Die freie Verfügbarkeit der Online-Ausgabe dieser Publikation wurde ermöglicht durch das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), Stabsstelle »Publikationen und wissenschaftliche Informationsdienste«. Der Erwerb von Schlüsselkompetenzen in Ausbildungsverbünden 107 Bois-Reymond, M. du / Kosar Altinyelken, H. / Stauber, B. / Svab, Strübing, J. (2010): Grounded Theory – ein pragmatistischer A. / Ule, M. / Živoder, A. / Parreira do Amaral, M. (2012): Forschungsstil für die Sozialwissenschaften, Enzyklopädie Er- Governance of Educational Trajectories in Europe. Comparati- ziehungswissenschaften Online (EEO), 38. S., Weinheim. ve analysis case studies. GOETE Working Paper. Amsterdam. Struwe, U. (2007): Einige Aspekte zur Berufsorientierung von Broden, A. / Mecheril, P. (Hrsg.) (2010): Rassismus bildet. Bil- technisch interessierten Jugendlichen. Ein qualitativer Zugang. dungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Sub- http: / / www.kompetenzz.de / Produkte / Schriftenreihe#aheft4 jektivierung in der Migrationsgesellschaft, Bielefeld. Walther, A. (2011): Regimes der Unterstützung im Lebenslauf. Corbin, J. / Strauss, A. (2008): Basics of qualitative research: Ein Beitrag zum internationalen Vergleich in der sozialpäda- Techniques and procedures for developing grounded theory gogischen Forschung, Opladen. (3rd ed.), Thousand Oaks. Walther, A. / Stauber, B. (2013): Übergänge im Lebenslauf, in: Gildemeister, R. (2004): Doing Gender – Soziale Praktiken der Walther, A. / Stauber, B. / Schröer, W. / Böhnisch, L. / Lenz, K. Geschlechterunterscheidung, in: Becker, R. / Kortendiek, B. (Hrsg.), Handbuch Übergänge, Weinheim / München, S. 23 – 43. (Hrsg.) Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Wies- Winker, G. / Degele, N. (2011): Intersectionality as multi-level baden, S. 132 – 140. analysis. Dealing with social inequality, in: International Jour- Gomolla, M. / Radtke, F.-O. (2009): Institutionelle Diskriminie- nal of Women’s studies 18 (1), 51 – 66, http: / / www.tuhh.de / rung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, agentec / winker / pdf / 051-066 %20EJW-386084.pdf. 3. Aufl., Wiesbaden. Gomolla, M. / Rotter, C. (2012): Zugewanderte und einheimische Eltern: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Beurteilung von Schulpolitik und -praxis, in: Killus, D. / Tillmann, K.-J. (Hrsg.), Eltern ziehen Bilanz. Ein Trendbericht zu Schule und Bildungspolitik in Deutschland – Die 2. JAKO-O Bildungsstu- die, Münster, S. 113 – 142. Der Erwerb von Hall, S. (1994): Rassismus & kulturelle Identität. Ausgewählte S chlüsselkompetenzen in Schriften 2, Hamburg. A usbildungsverbünden: Helfferich, C. (2010): Die Qualität qualitativer Daten, 2. Aufl., Wiesbaden. Chance oder Risiko für Jugendliche Karl, U. / Böhringer, D. / Müller, H. / Schröer, W. / Wolff, S. (2012): aus bildungsfernen Herkunftsmilieus? Den Fall bearbeitbar halten. Gespräche in Jobcentern U 25, Opladen / Farmington Hills. Regula Julia Leemann und Rebekka Sagelsdorff Kosar-Altinyelken, H. / Aro, M. / Boron, F. / Demozzi, S. / Julkunen, I. / Mellottee, L. / Taddia, F. / Treptow, R. (2013): Coping and Support. GOETE Thematic working paper, Amsterdam. Zusammenfassung Lipsky, M. (2010): Street-level Bureaucracy: Dilemmas of the Dieser Beitrag untersucht auf der Grundlage einer empirischen Individual in Public services, New York. Studie in der Schweiz Chancen und Risiken von Ausbildungsver- bünden für den Erwerb von Schlüsselkompetenzen bei Auszubil- Maaz, K. / Nagy, G. (2010): Der Übergang von der Grundschule denden aus bildungsfernen Milieus. Die mehrfachen Betriebs- in die weiterführenden Schulen des Sekundarschulsystems: wechsel und die komplexere Organisation der Betreuung in Definition, Spezifikation und Quantifizierung primärer und se- A usbildungsverbünden verlangen in verstärktem Maße Kompe- kundärer Herkunftseffekte, in: Bundesministerium für Bildung tenzen, wie sie von Voß / Pongratz (1998) mit dem „Arbeitskraft- und Forschung (Hrsg.), Der Übergang von der Grundschule in unternehmer“ oder von Boltanski / Chiapello (2003) mit dem die weiterführende Schule. Leistungsgerechtigkeit und regio- „Projektmenschen“ beschrieben werden. Wir können zeigen, dass nale, soziale und ethnisch-kulturelle Disparitäten, Bonn / Ber- die Anforderungen an Selbstorganisation und Flexibilität für Ju- lin. gendliche aus bildungsfernem Herkunftsmilieu keine größere Mayring, P. / Gahleitner, S. B. (2010): Qualitative Inhaltsanalyse, Herausforderung darstellen als für Auszubildende aus akade- in: Bock, K. / Miethe, I. (Hrsg.), Handbuch qualitative Metho- misch geprägtem Milieu. Im Gegenteil gibt es Hinweise dafür, den in der Sozialen Arbeit, Opladen, S. 295 – 304. dass sie dieser Ausbildungsform positiver gegenüberstehen und sie als Chance sehen. Ostendorf, H. (2005): Steuerung des Geschlechterverhältnisses durch eine politische. Institution. Die Mädchenpolitik der Be- rufsberatung, Opladen. Abstract: The Acquisition of Key Competencies Parreira do Amaral, M. / Stauber, B. (2013): Access and Educa- in Training Networks: Opportunity or Risk for tion: Inequality and Diversity. GOETE Thematic working pa- Youths from Educationally Disadvantaged Families? per, Frankfurt a. M. Based on an empirical study conducted in Switzerland, this pa- Riegel, C. (2013): Intersektionalität und Othering. Zur plurifor- per looks at the opportunities and risks that the acquisition of key men Konstruktion von Anderen im Bildungskontext: Theoreti- competencies in training networks holds for apprentices from sche, methodologische, und empirische Perspektiven auf pä- educationally disadvantaged families. The rotation between sev- dagogische Praxen ihrer Reproduktion und ihrer möglichen eral training companies and the more complex organisation of Veränderung (unv. Habilitationsschrift). support – both common features of training networks – place Riegel, C. / Yildiz, E. (2011): Jugendliche mit Migrationshinter- greater demands on apprentices with regard to competencies grund – Akteure des sozialen Wandels oder determinierte characteristic of the ‘entreployee’ (Voß / Pongratz 1998) or the A ndere?, in: Pohl, A. / Stauber, B. / Walther, A. (Hrsg.), Jugend ‘project worker’ (Boltanski / Chiapello 2003). We are able to show – Akteurin sozialen Wandels, Weinheim / München, S. 163 – that the requirements with regard to autonomy and flexibility 181. pose no greater challenge for apprentices from educationally dis-advantaged families than for those from an academic background. Spivak, G. C. (1985): The Rani of Sirmur: An Essay in Reading On the contrary, our research indicates that they have a more the Archives, in: History and Theory: Studies in the Philoso- positive attitude towards this type of VET and regard it as an op- phy of History, 24(3), 247 – 272. portunity. Sozialer Fortschritt 4– 5/ 2014 DOI https://doi.org/10.3790/sfo.63.4-5.107 | Generated on 2022-10-03 08:44:14 OPEN ACCESS | Licensed under CC BY-NC-ND 4.0 | https://creativecommons.org/about/cclicenses/ 108 Der Erwerb von Schlüsselkompetenzen in Ausbildungsverbünden 1. Einleitung Leitorganisation Seit Ende der 1990er Jahre werden in den deutschsprachigen Ausbildungs- Ausbildungs- t Ländern so genannte Verbundausbildungen gefördert. Die Ko- betrieb A betrieb E operation verschiedener Ausbildungsbetriebe soll zu einer ver- Ausbildungs- besserten Qualität in der beruflichen Ausbildung führen.1 betrieb BAuszu- Ausbildungs- Auszu- betrieb D bildende/r 2 bildende/r 1 Ausbildungs- In der Praxis sind verschiedene Modelle von Ausbildungsver- betrieb C Auszu- Auszu- bünden vorhanden (BMBF 2011). Bei dem vom Bundesamt für bildende/r 2bildende/r 1 Berufsbildung und Technologie in der Schweiz geförderten Mo- Auszu-Auszu- dell wechseln die Auszubildenden während ihrer Lehrzeit meist bildende/r 2bildende/r 1 jährlich den Ausbildungsbetrieb (Rotationssystem). Eine überbe- Rotation (t) triebliche Trägerschaft (Leitorganisation, LO) wählt die Auszu- bildenden aus, schließt mit ihnen den Lehrvertrag ab, und weist Abbildung 1: Modell Ausbildungsverbund sie den wechselnden Ausbildungsbetrieben zu (siehe Abbildung 1). Die Auszubildenden werden von zwei Personen betreut (Prinzip der geteilten Betreuung). Ein Ausbildungsleiter in der Arbeitskraftunternehmers beschrieben. Demnach setzen Unter- Leitorganisation ist offizieller Lehrmeister und in dieser Funkti- nehmen in Folge des verschärften Wettbewerbs auf dem globa- on auch für die Beurteilung verantwortlich. Vor Ort in den Aus- len Markt zunehmend Strategien ein, um auch die latenten Fä- bildungsbetrieben ist eine Ausbildnerin beziehungsweise ein higkeiten der Arbeitnehmenden umfassender und vollständiger Ausbildner für die fachliche Ausbildung der Auszubildenden zu- zu nutzen. ständig. Ziel des Beitrages ist es, aufgrund der subjektiven Erfahrungen und Beurteilungen von Auszubildenden in diesem Modell die 2.1.1 Neue Spielräume – erhöhte Anforderungen Chancen und Risiken von Ausbildungsverbünden für den Erwerb Die entscheidende Veränderung von der tayloristisch-fordisti- von Schlüsselkompetenzen bei Auszubildenden aus bildungsfer- schen zur postfordistischen Arbeitsorganisation ist die Auslage- nen Milieus zu untersuchen. rung der betrieblichen Kontrolle an die Arbeitnehmenden selbst. Die mehrfachen Betriebswechsel und die komplexere Organi- Mit den wirtschaftlichen Veränderungen der 1980er und 1990er sation der Betreuung stellen, wenn mit der Struktur der traditio- Jahre wurden die bislang vorherrschenden rigiden betrieblichen nellen dualen Lehre verglichen wird, erhöhte Anforderungen an Kontrollmaßnahmen zunehmend als produktivitätshemmend er- die Kompetenzen der Auszubildenden. Es werden ihnen in ver- kannt, da sie neben hohen Kosten negative Auswirkungen auf die stärktem Maße arbeitsmarktbezogene Kompetenzen abverlangt, Leistungsbereitschaft implizierten und die Nutzung von Kreativi- wie sie von Voß und Pongratz (1998) mit dem „Arbeitskraftunter- tät und Innovation der Arbeitenden behinderten. Kern betrieb- nehmer“ oder von Boltanski und Chiapello (2003) mit dem „Pro- licher Reorganisationsmaßnahmen war entsprechend die Erwei- jektmenschen“ beschrieben werden. terung der Eigenverantwortung und Selbstorganisation von Ar- beitenden (Voß / Pongratz 1998, S. 137 ff.). In Bezug auf die be- Dies kann für Auszubildende aus sozial benachteiligten und rufliche Ausbildung stellt sich die Frage, inwiefern dieser schulbildungsfernen Familien einerseits eine Chance sein, da sie Paradigmenwechsel von Kontrolle hin zu Selbstverantwortung in diesen Ausbildungsorganisationen Kompetenzen wie Flexibili- die Organisation der Berufsausbildung und die Anforderungen an tät, Risikofreudigkeit, Mobilitätsbereitschaft und Selbständigkeit Auszubildende verändert hat. erwerben können, die in der postfordistisch organisierten Arbeits- welt ihre Integration und ihre beruflichen Karrieren befördern. Voß und Pongratz sprechen der neuen Arbeitsorganisation Boltanski und Chiapello formulieren in diesem Zusammenhang durchaus „zivilisatorisches Potential“ zu (ebd., S. 152): Sie eröff- die These, dass sich gerade in der projektförmigen Arbeitswelt net die Möglichkeit einer „neuen Arbeits- und Lebensqualität“ die Prägekraft des Klassenhabitus auflöst. Andererseits kann mit (ebd.), da sie Identifikationsmöglichkeiten und Gestaltungsfrei- Referenz auf die bekannten Bildungsungleichheiten und den ge- räume schafft. Diesen eingelagert sind jedoch grundlegend er- sellschaftskritischen Ansatz von Bourdieu angenommen werden, höhte Anforderungen an die Arbeitnehmenden, welche die Auto- dass genau diese Kompetenzen einem bildungsnahen Habitus ren in ihrer Schlüsselfigur des Arbeitskraftunternehmers mittels entsprechen (z. B. du Bois-Reymond / Diepstraten 2007; Bremer der Konzepte Selbst-Kontrolle, Selbst-Ökonomisierung und 2004; Hartmann 1990) und deshalb das Risiko vorhanden ist, Selbst-Rationalisierung herausarbeiten (ebd., S. 140): dass diese Ausbildungsform bei den bildungsmäßig und sozial (1) Selbst-Kontrolle: Arbeitskraftunternehmer planen, steuern benachteiligten Jugendlichen zu Überforderungen führt. Wir fra- und kontrollieren ihre Tätigkeit zunehmend selbst und brau- gen deshalb danach, ob die Ausbildung in dieser Ausbildungsor- chen dazu nur noch grobe Handlungsvorgaben. Aufgrund ganisation soziale Ungleichheiten abbauen kann oder die bekann- ihrer Flexibilität sind sie vielseitig einsetzbar und kön- ten Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft auch in dieser nen sich zusätzliche berufliche Qualifikationen eigenständig neuen Organisationsform von beruflicher Ausbildung reprodu- aneignen. Fixe Arbeitsstrukturen, -zeiten, -orte werden auf- ziert werden. gelöst, neue Arbeitsformen wie Home Office und Projektar- Die Daten stammen aus einem vom Schweizerischen National- beit werden eingeführt (Voß / Pongratz 2004, S. 24; 1998, fonds geförderten Forschungsprojekt zum Funktionieren von S. 140 ff.). In Ausbildungsverbünden müssen sich Auszubil- Ausbildungsverbünden, welches vier Verbünde untersucht.2 dende flexibel an unterschiedliche Betriebskontexte anpas- sen. Bei jedem Betriebswechsel sind die Auszubildenden ge- Den theoretischen Rahmen, Hypothesen und Fragestellung fordert, ihr bisheriges Wissen eigenverantwortlich mit dem skizzieren wir in Kapitel 2. Die empirischen Analysen finden neuen betriebsspezifischen Wissen abzugleichen. Die Tatsa- sich in Kapitel 3. und 4. Der Beitrag schließt mit einer Zusam- che, dass der Ausbildungsleiter nicht vor Ort im Betrieb ist menfassung und weiterführenden Überlegungen ab (Kapitel 5.). und die betrieblichen Ausbildnerinnen und Ausbildner bei 2. Theoretischer Rahmen und Fragestellungen 1 Für Deutschland vgl. BMBF 2011; für Österreich vgl. Lach- mayr / Dornmayr 2008; für die Schweiz vgl. BBT 2008. 2.1 Voß und Pongratz: Der Arbeitskraftunternehmer 2 SNF-13DPD3_134855 „Lehrbetriebsverbünde in der Praxis. Eine multiple Fallstudie zum Funktionieren und den Anforderungen Die grundlegenden Transformationsprozesse des Arbeitsmark- einer neuen Organisationsform der betrieblichen Lehre aus Sicht ver- tes sowie die veränderten Anforderungen an Arbeitnehmende schiedener Akteure“. Leitung: Regula Julia Leemann und Christian haben Voß und Pongratz (1998; 2004) mit dem Idealtypus des Imdorf, http: / / www.bildungssoziologie.ch / lehrbetriebsverbuende / . Sozialer Fortschritt 4– 5/ 2014 DOI https://doi.org/10.3790/sfo.63.4-5.107 | Generated on 2022-10-03 08:44:14 OPEN ACCESS | Licensed under CC BY-NC-ND 4.0 | https://creativecommons.org/about/cclicenses/ Der Erwerb von Schlüsselkompetenzen in Ausbildungsverbünden 109 jeder Rotation wechseln, führt zu Freiräumen, welche die 2.2 Boltanski und Chiapello: Entwicklung erhöhter Selbstverantwortung und Eigenstän- Die projektbasierte Welt digkeit sowie die Fähigkeit zur Selbststeuerung und -kontrol- le fördern, aber auch fordern. Pongratz und Voß (2003, S. 17) verweisen auf die inhaltliche Nähe ihrer Überlegungen zum „Neuen Geist des Kapitalismus“ (2) Selbst-Ökonomisierung: Der Arbeitskraftunternehmer be- von Boltanski und Chiapello (2003), in welchem die Entstehung handelt seine eigenen Kompetenzen als eine zu vermarkten- neuer Spielregeln und Erfolgsmaximen in der Wirtschaftswelt be- de Ware: Er entwickelt seine eigenen Fähigkeiten und Leis- schrieben wird. Dabei zeichnen sie nach, wie die betrieblichen tungen kontinuierlich weiter und orientiert sich dabei gezielt Reorganisationen der 1980er Jahre mit der Veränderung der ideo- an den Markterfordernissen. Er vermarktet seine eigene Ar- logischen Rechtfertigungen des Kapitalismus (des kapitalisti- beit proaktiv, auf dem Arbeitsmarkt wie im innerbetrieb- schen „Geistes“) einhergingen. Anschließend an die von Boltanski lichen Kontext (Voß / Pongratz 2004, S. 24; 1998, S. 142 f.). und Thévenot (2007) entwickelten sechs Rechtfertigungsordnun- Auszubildende in Ausbildungsverbünden müssen sich bei gen beziehungsweise Welten3 verorten die Autoren die neue Lo- jedem Wechsel des Ausbildungsplatzes erneut ‚verkaufen‘ gik kapitalistischen Handelns und Urteilens in einer siebten Welt, und bewähren. Oft stellen sie sich vor dem Wechsel am neu- der projektbasierten Welt: In dieser neuen Logik der betrieblichen en Ort vor, manchmal gibt es auch einen Bewerbungs- Organisation und Personalführung (Boltanski / Chiapello 2003, schnuppertag, der dem Ausbildungsbetrieb die Möglichkeit S. 149 ff.) werden für eine befristete Zeit unterschiedlichste Perso- gibt, einen unpassenden Auszubildenden zurückzuweisen. nen zusammengeführt und entwickeln gemeinsam hohe Aktivität. Im neuen Betrieb müssen die Auszubildenden sich in ein Danach gehen sie wieder auseinander, profitieren aber auch in neues Team integrieren, eine Beziehung zum neuen Ausbild- Zukunft von den in diesem Projekt aufgebauten Beziehungen. Die ner aufbauen, ihre ,Passung‘, d. h. ihre Kompetenzen, ihr Individuen tragen ihr persönliches Arbeitsportfolio mit sich und Arbeitsvermögen und ihre ‚Sozialverträglichkeit‘ unter Be- erweitern dieses aktiv (ebd. S. 155 f.). In neuen Konstellationen weis stellen. finden sie sich in anderen Projekten wieder zusammen, das Leben (3) Selbst-Rationalisierung: Arbeitskraftunternehmer richten ih- wird als eine Abfolge von Projekten aufgefasst. re alltägliche Lebensführung nach unternehmerischen Kalkü- len aus. Sie organisieren ihren gesamten Lebenszusammen- hang wie einen Betrieb, indem sie alle verwendbaren Res- 2.2.1 Die Qualitäten in der Projektwelt sourcen (Geld, Kontakte, Wohnraum, Arbeitsleistung von Bekannten u. a.) nutzen (Voß / Pongratz 2004, S. 24; 1998, Wer in der neuen, projektbasierten Welt als etwas gelten will, S. 143 ff.). In Ausbildungsverbünden fallen aufgrund der be- ist anpassungsfähig und flexibel. Er lässt sich leicht in immer wie- trieblichen Wechsel oft lange Arbeitswege an. Das Privatle- der neue Projekte integrieren, da er mobil und verfügbar ist, sich ben muss den betrieblichen Bedürfnissen unterworfen wer- in völlig unterschiedlichen Situationen zurechtfindet und Verän- den, unter Umständen ist z. B. ein zeitweiliger Wohnortwech- derungen gegenüber offen ist (Boltanski / Chiapello 2003, S. 158). sel erforderlich. Der Projektmensch ist autonom und selbständig, nichtsdestotrotz kann er sich für ein Projekt engagieren und andere dafür begeis- tern. Er weiß Risiken einzugehen und ist fähig, vielversprechende 2.1.2 Chancen und Risiken der neuen Arbeitsorganisation Kontakte zu knüpfen, um sein Netzwerk auszuweiten. Um sich in der Projektwelt zu bewähren, ist er bereit, auf alles zu verzichten, Nach Voß und Pongratz müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, was seine Verfügbarkeit einschränkt: Stabilität, Sicherheit, Ver- damit das emanzipatorische Potenzial des neuen Arbeitsmodells wurzelung und Bindungen werden eingetauscht für Autonomie, zum Tragen kommen kann: Zum einen muss es von sozial- und Ungebundenheit und Offenheit für Neues (ebd., S. 169). arbeitsrechtlichen Regulierungen flankiert werden, zum anderen müssen die „Schlüsselkompetenzen des Arbeitskraftunterneh- Das Modell von Ausbildungsverbünden können wir der pro- mers“ (Voß / Pongratz 1998, S. 155) systematisch ausgebildet und jektförmigen Welt zuordnen. Die Auszubildenden wissen zu Be- gefördert werden. Zu diesen gehören Sozial- und Kommunikati- ginn der Lehre nicht, welche Ausbildungsbetriebe sie durchlau- onskompetenzen, Selbstorganisation und -regulation, Marktori- fen werden. Sie sind aufgefordert, für Neues offen zu sein. Bei entierung, die Fähigkeit zur Autonomisierung und Selbstsoziali- den Wechseln müssen sie sich an jedem neuen Ort selbständig sation, wie auch die Kompetenz zur Regulierung und Begren- zurechtfinden, flexibel einsetzbar und anpassungsfähig sein und zung der Selbstausbeutung. sich mit ihren Kompetenzen einbringen. Die Betriebswechsel be- dingen auch, dass die Auszubildenden fähig sind, sich für eine Ausbildungsverbünde können dies sicherstellen: Die Ausbil- begrenzte Zeit mit einer gewissen Leichtigkeit und Souveränität dung findet in einem rechtlich abgesicherten Rahmen statt, und in eine neue Betriebskultur und in ein neues Team einzupassen viele der genannten Schlüsselkompetenzen werden hier implizit und problemlos wieder Abschied zu nehmen. Durch die Rotatio- (u. a. durch die Rotation und geteilte Betreuung) wie auch expli- nen vergrößern sie ihr berufliches Netzwerk und knüpfen Kon- zit (z. B. in internen Schulungen) vermittelt. takte, von welchen sie später profitieren können. Andere Autoren gelangen zu pessimistischeren Einschätzun- gen bezüglich des Potenzials des neuen Arbeitsmodells: Bröck- ling, welcher mit der Figur des Selbstunternehmers das Subjekti- 2.2.2 Chancen und Risiken der Projektwelt vierungsregime zeitgenössischer Managementkonzepte beleuch- Die Parallelen zum Arbeitskraftunternehmer sind unüberseh- tet, konstatiert beispielsweise, dass Überforderung und Verunsi- bar: Der Projektmensch verfügt über Selbstkontrolle, Autonomie cherung dem neuen Arbeitsmodell konstitutiv eingelagert sind und Flexibilität (Selbst-Kontrolle) (Boltanski / Chiapello 2003, (2007, S. 74, S. 289). S. 160); er versteht es, sich selbst darzustellen und ist andauernd Ausgehend von diesen Überlegungen können auch für Jugend- auf der Suche nach neuen Projekten, welche die eigene Employa- liche in Ausbildungsverbünden gewisse Risiken formuliert wer- bility verbessern (Selbst-Ökonomisierung) (ebd., S. 157); und er den. Auszubildende, welche einer engen Begleitung bedürfen unterwirft sein Privatleben der uneingeschränkten Verfügbarkeit und wenig selbständig arbeiten sowie solche, denen es schwer für neue Projekte (Selbst-Rationalisierung) (ebd., S. 169). fällt, sich laufend neuen Anforderungen zu stellen und diesbezüg- Während Voß und Pongratz (1998) primär das Risiko der lich das eigene Vermögen im erforderlichen Zeitpunkt ins richti- Überforderung und Prekarisierung der einem ungezügelten Markt ge Licht zu rücken, sind in einem Ausbildungsverbund unter Um- ausgesetzten Arbeitskraftunternehmer im Blick haben, richtet ständen überfordert. sich die Aufmerksamkeit von Boltanski und Chiapello (2001) auf das, was der Projektmensch aufgeben muss, um in der Projekt- 3 Zum Konzept der ‚Welt‘ vgl. Diaz-Bone 2009, 240. Sozialer Fortschritt 4– 5/ 2014 DOI https://doi.org/10.3790/sfo.63.4-5.107 | Generated on 2022-10-03 08:44:14 OPEN ACCESS | Licensed under CC BY-NC-ND 4.0 | https://creativecommons.org/about/cclicenses/ 110 Der Erwerb von Schlüsselkompetenzen in Ausbildungsverbünden welt „groß“ zu sein: Stabile Beziehungen, ein „Zuhause“ und Si- die Frage, ob alle Auszubildenden unabhängig von ihrer sozialen cherheit. Entsprechend gehen wir davon aus, dass Jugendliche, Herkunft im Aufbau dieser Schlüsselkompetenzen gefördert wer- die ein stabiles Umfeld benötigen, die schüchtern sind oder sich den. Da unsere Untersuchung nicht erlaubt, Kompetenzen objek- nicht schnell und immer wieder neu anderen Menschen gegen- tiv zu messen, greifen wir auf die subjektiven Beurteilungen der über öffnen können, sowie Jugendliche, die das Bedürfnis nach Jugendlichen zurück und fragen sie, inwiefern sie dieses Ausbil- klar geregelten Zukunftsperspektiven haben, die Projektförmig- dungsmodell als Chance oder Belastung erleben und welche Ein- keit der Ausbildung eher als Belastung empfinden und die Anfor- stellungen sie dem Modell gegenüber zeigen. derungen weniger gut bewältigen. Aus unseren konzeptionellen und theoretischen Präzisierungen formulieren wir folgende Forschungsfragen: 2.3 Hypothesen und Forschungsfragen (1) Welche Elemente der Ausbildung in Ausbildungsverbünden stellen Kompetenzanforderungen an die Auszubildenden, wie Welche Chancen und Risiken sind in dieser neuen Ausbil- sie mit dem Leittypus des Arbeitskraftunternehmers und des dungsform beruflicher Bildung in der Perspektive sozialer Un- Projektmenschen beschrieben werden? (Kapitel 3.) gleichheiten angelegt? Bietet sich für alle sozialen Gruppen von Jugendlichen die Möglichkeit, Kompetenzen für einen Arbeits- (2) Wie beurteilen die Auszubildenden diese Elemente der Aus- markt zu erwerben, welcher sich zunehmend auf den Typus des bildung und die damit verbundenen Anforderungen? Zeich- Arbeitskraftunternehmers und Projektmenschen abstützt? Oder nen sich dabei Ungleichheiten nach sozialer Herkunft ab? haben bestimmte soziale Gruppen mehr Mühe, diesen beschrie- (Kapitel 4.) benen Anforderungen nachzukommen? Voß und Pongratz sind der Meinung, dass die „Scheidelinie“ 3. P rojektförmigkeit von zwischen den Gewinnern und Verlierern der veränderten Arbeits- Ausbildungsverbünden und dadurch bedingungen den „bekannten Unterschieden in der sozialen Lage bedingte Anforderungen an Auszubildende von Erwerbstätigen (Geschlecht, Qualifikation, Branche, Region usw.) folgen und damit bisherige soziale Ungleichheiten verlän- Auf der Basis einer Evaluationsstudie zu Ausbildungsverbün- gern“ (1998, S. 154). Aus der Perspektive sozial ungleicher Le- den sowie der von uns untersuchten vier Ausbildungsverbünde benslagen und mit Bezug zum kultursoziologischen Ansatz Bour- bestimmen wir im Folgenden jene Elemente der Ausbildung, dieus können wir die Hypothese formulieren, dass Auszubildende welche Kompetenzanforderungen an die Auszubildenden stellen, aus bildungsprivilegierten Herkunftsmilieus mit größerer Wahr- wie sie mit dem Leittypus des Arbeitskraftunternehmers und des scheinlichkeit den erforderlichen Habitus mitbringen. Projektmenschen beschrieben werden. Ziel dieses Kapitels ist es, Bourdieus Ansatz ist jedoch in einem Bildungssystem entwi- innerhalb unserer Stichprobe von Ausbildungsverbünden das ckelt worden, das Berufsbildung generell abwertet, akademische projektförmigste Modell zu eruieren (Forschungsfrage 1), um da- Bildung generell aufwertet. Als Modifikation möchten wir des- ran anschließend in Kapitel 4. die Erfahrungen und Einstellungen halb postulieren, dass Jugendliche, deren Eltern selbst im Berufs- jener Auszubildenden auf Strukturen sozialer Ungleichheit zu bildungssystem sozialisiert wurden, sich in diesem System zu- untersuchen, welche in diesem projektförmigsten Modell ausge- hause fühlen und den Anforderungen ihrer Berufsausbildung ge- bildet werden (Forschungsfrage 2). Forschungsmethodisch han- genüber generell positiv eingestellt sind. Für Auszubildende aus delt es sich um ein Mixed-Method-Design. einem akademisch gebildeten Milieu ist eine Berufslehre dage- gen ein sozialer Abstieg, was deren Offenheit in Bezug auf die Anforderungen in der Berufslehre einschränken könnte. 3.1 Typologie von Ausbildungsverbünden Boltanski und Chiapello als Vertreter einer neuen pragmati- Unser Forschungsprojekt basiert auf einer Fallstudie von vier schen Soziologie setzen sich vom strukturalistischen Ansatz typologisch ausgewählten Ausbildungsverbünden (Yin 2009). Für Bourdieus ab und weisen die Vorstellung von auf Dispositionen die Auswahl spielten einerseits die Größe eine Rolle (Anzahl beruhendem sozialem Handeln zurück (Diaz-Bone 2011, S. 14 ff.): Ausbildungsbetriebe und Auszubildende), andererseits die Ent- In der projektförmigen Welt löse sich die Prägekraft des Klassen- stehungsgeschichte und die damit verbundene Trägerschaft des habitus und seine gesellschaftliche Funktion als Platzanweiser Ausbildungsverbundes. Abbildung 2 veranschaulicht die Aus- auf (Boltanski / Chiapello 2003, S. 164). Dieser Argumentation wahl. folgend, können wir die Hypothese formulieren, dass die Anfor- Bezüglich der Größe gehen wir von der Hypothese aus, dass derungen in Ausbildungsverbünden von allen sozialen Gruppen die Anforderungen des Arbeitskraftunternehmers sowie die Pro- von Jugendlichen gleich gut bewältigt werden und dieses Modell jektförmigkeit in großen Verbünden ausgeprägter sind. Die grö- für Auszubildende aus bildungsmäßig benachteiligten Milieus ei- ßere Anzahl von Betrieben und Ausbildungsplätzen führt zu ne Chance darstellt, diese Kompetenzen aufzubauen. viel mehr Rotationsoptionen und Varianten von Ausbildungsver- Mit der Ausrichtung an diesen beiden gegensätzlichen erkennt- läufen und erhöht die Heterogenität der Ausbildungsplätze. Die nistheoretischen Polen einer Reproduktion von Ungleichheit be- Betreuung ist weniger individuell organisiert, was die Anforde- ziehungsweise einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit dersel- rungen z. B. an die Selbst-Kontrolle der Jugendlichen erhöht. ben ist das Feld aufgespannt für die Analyse von Chancen und Privatwirtschaftlich ausgerichtete Ausbildungsverbünde müssen Risiken des Kompetenzerwerbs in projektförmigen Berufsbil- die Ausbildung stärker auf den Bedarf der Betriebe nach Fach- dungsorganisationen für Auszubildende aus bildungsfernen Her- kräftenachwuchs ausrichten im Vergleich zu Ausbildungs- kunftsmilieus. verbünden, die von der öffentlichen Hand mitgetragen werden Gemäß den theoretischen Ausführungen in Kapitel 2.1 birgt und auch der Integration von Jugendlichen ins Berufsleben ver- ein am Arbeitskraftunternehmer ausgerichtetes Arbeitsmodell ein pflichtet sind. Es bleibt dadurch weniger Spielraum für die emanzipatorisches Potenzial, wenn es von sozial- und arbeits- Leito rganisation, sich um spezifische Bedürfnisse der Auszubil- rechtlichen Regulierungen flankiert wird und die Schlüsselkom- denden zu kümmern. Erwartet wird, dass diese sich möglichst petenzen des Arbeitskraftunternehmers systematisch ausgebildet anpassungsfähig zeigen und die diversen Anforderungen selb- und gefördert werden. Ersteres ist in der beruflichen Ausbildung ständig bewältigen. gegeben, da es sich um ein rechtlich abgesichertes Ausbildungs- Die folgenden Ergebnisse basieren auf Dokumentenanalysen, und Arbeitsverhältnis handelt. Zudem bieten gerade Ausbil- Feldbesuchen sowie Interviews mit den Verantwortlichen der dungsverbünde bezüglich Qualität der Ausbildung und Betreu- Leitorganisation. Ziel dieser Analyse ist es, jene Elemente der ung einen größeren Schutz und Sicherheit für die Auszubilden- Ausbildung in Ausbildungsverbünden zu beschreiben, die Kom- den, wenn mit dem traditionellen Modell der dualen Lehre vergli- petenzen fordern und fördern, welche konstitutiv für den Arbeits- chen wird. Für unsere Studie stellt sich nun bezüglich Letzterem kraftunternehmer und den Projektmenschen sind. Sozialer Fortschritt 4– 5/ 2014 DOI https://doi.org/10.3790/sfo.63.4-5.107 | Generated on 2022-10-03 08:44:14 OPEN ACCESS | Licensed under CC BY-NC-ND 4.0 | https://creativecommons.org/about/cclicenses/ Der Erwerb von Schlüsselkompetenzen in Ausbildungsverbünden 111 Typologische Merkmale Entstehung: Initiative aus Branchen und Entstehung: Gemeinnützige Initiative, Beruf Kommunaler Auftrag u. ä. Trägerschaft: privatwirtschaftlich Trägerschaft: (para-)staatlich Größe: mittel- / groß: 30 – 250 Betriebe, 100 – 1500 Auszubildende; auch sehr große Ausbildungsbetriebe Größe: klein: < 30 Betriebe < 100 Auszubildende Quelle: Eigene Darstellung. Die in Kapitel 4. untersuchten Auszubildenden sind im grau schraffierten Ausbildungsverbund in Ausbildung. Abbildung 2: Typologie der vier Ausbildungsverbünde 3.2 Wechsel der Ausbildungsbetriebe (Rotationsprinzip) ungspersonen begreifen und selbst abschätzen können, in wel- chen Situationen sie welche Betreuungsperson anzugehen haben. Das zentrale Organisationsmerkmal von Ausbildungsverbün- Im Vergleich zur traditionellen Lehre tragen die Auszubildenden den ist, dass Auszubildende in verschiedenen Betrieben ausgebil- viel mehr Verantwortung dafür, dass sie bis zum Abschluss der det werden. Eine Evaluation von Ausbildungsverbünden in der Lehre alle erforderlichen Lern- und Leistungsziele abgedeckt ha- Schweiz (BBT 2008, S. 12) zeigt, dass Auszubildende in über 90 ben. Das Betreuungsmodell verlangt von den Auszubildenden Prozent der Fälle ihre Ausbildung in zwei bis vier Betrieben ab- deshalb größere Selbständigkeit, Selbstkontrolle und Eigenver- solvieren. Am häufigsten erfolgt die Rotation im Jahresrhyth- antwortung. mus.4 Bei den vier von uns untersuchten Verbünden variiert die Dauer der Einsätze zwischen sechs Monaten und zwei Jahren. Für große Ausbildungsverbünde bestehen zwei Möglichkeiten, Die Auszubildenden werden in der Regel in zwei bis fünf Betrie- um die Beziehung im Dreieck Leitorganisation – Ausbildungsbe- ben ausgebildet.5 trieb – Auszubildende / r zu organisieren: Beim an den Auszubil- denden ausgerichteten Modell haben die Auszubildenden eine Die betrieblichen Wechsel verlangen von den Auszubildenden konstante Betreuungsperson in der Leitorganisation, entspre- die Fähigkeit, sich für eine begrenzte Zeit mit einer gewissen chend wechselt für die Ausbildner in den Betrieben mit dem Aus- Leichtigkeit und Souveränität in einen neuen Betrieb und ein zubildenden oft auch die zuständige Ansprechperson in der Leit- neues Team einzupassen. Sie müssen an verschiedenen Orten organisation. Beim betriebszentrierten Modell hingegen haben einsetzbar und deshalb anpassungsfähig sein, aber auch prob- die Ausbildner in den Betrieben eine konstante Ansprechperson, lemlos wieder Abschied nehmen können. Diese Kompetenzen während die Auszubildenden wechselnde Betreuer in der Leitor- werden umso mehr gefordert und gefördert, je mehr Rotationen ganisation haben. Es geht also um die Frage, wer den Wechsel die Ausbildung vorsieht und je kürzer die einzelnen Einsätze der Bezugsperson in der Leitorganisation bewältigen muss – die sind. Bei einem Einsatz von wenigen Monaten können die Aus- Auszubildenden oder die Ausbildner im Betrieb. Bei kleinen zubildenden keine längere Eingewöhnungszeit erwarten: Sie Ausbildungsverbünden stellt sich diese Frage nicht, da es berufs- müssen sich schnell ins Team integrieren, den neuen Gegeben- spezifisch nur ein bis zwei Ausbildungsleiter in der Leitorganisa- heiten anpassen und selbständig arbeiten. Je unterschiedlicher tion gibt, was Betreuungskonstanz für die Auszubildenden wie innerhalb eines Ausbildungsverbunds die Ausbildungsplätze in für die Betriebe gewährleistet. Bezug auf Fachbereich, Betriebsgröße oder Firmenkultur sind, umso größer sind die Anforderungen an Flexibilität und Anpas- Beim großen privatwirtschaftlichen Ausbildungsverbund steht sungsfähigkeit. Diese Heterogenität der Ausbildungsplätze stellt die betriebswirtschaftliche Beziehung zwischen Leitorganisation einen zentralen Unterschied zur oft ebenfalls projektförmig or- und Ausbildungsbetrieben im Zentrum. Mit dem Wechsel des Be- ganisierten Ausbildung in Großbetrieben dar, bei der Auszubil- triebs müssen die Jugendlichen oft auch den Ausbildungsleiter dende verschiedene Abteilungen oder Filialen eines Unterneh- wechseln, was von ihnen größere Flexibilität und eine Leichtig- mens durchlaufen. In den privatwirtschaftlich ausgerichteten keit im Eingehen und Auflösen von Beziehungen erfordert. Ausbildungsverbünden – so zeigen unsere Analysen – werden Auch in Bezug auf Kontrolle unterscheidet sich der große pri- die Betriebswechsel u. a. mit der Ausbildung dieser Schlüssel- vatwirtschaftliche Ausbildungsverbund von den anderen drei. kompetenzen begründet. Während letztere mittels elaborierter Kontrollsysteme die Leis- Das projektförmigste Rotationsmodell findet sich in unserem tungen der Auszubildenden engmaschig überprüfen, setzt der Sample beim großen, privatwirtschaftlich getragenen Ausbil- große privatwirtschaftliche Ausbildungsverbund stark auf die Ei- dungsverbund für den Beruf der Kaufleute. Die angehenden genverantwortung der Jugendlichen, was von den Auszubilden- Kaufleute dieses Verbundes verbringen ihre dreijährige Ausbil- den ein hohes Maß an Selbstorganisation und -kontrolle erfor- dung im Regelfall an fünf unterschiedlichen Ausbildungsplätzen dert: in Firmen im ganzen Land. Dieser Ausbildungsverbund setzt das „Wir wollen ihnen aufzeigen, dass in ihrem Leben etwas geändert „Instrument der Ausbildungsplanung“ (Vertretung Leitorganisa- hat. Sie sind jetzt nicht mehr Schüler und vorne steht nicht mehr tion6) strategisch ein, um diese Schlüsselkompetenzen zu fördern. der Lehrer, der sagt, „nächste Woche habt ihr diese Prüfung, lernt Dazu gehören die häufigen Rotationen, die Kombination mög- das in diesen und diesen Häppchen“. Sondern jetzt sind sie in der lichst unterschiedlicher Lehrplätze, sowie Einsätze in anderen Berufswelt. Sie haben Verantwortung gegenüber dem Kunden. Sie Landesteilen oder Sprachgebieten, welche bedingen, dass Auszu- haben aber auch die Verantwortung, in drei Jahren ihre Lehrab- bildende sich für diese Zeitspanne am Arbeitsort ein Zimmer schlussprüfung zu bestehen, und es steht nicht mehr ein Lehrer nehmen müssen. Dies soll die Selbständigkeit der Auszubilden- vorne, der sagt, ,du musst auf diese Weise lernen‘.“ (Vertretung den fördern. Leitorganisation; Interview P25, Absatz 1130) 3.3 Betreuungsprinzip 4 Bei 70 % der Ausbildungsangebote wird im Jahresrhythmus ro- tiert (BBT 2008, S. 14). In Ausbildungsverbünden müssen Auszubildende die Bezie- 5 Bei der Befragung gab ein kleiner Teil der Auszubildenden an, hung zu den Ausbildungsverantwortlichen in der Leitorganisation dass sie während ihrer Ausbildung nur in einem Betrieb waren und in- aus der Distanz aufrecht erhalten, während ihre tägliche An- nerhalb dieses Betriebs die Abteilung gewechselt haben (siehe Kapitel sprechperson im Betrieb mit jeder Rotation wechselt. Sie müssen 4.3). Vereinzelt erfolgte die Ausbildung in mehr als fünf Betrieben. die jeweiligen unterschiedlichen Zuständigkeiten der Betreu- 6 Zitiert aus Interview P25, Absatz 810. Sozialer Fortschritt 4– 5/ 2014 DOI https://doi.org/10.3790/sfo.63.4-5.107 | Generated on 2022-10-03 08:44:14 OPEN ACCESS | Licensed under CC BY-NC-ND 4.0 | https://creativecommons.org/about/cclicenses/ 112 Der Erwerb von Schlüsselkompetenzen in Ausbildungsverbünden Modell von geringer Projektförmigkeit Modell von hoher Projektförmigkeit Typologische Merkmale Kleine Ausbildungsverbünde / Große Ausbildungsverbünde / (Para-)staatliche Trägerschaft Privatwirtschaftliche Trägerschaft Rotation – 1 bis 2 Rotationen in 3 Jahren – 4 Rotationen in 3 Jahren – Einsätze von 12 – 24 Monaten – Größtenteils Einsätze von 6 Monaten – Regionale Ausrichtung – Nationale Ausrichtung Geteilte Betreuung – Wechselnde Ausbildner – Wechselnde Ausbildner – Ein Ausbildungsleiter – Wechselnde Ausbildungsleiter – Kontrolle durch Leitorganisation – Hohe Selbstkontrolle – Fokus auf Unterstützung – Fokus auf Eigenverantwortung Ausbildungsphilosophie Orientierung am Wohlergehen der Jugendlichen Orientierung an den Anforderungen der Branche / Arbeitswelt Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 3: Elemente der Ausbildung – Ausmaß der Projektförmigkeit 3.4 Ausbildungsphilosophie ,Lebensunternehmer / in‘ 4.1 Daten Unsere Analysen zeigen, dass privatwirtschaftliche Ausbil- Die Daten stammen aus einer Fragebogen-Online-Erhebung dungsverbünde sich in ihrer Ausbildungsphilosophie stärker an am Ende des 3. Lehrjahres (Mai / Juni 2013), bei der alle Auszubil- den Bedürfnissen der beteiligten Betriebe und Branche orientie- denden des großen, privatwirtschaftlich getragenen Ausbildungs- ren als (para-)staatliche Ausbildungsverbünde, welche der Integ- verbundes zu ihrem Ausbildungsverlauf befragt wurden. Die fol- ration von Jugendlichen verpflichtet sind und stärker deren indi- genden Analysen basieren auf Frageblöcken in der Erhebung, viduelle Bedürfnisse berücksichtigen. Insbesondere der große der welche ihre Erfahrungen und Einstellungen bezüglich dem Wech- beiden untersuchten privatwirtschaftlichen Ausbildungsverbünde sel der Ausbildungsbetriebe, dem Betreuungsprinzip und dem kann aufgrund seiner Finanzstärke gezielt in den Aufbau von für Ausbildungskonzept erhoben haben. Im Folgenden beschränken die Branche wichtigen Schlüsselkompetenzen investieren. Er wir uns auf die Auszubildenden des Berufes Kaufleute. verfolgt eine Ausbildungsphilosophie, die sich inhaltlich stark am Leitbild des Arbeitskraftunternehmers ausrichtet, und nennt diese Angeschrieben wurden 281 Auszubildende dieses Berufes. Er- „Lebensunternehmer / in“. Die Ausbildung zielt auf „Eigenverant- halten haben wir 236 auswertbare Fragebogen, was einem Rück- wortung, Selbstständigkeit, Unternehmergeist, Flexibilität [und] lauf von 84 % entspricht. Die Verteilung der Stichprobe der Kauf- Teamfähigkeit“.7 Diese Kompetenzen werden mittels Schulungen leute nach Alter, Geschlecht, Sprachregion sowie Spezialisierung und Ausbildungselementen wie z. B. Laufbahncoaching, selb- im Beruf entspricht der Verteilung in der Grundgesamtheit, ständiger Projektarbeit in kleinen Teams und einem internen Be- m.a.W. repräsentiert die von uns analysierte Gruppe sehr gut die werbungssystem für den letzten Lehrplatz gefördert. Die Ausbil- Grundgesamtheit der Auszubildenden in diesem Beruf innerhalb dung ist darauf ausgerichtet, die Auszubildenden zu unternehme- des Ausbildungsverbundes. risch denkenden, proaktiven und eigenverantwortlichen Individu- en – zu Lebensunternehmerinnen und Lebensunternehmern – zu 4.1.1 Abhängige Variablen erziehen: Die theoretischen Konzepte zu den Erfahrungen und Einstel- „In einer Ausbildung benötigt man ein Menschenbild. (…) Und, lungen in Bezug auf die Anforderungen des Arbeitskraftunter- ich glaub, das haben wir mit dem Lebensunternehmer in dem Sin- ne definiert. (…) Unternehmer heißt eigentlich selbst anpacken. nehmers und des Projektmenschen wurden operationalisiert, in- Also Selbstverantwortung, selbst eine Lösung suchen, und zwar dem sie auf die in Kapitel 3. dargestellten drei Ausbildungsele- nicht nur im Beruflichen, sondern insgesamt auch im Leben. (…) mente ausgerichtet wurden. Die erhobenen Items sind in Tabel- Und in diesem Sinne fördern wir die Auszubildenden auf ihrem le 1 dargestellt. Weg, das Leben anpacken zu können, selbst zu bewältigen.“ (Ver- Für die Erfahrungen mit dem Wechsel der Ausbildungsplätze tretung LO; Interview P31, Absatz 45) wurden drei Itembatterien konstruiert, die sich auf die Subdimen- sionen Erfahrung am letzten Ausbildungsplatz (eine Itembatterie) sowie auf die ganze Lehre (zwei Itembatterien) beziehen. Die 3.5 Z usammenfassung der Ergebnisse zur Leichtigkeit des Sich-Integrierens am neuen Ausbildungsplatz be- Projektförmigkeit der Ausbildungsverbünde zieht sich auf die letzte Rotation und umfasst vier Items, welche Die beiden typologisch beschriebenen Modelle stellen die bei- verschiedene Komponenten wie das Aufbauen von neuen Bezie- den Pole eines Kontinuums dar, entlang dessen die Projektför- hungen und fachliche Integration umfassen. Die Reliabilität der 9 migkeit der Ausbildung zunimmt. Abbildung 3 fasst dies zusam- Skala ist mit α = .78 als gut zu bewerten. Die Belastung durch men. Der von uns in Kapitel 4. untersuchte Ausbildungsgang der Kaufleute8 im großen privatwirtschaftlichen Ausbildungsverbund 7 Zitiert aus einer Informationsbroschüre des Ausbildungsverbun- entspricht dem ‚Modell von hoher Projektförmigkeit‘ (vgl. auch des. Abbildung 2, schraffierte Zelle). 8 Es handelt sich dabei um einen auf eine ganz bestimmte Branche ausgerichteten Kaufleute-Beruf. Aus Gründen der Anonymisierung wird diese Spezialisierung nicht offen gelegt. 4. P rojektförmige Ausbildungselemente 9 Bezüglich dieser Skala könnte die Hypothese formuliert werden, aus Sicht der Auszubildenden dass die Qualität des alten Ausbildungsplatzes das Ankommen am neuen Ausbildungsplatz beeinflusst. Jugendliche, die schlechte Bedin- In diesem Kapitel untersuchen wir, wie die angehenden Kauf- gungen hatten, könnten eher bereit sein, mit dem Wechsel die erforder- leute im großen privatwirtschaftlichen Ausbildungsverbund die liche Flexibilität zu zeigen und sich um eine gute Integration am neuen hohen Flexibilitätsanforderungen ihrer Ausbildung erleben und Ort zu bemühen als Jugendliche, die sich am alten Ort wohl fühlten. Um dies zu testen, wurde die Korrelation dieser Skala mit dem Item beurteilen und welche allfälligen sozialen Ungleichheiten sich „Der Abschied von meinen Vorgesetzten und Kolleg / innen am alten dabei abzeichnen (Forschungsfrage 2). Lehrplatz fiel mir leicht“ analysiert. Die Korrelation ist .02 (Pearson), d. h. die Leichtigkeit des Weggehens am alten Ort steht in keiner Be- ziehung zur Leichtigkeit des Ankommens am neuen Ausbildungsplatz. Sozialer Fortschritt 4– 5/ 2014 DOI https://doi.org/10.3790/sfo.63.4-5.107 | Generated on 2022-10-03 08:44:14 OPEN ACCESS | Licensed under CC BY-NC-ND 4.0 | https://creativecommons.org/about/cclicenses/ Der Erwerb von Schlüsselkompetenzen in Ausbildungsverbünden 113 Tabelle 1 Abhängige Variablen: Frageformulierungen und Skalen Faktor 1: Beurteilung des Lebensunternehmerkonzepts positiv (Cronbachs Alpha: 0.86, x = 2.5, s = 0.8, Min = 1, Max = 4) Ihr Ausbildungsverbund möchte die Lernenden10 zu „Lebensunternehmer / innen“ ausbilden. Wie erleben Sie dieses Konzept? (4 = stimmt genau, 3 = stimmt eher, 2 = stimmt eher nicht, 1 = stimmt gar nicht) Item 1: Ich finde das Konzept sinnvoll. Item 2: Dank den bisherigen Lebensunternehmerangeboten habe ich Wichtiges für meinen Berufsalltag gelernt. Item 3: Die bisherigen Lebensunternehmerangebote haben mich persönlich weitergebracht. Faktor 2: Rotation: Leichtigkeit des Sich-Integrierens am neuen Ausbildungsplatz (Cronbachs Alpha: 0.78, x = 3.4 , s = 0.6, Min = 1.25, Max = 4) Wie haben Sie Ihren letzten Lehrplatzwechsel erlebt? (4 = stimmt genau, 3 = stimmt eher, 2 = stimmt eher nicht, 1 = stimmt gar nicht) Item 1: Es fiel mir leicht, zum neuen Berufsbildner / zur neuen Berufsbildnerin eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Item 2: Ich konnte mich schnell in das neue Team integrieren. Item 3: Es ist mir rasch gelungen, mich an die neue Betriebskultur zu gewöhnen. Item 4: Es fiel mir leicht, mich mit dem neuen betriebsspezifischen Wissen (z. B. Arbeitsabläufe, Produktpalette) vertraut zu machen. Faktor 3: Belastung durch Rotation (Cronbachs Alpha: 0.73, x = 1.9, s = 0.6, Min = 1, Max = 3.75) Wie haben Sie insgesamt die Lehrplatzwechsel erlebt? (4 = stimmt genau, 3 = stimmt eher, 2 = stimmt eher nicht, 1 = stimmt gar nicht) Item 1: Es hat mich belastet, dass ich jeweils nicht wusste, wo ich in sechs Monaten sein werde. Item 2: Mich hat es belastet, dass aufgrund der teilweise langen Arbeitswege mein Privatleben zu kurz kam. Item 3: Ich hatte Mühe damit, dass ich in jedem Betrieb wieder von Neuem zeigen musste, was ich kann. Item 4: Ich fühlte mich wegen dem Wechsel der Lehrplätze oft überfordert. Faktor 4: Potenzial der Rotation (Cronbachs Alpha: 0.70, x = 3.4, s = 0.5, Min = 1.5, Max = 4) Der Wechsel zwischen Lehrbetrieben stellt besondere Anforderungen und hat verschiedene Konsequenzen: Bitte geben Sie an, ob Sie die folgenden Anforderungen und Konsequenzen eher als Last oder eher als Chance sehen (4 = sehr große Chance, 3 = Chance, 2 = eher Chance, 1 = eher Last) Item 1: Flexibilität durch Einsatz in verschiedenen Betrieben Item 2: Kennenlernen verschiedener Betriebe Item 3: Fachlich breite Ausbildung Item 4: Viele neue Kontakte Faktor 5: Erfahrung mit der geteilten Betreuung negativ (Cronbachs Alpha: 0.68, x = 2.4, s = 0.7, Min = 1, Max = 4) Wie beurteilen Sie die Betreuung durch zwei Personen, einerseits Berufsbildner / in im Betrieb, und andererseits Ausbildungsleiter / in bei der Leitorganisation? (4 = stimmt genau, 3 = stimmt eher, 2 = stimmt eher nicht, 1 = stimmt gar nicht) Item 1: Da ich zwei Betreuungspersonen habe, fühle ich mich besser unterstützt (zur Berechnung der Skala umgepolt) Item 2: Die Betreuungssituation ist schwierig, da der / die Ausbildungsleiter / in nicht vor Ort im Lehrbetrieb ist. Item 3: Ich empfinde die Betreuung durch zwei Personen als kompliziert. Quelle: Projekt Lehrbetriebsverbünde, Pädagogische Hochschule, Professur Bildungssoziologie, Basel. Rotation misst mit vier Items Aspekte wie Belastung durch die welche positive Erfahrungen und Einstellungen messen, auch ei- Offenheit des Ausbildungsverlaufs oder durch die teilweise lan- ne eher positive Einschätzung der Jugendlichen erfolgt, hingegen gen Arbeitswege (α = .73). Das Potenzial der Rotation wurde jene, die Belastungen und negative Einstellungen erheben, eher ebenfalls mit vier Items erfragt, welche erfassen, ob bestimmte verneint werden oder zumindest keine hohe Zustimmung erfolgt. Aspekte wie Flexibilität oder viele neue Kontakte als Chance Die Auszubildenden erleben im Durchschnitt die drei Ausbil- oder Last erlebt werden. Die Reliabilität kann mit α = .70 als dungselemente demnach eher positiv. Die gebildeten Skalen kor- zufriedenstellend beurteilt werden. relieren schwach miteinander. Für die geteilte Betreuung (zweites Ausbildungselement) wur- den mit drei Items, die eine negative Erfahrung mit der geteilten 4.1.2 Unabhängige Variablen Betreuung wiedergeben, Chancen und Problemstellungen dieses Betreuungsmodells erfasst (α = .68). In allen Schätzmodellen werden die in Tabelle 2 aufgeführten Die Einstellung zur Ausbildungsphilosophie der Lebensunter- unabhängigen Variablen einbezogen und überprüft. Neben der nehmerin / des Lebensunternehmers, dem dritten Ausbildungsele- sozialen Herkunft, die hier Untersuchungsgegenstand ist, werden ment, wurde mit der Skala Beurteilung des Lebensunternehmer- Geschlecht, Alter und der Schultyp auf Sekundarstufe I als mög- Konzepts positiv mit drei Items erhoben, welche Einschätzungen licherweise relevante Einflussfaktoren eingefügt. zum Sinn und Nutzen abfragten. Die Reliabilität beträgt α = .86. Die soziale Herkunft der Jugendlichen wurde mit dem höchs- Eine explorative Faktoranalyse aller in Tabelle 1 dargestellten ten erreichten Bildungsabschluss der Eltern gemessen. Items zeigt, dass gemäß Kaiser-Kriterium (rotiertes Komponen- Der Schultyp auf der Sekundarstufe I bezeichnet das Leis- ten-Modell) die theoretisch erwartete 5-faktorielle Lösung ange- tungsniveau, das die Jugendlichen während der obligatorischen zeigt ist. Die fünf extrahierten Faktoren trennen sehr gut vonein- Schulzeit nach dem Übertritt von der Grundschule (in der ander und können inhaltlich als die oben dargestellten fünf Di- mensionen interpretiert werden.11 Für jede der fünf Dimensionen 10 wurde eine Skala gebildet. Die Skalenwerte der Personen wurden Im Schweizer Berufsbildungssystem werden die Auszubilden-den „Lernende“ genannt. als das arithmetische Mittel der zugehörenden Items gebildet.12 11 Die Ergebnisse der Faktorenanalysen werden auf der Internet- Die fünf gebildeten Skalen dienen als abhängige Variablen in den seite der Zeitschrift zur Verfügung gestellt und können auch bei den in Kapitel 4.3.4 dargestellten Regressionsanalysen. In Tabelle 1 Autorinnen angefordert werden. finden sich die arithmetischen Mittel und Standardabweichungen 12 Das Item „Da ich zwei Betreuungspersonen habe, fühle ich der fünf Skalen. Die Mittelwerte zeigen, dass bei den Skalen, mich besser unterstützt“, wurde vor Berechnung der Skala umgepolt. Sozialer Fortschritt 4– 5/ 2014 DOI https://doi.org/10.3790/sfo.63.4-5.107 | Generated on 2022-10-03 08:44:14 OPEN ACCESS | Licensed under CC BY-NC-ND 4.0 | https://creativecommons.org/about/cclicenses/ 114 Der Erwerb von Schlüsselkompetenzen in Ausbildungsverbünden Tabelle 2 Unabhängige Variablen: Mittel- / Anteilswerte (in Klammern: Standardfehler) Ausprägungen N Mittel- / Anteilswert (in %) Soziale Herkunft Bildung Vater 1. Obligatorische Schule 184 7 2. Berufslehre, berufsbildende Schule 184 44 3. Gymnasium, Diplommittelschule, Lehrerseminar 184 4 4. Höhere Fach- oder Berufsausbildung, höhere Fachschule 184 28 5. Universitäts- / Fachhochschulabschluss (Ref.) 184 17 Bildung Mutter 1. Obligatorische Schule 192 6 2. Berufslehre, berufsbildende Schule 192 56 3. Gymnasium, Diplommittelschule, Lehrerseminar 192 15 4. Höhere Fach- oder Berufsausbildung, höhere Fachschule 192 15 5. Universitäts- / Fachhochschulabschluss (Ref.) 192 8 Geschlecht 0. Mann (Ref.) 207 35 1. Frau 207 65 Alter in Jahren (Min:16, Max: 22) 204 19.5 (1.43) Bisherige Schullaufbahn Schultyp Sek I 1. Grundanforderungen 204 12 2. Mittlere Anforderungen 204 55 3. Höchste Anforderungen (Ref.) 204 30 4. Gesamtschule 204 2 Quelle: Projekt Lehrbetriebsverbünde, Pädagogische Hochschule, Professur Bildungssoziologie, Basel. Schweiz in den meisten Kantonen am Ende der 6. Primarklasse) Jugendlichen geben an, dass ihre Lehrplätze in zwei bis vier un- besucht haben. Das Niveau mit den höchsten Anforderungen um- terschiedlichen Betrieben waren (83.5 %). Knapp zehn Prozent fasst den Besuch eines Gymnasium beziehungsweise des Leis- der Auszubildenden waren in fünf oder mehr Betrieben. Weitere tungszuges, der auf ein Gymnasium nach der obligatorischen sieben Prozent, die während ihrer gesamten Ausbildungszeit nur Schulzeit vorbereitet. Das Niveau der mittleren Anforderungen in einem Betrieb waren und intern rotiert sind, werden nicht in bereitet auf anspruchsvolle Berufslehren vor, lässt aber ebenfalls die folgenden Analysen einbezogen. In der Regel wurden die die Möglichkeit für einen späteren Übertritt in ein Gymnasium Auszubildenden bis zum Befragungszeitpunkt kurz vor Ab- offen. Jugendliche, welche das Niveau der Grundanforderungen schluss der Lehre von vier bis fünf Ausbildnerinnen / Ausbildnern besuchen, werden für weniger anspruchsvolle Berufsausbildun- im Betrieb betreut. 86 % geben an, dass neben dem Ausbildner gen vorbereitet. Gesamtschulen gibt es in der Schweiz im Kanton auch der Ausbildungsleiter der Leitorganisation mindestens ein- Tessin, wo keine Niveauklassen geführt werden. mal gewechselt hat, bei knapp drei Viertel davon hat der Ausbil- dungsleiter mehrmals gewechselt. 4.2 Statistische Auswertungsverfahren Tabelle 3 bildet die Schätzresultate der multiplen linearen Re- gressionen für die fünf Skalen ab. Demnach haben Jugendliche Um die Frage zu beantworten, inwiefern sich bei der Beurtei- aus niedrigeren Bildungsmilieus keine größeren Hürden zu über- lung der projektförmigen Elemente der Ausbildung und den da- winden als Akademikerkinder, wenn es darum geht, einen Be- mit verbundenen Anforderungen an die Auszubildenden soziale triebswechsel zu bewältigen. Auch die Voraussetzungen, im Ro- Ungleichheiten abzeichnen, werden die fünf in Kapitel 4.1.1 be- tationsprinzip Chancen zu erkennen, sind gleich verteilt. Im Ge- schriebenen Skalen einer multiplen linearen Regression (OLS- genteil zeigt in der ersten Skala die Ausbildung des Vaters auf Regressionsverfahren) unterzogen. Untersucht wird, ob statis- Gymnasialstufe einen gegenüber der obligatorischen Ausbildung tisch signifikante Ungleichheiten nach sozialer Herkunft bei der signifikant negativen Einfluss (p ≤ .10), d. h. Jugendliche aus die- Beurteilung der projektförmigen Elemente der Ausbildung und sem bildungsnahen Milieu bewältigen die Rotation mit geringe- den damit verbundenen Anforderungen durch die Auszubilden- rer Leichtigkeit als jene aus bildungsfernen Familien. den nachweisbar sind. Auch die Kontrollvariablen Alter und Geschlecht zeigen weder Die abhängigen Variablen (Skalenwerte) wurden einerseits auf einen Einfluss auf die Erfahrung des letzten Wechsels noch auf ihre Normalverteilung hin überprüft. Andererseits wurde kontrol- die grundsätzliche Beurteilung von Belastungen und Chancen liert, ob die Residuen der abhängigen Variablen normalverteilt durch die Rotation. Der signifikante Einfluss der Gesamtschule sind, da die Verteilung der Residuen die Schätzung der Standard- wird aufgrund der geringen Fallzahl nicht weiter interpretiert. fehler am meisten beeinflusst. Die Erfahrungen mit dem Prinzip der geteilten Betreuung sind dagegen von der sozialen Herkunft der Auszubildenden mitbe- 4.3 Ergebnisse stimmt, wenn wir die Regressionskoeffizienten der Ausbildung der Mutter betrachten. Wenn Jugendliche in einer Familie auf- Die von uns untersuchte Gruppe der Auszubildenden hat zum wachsen, in der die Mutter selbst schon eine Berufsbildung abge- Erhebungszeitpunkt (gegen Ende der Ausbildung) vier Rotatio- schlossen hat, beurteilen sie diese Art der Betreuung signifikant nen erlebt und ist beim fünften Lehrplatz angelangt. Die meisten seltener negativ im Vergleich zu jenen Auszubildenden aus dem Sozialer Fortschritt 4– 5/ 2014 DOI https://doi.org/10.3790/sfo.63.4-5.107 | Generated on 2022-10-03 08:44:14 OPEN ACCESS | Licensed under CC BY-NC-ND 4.0 | https://creativecommons.org/about/cclicenses/ Der Erwerb von Schlüsselkompetenzen in Ausbildungsverbünden 115 Tabelle 3 Beurteilung der projektförmigen Elemente der Ausbildung nach sozialer Herkunft (Multiple lineare Regressionen) Wechsel der Aus- Wechsel der Aus- Wechsel der Aus- Geteilte Betreuung Ausbildungsphilo- bildungsbetriebe bildungsbetriebe bildungsbetriebe (Betreuungsprinzip) sophie Lebens- (Rotationsprinzip) (Rotationsprinzip) (Rotationsprinzip) unternehmer / in Skala: Leichtigkeit Skala: Belastung Skala: Potenzial Skala: Erfahrung Skala: Beurteilung des Sich-Integrie- durch Rotation der Rotation mit der geteilten des Lebensunter- rens am neuen Betreuung negativ nehmer-Konzepts Ausbildungsplatz positiv Ausprägungen B s. e. b s. e. b s. e. b s. e. b s. e. Soziale Herkunft Bildung Vater 1. Obligatorische Schule .196a) .243 .090 .267 .145 .209 –.155 .318 .657* .317 2. B erufslehre, berufsbildende –.033 .135 .184 .148 –.093 .116 .070 .177 .237 .177 Schule 3. Gymnasium, Diplommittel- –.308 .232 .298 .255 –.144 .199 .143 .304 –.313b) .303 schule, Lehrerseminar 4. Höhere Fach- oder Berufs- –.054 .139 .164 .153 –.067 .119 –.057 .182 .269 .181 ausbildung, höhere Fach- schule 5. Universitäts- / Fachhoch- / / / / / / / / / / schulabschluss (Ref.) Bildung Mutter 1. O bligatorische Schule .146 .245 –.363 .269 –.052 .210 –.178 .320 .268 .319 2. Berufslehre, berufsbildende .045 .172 –.247 .189 .075 .147 –.537* .225 .294 .224 Schule 3. Gymnasium, Diplommittel- .056 .187 –.094 .206 –.005 .161 –.237 .245 .309 .246 schule, Lehrerseminar 4. Höhere Fach- oder Berufs- .049 .196 –.099 .215 –.068 .168 –.418 .257 .268 .255 ausbildung, höhere Fach- schule 5. Universitäts- / Fachhoch- / / / / / / / / / / schulabschluss (Ref.) Geschlecht Geschlecht (weiblich) .010 .095 –.101 .104 .024 .081 –.097 .124 .251* .124 Alter in Jahren –.043 .031 .007 .034 –.037 .027 .011 .040 .002 .040 Bisherige Schullaufbahn Schultyp Sek I 1. G rundanforderungen .175 .142 –.158 .156 .174 .122 –.072 .186 .260 .186 2. M ittlere Anforderungen .052 .099 –.145 .109 .075 .085 –.195 .130 .231+ .129 3. Höchste Anforderungen / / / / / / / / / / (Ref.) 4. Gesamtschule .106 .304 –.236 .334 .531* .261 –.186 .398 .968* .396 Konstante 4.134*** .666 1.944** .732 4.053*** .572 2.677** .873 1.678* .870 Erklärte Varianz .045 .055 .063 .078 .14 (R2) Anova (F) .60 .73 .84 1.01 2.04* (df Regression; (13; 163) (13; 163) (13; 163) (13; 162) (13; 162) Residuen in Klammern) N 177 177 177 176 176 a) Dieser Regressionskoeffizient ist signifikant im Vergleich zur Kategorie 3 (Gymnasium, Diplommittelschule, Lehrerseminar) (p ≤ .10). b) Dieser Regressionskoeffizient ist signifikant im Vergleich zur Kategorie 1 (Obligatorische Schule) (p ≤ .05). Ausgewiesen sind die unstandardisierten Regressionskoeffizienten (b), Standardfehler (s.e.) und das Signifikanzniveau (+ p ≤ .10, * p ≤ .05, ** p ≤ .01, *** p ≤ .001). Quelle: Projekt Lehrbetriebsverbünde, Pädagogische Hochschule, Professur Bildungssoziologie, Basel. akademischen Milieu. Die Kategorie «Höhere Fach- oder Berufs- genüber diesem Betreuungsmodell ist demnach auf den Sozialisa- ausbildung, höhere Fachschule» trägt ebenfalls ein negatives tionseinfluss der Mutter zurückzuführen. Vorzeichen, ist mit 10.5 % aber knapp über dem Signifikanzni- veau von 10 %. Es handelt sich hier um Mütter, welche ebenfalls Der Effekt der Mutter bleibt auch stabil, wenn die weiteren eine Berufsausbildung abgeschlossen, sich anschließend aber Kontrollvariablen ins Modell aufgenommen werden, welche kei- weitergebildet haben. Wir erhalten hier also Hinweise dafür, dass ne signifikanten Einflüsse zeigen. vor allem die Nähe der Mutter zum Berufsbildungsmilieu die Auch bei der letzten Skala, welche die Erfahrungen und Ein- Auszubildenden darin bestärkt, diese komplexere und anforde- stellungen zur Ausbildungsphilosophie des Lebensunterneh- rungsreichere, aber auch Chancen eröffnende Form der Betreu- mers / der Lebensunternehmerin erfasst, zeigen sich Effekte der ung positiver zu beurteilen als Jugendliche, deren Mütter eine sozialen Herkunft. Auszubildende, deren Vater nur die obligatori- Hochschule besucht haben. Der Bildungsstatus des Vaters ist da- sche Schule besucht hat, stehen diesem Konzept, das bei den gegen bedeutungslos. Zusätzliche Auswertungen zeigen, dass Auszubildenden mittels verschiedener Elemente eine Erwerbsori- dies auch gilt, wenn die Bildung der Mutter nicht mit ins Modell entierung als Arbeitskraftunternehmer fördern will, signifikant aufgenommen wird. Es sind demnach keine Multikollinearitäts- positiver gegenüber als jene Jugendlichen, deren Vater Akademi- problematiken vorhanden. Die größere habituelle Offenheit ge- ker ist oder deren Vater ein Gymnasium besucht hat. Wir inter- Sozialer Fortschritt 4– 5/ 2014 DOI https://doi.org/10.3790/sfo.63.4-5.107 | Generated on 2022-10-03 08:44:14 OPEN ACCESS | Licensed under CC BY-NC-ND 4.0 | https://creativecommons.org/about/cclicenses/ 116 Der Erwerb von Schlüsselkompetenzen in Ausbildungsverbünden pretieren dies so, dass diese Jugendlichen aus dem niedrigsten Wie wir mit unseren Untersuchungen an anderen Orten zeigen Bildungsmilieu das emanzipatorische Potenzial dieser Ausbil- konnten, bieten Ausbildungsverbünde bei der Selektion der Aus- dungsphilosophie hoch werten, und in ihr Möglichkeiten erken- zubildenden in die Berufsausbildung Integrationschancen für Ju- nen, zukünftig einfacher einen sozialen Aufstieg bewältigen zu gendliche mit Migrationshintergrund (Imdorf / Leemann 2011; können. Die Berufslehre in diesem in der Öffentlichkeit renom- Imdorf / Seiterle 2013). Für die Frage des Erwerbs von Schlüs- mierten Ausbildungsverbund eröffnet ihnen Chancen für einen selkompetenzen ziehen wir die Schlussfolgerung, dass Ausbil- beruflichen Weg, der ihrem Vater noch verschlossen war. dungsverbünde, welche einen rechtlich abgesicherten Rahmen Ebenso sind weibliche Auszubildende sowie Auszubildende darstellen und die „Schlüsselkompetenzen des Arbeitskraftunter- aus dem mittleren Leistungsniveau auf der Sekundarstufe I dem nehmers“ (Voß / Pongratz 1998, S. 155) systematisch schulen, tat- Konzept gegenüber aufgeschlossener als männliche Jugendliche sächlich das Potenzial haben, soziale Ungleichheiten abzubauen. beziehungsweise als Jugendliche, welche eine (pro-)gymnasiale Dieser Befund unterstützt auch die – im ersten Moment utopisch Klasse besuchten. Mädchen, so eine mögliche Hypothese, sehen anklingende – These von Boltanski und Chiapello, dass der Klas- in diesem Ausbildungskonzept einerseits ebenfalls eine höhere senhabitus in einer Welt, die sich zunehmend an der Projektlogik Chance, ihren zukünftigen beruflichen Weg besser mitbestimmen orientiert, an Bedeutung verliert. zu können. Andererseits können wir annehmen, dass es ihnen im Mit den in unserer Studie geplanten vertiefenden Interviews Durchschnitt auch besser gelingt, den erhöhten Anforderungen an mit einzelnen Auszubildenden werden wir die hier skizzierten Selbstkontrolle und Selbständigkeit nachzukommen und sie dem ersten Ergebnisse vertiefen, validieren und ergänzen können. Konzept gegenüber am Ende der Lehre deshalb auch positiver eingestellt sind als die jungen Männer. Denn empirische Ergeb- nisse verweisen darauf, dass weibliche Jugendliche in diesen Literatur Schlüsselkompetenzen höhere Ausprägungen mitbringen (zum BBT (Bundesamt für Berufsbildung und Technologie) (2008): Beispiel Müller [2006] in Bezug auf das selbstregulierte Lernen). Resultate. Evaluation Lehrbetriebsverbünde, Bern. Dies führt dazu, dass Mädchen heutzutage nicht nur in den schu- lischen Bildungsgängen übervertreten sind, sondern auch solchen BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) (2011): Anforderungen, welche der neue Typus Arbeitskraft erfordert, in Verbundausbildung – die Ausbildungsform der Zukunft?, in: der Phase ihrer Berufsbildung besser gerecht werden. Jobstarter Praxis, Bd. 6, Bonn. Bois-Reymond, M. du / Diepstraten, I. (2007): Neue Lern- und Arbeitsbiographien, in: Kahlert, H. / Mansel, J. (Hrsg.), Bil- 5. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen dung und Berufsorientierung. Der Einfluss von Schule und in- In diesem Beitrag interessierten wir uns für die Chancen und formellen Kontexten auf die berufliche Identitätsentwicklung, Risiken von Ausbildungsverbünden für den Erwerb von Schlüs- Weinheim, S. 207 – 226. selkompetenzen bei Jugendlichen aus bildungsfernen Herkunfts- Boltanski, L. / Chiapello, E. (2001): Die Rolle der Kritik in der milieus. Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel, in: Die spezifisch projektförmige Organisation der Ausbildung in Berliner Journal für Soziologie 11(4), S. 459 – 477. diesem für die Schweiz neuartigen Modell der beruflichen Ausbil- – (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz. dung fordert und fördert Schlüsselkompetenzen wie Selbstkont- Boltanski, L. / Thévenot, L. (2007): Über die Rechtfertigung. Eine rolle, Flexibilität, Selbständigkeit, Mobilitätsbereitschaft, Kom- Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg. munikation oder Selbstorganisation, die wir mit den theoretischen Konzepten des Arbeitskraftunternehmers (Voß / Pongratz 1998) Bremer, H. (2004): Der Mythos vom autonomen lernenden Sub- sowie des Projektmenschen (Boltanski / Chiapello 2001) fassten. jekt. Zur sozialen Verortung aktueller Konzepte des Selbstler-nens und zur Bildungspraxis unterschiedlicher sozialer Mi- Die Ergebnisse unserer Studie deuten darauf hin, dass für Ju- lieus, in: Engler, S. / Krais, B. (Hrsg.), Das kulturelle Kapital gendliche aus bildungsfernem Herkunftsmilieu keine größeren und die Macht der Klassenstrukturen. Sozialstrukturelle Ver- Risiken vorhanden sind als für Auszubildende aus akademisch schiebungen und Wandlungsprozesse des Habitus, Wein- geprägtem Milieu, die projektförmigen Anforderungen in der heim / München, S. 189 – 213. Lehre zu bewältigen. Einerseits haben wir Hinweise dafür, dass im Vergleich zu Auszubildenden aus bildungsnahen Milieus gera- Bröckling, U. (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie de diese Jugendlichen die Flexibilitätsanforderungen der Rota- einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main. tion mit größerer Leichtigkeit bewältigen sowie der am Arbeits- Burkart, G. (2012): Boltanski / Chiapello: Ein feministischer kraftunternehmer ausgerichteten Ausbildungsphilosophie positi- Geist im neuen Kapitalismus?, in: Kahlert, H. / Weinbach, C. ver gegenüberstehen und darin wahrscheinlich eine Chance se- (Hrsg.), Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderfor- hen, sich die für die berufliche Integration zukünftig immer schung. Einladung zum Dialog, Wiesbaden, S. 149 – 172. wichtiger werdenden Kompetenzen wie Selbständigkeit, Flexibi- Diaz-Bone, R. (2001): Einführung in die Soziologie der Konventio- lität und Mobilitätsbereitschaft anzueignen. Andererseits sind nen, in: ders. (Hrsg.), Soziologie der Konventionen. Grundlagen Auszubildende, die aufgrund der beruflichen Ausbildung ihrer einer pragmatischen Anthropologie, Frankfurt am Main, S. 9 – 41. Mutter mit dem System der Berufsbildung vertraut sind, gegen- über der komplexeren Betreuungsform durch zwei unterschied- Hartmann, M. (1990): Notwendig, aber nicht hinreichend – So- liche und wechselnde Ausbildner positiver eingestellt und brin- ziale Herkunft als berufliches Selektionskriterium, in: Zeit- gen bessere Erfahrungen mit. schrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 10(3), S. 218 – 34. Auch wenn die Schlüsselkompetenzen des Arbeitskraftunter- nehmers einem bildungsnahen Habitus entsprechen, führt dies Imdorf, C. / Leemann, R. J. (2011): Ermöglicht die Flexibilisie- nicht dazu, dass Jugendliche aus bildungsfernen Sozialmilieus in rung in der Berufsausbildung mehr Chancengerechtigkeit bei einem Berufsbildungsmodell, welches diese Kompetenzen syste- der Ausbildungsplatzvergabe? Fallstudie eines Schweizer Aus- matisch fordert und fördert, benachteiligt sind. Im Kontext der bildungsverbundes, in: Voss-Dahm, D. / Mühge, G. / Schmierl, Berufsausbildung scheinen andere Dynamiken zu spielen als im K. / Struck, O. (Hrsg.), Qualifizierte Facharbeit im Spannungs- schulischen Feld, in welchem eine sozialstrukturell bedingte Dis- feld von Flexibilität und Stabilität – Organisations- und perso- tanz zum schulischen Habitus spezifische Aberkennungs- und nalpolitische Innovationen im Betrieb, Wiesbaden, S. 49 – 74. Exklusionsprozesse zur Folge hat, wie sie von Bourdieu be- Imdorf, C. / Seiterle, N. (2013): La formation professionnelle schrieben werden. Gründe dafür könnten das unterschiedliche dans le cadre des réseaux d’entreprises formatrices comme Lernsetting, aber auch die stärkere Identifikation dieser Jugendli- aide à l’intégration des jeunes issus de l›immigration, in: chen mit der in der Wirtschaftswelt verankerten Rationalität der Felouzis, G. / Goastellec, G. (Hrsg.), Les inégalités scolaires en Projektwelt sein. suisse, Bern (im Druck). Sozialer Fortschritt 4– 5/ 2014 DOI https://doi.org/10.3790/sfo.63.4-5.107 | Generated on 2022-10-03 08:44:14 OPEN ACCESS | Licensed under CC BY-NC-ND 4.0 | https://creativecommons.org/about/cclicenses/ Die berufliche Höherqualifizierung in den Abschlussjahrgängen 1960 – 1999 117 Lachmayr, N. / Dornmayr, H. (2008): Ausbildungsverbünde in which can be obtained after vocational training in order to reach Österreich: Potenzial zusätzlicher Lehrstellen, Österreichi- executive positions in crafts and industry. In addition to this, sches Institut für Berufsbildungsforschung, Download unter graduates of a vocational degree can then also enter tertiary edu- http: / / www.oeibf.at / db / calimero / tools / proxy.php?id=12804, cation. This paper examines these advanced vocational pathways letzter Zugriff: 27.03.2013. and sheds light on the effects of social background, previous Müller, K. (2006): Schlüsselkompetenzen nach drei verschiede- pathways and cohort. We use the BIBB / BAuA Employment Sur- nen Ausbildungswegen im Vergleich, Schriftenreihe des Bun- vey from 2012 and apply multinomial logit analyses. We observe desinstituts für Berufsbildung Bonn, Heft 80 (Quelle: http: / / an increase in postponed higher education entries, which is, how- www.bibb.de / dokumente / pdf / wd_80_schluesselkompetenzen ever, largely explained by an increasing number of students who __im_vergleich.pdf, download am 27. August 2013). do not directly enter higher education after upper secondary grad-uation but choose vocational training instead. Across cohorts, the Pongratz, H. J. / Voß, G. G. (2003): From employee to ‚entre- participation of lower secondary graduates in advanced vocation- ployee‘: Towards a ‚self-entrepreneurial‘ workforce?, in: Con- al training and higher education decreases. We also observe that cepts and Transformation 8 (3), S. 239 – 254. students from upper socio-economic backgrounds do not only Voß, G. G. / Pongratz, H. J. (1998): Der Arbeitskraft-Unterneh- more often enter higher education directly after graduation from mer. Eine neue Grundform der Ware „Arbeitskraft“?, in: Köl- upper secondary school, but they also use the possibility of post- ner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50(1), poned entry more often. However, the analysis also shows that S. 131 – 158. the social background effect is to a large part explained by the higher proportion of upper secondary graduates in this group. – (2004): Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, 2., unveränd. Aufl., Berlin. Yin, R. K. (2009): Case Study Research. Design and Methods, 1. Einleitung 4., überarb. Aufl., Los Angeles (u. a.). In der Literatur finden sich nur wenige Forschungsarbeiten, die sich mit Höherqualifikationsmustern und deren Trends beschäfti- gen, obwohl im Verlauf der letzten Dekaden sowohl im Angebot an Qualifizierungsmöglichkeiten und der Nachfrage auf Seiten der Bildungsteilnehmer deutliche Veränderungen stattgefunden Die berufliche Höherqualifizierung in haben. Die meisten der bisher veröffentlichten Studien beschäfti-gen sich zudem vor allem mit der Situation der Abiturienten und den Abschlussjahrgängen 1960 – 1999: untersuchen die Höherqualifikationen, die im Anschluss an beruf- Effekte der sozialen Herkunft und liche Ausbildungen im Hochschulbereich erworben werden. Le-win et al. (1996) beispielsweise identifizieren anhand einer HIS- Folgen der Bildungsexpansion Studienanfängeruntersuchung, dass die Mehrzahl der Doppelqua-lifizierten die berufliche Ausbildung aus inhaltlichem Interesse (63 %) und aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus (55 %) gewählt Nicole Tieben und Daniela Rohrbach-Schmidt hat. Entgegen dem Befund von Büchel und Helberger (1995), wo- nach die Doppelqualifikation hinsichtlich der Bildungserträge in- effizient sei, finden Lewin et al. (1996) bessere Übergangschan- Zusammenfassung cen in den Arbeitsmarkt bei Studienabsolventen, die zuvor eine Höherqualifikationen in Form von Hochschulstudium oder Ausbildung absolviert haben. Hammen (2010) untersucht Ein- Meister- / Techniker-Ausbildungen nach einer beruflichen Ausbil- flussfaktoren, die zu einer Mehrfachqualifikation führen und fin- dung gehören inzwischen zu den gängigen Pfaden durch das Bil- det, dass neben der Abiturnote auch eine höhere Karriereaspira- dungssystem. Dieser Beitrag untersucht anhand der Daten der tion eine bedeutende Rolle spielt. Die drei letztgenannten Studien BIBB / BAuA Erwerbstätigenbefragung 2012 und mithilfe von befassen sich allerdings ausschließlich mit der Gruppe der Abitu- multinomialen Logitanalysen die Nutzung der Höherqualifikatio- rienten. Angesichts der Tatsache, dass nur diese überhaupt die nen im Vergleich von Kohorten, Schulformen und sozialer Her- Wahl zwischen einem Studium oder einer betrieblichen / schuli- kunft. Insgesamt hat die Nutzung der Höherqualifikationen im schen Ausbildung hat, erscheint die Fokussierung auf diese Grup- Kohortenvergleich zugenommen, dies hängt allerdings zum Teil pe zunächst plausibel. Die Möglichkeit einer Mehrfach- oder Hö- mit der Bildungsexpansion und der damit einhergehenden Verän- herqualifikation ist jedoch mit allen Abschlüssen der Sekundar- derung der Struktur der Schulformen zusammen: Während Abitu- stufe gegeben, da eine abgeschlossene Berufsausbildung unter rienten im Kohortenverlauf die Höherqualifikation, insbesondere bestimmten Bedingungen die Zugangsqualifikation für Hoch- in Form von später erworbenen Studienabschlüssen, häufiger schulen sowie für nicht-akademische Höherqualifizierungen um- nutzen, nimmt bei den Haupt- und Realschülern die Nutzung der fasst. Darüber hinaus werden die vollqualifizierenden beruflichen Höherqualifikationen ab. Die Ergebnisse zur sozialen Herkunft Ausbildungen zunehmend auch für Abiturienten attraktiv und ein zeigen, dass Kinder aus statushöheren Familien nicht nur mit grö- beachtlicher Teil der Schulabgänger mit Zugangsberechtigungen ßerer Wahrscheinlichkeit den direkten Weg in die Hochschule für Hochschulen und Universitäten entscheidet sich inzwischen wählen, sondern gegenüber Kindern niedrigerer sozialer Klassen für eine vollzeitschulische oder duale Berufsausbildung. Die Aus- auch Vorteile beim Erwerb von Höherqualifikationen nach einer bildungsdestinationen der Schulabgänger aus verschiedenen Berufsausbildung haben. Allerdings zeigen die Analysen auch, Schulformen überschneiden sich dadurch erheblich. Die Absol- dass bei Berücksichtigung der Hochschulzugangsberechtigung venten der einzelnen Schulformen unterscheiden sich jedoch hin- nur noch geringe Effekte der sozialen Herkunft auf die späteren sichtlich verschiedener Merkmale wie Aspiration, schulischer Übergänge zu beobachten sind. Leistungen oder auch sozialer Herkunft stark voneinander. Die in der empirischen Bildungsforschung gängige Vorgehensweise, die Übergänge in die berufliche Ausbildung der Absolventen von Abstract: Advanced Vocational Qualification Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien getrennt zu untersu- among G raduates between 1960 and 1999: chen, ist daher nur bedingt geeignet um beispielsweise Ungleich- The Effects of Social Background and heiten bei den Übergängen darzustellen. Darüber hinaus bietet the Consequences of the Educational Expansion das Deutsche Bildungssystem heute vielfältige Möglichkeiten, Schulabschlüsse nachzuholen oder zusätzliche Qualifikationen It is well known that vocational training in Germany is to a und Hochschulzugangsberechtigungen zu erwerben. Jacob large extent organized in the dual system, but the vocational (2004) beispielsweise zeigt, dass Mehrfachausbildungen in training system also includes advanced vocational qualifications, Deutschland keine Randerscheinung sind, und dass vertikale und Sozialer Fortschritt 4– 5/ 2014 DOI https://doi.org/10.3790/sfo.63.4-5.107 | Generated on 2022-10-03 08:44:14 OPEN ACCESS | Licensed under CC BY-NC-ND 4.0 | https://creativecommons.org/about/cclicenses/