexen Fällen wahrgenommen. Jede Partnerorganisation (Berufsbildung, Arbeitslosenversiche- Für eine gelingende Fallbegleitung sind bestimmte Informatio- rung und Sozialhilfe) stellt einen bestimmten Prozentsatz ihrer nen wichtig. Dies auch, um bei komplexen Fällen ein gemein- Ressourcen für die «Cité des Métiers» zur Verfügung. Die Haupt- sames Verständnis zwischen fallführenden und fallbegleitenden verantwortung liegt beim Amt für Berufsberatung, Berufs- und Personen zu erlangen und zielgerichtet arbeiten zu können. Weiterbildung. Ziel der interinstitutionellen Kooperation ist es, Aus datenschutzrechtlichen Gründen dürfen aber besonders öffentliche und private Akteure zu vernetzen und deren Ange- schützenswerte Daten nur unter streng definierten Vorausset- bote (fallbezogen) zu koordinieren. zungen geteilt werden. Den Fachpersonen in der Praxis ist oft «Ein vollständiger Evaluationsrahmen ist notwendig, denn 15 Im Rahmen der Studie «Unterstützung von Jugendlichen und jungen ab einem bestimmten Alter müssen Informationen über die Erwachsenen mit Mehrfachproblematiken an den Nahtstellen I und II» wurden Jugendlichen vorhanden sein.» Workshops mit Fachpersonen der Überganssysteme der Kantone Genf und Basel-Stadt geführt. Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 23 Abbildung 1: Cité des Métiers im Kanton Genf Ebene 0 Strategische Ebene Departement Sicherheit, Erziehungsdepartement Departement für sozialen Arbeit und Gesundheit Mittelschulen/Berufsbildung Zusammenhalt (DSES) (DIP) (DCS) Ebene 1 Fallführung Kantonales Arbeitsamt Amt für Berufsberatung, Sozialamt (OCE) Berufs- und Weiterbildung (HG) (OFPC) Cité des Métiers (CdM) CAP Point Formations (CF) Jeunes (<25 J.) (18–25 J.) Ebene 2 Fallbegleitung SEMO u. a. Tremplin Jeunes diverse Massnahmen Massnahmen der (OCE) (15–25 J.) privater Träger Die zentrale Eingangspforte für Jugendliche und junge Men- Folgende Erfolgsfaktoren wurden von den befragten Fachper- schen mit Unterstützungsbedarf ist die «Cité des Métiers» (CdM). sonen in Genf hervorgehoben: CdM übernimmt die Erstberatung und triagiert bedarfsgerecht • eine Umsetzung gemäss dem internationalen Modellprojekt an weitere Stellen. Sie steht der gesamten Bevölkerung ohne «Cité des Métiers», welche Orientierung und Unterstützung Voranmeldung offen, ist kostenlos, anonym, freiwillig und nie- beim Aufbau der interinstitutionellen Zusammenarbeit zwi- derschwellig zugänglich. schen den Bereichen Berufsbildung, Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe bietet Für junge Menschen bestehen nach der Erstabklärung bei CdM • geklärte interinstitutionelle Zusammenarbeit zwischen den spezifische Angebote: «Cap Formations» (CF) übernimmt das Partnerorganisationen der CdM (E1) und den assoziierten spe- Case Management Berufsbildung. «Tremplin Jeunes» unterstützt zialisierten Angeboten (E2) das CF bei der Klärung der Gesamtproblematiken der jungen • regelmässige horizontale und vertikale Austauschtreffen Menschen und erstellt ein Konzept für ihre schulische und beruf- zwischen den Partnerdiensten, die von der Leitung der CdM liche Ausbildung. Besteht das Konzept, übernimmt CF wieder organisiert werden die Fallbegleitung/-koordination. Junge Erwachsene, die vorerst • Online-Leitfaden für alle Partnerdienste zur Koordination von keine Ausbildung beginnen können, werden von «Point Jeunes», relevanten Informationen zur Zusammenarbeit einer Dienststelle des Genfer Sozialamtes, begleitet. Hier werden • die Organisation der Dienste der Partnerorganisationen (E1) beispielsweise Notunterkünfte oder Möglichkeiten des Drogen- am gleichen Ort entzugs vermittelt. • ausführliche Schulung aller neuen Mitarbeiterinnen und Mit- arbeiter der CdM mit Einblick in die Arbeitsweise der Partner- Die «Cité des Métiers» (CdM) Genf ist ein Beratungs- und Informations- dienste zentrum, das nach den Grundsätzen des internationalen Netzwerks • CdM alsniederschwellige zentrale Anlaufstelle mit Triagefunk- der «Cité des Métiers» konzipiert ist. Dem Netzwerk «Cité des Métiers» tion, welche die Möglichkeit bietet, sich im Unterstützungs- haben sich etwa 32 Länder angeschlossen. CdM will die interinstitutio- system zu orientieren und Zugang zu passenden Hilfen zu nelle Kooperation klären und damit bedarfsorientierte Unterstützung finden für Jugendliche und Erwachsene insbesondere bei Fragen zur Berufsfin- dung oder Arbeitsplatzsuche ermöglichen. Bei weiterem Bedarf besteht die Möglichkeit der Triage bspw. zur Sozialhilfe. Die Netzwerkpartner einer CdM verpflichten sich, die Qualität der Projektstruktur sicherzustel- len, sich auszutauschen und sich beim Aufbau sowie der Durchführung von Projekten zu unterstützen. 24 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Abbildung 2: Strategiegruppe Jugendarbeitslosigkeit und Gap im Kanton Basel-Stadt Ebene 0 Strategische Ebene Regierungsrat Regierungsrätliche Delegation (Departement Wirtschaft, Soziales und Umwelt, Departement Bildung, Präsidialdepartement) Amt für Erziehungs- Amt für Kantonale Mittelschulen/ Integration, Kinder-/ Wirtschaft departement, Ausbildungs- Sozialhilfe Berufsbildung Diversität Jugenddienst und Arbeit Sekl beiträge Geschäftsleitung «Strategiegruppe Jugendarbeitslosigkeit» Ebene 1 Fallführung Amt für Arbeitsamt, Mittelschul- und Medizinischer Migrations- Kinder- und Sozialhilfe Sozialbeiträge RAV Berufsbildungsamt (ED) Dienst amt Jugenddienst Leitung Invaliden- CM BB versicherung Gap <25 J. CM BB / Triage Ebene 2 Fallbegleitung Brücken- Jugend- Sucht- Beru./soziale Budget- Spezische Wohn- SEMO angebote beratung beratung Integration beratung Bedürfnisse beratung Kanton Basel-Stadt: «Strategiegruppe Jugend- Folgende Erfolgsfaktoren wurden von den befragten Fach- arbeitslosigkeit» und «Gap» personen im Kanton Basel-Stadt hervorgehoben: Im Kanton Basel-Stadt wurde im Jahr 2006 im Rahmen eines • Die Gründung der «Strategiegruppe Jugendarbeitslosigkeit» Regierungsratsbeschlusses eine interdepartementale «Strate- ist Ausdruck eines klaren politischen Willens bzw. eines poli- giegruppe Jugendarbeitslosigkeit» geschaffen, die sich zum tischen Commitments, junge Menschen, die von Arbeitslosig- Ziel setzte, Jugendlichen eine Ausbildung auf Sekundarstufe II keit bedroht sind, nachhaltig zu unterstützen. zu ermöglichen und Jugendarbeitslosigkeit zu verhindern. Die • In der interdepartemental zusammengesetzten «Strategie- «Strategiegruppe Jugendarbeitslosigkeit» ermöglicht die Vernet- gruppe Jugendarbeitslosigkeit» sind alle relevanten Partner- zung über die verschiedenen Departemente hinweg und die institutionen «in einem Boot», um systemübergreifend zu han- Steuerung der kantonalen Interventionen aus einer Gesamt- deln. So entwickelte sich eine gemeinsame Haltung, was eine sicht. Ein weiteres zentrales strukturelles Element stellt für junge Grundlage für übergreifende strategische Entscheide darstellt. Menschen die Fachstelle Gap dar, die das Case Management • Ein gemeinsamer Fonds zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Berufsbildung durchführt. (Krisenfonds) ermöglicht die departementsübergreifende Finanzierung von Projekten zur Bekämpfung von Jugend- Die Fachstelle Gap stellt eine zentrale Anlaufstelle für junge arbeitslosigkeit und in speziellen Fällen für Einzelfallförderung. Menschen mit mehrfachem Unterstützungsbedarf und für • Die Fachstelle Gap wurde eingeführt, um das Case Manage- Fachpersonen dar. Gap begleitet Jugendliche mit Schwierig- ment Berufsbildung für Zielgruppen mit mehrfachem Unter- keiten in mehreren Lebensbereichen, bspw. in Bezug auf Geld, stützungsbedarf anzubieten. Gap koordiniert Hilfe, die Fallfüh- Beziehungen, Gesundheit, Wohnen, Ausbildung. Dabei müssen rung bleibt bei den jeweils zuständigen fallführenden Stellen. die Jugendlichen allerdings das Ziel haben, eine Ausbildung zu absolvieren. Gap unterstützt die Koordination von Hilfen unterschiedlicher Stellen, welche – ihren jeweiligen Kriterien entsprechend – Leistungen finanzieren. Im Gegensatz zur «Cité des Métiers» in Genf ist die interinstitutionelle Kooperation der Ebenen 1 und 2 (horizontal und vertikal) nicht verbindlich gere- gelt, sondern sie basiert auf der Eigeninitiative der Fachpersonen und Dienststellen. Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 25 ANHANG 26 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Praxisbeispiele zu einzelnen Erfolgsfaktoren Die nachfolgend gelisteten Praxisbeispiele wurden im Rahmen der hier zugrunde liegenden Studie recherchiert oder von Fach- personen eingebracht. Leitend bei der Auswahl waren Kriterien, die sich auf die oben dargestellten Erfolgsfaktoren beziehen: z. B. kantonale Gesamtstrategie, geregelte IIZ-Struktur, klare Einbettung des CM BB, spezifische Angebote für junge Menschen mit Mehr- fachproblematiken. Die Beispiele geben einen Einblick in unterschiedliche Ansätze der Kantone und ergeben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Weitere Strukturen mit förderlichen Elementen für die Begleitung von mehrfach belasteten jungen Men- schen (Ebene 0/1) Kanton Beschrieb Beispiel für AG «Kooperation Arbeitsmarkt» stellt eine erprobte und etablierte Form • eine – über längere Zeit – erprobte Interinstitutioneller Zusammenarbeit im Kanton AG dar. Hier arbeiten die Struktur Interinstitutioneller Zusam- Invalidenversicherung (IV) der SVA Aargau und die RAV des Amts für Wirt- menarbeit. (Ebene 1) schaft und Arbeit (AWA) mit interessierten Gemeinden systematisch und intensiv zusammen, mit dem Ziel der Arbeitsintegration. «Kooperation Arbeitsmarkt» bezieht sich allerdings nicht explizit auf junge Menschen, schliesst diese aber auch nicht aus. www.kooperation­arbeitsmarkt.ch 16 BE Die Bildungs- und Kulturdirektion, zwei weitere Direktionen und die Invali- • eine explizite Kooperation von Sozial- denversicherung organisieren sich in der Interinstitutionellen Zusammen- hilfe und CM BB (Betreuungskette), arbeit (IIZ), um die Massnahmen zur Integration von Jugendlichen in die was die nachhaltige Verknüpfung Berufsbildung und von erwerbslosen Personen in den Arbeitsmarkt zu von Leistungen ermöglicht. (bspw. koordinieren. Im Rahmen der «Betreuungskette» Kanton BE wird bspw. CM BB für berufliche Integration statt die Zusammenarbeit zwischen dem CM BB und der Sozialhilfe geregelt. Begleitung durch Sozialhilfe) Damit können Jugendliche und junge Erwachsene in der Sozialhilfe im • eine kantonale Koordination der Hinblick auf ihr Berufsintegrationsziel langfristig begleitet werden. Themen Zwischenlösungen auf Ebene 1, wie wirtschaftliche Hilfe, Gesundheit und Wohnen bleiben in der Verant- dies lässt die Steuerung der An - wortung des jeweiligen Sozialdienstes. gebotslandschaft zu • eine Vermittlung der jungen Das Amt für Mittelschul- und Berufsbildung koordiniert ausserdem Zwi- Menschen an geeignete Angebote schenlösungen wie Brückenangebote und Motivationssemester und ver- (Triage) mittelt die Jugendlichen an die verschiedenen Angebote. www.bkd.be.ch › Mittelschul­ und Berufsbildungsamt › Interinstitutionelle Zusammenarbeit BS Die Strategiegruppe «Jugendarbeitslosigkeit» besteht aus einer regie- • eine interdepartementale rungsrätlichen Delegation verschiedener Amtsstellen aus dem Departe- strategische Steuerung ment Wirtschaft, Soziales und Umwelt, dem Departement Bildung sowie • ein strategisches Gremium auf dem Präsidialdepartement. Die interdepartementale Strategiegruppe zielt Ebene 0, das relativ schnell auf darauf, Jugendlichen eine Ausbildung auf Sekundarstufe II zu ermöglichen gesellschaftliche Herausforderungen und Jugendarbeitslosigkeit zu verhindern. Die Strategiegruppe sichert die von jungen Menschen im Übergang Vernetzung über die verschiedenen Departemente hinweg und die Steue- in die Erwerbsarbeit reagieren kann rung der kantonalen Interventionen aus einer mehrperspektivischen Sicht. • eine Möglichkeit der Finanzierung Ein weiteres zentrales strukturelles Element stellt für junge Menschen die von Projekten und Einzelpersonen Fachstelle Gap dar – bzw. das Case Management Berufsbildung. über einen Krisenfonds www.jugendarbeitslosigkeit.bs.ch › Strategiegruppe Jugendarbeitslosigkeit 16 Zugriff auf diese und alle nachfolgenden Websites im Herbst 2021. Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 27 Kanton Beschrieb Beispiel für FR Die Kommission für Jugendliche mit Schwierigkeiten bei der beruf- • eine andere Möglichkeit der IIZ mit lichen Eingliederung (KJS) zielt auf die konzeptionelle Ausrichtung des einer expliziten Fokussierung auf die Betreuungssystems für Jugendliche. Die interinstitutionelle Kommission ist Anliegen der jungen Menschen mit zusammengesetzt aus Amtsvorsteher bzw. Amtsvorsteherin der Volkswirt- Mehrfachproblematiken schaftsdirektion (VWD), Amt für Berufsberatung und Erwachsenenbildung • ein integriertes CM BB als Teil der (BEA), Amt für französischsprachigen obligatorischen Unterricht (FOA), Plattform Jeunes (PFJ) Amt für Berufsbildung (BBA), Amt für den Arbeitsmarkt (AMA), Kantonales Sozialamt (KSA,) IV-Stelle und der Projektleiterin der KJS-Kommission. Die KJS ist für die strategische Steuerung zuständig und hält die Verbindung zum Staatsrat. Für die Umsetzung, d.h. die Abklärung und die Wahl der geeigneten Eingliederungsmassnahme in Bezug auf die Bedürfnisse und Probleme der Jugendlichen, ist die Plattform Jugendliche PFJ/Plateforme Jeunes zuständig. www.fr.ch › Volkswirtschafts­ und Berufsbildungsdirektion › Plattform Jugend­ liche (PFJ) GE Die «Cité des Métiers» stellt ein spezifisches Beratungs- und Informa- • die Umsetzung einer klar geregel- tionszentrum dar, das nach internationalen Grundsätzen entwickelt wurde. ten interinstitutionellen Zusammen- Sie beruht auf einer Kooperation zwischen dem Departement für Sicher- arbeit gemäss dem international heit, Arbeit und Gesundheit, dem Erziehungsdepartement und dem bewährten Modellprojekt der «Cité Departement für Soziale Zusammenhalt. des Métiers» www.reseaucitesdesmetiers.com Ziel der interinstitutionellen Kooperation ist es, öffentliche und private • eine interinstitutionell zusammenge- Akteure zu vernetzen und deren Angebote für die Klientinnen und Klien- setzte Dienststelle unter einem Dach, ten zugänglicher zu machen und besser zu koordinieren. was die Zusammenarbeit erleichtert www.citedesmetiers.ch • eine vorgelagerte Erstabklärungs- Als weitere Strategie zur Vermeidung von vorzeitigen Ausbildungsabbrü- stelle, die als erfolgversprechend chen wurde im Kanton Genf die Schulpflicht auf 18 Jahre gesetzt. beurteilt wird • eine Informations- und Beratungs- www.ge.ch › Formation obligatoire jusqu‘à 18 ans stelle, die sich zwar grundsätzlich an alle Personen mit Bedarf richtet, die aber gut verknüpft ist mit Ange- boten für junge Menschen (CM BB, SEMO, Angebote der Sozialhilfe) LU Zur Absicherung der Berufsintegration wurde die interinstitutionelle • einen expliziten Fokus auf den Über- Zusammenarbeit gefördert. Beteiligt sind Organisationen aus Bildung, gang I bzw. die Integration in die Sozialwesen und Sozialversicherungen. Die «Kommission Berufsin- berufliche Grundbildung/Ausbildung tegration» ist vom Regierungsrat zusammengestellt. Die Dienststelle • eine gute Koordination von Angebo- Berufs- und Weiterbildung trägt die Hauptverantwortung für den Prozess ten auf E2 der beruflichen Integration und koordiniert die Massnahmen. Unter dem • eine Triage der jungen Klientin- Namen «startklar » laufen die Aktivitäten für alle Jugendlichen, die am nen und Klienten auf geeignete Ende ihrer obligatorischen Schulzeit ohne Anschlusslösung sind, zusam- Angebote men. Das Case Management ist in diese Struktur eingebettet. Die Zwi- schenlösungen werden hierüber koordiniert. www.beruf.lu.ch 28 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Kanton Beschrieb Beispiel für VD Das bereits bekannte Programm «Formation pour jeunes adultes en • ein Angebot, das bereits erprobt ist difficultés» (Forjad) stellt eine Kooperation zwischen dem Departement in der Begleitung und Beratung von für Gesundheit und Soziales (DSAS), dem Departement für Bildung, Jugend jungen Menschen und Kultur (DFJC) und dem Wirtschaftsdepartement (DEC) dar. Verfolgt • eine Verknüpfung von weiteren inte- wird eine gemeinsame Integrationspolitik. ressanten Ansätzen, z. B. Stipendien statt Sozialhilfe Dabei fokussiert das Programm auf drei Hauptthemen: Vorbereitung auf • eine starke Zusammenarbeit mit den Eintritt in eine Lehre, Berufsausbildung und anschliessende Arbeits- Integrationsangeboten und eine vermittlung. Die Zusammenarbeit unter den Kooperationspartnern gemeinsame Entwicklung der ermöglicht es, Beratung unter einem Dach anzubieten und bedarfsorien- Angebotslandschaft tiert weitere Projekte anzuschliessen (Forjad-Kurse mit Ausbildungsmög- • einen starken Verband von Integ- lichkeiten bspw. in der Reinigung), nötige Finanzierungen zu klären und rationsangeboten, der als Partner die Vermittlung in passende Integrationsangebote (Coaching während der gegenüber den Auftraggeberschaf- Ausbildung, Motivationssemester u. a). Im Kanton VD werden aktuell auch ten und der Wirtschaft tätig ist die Integrationsangebote «neu vermessen», um die Leistungen der Ange- bote besser sichtbar zu machen. Der Kanton VD arbeitet eng mit dem Dachverband der Waadtländer Inte- grationsorganisationen (Insertion Vaud) zusammen, um die Angebotspa- lette optimal entwickeln zu können. Insertion Vaud engagiert sich auch für die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, um hierüber Arbeits- und Ausbil- dungsplätze für die Teilnehmenden zu sichern. www.vd.ch › Centre d‘Orientation et de Formation Professionnelles › FORJAD www.lausanne.ch › Sport et cohésion sociale › Service social Ville de Lausanne SH Gegenwärtig wird im Kanton SH das interinstitutionelle Grossprojekt «Ent- • einen politischen und strategischen wicklung und Umsetzungsplanung einer Gesamtstrategie im berufli- Prozess mit dem Ziel, eine Gesamt- chen Übergangssystem» bearbeitet. Angestrebt wird eine Verbesserung strategie für das Übergangssystem der Koordination und Prozesse zwischen den Akteuren und eine bedarfs- zu entwickeln, die alle drei relevanten orientierte Gestaltung von Unterstützungsleistungen für alle. Ebenen berücksichtigt • Chancen und Herausforderungen bei Um dies zu erreichen, soll die Gesamtstrategie politisch legitimiert und der Umsetzung von allen relevanten Akteuren (relevante Institutionen und Dienststellen) mitgetragen werden sowie alle drei Ebenen des kantonalen Übergangs- systems einbeziehen. Deren Umsetzung soll künftig durch eine mit der Gesamtkoordination beauftragte Fach- und Koordinationsstelle gewähr- leistet werden. Im Rahmen der Projektarbeit konnten bereits erste Teilschritte umgesetzt werden. Dazu gehört der personelle Ausbau des bestehenden CM BB. Das Angebot setzt auf eine starke Kooperation mit allen relevanten Akteuren und Stellen und zeichnet sich durch eine niederschwellige Erreichbarkeit für alle Anspruchsgruppen aus. www.berufsbildung­sh.ch › Allgemeine Informationen Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 29 Kanton Beschrieb Beispiel für TI Vergleichbar mit der «Cité des Métiers» wurde im Kanton Tessin neu eben- • eine weitere systematische Zusam- falls eine «Citta dei Mestieri» eingeführt. Wie im Kanton Genf steht die menarbeit, die sich am internatio- CdM grundsätzlich allen Personen offen, auch jungen Erwachsenen oder nalen Modellprojekt CdM orientiert. Jugendlichen. Hierüber bestehen Verknüpfungen mit entsprechenden www.reseaucitesdesmetiers.com Angeboten für junge Menschen (l. «BIZ» und «Istituto della transitizione e • ein eigenes Institut für die berufliche del sostegno») und soziale Integration von jungen Menschen, das in Verbindung mit www.cittadeimestieri.ti.ch der CdM steht. Diese Verbindung der Für junge Menschen mit Schwierigkeiten bei der beruflichen und sozialen Angebote, die sich an junge Men- Integration bietet das «Istituto della transizione e del sostegno» vielfältige schen richten, mit der CdM erleich- Angebote für junge Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind: tert die niederschwellige Erstabklä- Case Management Berufsbildung, Motivationssemester, Orientierungs- rung und die Zugänge zu weiteren praktika individuelle Begleitung während der Ausbildung. Hilfen für die Klientinnen und Klien- ten mit Mehrfachproblematiken. www.ti.ch › Divisione della formazione professionale › Istituto della transizione e del sostegno Als weitere Strategie zur Vermeidung von vorzeitigen Ausbildungsabbrü- chen wurde auch im Kanton Tessin die Schulpflicht auf 18 Jahre gesetzt (ab 1.9.2021). ZH Die Arbeitsintegration Winterthur stellte im Auftrag der Sozialen • eine interinstitutionelle Zusammen- Dienste der Stadt Winterthur, umliegender Gemeinden und des Amts für arbeit im städtischen Kontext Wirtschaft und Arbeit (AWA) Integrationsprogramme mit den Zielpers- pektiven Berufsbildung und Arbeitsmarkt. Darunter sind diverse Ange- bote wie «Stabilisierung», «Abklärung», «Training» und «Praxiseinsatz». Das Spektrum der zuweisenden Stellen ist sehr breit. Die Fallführung liegt beim Sozialdienst. www.stadt.winterthur.ch › Arbeitsintegration VS Ziel der IIZ Wallis ist die Zusammenarbeit zwischen Institutionen der • eine IIZ Struktur, in die das Case beruflichen und sozialen Wiedereingliederung. Dazu werden Arbeits- Management Berufsbildung bzw. methoden und Massnahmen aus unterschiedlichen Institutionen zusam- die Plattform Übergang 1 (T1) mengelegt. Partnerinstitutionen sind die Dienststelle für Industrie, Handel eingebettet ist und Arbeit (DIHA), die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) und • eine breite Kooperation, die auch das die Logistik arbeitsmarktlicher Massnahmen, die kantonale IV-Stelle, die Potenzial hat, die Integrationsange- Dienststelle für Sozialwesen und ihre Sozialmedizinischen Zentren, die bote übergreifend zu koordinieren Dienststelle für Berufsbildung mit ihrer Berufs-, Studien- und Laufbahnbe- ratung und ihrer Plattform Übergang 1 (T1), Stiftung Sucht Wallis, Suva www.vs.ch › Dienststelle für Industrie, Handel und Arbeit › Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ) 30 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Exemplarische Auswahl von Angeboten für mehrfach belastete junge Menschen (Ebene 2) Region Beschrieb Beispiel für BS Im Rahmen der Jugendarbeit JuAr Basel bestehen unterschiedliche • eine niederschwellige Anlaufstelle Angebote: Die offene Jugendarbeit richtete sich mit vielfältigen Ange- und mit Vermittlungsmöglichkeit zu boten an 11- bis ca. 20-Jährige (jugendkulturelle Angebote, Workshops, spezialisierten Fachstellen Informationen, themenspezifische Projekte u. a. zu Berufsfindung, aufsu- • Lernangebote für Jugendliche, um chender Jugendarbeit etc.). Die Jugendberatungsstelle unterstützt junge sie in Alltagsfragen bei der Bewälti- Menschen zwischen 12 und 25 Jahren bei einem breitem Themenspekt- gung von Problemlagen zu stärken rum: u. a. «Finanzen», «Arbeit und Beruf», «Wohnungssuche». Durch die Ver- und zu beraten netzung mit vielfältigen Kooperationspartnerinnen und -partnern besteht die Möglichkeit der frühzeitigen Vermittlung an weitere Hilfen. www.juarbasel.ch › Jugendarbeit und Jugendberatung und www.jugendbera­ tung­juarbasel.ch GE Fondation Qualife-25ans bietet bedarfsorientierte Begleitung/Coaching • ein niederschwelliges Angebot der bei Berufsfindung und Lerncoaching während der Ausbildung, um die beruflichen und sozialen Integration Chancen auf Berufsintegration zu erhöhen. • ein individuelles Coaching https://qualife.ch › –25 ans › L’approche personalisée In Genf wurde dem Ansatz von Scenicprod VD folgend ein vergleichba- • ein niederschwelliges Integrations- res Angebot mit kreativ-künstlerischen Elementen aufgebaut (vgl. unten): angebot mit neuem Lernansatz zur Scène Active GE https://sceneactive.ch › L’association › A propos de scene Motivation und zur Steigerung des active Selbstwertgefühls von jungen Men- schen. Der Ansatz basiert auf kreati- ven und artistischen Elementen GR La Capriola stellt eine Ausbildungseinrichtung mit Internat dar, die Aus- • eine enge Zusammenarbeit mit Part- bildungen vor allem im Bereich Hotellerie, Gastronomie und im Touris- nerorganisationen (Betrieben) aus mus anbietet. Das 3-Säulen-Konzept «Ausbildung – Leben – Arbeiten» den Bereichen Hotellerie, Gastrono- ermöglicht Jugendlichen mit Unterstützungsbedarf, einen Beruf zu lernen mie und Tourismus und anschliessend möglichst selbstständig und eigenverantwortlich am • eine individuelle Begleitung auch in normalen Berufsalltag teilzunehmen. Dank eigener Ausbildungszentren der betrieblichen Ausbildung mittels und professionellen Partnerbetrieben sowie enger sozialpädagogischer Job Coaching Begleitung auch im Bereich Wohnen und Freizeit werden die Selbst- und Sozialkompetenzen der Jugendlichen auf allen Ebenen gestärkt. Mit der Nachbetreuung im Anschluss an die Ausbildung der Lernenden wird eine nahtlose Integration in den ersten Arbeitsmarkt angestrebt. Mit- tels Job Coaching begleitet La Capriola Lernende (oder Ausgebildete) in einem gastgewerblichen Betrieb. www.lacapriola.ch ZG Unter dem Verein BildungsNetz Zug werden vielfältige Angebote zur • eine gute Zusammenarbeit von ver- Unterstützung und Beratung von jungen Menschen mit Mehrfachprob- schiedenen Angeboten (E2), die auf lematiken zusammengeführt: das Case Management, das BildungsNetz+ den Bedarf von jungen Menschen sowie ein Lehrverbundbetrieb (LBV). Das Bildungsnetz+ bietet Unterstüt- bei der Ausbildungsplatzsuche und zung beim Lernen (z. B. im Rahmen der Fachkundigen Individuellen Bera- während der Ausbildung ausgerich- tung bei Attestausbildungen, Lerncoaching, Bewerbungscoaching). tet sind • Public Private Partnership www.bildungsnetzzug.ch › bnz­plus • eine Kooperation von Angeboten Der LBV stellt ein Ausbildungsgefäss für Lernende mit schulischen Heraus- unter einem Dach forderungen dar. Im Zusammenspiel mit Ausbildungsbetrieben unterstützt der LBV die Lernenden bei der Erreichung eines Berufsabschlusses in der beruflichen Grundbildung. www.bildungsnetzzug.ch › lbv Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 31 Region Beschrieb Beispiel für ZH QualiFutura bietet für Menschen, die von Flucht oder Gewalterfahrungen • niederschwelliges Angebot für spezi- betroffen oder aus anderen Gründen durch schwierige Lebenssituationen fische Zielgruppen (mit Flucht- und benachteiligt sind, begleitete Wohngemeinschaften – Job-Coach – Sup- Gewalterfahrung) ported Education. Zuweisende Stellen sind: Sozialdienste, Behörden und • eine koordinierte Verbindung von Ämter für Kindes- und Erwachsenenschutz, Jugendanwaltschaften und die Unterstützungsangeboten IV. Das Angebot besteht aus einer Vielzahl von Möglichkeiten, die je nach Bedarf einzeln oder kombiniert mit eigenen oder externen Angeboten passend zugeschnitten werden können. www.qualifutura.ch VD Scenicprod ist ein Angebot der Genossenschaft Démarche. Die Ein- • ein niederschwelliges Integrations- richtung bietet ein Angebot zur sozio-professionellen Eingliederung für angebot mit neuem Lernansatz zur Jugendliche und junge Erwachsene in Schwierigkeiten im Alter von 16 bis Motivation und zur Steigerung des 25 Jahren an. Vermittelt werden junge Menschen, die ein Eingliederungs- Selbstwertgefühls von jungen Men- einkommen (RI) beziehen und durch folgende Stellen vermittelt werden: schen. Der Ansatz basiert auf kreati- vom Sozialdienst der Stadt Lausanne (SSL), den Regionalen Sozialzentren ven und künstlerischen Elementen. des Kantons Waadt (CSR), dem Berufsbildungsamt (OCOSP), der Invaliden- versicherungsstelle (OAI) und dem Migrationsamt (EVAM). Scenicprod hat sich zum Ziel gesetzt, «die Kunst in den Dienst der Einglie- derung» zu stellen und will Jugendliche durch kreative und künstlerische Aktivitäten wieder mobilisieren. www.scenicprod.ch BS, BE, «Junge Mütter» Stadt Bern BE: www.bern.ch › Sozialamt der Stadt Bern › • Angebote für junge Mütter LU, ZH, Kompetenzzentrum Arbeit › Angebot junge Mütter als spezifische Zielgruppe West- AMIE BS: www.amie­basel.ch schweiz MIA LU: www.mia­innerschweiz.ch AMIE ZH: www.sah­zh.ch › Angebote › AMIE Zürich Jeunes Parents Westschweiz: www.jeunesparents.ch 32 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Rechtliche Rahmenbedingungen und Tätigkeiten auf Bundesebene Bereich Bundesverfassung Leistungen gemäss Bundesgesetzen aktuelle (Bundes­ (BV) und relevante für Kantone, Dritte, direkt an Weiterentwicklungen stelle) Bundesgesetze Jugend liche und junge Erwachsene mit Mehrfachproblematiken an den Nahtstellen I und II Berufsbildung BV Art. 63 Berufsbildung • Nationale Grundlagen für die strategische Gemeinsame Initiative von (SBFI) Berufsbildungsgesetz BBG Ausrichtung, Gesetzgebung und den Voll- Bund, Kantonen und Orga- • Art. 7 Förderung benach- zug in den Kantonen nisationen der Arbeitswelt teiligter Gruppen • Im Rahmen des Berufsbildungsgeset- «Berufsbildung 2030». In die- • Art. 9 Förderung der zes (Art. 54 BBG) können Entwicklungs- sem Rahmen kann die Tripar- Durchlässigkeit projekte und besondere Leistungen im tite Berufsbildungskonferenz • Art. 12 Vorbereitung auf öffentlichen Interesse von Kantonen und (TBBK) innovative Praxiskon- berufliche Grundbildung Organisationen der Arbeitswelt unter- zepte der Verbundpartner für • Art. 18 Berücksichtigung stützt werden, die auch junge Menschen die Berufsbildung zur Integra- individueller Bedürfnisse, in an den Nahtstellen I und II als Zielgruppe tion benachteiligter Gruppen Verbindung mit Art. 24 und haben. entwickeln. Berufsbildungsverordnung BBV Art. 8 oder mit BBV Art. 16+ 8 • Art. 55, lit. f Massnah- men zur Integration Jugendlicher u. a. mit soz. Schwierigkeiten Arbeitslosen- BV Art. 114 • Nationale Grundlagen für die strategische – versicherung Arbeitslosenversicherung Ausrichtung, Gesetzgebung und den Voll- ALV Arbeitslosenversicherungsge- zug in den Kantonen (SECO) setz AVIG • Definition und Finanzierung von Leis- • Art. 60 Bildungsmassnah- tungen der Kantone und Dritten gemäss men (Kurse, Übungsfirmen, AVIG: Beratung und Vermittlung für junge Ausbildungspraktika) Arbeitslose; arbeitsmarktliche Mass- • Art. 64a Programme zur nahmen, insbesondere Motivationsse- vorübergehenden Beschäf- mester, Berufspraktika und Einsätze in tigung, Berufspraktika und Praxisfirmen Motivationssemester • Direkte finanzielle Leistungen an junge Arbeitslose (Taggelder) Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 33 Bereich Bundesverfassung Leistungen gemäss Bundesgesetzen aktuelle (Bundes ­ (BV) und relevante für Kantone, Dritte, direkt an Weiterentwicklungen stelle) Bundesgesetze Jugend liche und junge Erwachsene mit Mehrfachproblematiken an den Nahtstellen I und II Invaliden- BV Art. 112 Alters-, Hinterlasse- • Nationale Grundlagen für die strategi- Revision IVG 2022 «Weiterent- versicherung nen- und Invalidenversiche- sche Ausrichtung und den Vollzug in den wicklung IV» 2022: Eines der IV rung und 112b Förderung der Kantonen zentralen Revisionsthemen (BSV) Eingliederung Invalider • Direkte finanzielle Leistungen an ver- ist es, Jugendliche und junge Bundesgesetz über die Invali- sicherte Personen, darunter auch Erwachsene mit gesundheitli- denversicherung IVG junge Menschen mit gesundheitlichen chen Einschränkungen gezielt (ab 1.1.2022): Beeinträchtigungen und verstärkt zu unterstüt- • Art. 3abis Früherfassung • Finanzielle Leistungen an Angebote von zen, damit sie die schwierigen • Art. 7d Frühintervention integrativen IV-Massnahmen zur gezielten Übergänge von der Schulzeit • Art. 8 und 8a Grundlage für (behinderungsbedingter) Vorbereitung zur Berufsbildung und später Eingliederung von Versicherten vor dem Ausbildungs- in den Arbeitsmarkt möglichst • Art. 14a, 15, 16, 18, start; Übernahme behinderungsbedingter gut bewältigen. 18a, berufliche Mehrkosten während der Ausbildung (z. B. Eingliederungsmassnahmen EBA, EFZ, IV-Anlehren) sowie für die Unter- • Art. 68bis IVG Mitfi- stützung bei der Arbeitsvermittlung. nanzierung des CM BB • Seit 1.1.2022 können weitere Leistungen und der kantonalen entschädigt werden: Früherfassungs- Brückenangebote tätigkeiten, Frühinterventionen sowie • Art. 14quater Beratung und Integrationsmassnahmen für 13- bis Begleitung durch IV 25-Jährige oder vorbereitende (behinde- rungsbedingte) Berufsberatungsmassnah- men. Darüber hinaus können neu auch reguläre kantonale Brückenangebote bis max. ¹⁄₃ pro von Invalidität bedrohtem 13- bis 25-Jährigen mitfinanziert oder kantonale Koordinationsstellen bis max. ¹⁄₃ der Kosten pro Jugendlichen, darunter auch solche mit Mehrfachproblematiken, unterstützt werden. Gesundheit BV Art. 118 Schutz der • Nationale Grundlagen für die strategische Umsetzung gesundheits- (BAG) Gesundheit Ausrichtung (z. B. Förderung der gesund- politische Strategie 2030 des heitlichen Chancengleichheit), Gesetzge- Bundesrats mit Schwerpunkt bung und den Vollzug in den Kantonen auf eine stärkere Förderung • Finanzbeiträge zur Gesundheitsförderung der gesundheitlichen Chan- an Dritte (z. B. Plattform miges.plus) cengleichheit von Jugend- • Förderschwerpunkte auf Basis des Alko- lichen, jungen Erwachsenen, holpräventionsfonds 2021, z. B. Jugend- insbesondere im Übergang liche im Übergang Schule – Berufswelt Schule – Beruf 34 Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt Bereich Bundesverfassung Leistungen gemäss Bundesgesetzen aktuelle (Bundes­ (BV) und relevante für Kantone, Dritte, direkt an Weiterentwicklungen stelle) Bundesgesetze Jugend liche und junge Erwachsene mit Mehrfachproblematiken an den Nahtstellen I und II Integration/ BV Art. 121 Gesetzgebung im • Nationale Grundlagen für die strategische Pilotierung eines Monitorings Migration Ausländer- und Asylbereich Ausrichtung, Gesetzgebung und den Voll- (2022–23) über die Umset- (SEM) Ausländer- und Integrations- zug in den Kantonen (z. B. Instrumente zur zung der Wirkungsziele der gesetz AIG Potenzialabklärung) IAS: z. B. ²∕₃ der 16- bis 25-jähri- • Art. 58 AIG Kantonale Inte- • Beiträge an Kantone zur Erreichung von gen VA/F sollen in einer post- grationsprogramme, Pro- integrationspolitischen Zielen (via kan- obligatorischen Ausbildung gramme und Projekte mit tonale Integrationsprogramme und die und die Hälfte der erwachse- nationaler Bedeutung Integrationsagenda Schweiz) nen VA/F nach 7 Jahren nach- • Art. 53a, Abs. 2 AIG Ziel- • Beiträge an Kantone im Asylbereich v.a. haltig in den ersten Arbeits- gruppen der Integrations- für den Aufbau der Arbeitsmarkt- und markt integriert sein. förderung, insbesondere Ausbildungsfähigkeit. Darunter sind auch Jugendliche Leistungen für Massnahmen der sozialen Ausweitung der Integrations- • Art. 55a AIG Unterstüt- Integration bei Personen ohne mittelfris- vorlehren INVOL ab Sommer zung der Kantone bei der tige Aussicht auf eine berufliche Integra- 2021 auch für Personen aus Integration von Perso- tion möglich. EU/EFTA- und Drittstaaten nen mit besonderem • Der Bund kann Beiträge zur Umsetzung Umsetzung Motion WBK-S Integrationsbedarf von Programmen und Projekten von 21.3964 «Lücken in der Integ- • Art. 14 VIntA Umsetzung nationaler Bedeutung leisten für Regel- rationsagenda Schweiz füllen. kantonale Integrationspro- struktur-Anschubfinanzierungen oder Chancengerechtigkeit für alle gramme (Beiträge an die Qualitätsentwicklungsprozesse, darunter Jugendlichen in der Schweiz» Kantone) u. a. die Integrationsvorlehre INVOL. ab 2024. • Art. 14a VIntA Umset- • Jugendliche, darunter auch solche mit zung der Integrations- Mehrfachproblematiken, zählen zu den agenda Schweiz (Asyl) im wichtigen Gruppen der Integration Rahmen der Kantonalen Integrationsprogramme (Integrationspauschale) (SECO, BSV, BV Art. 173 weitere Aufgaben • Koordination von Massnahmen zwischen Möglichkeit von Projektanträ- SEM, SBFI) und Befugnisse (Berufs-)Bildung, ALV, IV, Integration, Sozi- gen, die gezielt zur Verbesse- alhilfe und Gesundheit sicherstellen rung der Zusammenarbeit an • Schnittstellen und Lücken identifizieren den Schnittstellen beitragen • Zusammenspiel der involvierten Systeme verbessern, insbesondere in Fällen mit Mehrfachproblematiken Leitfaden zur Weiterentwicklung kantonaler Systeme im Übergang Schule – Ausbildung – Arbeitsmarkt 35