«Kognitive Dissonanz bei der Abrechnung von Arztleistungen» 31. Juli 2019 Bachelor-Thesis Bachelor of Science in Angewandter Psychologie Autorin: Michelle Koch michelle.koch@students.fhnw.ch Betreuender Dozent: Dr. Cuno Künzler Praxispartner: ats-tms AG, Aarburgerstrasse 3, 4600 Olten Gähwiler Christa Bachelor-Thesis Michelle Koch 1 Abstract Die vorliegende Projektarbeit wurde von der Unternehmung ats-tms AG in Auftrag gegeben. Das Ziel der Arbeit war es herauszufinden, ob bei Ärzten während der Abrechnung von ärztlichen Leistungen eine kognitive Dissonanz auftritt und welche Strategien die Ärzte entwickelt haben, um diese zu reduzieren. Um die Fragestellung zu beantworten, wurden Kategorien deduktiv von der Theorie der kognitiven Dissonanz abgeleitet und im Interviewleitfaden verankert. Mithilfe von MAXQDA wurden die erhobenen Daten ausgewertet. Es zeigte sich, dass eine kognitive Dissonanz bei den Ärzten während dem Abrechnungsprozess besteht. Sie wenden unterschiedliche Strategien an, die wichtigsten sind: Akzeptanz, Verweis auf die Berufsethik, Abwertung und Gewohnheit. Die vorliegende Arbeit umfasst 87'720 Zeichen mit Leerzeichen, ohne Anhang. Bachelor-Thesis Michelle Koch 2 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ....................................................................................................................... 5 Ausgangslage und Problemstellung ........................................................................ 5 Zielsetzung und Fragestellung ................................................................................ 6 Aufbau der Arbeit .................................................................................................... 7 2. Tarifierungssystem ......................................................................................................... 8 Ausgangslage TARMED ......................................................................................... 8 Abrechnungs- und Anwendungsregeln .................................................................... 8 Tarifierungsstruktur ................................................................................................. 9 3. Vorstellung Praxispartner und Umfeld ...........................................................................10 Vorstellung Praxispartner .......................................................................................10 Tarifpartner ............................................................................................................11 3.2.1. FMH Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte ......................................11 3.2.2. Curafutura - Die innovativen Krankenversicherer ............................................11 3.2.3. MTK Medizinaltarif-Kommission UVG .............................................................12 3.2.4. Spannungsfeld Tarifpartner .............................................................................13 Zweck der ats-tms AG ............................................................................................13 4. Theorie der kognitiven Dissonanz .................................................................................14 Konsistenztheorie nach Festinger (1957) ...............................................................14 Auftreten einer Dissonanz ......................................................................................15 Kognitive Dissonanz bei Entscheidungen ...............................................................16 Kognitive Dissonanz bei einem moralischen Dilemma ............................................17 Dissonanzreduktion ................................................................................................18 5. Methode und Vorgehen .................................................................................................19 Sampling und untersuchte Stichprobe ....................................................................19 Leitfadenerstellung .................................................................................................22 5.2.1. Deduktive Kategorienbildung ...........................................................................22 Durchführung .........................................................................................................29 Datenanalyse .........................................................................................................29 6. Auswertung ...................................................................................................................30 Vorgehen ...............................................................................................................30 Resultate der Erhebung .........................................................................................31 6.2.1. Probleme mit dem TARMED ...........................................................................31 6.2.2. Umgang mit Zeitleistungen ..............................................................................33 6.2.3. Beruflicher Kontext ..........................................................................................36 6.2.4. Strategie in Konfliktsituation ............................................................................37 6.2.5. Strategie zur Reduktion der kognitiven Dissonanz ..........................................38 Creative Coding deduktives Kategoriensystem ......................................................39 Bachelor-Thesis Michelle Koch 3 7. Neu identifizierte Kategorien .........................................................................................40 Involvement ............................................................................................................40 7.1.1. Theoretische Einführung «Involvement» .........................................................40 7.1.2. Kategoriendefinition «Involvement» .................................................................41 7.1.3. Ergebnisse Involvement ..................................................................................42 Berufsethik .............................................................................................................43 7.2.1. Theoretische Einführung «Ärztliche Berufsethik» ............................................43 7.2.2. Kategoriendefinition «Berufsethik» ..................................................................44 7.2.3. Ergebnisse «Berufsethik» ...............................................................................45 Creative Coding ergänztes Kategoriensystem ........................................................46 8. Interpretation der Ergebnisse ........................................................................................47 Beantwortung der Fragestellung 1: Entstehung kognitive Dissonanz .....................47 Beantwortung Fragestellung 2: Strategien zur Reduktion der kognitiven Dissonanz .............................................................................................49 9. Diskussion .....................................................................................................................51 Kritische Würdigung ...............................................................................................51 Ausblick ..................................................................................................................52 10. Fazit ...........................................................................................................................52 11. Literatur .....................................................................................................................53 12. Abbildungsverzeichnis ...............................................................................................55 13. Tabellenverzeichnis ...................................................................................................55 14. Anhang ......................................................................................................................55 Bachelor-Thesis Michelle Koch 4 1. Einleitung In den vergangenen Jahren stieg das wirtschaftliche Interesse in der humanen Medizin stetig an (Thielscher, 2015). Die Menschen werden immer älter, dadurch steigt die Belastung für die Krankenkassen ebenso an. Ausserdem gibt es immer wieder neue Technologien, die vielen Menschen helfen können, aber auch sehr teuer sind. Daher ist es unumgänglich die Humanmedizin zu ökonomisieren, um die Kosten für die Prämienzahler tief zu halten. Von der Ökonomisierung des öffentlichen Gesundheitssystems sind mehrere Gruppen betroffen. Auf der einen Seite stehen die Ärzte unter Druck, ihre ärztlichen Leistungen effizient und wirtschaftlich zu erbringen (Reimann, 2013). Auf der anderen Seite sind nach Reimann (2013) auch die Patienten betroffen. Für einen Patienten mit Herzinsuffizienz ist es z.B. nicht nachvollziehbar, wieso sich ein Arzt nicht mehr als 20 Minuten Zeit für die Beantwortung von Fragen nehmen soll. Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Spannungsfeld, das zwischen der erbrachten Leistung der Ärzte und dem Tarifierungssystem TARMED entsteht. In den folgenden Unterkapiteln werden die Ausgangslage, die Fragestellung sowie der Aufbau der Arbeit genauer erläutert. Ausgangslage und Problemstellung Die ats-tms AG wurde gegründet, um das aktuelle Tarifierungssystem TARMED zu revidieren. Das neu erarbeitete Tarifierungssystem TARDOC erinnert in den Grundzügen an den TARMED, wurde jedoch modernisiert und am 12.07.2019 beim Bundesrat zur Genehmigung eingereicht. Doch dabei soll es nicht bleiben, der TARDOC soll keine einmalige Revision sein, sondern stetig weiterentwickelt werden. Dabei soll in Zukunft auch berücksichtigt werden, wie sich psychologische Faktoren auf das Verhalten der Ärzte auswirken können. Die vorliegende Arbeit widmet sich der Sicht der Ärzte auf das Tarifierungssystem TARMED. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Erfassung der ärztlichen Position im Spannungsfeld zwischen ihnen und dem Tarifierungssystem. Die Fragestellung wird im folgenden Unterkapitel ausführlich erläutert. Bachelor-Thesis Michelle Koch 5 Zielsetzung und Fragestellung Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist herauszufinden, ob bei den Ärzten während des Abrechnungsprozesses eine kognitive Dissonanz entsteht und welche Strategien zur Reduktion die Ärzte anwenden, wenn eine solche entstanden ist. Ärzte sind bei der Abrechnung an politisch und ökonomisch motivierte Vorgaben gebunden und können erbrachte Leistungen nur in einem vorgegebenen Rahmen abrechnen. Sprengt die erbrachte Leistung den Abrechnungsrahmen, können sie die Position (eine Leistung im Tarifkatalog) nicht korrekt abrechnen und verzichten so auf die Vergütung der erbrachten Leistung. Abbildung 1 stellt den zu untersuchenden Prozess des Abrechnens grafisch dar, QR steht dabei für das Kapitel Angiografie. Alternativ können die Ärzte versuchen, die erbrachte Leistung über dafür nicht vorgesehene Positionen abzurechnen. Dies wird aber als eine falsche Abrechnung angesehen und ist nicht vorgesehen, denn ein Tarifierungssystem soll für Transparenz und Nachvollziehbarkeit für die Krankenkassen sowie die Patienten sorgen. Somit werden die folgenden zwei Fragestellungen gebildet: Fragestellung 1: Entsteht beim Prozess des Abrechnens von ärztlichen Leistungen eine kognitive Dissonanz? Fragestellung 2: Welche Strategien wenden die Ärzte an, um die kognitive Dissonanz zu reduzieren? Abbildung 1: Übersicht Entstehung kognitive Dissonanz (eigene Darstellung) Bachelor-Thesis Michelle Koch 6 Aufbau der Arbeit Mit der vorliegenden Bachelorarbeit soll untersucht werden, ob bei Ärzten bei der Abrechnung von erbrachten Leistungen, die nicht angemessen über das aktuelle Tarifierungssystem abgedeckt werden, eine kognitive Dissonanz entsteht. Nachdem in Kapitel 1 die Ausgangslage und Problemstellung, Zielsetzung und Fragestellung sowie der Aufbau der Arbeit beschrieben wird, widmet sich Kapitel 2 der Erklärung des Tarifierungssystems. Um die Entstehung der kognitiven Dissonanz im Rahmen des Abrechnungsprozesses überhaupt nachvollziehen zu können, ist es relevant, dass das Tarifierungssystem gründlich erklärt und beschrieben wird. Kapitel 3 enthält eine Vorstellung des Praxispartners und vor allem eine Vorstellung der verschiedenen Anspruchsgruppen. Die theoretischen Grundlagen folgen in Kapitel 4, hier wurden für die vorliegende Bachelorarbeit relevante Ansätze der Literatur, aber auch aktuelle Studien herangezogen. Kapitel 5 beinhaltet eine detaillierte Beschreibung des methodischen Vorgehens, dazu gehören unter anderem auch die Leitfadenerstellung sowie die Wahl von MAXQDA als Auswertungstool. In Kapitel 6 folgen dann die Ergebnisse der Befragungen, welche tabellarisch dargestellt werden. In Kapitel 7 finden sich die neu identifizierten Kategorien mit den dazugehörigen Ergebnissen. Kapitel 8 widmet sich der Interpretation dieser Ergebnisse. Als Abschluss erfolgt in Kapitel 9 die Diskussion, die auch einen weiteren Ausblick eröffnet. Bachelor-Thesis Michelle Koch 7 2. Tarifierungssystem Im folgenden Kapitel wird das Tarifierungssystem TARMED vorgestellt und die Struktur erklärt. Dabei werden ebenfalls die Anwendungs- und Abrechnungsregeln erläutert. Ausgangslage TARMED In der Krankenversicherung dienen Tarife als verbindliche Grundlage. Gemäss Bundesamt für Gesundheit (2019) ist der TARMED eine Tarifstruktur, um ärztliche Leistungen abzurechnen. Dieses spezielle Tarifierungssystem ist allerdings nicht für stationäre Leistungen gedacht, sondern bezieht sich ausschliesslich auf ambulante Arztleistungen, die in Arztpraxen, Kliniken oder Spitälern erbracht wurde. Eingeführt wurde der TARMED am 1. Januar 2004. In den ersten Jahren nach der Einführung gab es kleinere Revisionen, bis es aufgrund von Interessenkonflikten zwischen den Tarifpartnern zu einem Reformstau kam. In der Folge davon wurden nur noch Anpassungen durch Verordnungen des Bundesrates durchgeführt. Die Anpassungen des Bundesrates waren aber stets kleinere, um die Alltagstaulichkeit des Systems aufrechtzuerhalten. Grössere und vor allem bedeutendere Anpassungen wie etwa technische Verbesserungen gab es aber nicht mehr. Aus diesem Grund wurde von allen Tarifpartnern eine Gesamtrevision des TARMED gewünscht. Das Hauptziel der Leistungsträger (Krankenversicherungen) ist vor allem die Transparenz sowie die Anpassung an die technisch verbesserten Prozesse. Auf der Seite der Ärzte als Leistungserbringer ist das Hauptziel die Einfachheit der Anwendung sowie die Vollständigkeit des Leistungskataloges. Abrechnungs- und Anwendungsregeln Jede ärztliche Leistung wird im Tarifkatalog durch eine eigene Position abgebildet, die abgerechnet werden kann, wenn die Leistung vom Arzt erbracht wird. Die Leistungsabrechnung wird der Krankenkasse oder dem Patienten zugeschickt. Für jede Leistungsposition werden Limitations- sowie mögliche Kumulationsregeln festgelegt. Limitationen begrenzen die ärztliche Leistung. Das bedeutet, dass Ärzte nur eine gewisse Anzahl der jeweiligen Leistungsposition abrechnen können. Sobald die Limitation erreicht ist, werden weitere Abrechnungen nicht mehr von der Krankenkasse übernommen. Eine Kumulationsregel bedeutet, dass eine Leistung in der gleichen Sitzung mit einer anderen Leistung nicht kombiniert werden kann. Dies ist vor allem der Fall, wenn sich zwei Leistungen gegenseitig ausschliessen oder sich inhaltlich überschneiden. Zum Beispiel kann die Leistung «Tränenwegspülung, einseitig» nicht kumuliert werden mit der Leistung «Tränenwegspülung, beidseitig». Abrechnungsregeln werden vor allem festgelegt, um einen Missbrauch auf Seite der Ärzte zu verhindern. Bachelor-Thesis Michelle Koch 8 Tarifierungsstruktur Es existieren zwei Arten von Leistungspositionen: die Zeit- bzw. die Handlungsleistung. Im nächsten Abschnitt wird eine Zeit- sowie eine Handlungsleistung in Verbindung mit den Limitationsregeln vorgestellt, um den Unterschied zwischen den beiden Leistungspositionen zu konkretisieren. Diese Unterscheidung ist für das Verständnis der Entstehung einer kognitiven Dissonanz relevant. Der Unterschied der beiden Leistungsarten sowie die Entstehung der kognitiven Dissonanz wurde in der Abbildung 1: Übersicht Entstehung kognitive Dissonanz (eigene Darstellung) grafisch dargestellt. QR.2004 «Shunt-Angiografie/Shunt-Intervention, pro 1 Min.» Diese Leistung ist eine Zeitleistung und wird pro Minute abgerechnet. Die Dauer des Eingriffes kann nur schwer standardisiert werden und ist je nach Situation sehr unterschiedlich. Bei Zeitleistungen werden normalerweise sogenannte Limitationen festgelegt, in diesem Beispiel wären dies 60 Minuten pro Sitzung. Dies bedeutet, dass der Arzt 60 Minuten abrechnen darf und die Krankenkasse den Betrag übernimmt. Falls nun aber der Arzt mehr als 60 Minuten für den Eingriff benötigt, so kann er dies der Krankenkasse nicht in Rechnung stellen und müsste dies direkt beim Patienten tun, um noch Entgelt für seine Leistung zu erhalten. Dies möchte natürlich vermieden werden. Bei Zeitleistungen liegt es in der Verantwortung des Arztes die Anfangs- und Endzeit aktiv festzuhalten, um dann die effektiv benötigte Zeit abzurechnen. QR.4501 «Einlage eines Cavafilters» Diese Leistung wird als Handlungsleistung bezeichnet. Handlungsleistungen sind normalerweise ärztliche Leistungen, die standardisiert ablaufen und in der Regel gleich lange dauern. Bei Handlungsleistungen ist die Dauer des Eingriffes, sogenannte «Minutagen», im System fix hinterlegt, in diesem werden der «Einlage eines Cavafilters» 45 Minuten zugeordnet. Bei einer Handlungsleistung bezieht sich die Limitation also nicht auf die Anzahl Minuten, sondern auf die Anzahl Abrechnung pro Sitzung. In dem vorliegenden Beispiel liegt die Limitation bei 1x pro Sitzung. Das bedeutet, dass 1x 45 Minuten durch den Arzt abgerechnet werden können. Dabei kann es geschehen, dass die Dauer des Eingriffes einmal kürzer und einmal länger ist. Es wird aber angenommen, dass sich der Mittelwert über alle Eingriffe zusammen bei 45 Minuten einpendelt. Bachelor-Thesis Michelle Koch 9 3. Vorstellung Praxispartner und Umfeld Im folgenden Kapitel wird der Praxispartner sowie dessen Umfeld vorgestellt. Das Verständnis für die unterschiedlichen Interessen ist besonders relevant, denn die Bedingungen für die Leistungsabrechnung der Ärzte werden durch verschiedene Parteien festgelegt. Das Spannungsfeld für die Ärzte entsteht erst durch die unterschiedlichen Interessen der Parteien und der damit verbundenen Festlegung von Anwendungs- und Abrechnungsregeln. Vorstellung Praxispartner Der Praxispartner der vorliegenden Bachelorarbeit ist die ats-tms AG (Arzttarif Schweiz – Tarif medical suisse). Die ats-tms AG ist eine neutrale und unabhängige Stelle, die gegründet wurde, um das Tarifierungssystem TARMED zu revidieren (ats-tms AG, 2019). Gegründet wurde die Unternehmung im Jahr 2016 durch folgende Tarifpartner: • FMH Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte • H+ Die Spitäler der Schweiz • Curafutura Die innovativen Krankenversicherer • MTK Medizinaltarif-Kommission UVG Zuvor versuchten verschiedene Verbände der Leistungserbringer (Ärzte) den Tarif alleine zu überarbeiten. Jedoch wurden bei dieser ersten Überarbeitung die Interessen der Leistungsträger (Versicherer) nicht berücksichtigt. Um den Tarif aber tatsächlich einführen zu können, war es natürlich nötig, dass auch die Interessen der Versicherer berücksichtigt wurden. Bachelor-Thesis Michelle Koch 10 Tarifpartner Wie bereits im vorherigen Unterkapitel 3.1 beschrieben, wurde die ats-tms AG von verschiedenen Tarifpartnern gegründet. Damit das Spannungsfeld, in dem sich die Ärzte befinde, nachvollzogen werden kann, werden in diesem Unterkapitel die Tarifpartner und vor allem ihre Interessen kurz vorgestellt. «H+ Die Spitäler der Schweiz» ist im September 2018 aus der ats-tms AG ausgetreten und wird daher in der weiteren Arbeit nicht angeführt. FMH Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte H+ Die Spitäler der ats-tms Curafutura - Die Schweiz innovativen AG Krankenversicherer MTK Medizinaltarif- Kommission UVG Abbildung 2: Übersicht Tarifpartner (eigene Darstellung) 3.2.1. FMH Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte Die FMH vertritt die Interessen der Schweizer Ärzteschaft und setzt sich für ein patientenbezogenes und effizientes Gesundheitssystem ein, in welchem Ärztinnen und Ärzte hochstehende Leistungen erbringen können (FMH, 2019). In Bezug auf die Anwendungs- und Abrechnungsregeln ist es für die FMH natürlich wichtig, dass die ärztliche Leistung so wenig wie möglich eingeschränkt wird und der Patient im Zentrum steht. Das heisst, dass die Limitation so hoch wie möglich sein soll und so wenig Kumulationsregeln wie möglich bestehen sollen. Die ärztliche Leistung soll patientenbezogen sein und nicht durch politische Entscheidungen eingeschränkt werden. 3.2.2. Curafutura - Die innovativen Krankenversicherer Curafutura ist ein Verband, bestehend aus vier Krankenkassen: CSS, Helsana, Sanitas und KPT. Der Verband setzt sich für ein liberales Gesundheitssystem ein (curafutura, 2019). Das bedeutet, ein System, in welchem der Staat keine zentrale, sondern eine subsidiäre Rolle einnimmt und in welchem die Vertragspartner (Versicherer sowie Ärzte) einen grossen Bachelor-Thesis Michelle Koch 11 Handlungsspielraum für innovative Lösungen haben. Neben der Curafutura gibt es noch einen weiteren grossen Krankenkassenverband: die santésuisse. Nach Curafutura (2019) wurde von ehemaligen Mitgliedern der santésuisse gegründet, da der bestehende Verband bei zentralen Entscheiden blockiert und somit keine grundlegenden Änderungen möglich waren. Zu grundlegenden Änderungen gehört auch die Neugestaltung des Tarifierungssystems und die damit verbundenen Verhandlungen mit den Tarifpartnern. Curafutura verfolgt aktiv das Ziel, sich an den Verhandlungen zu beteiligen und die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen zu fördern. In Bezug auf die Anwendungs- und Abrechnungsregeln verfolgt Curafutura folglich das Ziel die effiziente ärztliche Leistung zu fördern. Jede Leistungsposition, die limitiert werden kann, soll auch mit einer Limitation versehen werden. Die Limitation soll sich dabei möglichst an einer effizienten Arbeitsweise des Arztes orientieren. Auch Kumulationsregeln sollen gesetzt werden, wenn dies möglich ist. 3.2.3. MTK Medizinaltarif-Kommission UVG Die Medizinaltarif-Kommission UVG ist ein Verein, der sich aus mehreren Vertretern zusammensetzt: • Suva • Schweizerischer Versicherungsverband (SVV) • Santésuisse • Militärversicherung • Invalidenversicherung Der Verein beschäftigt sich mit der Regelung aller grundsätzlichen Fragen, die sich aus dem Medizinalrecht und den Medizinaltarifen für die Träger (Versicherungen) der obligatorischen Unfallversicherung ergeben (MTK, 2019). Damit auch die Koordination mit weiteren Sozialversicherungen gewährleistet werden kann, sind Vertreter der Militär- und Invalidenversicherung ebenfalls beteiligt. Alle Parteien zusammen schliessen normalerweise gemeinsam Verträge ab mit Spitälern und Verbändern der Medizinalpersonen. Die MTK ist bei der Revision des Tarifierungssystems vor allem in den Fachgebieten aktiv beteiligt, die in den Bereich der Unfallversicherung fallen. In Bezug auf die Anwendungs- und Abrechnungsregeln verfolgt die MTK ein ähnliches Ziel wie die Curafutura. Bachelor-Thesis Michelle Koch 12 3.2.4. Spannungsfeld Tarifpartner Die Tarifpartner verfolgen im Grunde genommen alle das gleiche Ziel: Das Tarifierungssystem soll möglichst korrekt die Realität wiedergeben. Das System soll eine sachgerechte und betriebswirtschaftlich korrekte Vergütung der ambulanten medizinischen Leistungen ermöglichen. Verschiedene Umstände erschweren jedoch eine Einigung. Zum einen fehlen Minutage- Erhebungen. Minutagen beschreiben die Dauer eines Eingriffes oder einer Untersuchung. Daher sind Minutagen sowohl bei Zeit- als auch bei Handlungsleistungen essentiell. Bei Zeitleistungen geht es darum, vernünftige Limitationsregeln festzulegen. Doch eine begründete Obergrenze festzulegen, ohne die statistische Verteilung der Dauer des Eingriffes zu kennen, ist schlicht unmöglich. Auch bei den Handlungsleistungen geht es darum, die Minutagen je nach technischem Fortschritt anzupassen. Auch hier ergibt sich das Problem der fehlenden Daten. Folglich sind die Tarifpartner gezwungen, ohne belastbare Daten eine Limitationsregel oder eine Minutage festzulegen und sich zu einigen. In Folge dessen, kann jede Partei nur die Interessen ihrer Kunden vertreten. Bei der FMH sind die Kunden zum Beispiel die Ärzte und bei curafutura sind dies die Versicherungen (siehe Kapitel 3.2.1 und Kapitel 3.2.2). Ausserdem wird eine einfache Einigung natürlich auch noch durch andere Faktoren erschwert, wie etwa politische Interessen und individuelle Beweggründe. Zweck der ats-tms AG Die ats-tms AG wurde aufgrund des vorhandenen Spannungsfeldes zwischen den Tarifpartnern gegründet. Aufgrund vorheriger Versuche den TARMED zu revidieren, existierten bereits Blockaden zwischen den Tarifpartnern, die die Weiterentwicklung erschwerten. Durch die Gründung einer neutralen Stelle sollte das Vorgehen professionalisiert und eine Weiterentwicklung wieder möglich werden. Ausserdem verpflichteten sich die Tarifpartner mit der Gründung der ats-tms AG zum Grundsatz der Trennung von Preis und Struktur. Das heisst, dass sich die ats-tms AG nur auf die Weiterentwicklung der Tarifstruktur konzentriert und die ambulanten medizinischen Leistungen mit sogenannten Taxpunkten abbilden. Die Taxpunktwerte, die sich auf die Höhe der Vergütung einer Leistung beziehen, werden zwischen den jeweils zuständigen Leistungserbringern und den Versicherern ohne die ats-tms AG ausgehandelt. Durch diese Trennung von Struktur und Preis wurden die Probleme entschärft und eine Weiterentwicklung war wieder möglich. Bachelor-Thesis Michelle Koch 13 4. Theorie der kognitiven Dissonanz In diesem Kapitel wird die Theorie der kognitiven Dissonanz ausführlich erläutert, da sie relevant ist für die Beantwortung der Fragestellung. Die Theorie der kognitiven Dissonanz ist aber sehr vielfältig und umfangreich. Deswegen wird die Theorie an dieser Stelle nur soweit behandelt, als sie für die Beantwortung der Fragestellung relevant ist. Es gibt zu Beginn eine Einführung in die Theorie der kognitiven Dissonanz. Danach folgt die Beschreibung wann kognitive Dissonanzen vor allem auftreten. Die weiteren Kapitel beschäftigen sich mit der kognitiven Dissonanz in Entscheidungssituationen sowie die kognitive Dissonanz bei einem moralischen Dilemma. Am Schluss werden die Strategien zur Reduktion der kognitiven Dissonanz beschrieben. Konsistenztheorie nach Festinger (1957) Die Theorie der kognitiven Dissonanz ist eine Konsistenztheorie. Unter Konsistenztheorien versteht man Theorien, die das Streben der Menschen nach einem widerspruchsfreien Weltbild erklären (Raab, Unger & Unger, 2010). Nach Festinger (1957) streben Menschen nach Konsistenz zwischen dem eigenen Selbstbild und den Handlungen. Nach Aronson, Wilson und Akert (2008) möchten sich die meisten Menschen selbst als vernünftig, intelligent und sittlich darstellen. Insbesondere dann, wenn unser positives Selbstverständnis bedroht wird sind wir besonders bemüht eine vorteilhafte Sicht auf uns selbst zu wahren (Wicklung & Brehm, 1998). Informationen, die uns in irgendeiner Weise als unmoralisch oder irrational darstellen, führen zu einem unbehaglichen Gefühl (Aronson, Wilson & Akert, 2008). Bachelor-Thesis Michelle Koch 14 Es gibt dabei nach Festinger (1957) unterschiedliche Situationen, bei denen Konsistenz wichtig ist: • Konsistenz zwischen Meinungen/Einstellungen und Handeln Unter anderem streben Menschen danach, ihre Meinungen und Einstellungen möglichst in Konstellationen zu bringen, die in sich konsistent sind. So mag jemand zum Beispiel keine lauten Kinder, vertritt die Meinung, dass Kinder ruhig und unaufdringlich sein sollten und erzieht sein Kind dementsprechend. • Konsistenz zwischen Wissen und Handeln Menschen möchten auch Konsistenz zwischen dem eigenen Wissen und den eigenen Handlungen erzielen. Wenn eine Person zum Beispiel für sich selber eine Hochschulbildung wichtig findet, so ist sie bestrebt sein Kind zu ermuntern ebenfalls eine Hochschule zu besuchen. • Konsistenz zwischen Selbstbild und Handeln Menschen möchten, dass ihre Handlungen möglichst konsistent mit dem eigenen Selbstbild sind. Wenn also im Selbstbild einer Person Loyalität besonders wichtig ist, ist es dieser Person folglich wichtig loyal auf andere zu wirken und dementsprechend zu handeln. Auftreten einer Dissonanz Doch sogleich man die oben genannten angestrebten Konsistenzsituationen liest, muss man unverzüglich an unterschiedliche Situationen denken, in denen diese Konsistenz nicht erzielt wird. Folglich kommt es zu einer Inkonsistenz oder wie Festinger (1957) dies beschreibt, zu einer Dissonanz. Im Alltag kommt es zu unzähligen dissonanten Situationen. Dies kann nur schon passieren, wenn man der Meinung ist, dass das Thema Big Data eine grosse Bedrohung für unsere Gesellschaft darstellen und man gleichzeitig einen Artikel liest, in dem nur die Vorteile dieser Thematik hervorgehoben werden. Dabei wird zumindest kurzzeitig eine Dissonanz hervorgerufen. Ein anderes Beispiel beschreibt eine länger anhaltende Dissonanz. Es wissen fast alle Raucher, dass Rauchen schädlich ist. Trotzdem handeln sie nicht danach und rauchen weiterhin. Dies führt zu einem irrationalen Verhalten und einer Lücke zwischen dem eigenen Wissen und der folgenden Handlung. In der Folge entsteht eine länger anhaltende kognitive Dissonanz, denn man verhält sich irrational und das Selbstbild wird bedroht. Die entstandenen Abweichungen vom wissentlich "richtigen" Verhalten versuchen die Menschen mehr oder weniger zu rationalisieren, damit mit der Rechtfertigung das Selbstbild geschützt werden kann. Gelingt das Rationalisieren der wissentlich falschen Handlung nicht oder nur teilweise, so bleibt ein unbehagliches Gefühl bestehen. Bachelor-Thesis Michelle Koch 15 Kognitive Dissonanz bei Entscheidungen Nach Betsch, Funke und Plessner (2011) entsteht fast bei jeder Entscheidung eine kognitive Dissonanz. In einer Entscheidungssituation hat man stets die Wahl zwischen mindestens zwei Möglichkeiten. Jede Möglichkeit bietet Vor- und Nachteile. Entscheidet man sich für die eine Möglichkeit, werden automatisch die Nachteile der gewählten Möglichkeit sowie auch die Vorteile der nicht gewählten Möglichkeit in Kauf genommen. Dies führt immer zu einer kognitiven Dissonanz. Dabei ist die Stärke der Dissonanz abhängig von den folgenden Aspekten (Betsch, Funke & Plessner, 2011): • Wichtigkeit der Entscheidung • Relative Attraktivität der nicht gewählten Alternative • Anzahl Aspekte, bei der die gewählte Option die Alternativen dominiert Die entstandene kognitive Dissonanz in einer Entscheidungssituation kann reduziert werden. Entweder wird die Entscheidung korrigiert, obwohl auch dies wieder eine kognitive Dissonanz auslösen könnte. Oder aber die Attraktivität der gewählten Option wird aktiv aufgewertet. Dafür werden zum Beispiel Informationen, die für die gewählte oder gegen die nicht gewählte Option sprechen selektiv gesucht. 4.3.1. Wiederholte Entscheidungen und Routine Menschen entscheiden zwar jeden Tag, aber die Entscheidungen wiederholen sich sehr häufig. Wir entscheiden uns nicht jeden Tag neu, wo wir nun einkaufen gehen möchten, sondern wir wissen genau wohin wir einkaufen gehen können, wie wir dahin kommen und sogar wo unsere Lieblingsartikel liegen. Menschen verfügen über ein Repertoire an Routinen, welches uns hilft den Alltag zu erleichtern (Athay & Darley, 1981). Wiederholte Entscheidungen unterscheiden sich nach Betsch, Funke und Plessner (2011) enorm von neuen Entscheidungen. Bei wiederholten Entscheidungen stehen schon zu Beginn der Entscheidung mögliche Lösungen bereit, weil wir die Entscheidung schon einmal getroffen haben. Nach Aronson, Wilson und Akert (2008) werden vor allem in Situationen, wo wir uns bereits einmal für ein unmoralisches Verhalten entschieden haben, durch die Wiederholung besonders gefestigt. Das Beispiel nach Aronson, Wilson und Akert (2008) untermauert diese Hypothese: Ein Schüler während einer Prüfung überlegt zu Schummeln, da er die Prüfung unbedingt bestehen muss. Er ist sich aber bewusst, dass Schummeln unmoralisch wäre. Nach einem inneren Kampf entscheidet sich dieser Schüler nun für das Schummeln. Bachelor-Thesis Michelle Koch 16 In der Folge der Entscheidung ist es sehr wahrscheinlich, dass durch den Schüler versucht wird die Handlung zu rechtfertigen und die negativen Aspekte des Handelns zu minimieren. Eine wirksame Dissonanzreduktion würde aber sogar eine Haltungsänderung gegenüber dem Schummeln beinhalten. Man würde eine tolerantere Position dazu einnehmen und die Bedeutung der Handlung relativieren. Wenn man sich gegen das Schummeln entscheidet, hat man auf die gute Note verzichtet und hat deswegen das Gefühl, man müsse die Qualität der Entscheidung erhöhen. In der Folge passiert das Gegenteil, man nimmt wahrscheinlich eher eine strengere Position ein und findet, dass Schummeln gar nicht in Ordnung ist. Kognitive Dissonanz bei einem moralischen Dilemma Eine kognitive Dissonanz kann auch bei einem moralischen Dilemma. entstehen Nach Lind (2005) ist ein moralisches Dilemma eine Zwangslage, in der jede denkbare Entscheidung zur Verletzung eines wichtigen moralischen Prinzips führt. Das Dilemma ist keine objektive Eigenschaft einer Entscheidung, sondern eine subjektive Empfindung. Die moralischen Prinzipien müssen eine gewisse Wichtigkeit für die Person haben, ansonsten wird deren Verletzung nicht als relevant eingestuft und das Dilemma entsteht nicht. Bei einem moralischen Dilemma entsteht in jedem Fall eine kognitive Dissonanz. Nehmen wir an, ein Geschäftsführer muss sich dazu entschliessen zwei Mitarbeitende zu entlassen, denn finanziell steht es schwierig um die Unternehmung. Beide Mitarbeitenden haben eine Familie und arbeiten schon länger für die Unternehmung. Der Geschäftsführer verletzt eines seiner Prinzipien, egal wie er sich entscheidet. Wenn er die Mitarbeitenden nicht entlässt, so droht seinem Unternehmen die Schliessung und er verletzt das Prinzip seine Unternehmung am Laufen zu halten. Wenn er die Mitarbeitenden entlässt, so verletzt er das Prinzip der Loyalität gegenüber seinen Mitarbeitenden und vermutlich auch das Prinzip der Freundschaft. Vorausgesetzt ist diesem Beispiel natürlich, dass die beiden genannten Prinzipien eine gewisse Wichtigkeit für den Geschäftsführer darstellen. Bachelor-Thesis Michelle Koch 17 Dissonanzreduktion Festinger (1957) schlägt ausserdem vier Möglichkeiten vor, mit einer entstandenen Dissonanz umzugehen und diese zu rationalisieren, bzw. zu reduzieren. Die Möglichkeiten der Dissonanzreduktion nach Festinger (1957) zeigen auf, wie Menschen mit dem Unbehagen umgehen. Dabei kann zusammengefasst werden, dass wir uns während dieses Prozesses stets von der Dissonanz entfernen wollen und jegliche Anknüpfungspunkte damit abzuwerten versuchen. Möglichkeit 1: Handlung ändern Die erste Möglichkeit besteht darin, die Handlung, die dem eigenen Selbstbild widerspricht, zu ändern. Nehmen wir an, ein erwachsener Mann überquert bei Rot die Strasse. Der Mann ist aber gerade Vater geworden und besonders darauf bedacht, kein Risiko für seine Gesundheit einzugehen. Eine Möglichkeit für die Reduktion der kognitiven Dissonanz besteht darin, dass er nicht mehr bei Rot über die Strasse geht. Somit würde das psychologische Unbehagen reduziert werden. Möglichkeit 2: Dissonante Kognition beseitigen Eine weitere Möglichkeit besteht darin entweder das Selbstbild oder die Handlung anzupassen. Entweder kann der Mann, der die Strasse bei Rot überquert sein Selbstbild ändern oder seine Handlung als ungefährlich abtun. Dabei würde er die Sichtweise auf seine Handlung ändern. Er würde das Gesundheitsrisiko als gering einschätzen und das Überqueren der Strasse bei Rot verharmlosen. Möglichkeit 3: Weitere Kognitionen hinzufügen Die dritte Möglichkeit besteht im Hinzufügen einer weiteren Kognition. Dabei wird sehr häufig external attribuiert und ein besonders "guter" Grund für das Verhalten geliefert. Der Mann könnte die Handlung, das Überqueren bei Rot, begründen, da er es halt eilig hatte und nicht zu spät kommen wollte. Möglichkeit 4: Selbstbestätigung durch Hinweis auf eine andere Stärke Die letzte Möglichkeit besteht darin auf andere Stärken hinzuweisen und so das Selbstbild zu schützen. Der Mann könnte seine Handlung, das Überqueren bei Rot, damit begründen, dass er dafür sonst nie ein Risiko eingeht und vorsichtig ist. Bachelor-Thesis Michelle Koch 18 5. Methode und Vorgehen Für die vorliegende Arbeit wird die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse angewendet. In dem zu untersuchenden Feld ist die kognitive Dissonanz schwer zu erfassen, denn die soziale Erwünschtheit spielt eine grosse Rolle. In der vorliegen Arbeit soll erfasst werden, ob Ärzte "falsch" abrechnen. Dies bedeutet aber nicht, dass sie ein unmoralisches Verhalten zeigen, sondern nur, dass sie nicht so abrechnen, wie das System es eigentlich vorsieht. Diese kleine, aber sehr wichtige Unterscheidung schien kaum in Form einer quantitativen Forschung erfassbar. Die qualitative Forschung jedoch, ist sehr viel offener und flexibler, so dass man auf kleine Aspekte weiter eingehen kann, wenn dies einen Erkenntnisgewinn verspricht. Ausserdem sollen die Strategien zur Reduktion von kognitiver Dissonanz erfasst werden. Diese Strategien sind aber in den meisten Fällen implizit und können mit der qualitativen Forschung wesentlich besser erfasst werden (Flick, 2012). Sampling und untersuchte Stichprobe Das Sampling wurde anhand von festgelegten Kriterien durchgeführt. Es gab dabei Kriterien, die teilnehmenden Personen erfüllen mussten und es gab ausschliessende Kriterien. Muss-Kriterien Die Fragestellung der vorliegenden Arbeit dreht sich um das Tarifierungssystem TARMED. Damit überhaupt eine aussagekräftige Befragung durchgeführt werden konnte, war es unumgänglich, dass sich der Arzt mit dem Tarifierungssystem auskennt und dieses benutzt. Ausschliessende Kriterien Mit der Befragung sollten psychologische Faktoren, die das Verhalten von Ärzten im Umgang mit dem Tarifierungssystem beeinflussen könnten, erhoben werden. Damit aber die Meinung nicht bereits vorbestimmt war und die Befragung unvoreingenommen durchgeführt werden konnte, war das einzige Ausschlusskriterium, dass die befragte Person keine politischen Aufgaben bei der Revision des Tarifierungssystems TARMED ausübte. Jedes ärztliche Fachgebiet verfügt über eine Fachgesellschaft, die das jeweilige Fachgebiet unterstützt und fördert. Dabei gibt es Ärzte, die für sämtliche Belange der Tarifverhandlungen für ihre Fachgesellschaft verantwortlich sind. Bachelor-Thesis Michelle Koch 19 Rekrutierung Die Rekrutierung der geeigneten Interviewpartner erfolgte per Anfrage durch E-Mails. Es wurden Ärzte in Olten und der näheren Umgebung kontaktiert. Die E-Mailadresse wurde durch eine Ärztesuchmaschine herausgefunden und die Ärzte in alphabetischer Reihenfolge angeschrieben. Mit diesem Vorgehen konnten fünf Ärzte rekrutiert werden. Zum anderen wurden E-Mails an die Tarifdelegierten der Fachgesellschaften geschickt, mit der Bitte um Weiterleitung an befreundete Ärzte, die Interesse an einem Interview haben könnten. Dabei wurde ein Arzt rekrutiert. Es wurden insgesamt sechs Ärzte aus unterschiedlichen Fachgebieten befragt (n=6; davon 1 weiblich). Bachelor-Thesis Michelle Koch 20 Störfaktoren • Einseitige Abdeckung Fachbereiche Die Interviews wurden sowohl mit Spezialisten als auch mit Grundversorgern (Hausärzte) durchgeführt. Trotzdem muss bedacht werden, dass die medizinischen Fachbereiche sehr unterschiedlich sind. Es gibt durchaus Fachgebiete, bei denen die Ärzte viel Sprechleistung erbringen, zum Beispiel typischerweise in den beiden Bereichen Onkologie und Nuklearmedizin. Dabei werden die Patienten vermehrt aufgeklärt. Es gibt noch weitere Fachgebiete, bei denen vor allem Sprechleistung erbracht wird, was bedeutet, dass diese Gebiete eher von der zeitlichen Limitation betroffen sind. In der vorliegenden Bachelorarbeit wurden 5 Spezialisten und 1 Grundversorger befragt. Die Fachgebiete der Spezialisten waren: Kardiologie (2x), Urologie (1x), Angiologie (1x) und Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten (1x). • Untersuchte Stichprobe Die Ärzte wurden mittels E-Mail-Anfrage rekrutiert. Dabei wurden beliebige Ärzte in der Region Olten angeschrieben. Dabei muss bedacht werden, dass ein Arzt über eine E-Mail-Adresse verfügen musste, damit er überhaupt angefragt wurde. Ausserdem melden sich auf die E-Mail- Anfrage bezüglich einer Befragung zum TARMED mit grosser Wahrscheinlichkeit Ärzte, die ein hohes Engagement für diesen Beruf haben. Somit wurden wahrscheinlich Ärzte rekrutiert, die ohnehin ein hohes Engagement haben. • Soziale Erwünschtheit In der vorliegenden Bachelorarbeit geht es auch darum herauszufinden, ob Ärzte nach den Vorgaben des TARMED abrechnen. Es muss dabei beachtet werden, dass es sozial nicht erwünscht ist ein nicht regelkonformes Verhalten zuzugeben, auch wenn dafür eine Begründung vorliegt. Die Fragen wurden so formuliert, dass dem zu interviewenden Arzt kein Fehler unterstellt wird. Dennoch ist es denkbar, dass die interviewten Ärzte nicht gemäss den Vorgaben abrechnen und es während des Interviews nicht erwähnen. • Geschlechterverteilung Die Geschlechterverteilung von den interviewten Ärzten ist asymmetrisch. Es wurden fünf Männer und nur eine Frau interviewt. Bachelor-Thesis Michelle Koch 21 Leitfadenerstellung Ausgangspunkt für die Ausarbeitung des Interviewleitfadens war die Theorie der kognitiven Dissonanz nach Festinger (1957). Diese wurde operationalisiert und auf die unterschiedlichen Bestandteile heruntergebrochen. Das Vorgehen bei der Festlegung der Fragen lehnt sich an die SPSS-Methode nach Helfferich (2011) an. Dabei werden die Fragen nach dem Prinzip: Sammeln, prüfen, sortieren und subsumieren ausgewählt. Im ersten Schritt wurden in einem Brainstorming-Verfahren alle Fragen notiert, die die kognitive Dissonanz beeinflussen und in Zusammenhang mit den Bestandteilen der kognitiven Dissonanz stehen könnten. Im zweiten Schritt wurden die Fragen auf die Interviewtauglichkeit geprüft. Es wurde darauf geachtet, dass die Fragen möglichst offen und nicht wertend formuliert wurden, da die interviewten Ärzte nicht den Eindruck bekommen sollten, dass ihnen eine moralisch falsche Entscheidung unterstellt wird (falsch abrechnen). Die übrig gebliebenen Fragen wurden im Anschluss inhaltlich sortiert und im Interviewleitfaden subsumiert (siehe Anhang 1_Erhebungsplan und Interviewleitfaden). 5.2.1. Deduktive Kategorienbildung Für die Bildung des Kategoriensystems wurde nach Kuckartz (2019) und der deduktiven Kategorienbildung vorgegangen. Wie bereits in Kapitel 5.2 beschrieben, wurde die Theorie der kognitiven Dissonanz operationalisiert und für die einzelnen Bestandteile Fragen gebildet. Das heisst, der Interviewleitfaden wurde aufgrund von theorieabgeleiteten, bereits identifizierten Kategorien gebildet. Nach Kuckartz (2019) kann mit dieser Voraussetzung das Kategoriensystem deduktiv gebildet werden. Das heisst, die bereits von der Theorie der kognitiven Dissonanz abgeleiteten Kategorien wurden als Hauptkategorien festgelegt und in den Transkriptionen entsprechend codiert. Ebenfalls wurden Subkategorien gebildet. Wie bereits in Kapitel 1.2 beschrieben, entsteht die kognitive Dissonanz beim Abrechnungsprozess unabhängig von der Entscheidung. Denn entweder entscheidet sich der Arzt, die Zeit korrekt zu verrechnen und auf die Vergütung der Zeit, die über der Limitation liegt zu verzichten. Oder aber, er entscheidet sich dafür diese Zeit, die über der Limitation liegt über eine dafür nicht vorgesehene Position zu verrechnen oder auf einem anderen Weg an die Vergütung zu kommen. Entweder entsteht die kognitive Dissonanz aufgrund des materiellen Verlusts oder aufgrund des nicht korrekten Abrechnens. Für die Erstellung des Leitfadens wurden Kategorien aus der Theorie der kognitiven Dissonanz abgeleitet und anhand der Kategorien Fragen gebildet. Jede Kategorie wird im nachfolgenden Abschnitt erläutert mit der sogenannten Kategoriendefinition, bei welcher auch direkt auf die Interviews verwiesen wird. Diese finden sich im Anhang_2 Codierte Transkriptionen. Eine Zusammenfassung der deduktiv gebildeten Kategorien findet sich in der nachfolgenden Tabelle 1. Bachelor-Thesis Michelle Koch 22 Tabelle 1: Deduktiv gebildete Kategorien (eigene Darstellung) Kategorie Frage Beruflicher Kontext - Beschreiben Sie die Berührungspunkte mit dem Tarifierungssystem TARMED - Beschreiben Sie den Vorgang des Abrechnens von der Begrüssung des Patienten bis zur vollständigen Rechnungserstellung. Probleme mit dem - Welche problematischen Situationen haben Sie bisher TARMED im Umgang mit dem TARMED erlebt? - Kennen Sie eine Situation oder ein Fall, in welchem Sie zwar korrekt abrechnen möchten, der TARMED dies aber nicht zulässt? Umgang mit - Wenn Sie Leistungen für einen Patienten abrechnen, Zeitleistungen wie stellen Sie die verwendete Zeit fest? - Welche Vor- und Nachteile sehen Sie bei dem von Ihnen gewählten Vorgehen? Strategie bei - Wie würden Sie in diesem Falle abrechnen? Konfliktsituation (Fallbeispiel) - Welche Strategien wählen Sie bei dieser Situation, damit Sie zu einem guten Ergebnis kommen? Strategie zur Reduktion - Welche Gedanken gehen Ihnen dabei durch den kognitiver Dissonanz Kopf? Wo sehen Sie Schwierigkeiten? Bachelor-Thesis Michelle Koch 23 Tabelle 2: Kategoriendefinition «Probleme mit TARMED» (eigene Darstellung) Name der Kategorie Probleme mit TARMED Mit dieser Kategorie sollen die Probleme im Umgang mit dem TARMED herausgefunden werden. Geschilderte Probleme können bereits einen Hinweis auf eine mögliche kognitive Dissonanz geben. Ausserdem wird dem Arzt die Möglichkeit gegeben frei von seinen Erfahrungen zu berichten, dies Inhaltliche ermöglicht einen guten Einstieg ins Interview. Dabei ist es nicht Beschreibung relevant, ob sich das Problem mit dem TARMED auf die Abrechnung bezieht oder nicht. Es soll auch darum gehen, die Grundeinstellung gegenüber dem TARMED abzutasten. Ein Arzt, der eine negative Meinung vom TARMED hat, wird vorhandene Probleme vermutlich grösser darstellen und ihnen mehr Gewicht geben. Die Kategorie wird codiert, wenn folgende Aspekte genannt werden: Anwendung - Wahrgenommenes Problem Kategorie - Unverständliche Regelung - Verkomplizierung Abrechnung «Also auf der einen Seite verlangen die Fachgesellschaften, dass wir Ärzte ein Ruhe-EKG machen vor einem Belastungs-EKG, dies Beispiel für ergibt auch medizinisch gesehen Sinn. Aber der TARMED Anwendungen verbietet dann, dass man dies zusammen abrechnen darf.» (Interview 2, Absatz 27) Die Abgrenzung zu «Strategie Konfliktsituation» sowie «Umgang mit Zeitleistungen» ist eher heikel. Teilweise überschneiden sich die Kategorien, denn die Strategie in einer Konfliktsituation, z.B. Abgrenzung zu eine Leistung gratis erbringen, stellt ebenfalls ein Problem dar. anderen Kategorien Auch der Umgang mit den Zeitleistungen kann ein Problem im Alltag darstellen. In diesem Fall wurden jeweils beide Kategorien codiert. Bachelor-Thesis Michelle Koch 24 Tabelle 3: Kategoriendefinition «Beruflicher Kontext» (eigene Darstellung) Name der Kategorie Beruflicher Kontext Für die Entstehung der kognitiven Dissonanz ist das Umfeld und Inhaltliche der berufliche Kontext relevant. Unter beruflichem Kontext werden Beschreibung die allgemeinen Strukturen, Prozesse und Gegebenheiten des Arztes verstanden. Die Kategorie wird codiert, wenn folgende Aspekte genannt werden: - Systemanwender oder fest angestellte Person, die Anwendung abrechnet Kategorie - Organisationsform des Arbeitgebers - Fachgebiet, bzw. Zuweiserpraxis - Prozess der Abrechnung «Da wir eine sehr grosse Gruppenpraxis sind und es nur wenige Beispiel für Räume gibt für die Untersuchungen, muss das immer aufeinander Anwendungen abgestimmt sein.» (Interview 1, Absatz 14) Der «berufliche Kontext» wird nur codiert, wenn es um allgemeine Abgrenzung zu Strukturen oder Prozesse geht. Auch wird der berufliche Kontext anderen Kategorien codiert, wenn die Ärzte schildern, ob sie selbst oder eine angestellte Person im System abrechnen. Bachelor-Thesis Michelle Koch 25 Tabelle 4: Kategoriendefinition «Umgang mit Zeitleistungen» (eigene Darstellung) Name der Kategorie Umgang mit Zeitleistungen Die kognitive Dissonanz entsteht typischerweise bei Zeitleistungen. Bei Handlungsleistungen kann der Arzt normalerweise nicht mehr als 1x pro Sitzung abrechnen. Folglich hat der Arzt also keine Alternative. Bei Zeitleistungen hingegen, kann der Arzt bis zu 20 Minuten zum Beispiel abrechnen. Das Inhaltliche heisst, er kann in einem gewissen Rahmen «frei» entscheiden, Beschreibung wieviel er abrechnet. In dieser Kategorie ist auch von Interesse wie genau der Arzt sich die Zeit notiert, die er für einen Patienten erbracht hat. Mithilfe dieser Kategorie sollen dann Rückschlüsse auf das Vorhandensein einer kognitiven Dissonanz gemacht werden. Denn wenn ein Arzt zum Beispiel die Zeit aus dem Bauch heraus entscheidet, könnte man vermuten, dass das Interesse an der exakten Zeit sehr gering ist. Die Kategorie wird codiert, wenn folgende Aspekte genannt werden: - Einstellung gegenüber Zeitleistungen Anwendung - Varianten zur Erfassung der Zeit: Stoppuhr, Handgelenk Kategorie mal Pi, Sprechstundenorientiert - Problematische Situationen bei Zeitleistungen - Vorgehen Reservierung Sprechstunde - Persönliche Erfahrung mit der Limitation «Und jetzt rechne ich da einfach 3 Minuten ab pro Rezept, ich Beispiel für stoppe das nicht. Aber das Rezept in die Hand nehmen, alles Anwendungen kontrollieren, in ein Couvert packen und eine Marke raufkleben, ist für mich zu viel, um es gratis zu machen.» (Interview 4, Absatz 14) Die Abgrenzung zu «Strategie Konfliktsituation» ist nicht trennscharf und überschneidet sich, da die «Strategie Konfliktsituation» ein Teil vom «Umgang mit Zeitleistungen» sein kann. Die Konfliktsituation entsteht ja lediglich bei Zeitleistungen Abgrenzung zu typischerweise. Während die «Strategie Konfliktsituation» anderen Kategorien festhalten will, wie sich der Arzt entscheidet in der Situation, will die Kategorie «Umgang mit Zeitleistungen» alles festhalten, was mit Zeitleistungen zu tun hat. Die «Strategie Konfliktsituation» bezieht sich also explizit auf die Entscheidung des Arztes. Bachelor-Thesis Michelle Koch 26 Tabelle 5: Kategoriendefinition «Strategie bei Konfliktsituation » (eigene Darstellung) Name der Kategorie Strategie bei Konfliktsituation Zur Erfassung dieser Kategorie wird ein Fallbeispiel verwendet. Mithilfe eines Fallbeispiels soll dem befragten Arzt die Rekonstruktion einfacher gemacht werden. Jeder Arzt, der die Limitation einer Zeitleistung überschreitet, befindet sich in einer Konfliktsituation. Er hat die Wahl zwischen dem Verzicht auf die materielle Vergütung und dem nicht korrekten Abrechnen. Relevant ist es, zu erfragen wie der befragte Arzt in der Inhaltliche Konfliktsituation vorgeht und wofür er sich entscheidet. Es ist Beschreibung dabei nicht relevant, wieso er sich für die eine oder andere Variante entscheidet, denn beide Varianten sind legitimierbar. Erst mit der Entscheidung, wie in einer Konfliktsituation vorgegangen wird, entsteht die kognitive Dissonanz. Das Vorgehen, welches der Arzt dann wählt, kann gar nicht mit seinem Selbstbild übereinstimmen. Denn niemand möchte unehrlich abrechnen oder die Existenz der eigenen Praxis aufs Spiel setzen durch einen materiellen Verzicht. Die Kategorie wird codiert, wenn folgende Aspekte genannt werden: - Leistung wird gratis erbracht Anwendung - Andere Leistung wird anstelle der eigentlichen Leistung Kategorie abgerechnet - Leistung wird auf zweiten Termin verschoben - Generelle Einstellung zu Konfliktsituation «Alles, was über die Limitation geht, würde ich dann halt vielleicht Beispiel für über eine andere Leistung abrechnen. Oder wenn man sieht, Anwendungen dass es ein ganz komplizierter Fall ist, dann macht man einen zweiten Termin an einem anderen Tag.» (Interview 3, Absatz 17) Wie schon beschrieben, überschneidet sich die «Strategie Abgrenzung zu Konfliktsituation» mit der Kategorie «Umgang mit Zeitleistungen», anderen Kategorien da Konfliktsituationen fast immer bei Zeitleistungen bestehen. Deswegen überschneiden sich diese beiden Kategorien teilweise. Bachelor-Thesis Michelle Koch 27 Tabelle 6: Kategoriendefinition «Strategie zur Reduktion kognitiver Dissonanz» (eigene Darstellung) Name der Kategorie Strategie zur Reduktion kognitiver Dissonanz Diese Kategorie widmet sich den Strategien, wie der Arzt nun mit der entstandenen kognitiven Dissonanz umgeht und welche Inhaltliche Strategie er verfolgt, um diese zu reduzieren. Dabei soll möglichst Beschreibung offen nach den Gedanken des Arztes gefragt werden, die er hat, sobald er die Entscheidung für ein Vorgehen getroffen hat. Die Kategorie wird codiert, wenn folgende Aspekte genannt werden: - Wertungen über das System, die die Entscheidung Anwendung rechtfertigen Kategorie - Externales attribuieren - Generelle Rechtfertigungen für die getroffene Entscheidung Beispiel für «Es ist ein blödes System. Ich nehme das nicht persönlich, es ist Anwendungen halt ein bürokratisches System.» (Interview 3, Absatz 19) Die Abgrenzung zu den anderen Kategorien ist relativ trennscharf. Es werden nur Passagen codiert, die die Rechtfertigungen für ein Abgrenzung zu Verhalten beschreiben. Die Kategorie «Strategie bei anderen Kategorien Konfliktsituation» ist quasi die Vorstufe dazu, wobei codiert wird, welches Verhalten gezeigt wird. Bachelor-Thesis Michelle Koch 28 Durchführung Die Interviews wurden im Zeitraum vom 15. April bis zum 12. Mai 2019 durchgeführt. Die Dauer wurde ursprünglich höher geschätzt, als sie dann tatsächlich war. Bei allen Interviews wurden Fragen, die erst später gestellt werden sollten, bereits im Verlauf des Gesprächs beantwortet. Eine Wiederholung der bereits beantworteten Fragen schien in diesem Fall nicht sinnvoll. Die Dauer der einzelnen Interviews lag zwischen 20 und 38 Minuten. Datenanalyse Die Interviews durften alle aufgenommen werden. Während der Gespräche mussten folglich keine Notizen gemacht werden. Festgehalten wurde aber direkt nach den Interviews der Gesamteindruck. Die Interviews wurden dann im zweiten Schritt transkribiert nach Kuckartz (2018) und mit dem Computer-Tool MAXQDA ausgewertet. MAXQDA ist eine Software für die Analyse von qualitativen Daten (Kuckartz, 2019). Die Software wurde bei der Datenanalyse in der vorliegenden Arbeit angewendet, da sie die Verarbeitung von grösseren Datenmengen vereinfachte und vor allem eine übersichtliche Strukturierung der Daten ermöglichte. Auch war es möglich die unterschiedlichen Daten miteinander zu verknüpfen, was die Dokumentation verbesserte und die Transparenz erhöhte. Alle Interviews sind im Anhang 2_Codierte Transkriptionen mit den Haupt- und Subkategorien abgebildet. Bachelor-Thesis Michelle Koch 29 6. Auswertung In diesem Kapitel wird die Auswertung der Datenerhebung ausgeführt. Dabei wird vor allem auf das Vorgehen mit dem Computer-Tool MAXQDA eingegangen und Schritt für Schritt erklärt. Ausserdem wird das Gesamtergebnis der Auswertung tabellarisch für jede Kategorie dargestellt. Danach werden in einem weiteren Unterkapitel neu identifizierte Kategorien vorgestellt. Vorgehen Für die Auswertung wurde das Computer-Tool MAXQDA verwendet. Im ersten Schritt wurden die Transkriptionen der Interviews importiert. Danach wurden die bereits von der Theorie abgeleiteten Kategorien in den Transkripten vergeben. Dabei wurde vor allem die Abgrenzung der Kategorien untereinander, siehe Kapitel 5.2.1 berücksichtigt und immer wieder überprüft, ob die Kategorien trennscharf genug sind. Nachdem alle Textpassagen mit den entsprechenden Codes versehen wurden, wurden Subcodes vergeben. Dabei wurde die gesamte Hauptkategorie mit allen codierten Aussagen aus MAXQDA in ein Excel-File exportiert. Im Anschluss wurde Aussage für Aussage durchgegangen und Subkategorien festgelegt. Auch wurde stets notiert, welcher Textpassage die Subkategorie zugeordnet wurde. Anstelle der originalen Aussagen der interviewten Ärzte wurden die Aussagen zusammengefasst und paraphrasiert. Am Schluss wurden alle gebildeten Subkategorien im Computer-Tool MAXQDA als Subcode erfasst und die entsprechenden Textstellen damit codiert. Zwar weist eine Textpassage mehrere Codes auf, nämlich den Obercode (Hauptkategorie) sowie den Subcode (Subkategorie), doch dient dies der Transparenz sowie der Strukturierung der Datenanalyse. Bachelor-Thesis Michelle Koch 30 Resultate der Erhebung In diesem Unterkapitel werden die Ergebnisse nach Kategorie geordnet und tabellarisch dargestellt. Dabei werden die Subkategorien sowie die Quellen, wobei die Zahl in Klammer den Absatz zeigt, festgehalten. Ausserdem wird jede Subkategorie kurz in einer Paraphrase wiedergegeben. 6.2.1. Probleme mit dem TARMED Tabelle 7: Ergebnisse «Probleme mit TARMED» (eigene Darstellung) Kategorie Subkategorie Dokument Paraphrase Beratungsleistung Interview 1 (6) Fachgebiete, die viel Sprechleistung erbringen sind benachteiligt aufgrund der Limitationen. Benutzer- Interview 5 (6) Die Suchfunktion im TARMED freundlichkeit Interview 6 (18) Browser funktioniert nicht und der Browser Browser ist unübersichtlich. Dignität/ Sparte Interview 2 (27) Gewisse Eingriffe könnten vom Interview 3 (5) Arzt fachlich durchgeführt werden, aber das System verbietet es aufgrund der Dignität/ Sparte. Falscher Anreiz Interview 3 (13) Schnell arbeitende Ärzte haben Interview 5 (16) kein Interesse mehr schnell zu arbeiten. Ausserdem verdient ein Arzt mehr, wenn er mehr ambulante Eingriffe macht. Das System verleite dazu übergenau zu werden, denn man muss Leistungen, die man nicht abrechnen kann, kompensieren. Bachelor-Thesis Michelle Koch 31 Probleme mit dem TARMED Keine Interview 1 (4) Leistungen, die ein Arzt erbringt, Leistungsabbildung Interview 2 (13) werden im TARMED nicht Interview 4 (6) abgebildet und können somit nicht abgerechnet werden. Kumulation Interview 2 (27) Kumulationsverbote sind nicht Interview 5 (34) medizinisch begründbar und widersprechen sogar den Vorgaben der Fachgesellschaften. Limitation Interview 1 Die Limitationen sind schwierig, (22, 23) vor allem in komplizierteren sowie Interview 3 (5, 13) psychosomatischen Fällen. Interview 4 (6, 24) Interview 6 (24) Nachvollziehbarkeit Interview 4 (8) Der TARMED ist für den Patienten nicht nachvollziehbar und vergrössert damit die Angst, dass der Arzt ihn hintergeht. Bachelor-Thesis Michelle Koch 32 Probleme mit dem TARMED 6.2.2. Umgang mit Zeitleistungen Tabelle 8: Ergebnisse «Umgang mit Zeitleistungen» (eigene Darstellung) Kategorie Subkategorie Dokument Paraphrase Unterscheidung Interview 1 (6) Die Zeitlimitation ist für gewisse Fachgebiet Fachgebiete, die vor allem viel beraten schwierig. Verhinderung als Interview 1 Man versucht Verspätungen zu Strategie (8, 25, 27) verhindern, durch die Bitte an den Interview 5 Patienten 15 Minuten vor Beginn vor (14, 18) Ort zu sein. Oder es wird versucht Zeitüberschreitungen zu verhindern und dem Patienten zum Beispiel während der Untersuchung bereits Fragen zu beantworten. Auch werden Fragen per E-Mail beantwortet (ausserhalb der Arbeitszeit). Weiter werden auch nicht so häufige Nachkontrollen gemacht werden, damit die Limitation nicht aufgebraucht wird. Vorgegebene Interview 1 (8) In einer Gruppenpraxis muss man Strukturen sich vermehrt an die Zeiten, da die Zimmer nacheinander gebucht sind und ein anderer Arzt im Falle einer Verspätung warten muss. Sprechstunden- Interview 1 Für die Zeiterfassung wird die orientiert (10, 14, 18) Sprechstunde als Orientierung Interview 2 verwendet und standardmässig eine (17, 19, 25) gewisse Anzahl Minuten pro Patienten Interview 3 (13) hinterlegt und abgerechnet. Egal, ob Interview 5 (30) dann mehr oder weniger Zeit erbracht wurde. Im Alltag gleichen sich diese Ungleichheiten aus und die Wartezeit bleibt im Rahmen. Bachelor-Thesis Michelle Koch 33 Umgang mit Zeitleistungen Handgelenk mal Interview 1 Die Zeiterfassung geschieht aus dem Pi (18, 22) Bauch heraus. Es reicht, wenn man Interview 4 die Zeit ungefähr abschätzen kann (12, 14) und es im normalen Rahmen bleibt. Interview 5 (10, 32, 42) Interview 6 (22) Zweiter Termin Interview 1 (25), Es wird ein zweiter Termin Interview 2 (25) abgemacht, wenn die Limitation Interview 6 (24) überschritten wird. Es wurde einmal aber auch explizit erwähnt, dass eben kein zweiter Termin gemacht wird, aber viele Kollegen dies tun. Patienten- Interview 2 (21) Bei der Abrechnung orientiert man orientiert Interview 4 (12) sich daran, was dem Patienten Interview 6 (2) geboten wurde und wie die Rechnung am Schluss aussieht. Wenn es für den Patienten im Rahmen bleibe, ist es in Ordnung. Grundsätzliche Interview 4 Die Zeitleistung an sich ist eine gute Einstellung (8, 22) Idee und auch in anderen Berufen Zeitleistungen anerkannt. Es ist nicht nötig irgendwelche Minuten zusammen zu suchen, um die Leistung irgendwie vergütet zu bekommen. Vereinfachung Interview 4 (12) Es wird geschildert, dass das System System Interview 6 (10) vereinfacht wird was die Zeiten betrifft. So gebe es drei Arten von Konsultation, 5, 10 und 15 Minuten. Ausserdem wird noch beschrieben, dass man sogenannte Blöcke bildet und gar keine Leistung mehr suchen muss im System. So sei es komfortabel und schnell. Bachelor-Thesis Michelle Koch 34 Umgang mit Zeitleistungen Andere Leistung Interview 4 (18) Es wird beschrieben, dass bei verwenden Interview 4 (24) Zeitleistungen auch auf andere Interview 5 (34) Leistungen ausgewichen wird, wenn es nicht mehr möglich ist die eigentliche Leistung abzurechnen. Stoppuhr Interview 6 Ein Arzt beschreibt, dass er die Zeit (2, 26) mit einer Stoppuhr direkt im Abrechnungssystem TARMED erfasst. Diese starte er, sobald der Patient begrüsst wird und stoppt sie, wenn der Patient geht. Bachelor-Thesis Michelle Koch 35 Umgang mit Zeitleistungen 6.2.3. Beruflicher Kontext Tabelle 9: Ergebnisse «Beruflicher Kontext» (eigene Darstellung) Kategorie Subkategorie Dokument Paraphrase System- Interview 1 (2) Entweder rechnet der Arzt selbst ab anwender Interview 2 (3, 5) oder eine angestellte Person rechnet Interview 3 (3, 9) ab. Die meisten selbstständigen Ärzte Interview 4 (2, 9) rechnen selbst ab, nur bei grösseren Interview 5 (2) Gruppenpraxen übernimmt dies eine Interview 6 (6) dafür angestellte Person. Patienten- Interview 1 (8, 16) Es werden nur zugewiesene Patienten zuweisung Interview 5 (22) aufgenommen. Dies sei bei vielen Spezialisten so. Vorleistung Interview 1 (8) Gewisse Leistungen werden bereits Interview 5 (28) von einer MPA im Vorfeld der Konsultation erbracht. Das erleichtert für den Arzt die Arbeit durch Bereitstellung von Informationen. Organisations- Interview 1 Die Art der Praxis beeinflusst den Grad form (8, 14, 18) der Organisation, eine grössere Praxis Interview 5 (2) zwingt die Ärzte dazu sich an die Zeiten zu halten, da noch andere Ärzte den Raum benötigen. Leistungs- Interview 1 (8) Der Arzt erfasst entweder alle eingabe im Interview 3 (11) Leistungen direkt im Anschluss an die System Interview 4 (10) Sprechstunde oder er sammelt die Interview 6 (6) Informationen und macht es später. Fachgebiet Interview 5 (18) Das eigene Fachgebiet wird als simpel beschrieben als Erklärung für das geringe Involvement bei Zeitleistungen. Bachelor-Thesis Michelle Koch 36 Beruflicher Kontext 6.2.4. Strategie in Konfliktsituation Tabelle 10: Ergebnisse «Strategie in Konfliktsituation» (eigene Darstellung) Kategorie Subkategorie Dokument Paraphrase Materielle Interview 1 In der Konfliktsituation wird dann die Einbusse (4, 16, 27) erbrachte Zeit, die über der Limitation Interview 2 liegt, nicht abgerechnet und gratis (13, 19, 21, 31) erbracht. Ausserdem werden einige Interview 6 (30) Leistungen generell gratis erbracht, unabhängig von der Limitation (z.B. E- Mail Fragen beantworten oder gesperrte Leistungen aufgrund Kumulationsverbot). Zweiter Termin Interview 1 (25) In der Konfliktsituation wird ein zweiter Interview 3 (17) Termin abgemacht, um keine materiellen Interview 5 Einbussen zu haben. Es wird aber auch (18, 34, 44) explizit von einigen Ärzten darauf Interview 6 (24) hingewiesen, dass sie dies nicht tun, aber viele von ihren Kollegen. Vereinfachung Interview 3 (9) Das Erstellen des Berichts, der zeitintensiv ist, wird standardisiert und funktioniert nun sehr einfach und schnell. Man muss nur noch wenige Daten ergänzen. Andere Interview 3 (17) In der Konfliktsituation wird anstelle der Leistung Interview 4 dafür vorgesehenen Leistung eine verwenden (6, 8, 18, 24) andere verwendet, da die Limitation bereits überschritten wurde oder die Leistung nicht abgebildet ist. Falsches Interview 4 (12) In der Konfliktsituation wird bewusst eine Abrechnen andere Leistung abgerechnet, um dabei mehr Geld zu verdienen. Ausserdem wird versucht die Kumulationsregeln zu umgehen, indem man zwei Sitzungen an einem Tag aufmacht. Bachelor-Thesis Michelle Koch 37 Strategie Konfliktsituation 6.2.5. Strategie zur Reduktion der kognitiven Dissonanz Tabelle 11: Ergebnisse «Strategie zur Reduktion der kognitiven Dissonanz» (eigene Darstellung) Kategorie Subkategorie Dokument Paraphrase Nachvollziehbar- Interview 2 (21) Es ist wichtig, dass die keit Patient Interview 4 (12, 24) Endrechnung für den Patienten am Interview 5 (12, 14) Schluss nachvollziehbar ist und der Betrag in einem vernünftigen Rahmen bleibt. Gewohnheit Interview 2 (33) Im Alltag wird gar nicht gross über Interview 6 (16) die Tatsache nachgedacht, dass Leistungen gratis erbracht werden müssen. Die Strategien mit der Situation umzugehen sind ausgereift und funktionieren. Kompensation Interview 3 (13) Man rechnet Leistungen ab, die Interview 4 (12) früher so nicht abgerechnet wurden, um Leistungen zu kompensieren, die man nicht abrechnen kann. Ausserdem rechnet man Leistungen ab, um «betriebswirtschaftlich» zu sein. Abwertung Interview 3 (3, 19) Das System wird abgewertet. Vereinfachung Interview 4 (14) Es soll die gesamte Abrechnung Interview 5 (10, 38) am Schluss im Ganzen stimmen, also sprich über den Tag gesehen mit der effektiven Arbeitszeit. Weiter geht man davon aus, dass die exakte Zeiterfassung in etwa auf das Gleiche rauskommt, wie die ungefähre Angabe. Akzeptanz Interview 2 (33, 35) Man findet sich mit der Situation ab und akzeptiert es, so wie es ist. Bachelor-Thesis Michelle Koch 38 Strategie zur Reduktion kognitiver Dissonanz Creative Coding deduktives Kategoriensystem Um die Darstellung der Ergebnisse zu vereinfachen und alle Haupt- sowie Subkategorien auf einen Blick zu sehen, wurde mithilfe von MAXQDA eine grafische Darstellung ausgearbeitet. Abbildung 3: Übersicht deduktiv gebildete Hauptkategorien mit MAXQDA (eigene Darstellung) Bachelor-Thesis Michelle Koch 39 7. Neu identifizierte Kategorien Bei der Datenauswertung fiel auf, dass das Kategoriensystem um zwei neue Kategorien, «Involvement» und «Berufsethik» erweitert werden musste. Durch die deduktive Kategorienbildung konnten diese beiden Kategorien nicht abgeleitet werden von der Theorie. Während der Interviews erschienen Hinweise auf beide Kategorien bedeutsam, weswegen sich diese neuen Hauptkategorien entwickelten. Involvement Während der Auswertung fiel auf, dass gewisse Textpassagen nicht genau in die Kategorie «Beruflichen Kontext» passten. Es ging dabei nicht nur um den strukturellen, organisatorischen Kontext, sondern auch um eine emotionale Nähe und Betroffenheit, die die interviewten Ärzte in der Beziehung zum TARMED aufwiesen. Es wurde von der persönlichen Einstellung gesprochen oder auch von persönlichen Gefühlen. Es wurde mehrmals auch darauf hingewiesen, dass man selbst nicht so involviert sei in das Tarifierungssystem und wenig damit zu tun habe. Dies beschreibt nicht nur den beruflichen Kontext, sondern eher die Beziehung zwischen Arzt und Tarifierungssystem. Aus diesem Grund wurde eine neue Kategorie gebildet: «Involvement». Nachfolgend werden (wie für die anderen Kategorien ebenfalls) eine inhaltliche Beschreibung sowie die Bedingungen der Anwendung erklärt und die Ergebnisse tabellarisch dargestellt. 7.1.1. Theoretische Einführung «Involvement» Das lateinische Verb "involvere" bedeutet wörtlich übersetzt "sich hineinwälzen" oder "eindringen" (Hofer, 2016). Das Wort Involvement wurde erstmals von Sherif und Cantril (1947) in der Literatur verwendet und danach ins Marketing übertragen. Jedoch entstanden unzählige weitere unterschiedliche Definitionen. Die meisten Definitionen beziehen sich auf das Involvement bei Kaufentscheidungen oder eines Mediennutzers. Eine eher grobgefasste und nicht auf spezifische Kaufsituationen bezogene Definition des Begriffs Involvement liefern Bentele, Brosius und Jarren (2013): Involvement ist die Bezeichnung für ein Konstrukt, welches Art, Stärke und Umfang der Beziehung zwischen einer Person und einer Botschaft in einer bestimmten Situation qualifiziert. Weiter sei das Involvement gleichzusetzen mit der persönlichen Relevanz und Bedeutung, die der Empfänger einer Botschaft dieser Botschaft zuschreibt. Diese persönliche Relevanz kann sich durchaus auf die persönliche Betroffenheit eines Menschen beziehen. Bachelor-Thesis Michelle Koch 40 Dazu ein Beispiel: Ein Assistenzarzt, der noch in Ausbildung und fest angestellt ist, wird nicht das gleiche Involvement hinsichtlich des Tarifierungssystems aufweisen als ein Arzt, der selbstständig eine Praxis leitet. Zum einen hat ein Assistenzarzt keine oder nur sehr wenige Berührungspunkte mit dem Tarifierungssystem, da der Oberarzt abrechnet. Und zum anderen erhält ein Assistenzarzt seinen Lohn unabhängig vom Tarifierungssystem. Er wird also seinen Lohn nicht beeinflussen können, egal ob er das Tarifierungssystem verwendet oder nicht. 7.1.2. Kategoriendefinition «Involvement» Tabelle 12: Kategoriendefinition «Involvement» (eigene Darstellung) Name der Kategorie Involvement Involvement wurde bereits im vorherigen Kapitel 7.1.1Fehler! V erweisquelle konnte nicht gefunden werden. theoretisch eingeführt und ist nach Brosius und Jarren (2013) gleichzusetzen mit der persönlichen Relevanz und Bedeutung, die der Inhaltliche Empfänger einer Botschaft oder eines Objektes zuschreibt. Damit Beschreibung überhaupt eine kognitive Dissonanz entstehen kann, braucht es eine gewisse Relevanz des Tarifierungssystems TARMED für den einzelnen Arzt. Mit dieser Kategorie sollen vor allem die Nähe zum System und die persönliche Betroffenheit erfasst werden. Die Kategorie wird codiert, wenn folgende Aspekte genannt werden: Anwendung - Persönliche Relevanz/ Gefühle gegenüber TARMED Kategorie - Betroffenheit - Generelle Einstellung gegenüber TARMED «Ich habe zum TARMED an sich keine negative oder positive Beispiel für Einstellung, ich muss halt damit abrechnen.» (Interview 4, Anwendungen Absatz 2) Involvement wird nur codiert, wenn die persönliche Relevanz bzw. die emotionale Nähe zum System angesprochen werden, der Abgrenzung zu «berufliche Kontext» wird codiert, wenn der interviewte Arzt von anderen Kategorien den allgemeinen Strukturen, Gegebenheiten und Prozessen in seinem Umfeld spricht, die aber nichts mit der Beziehung zum TARMED zu tun hat. Bachelor-Thesis Michelle Koch 41 7.1.3. Ergebnisse Involvement Tabelle 13: Ergebnisse «Involvement» (eigene Darstellung) Kategorie Subkategorie Dokument Paraphrase Einstellung Interview 3 (3) Es besteht keine positive oder gegenüber System Interview 4 (2) negative Einstellung gegenüber dem TARMED. Allerdings ist er auch sehr kompliziert. Betroffenheit Interview 5 Der TARMED wird nur als ein (4, 42) Alltagsinstrument gesehen und man ist nicht sehr involviert darin. Nähe zum System Interview 1 (2) Im Alltag hat man sehr wenig Interview 5 (42) aktiv mit dem TARMED zu tun Interview 6 (2) und macht nur die Abrechnungen darin. Auch ist es nicht bekannt, wie der Tarif aufgebaut ist, das ist nicht relevant. Emotionale Nähe Interview 2 (33) Es wurden Emotionen explizit Interview 3 (19) erwähnt, namentlich Wut und Ärger. Es wurde explizit darauf hingewiesen, dass die Probleme nicht aufregen oder persönlich genommen werden. Bachelor-Thesis Michelle Koch 42 Involvement Berufsethik Die zweite, neu identifizierte Kategorie ist die «Berufsethik». Die ursprüngliche Idee war, «Berufsethik» als Subkategorie der Hauptkategorie «Strategie zur Reduktion von kognitiver Dissonanz» anzugliedern. Es fiel dann aber auf, dass die Berufsethik nicht einfach eine Strategie war, um das Unbehagen zu reduzieren. Es ist eine Verpflichtung, die die Ärzte eingegangen sind, als sie diesen Beruf ausgewählt haben. Ausserdem wurde die Berufsethik sehr häufig genannt und schien für die interviewten Ärzte ein zentrales Thema zu sein. Aus diesen Gründen wurde entschieden eine neue Hauptkategorie «Berufsethik» zu bilden. 7.2.1. Theoretische Einführung «Ärztliche Berufsethik» Seit Anfang der 90er Jahre sind Berufsethiken auch im Gesundheits- und Sozialbereich sehr verbreitet (Schmid, 2011). Nach Schmid (2011) sollen Berufsethiken Werte und Normen eines spezifischen Berufsstandes, die in der Ausübung des Berufs beachtet werden sollen, festhalten. Die Berufsethik erfüllt durch die Festlegung von Prinzipien, die für eine verantwortungsvolle Berufsausübung beachtet werden müssen, eine Orientierungs- und Verpflichtungsfunktion für die Mitglieder. Durch die Schweizerische Ärztezeitung (2003) wurde eine Charta zur ärztlichen Berufsethik festgehalten, in welcher der Kontrakt zwischen Medizin und Gesellschaft geregelt ist, wobei die Einhaltung der folgenden Prinzipien gefordert wird: • Die Interessen des Patienten stehen über den Interessen des Arztes • Standards der ärztlichen Kompetenz und der Integrität sind formuliert und gewährleistet • Eine fachliche Beratung der Gesellschaft zu Fragen der Gesundheit wird geboten Weiter beschreibt die Schweizerische Ärztezeitung (2003), dass die Ärzte trotz technologischer, wirtschaftlicher und politischer Veränderungen ihre Verantwortung gegenüber den Patienten und der Gesellschaft gerecht werden sollen. In der Charta der ärztlichen Berufsethik (Schweizerische Ärztezeitung, 2003) werden noch weitere ärztliche Verpflichtungen ausgeführt, diese ergänzen aber alle die oben bereits genannten Prinzipien und konkretisieren diese. Bachelor-Thesis Michelle Koch 43 7.2.2. Kategoriendefinition «Berufsethik» Tabelle 14: Kategoriendefinition «Berufsethik» (eigene Darstellung) Name der Kategorie Berufsethik Die Berufsethik im Ärzteumfeld wurde bereits in Kapitel 7.2.1 beschrieben. In der bereits beschriebenen Charta des ärztlichen Berufskodex werden Prinzipien festgehalten, für die Aufrechterhaltung der Berufsethik und des Ansehens von Ärzten. Ausserdem dienen die Prinzipien einer Art Qualitätssicherung. Es Inhaltliche gibt dabei drei wichtige Prinzipien, an denen sich die Beschreibung Kategorienbildung orientiert: • Die Interessen des Patienten stehen über den Interessen des Arztes • Standards der ärztlichen Kompetenz und der Integrität sind formuliert und gewährleistet • Eine fachliche Beratung der Gesellschaft wird geboten Die Kategorie wird codiert, wenn folgende Aspekte genannt werden: Anwendung - Grundlegende Motivation für den Patienten Kategorie - Stärkere Gewichtung der Interessen der Patienten als die eigenen Interessen - Patienten sollen aufgeklärt sein Beispiel für «Wir sind als Ärzte dazu verpflichtet, alles zu tun, was die Patienten Anwendungen brauchen.» (Interview 1, Absatz 22) Die «Berufsethik» wird nur codiert, wenn die Textstelle die Ethik Abgrenzung zu gegenüber dem Patienten erwähnt. Die Kategorie wird nicht anderen Kategorien codiert, wenn zum Beispiel eine Abrechnung im Sinne des Patienten gehandhabt wird. Bachelor-Thesis Michelle Koch 44 7.2.3. Ergebnisse «Berufsethik» Tabelle 15: Ergebnisse «Berufsethik» (eigene Darstellung) Kategorie Subkategorie Dokument Paraphrase Motivation Interview 1 (23) Es wird beschrieben, dass man als Interview 6 (20, 36) Arzt sein Bestes geben möchte und es auch eine Berufung ist. Stärkere Interview 1 (22) Die gesundheitlichen Interessen des Gewichtung: Interview 2 (31) Patienten stehen über den Interessen des Interessen des Arztes. Der Arzt sei Patienten dazu verpflichtet alles zu tun, um dem Patienten zu helfen. Ein gesundheitliches Risiko darf unter keinen Umständen eingegangen werden, auch wenn man eine Leistung dann nicht abrechnen kann. Fachliche Interview 1 (25, 27) Die fachliche Aufklärung wird als Aufklärung Interview 2 sehr wichtig empfunden. Wenn die (15, 25, 31) Patienten zufrieden und aufgeklärt Interview 6 (30, 36) sind nach der Konsultation, sei dies dann in Ordnung, auch wenn man nicht alles verrechnen konnte. Die Konsultation wird geführt, bis alle Fragen beantwortet sind. Vertrauens- Interview 1 (23) Als Arzt sei es enorm wichtig ein verhältnis Vertrauensverhältnis zum Patienten aufzubauen und dies dauere halt eine Zeit lang, gehöre aber zum Beruf dazu. Bachelor-Thesis Michelle Koch 45 Berufsethik Creative Coding ergänztes Kategoriensystem Die grafische Darstellung, die bereits in Kapitel 6.3 abgebildet wurde, wurde nun um die zwei neuen Hauptkategorien ergänzt. Die bereits deduktiv gebildeten Kategorien sind grau abgebildet, die neu gebildeten Hauptkategorien werden nun farblich dargestellt. Abbildung 4: Übersicht aller Hauptkategorien mit MAXQDA (eigene Darstellung) Bachelor-Thesis Michelle Koch 46 8. Interpretation der Ergebnisse In diesem Kapitel werden die Ergebnisse schrittweise interpretiert. Gleichzeitig wird versucht, beide Fragestellungen zu beantworten. Zur Erinnerung werden diese hier noch einmal wiederholt. Fragestellung 1: Entsteht beim Prozess des Abrechnens von ärztlichen Leistungen eine kognitive Dissonanz? Fragestellung 2: Welche Strategien wenden die Ärzte an, um die kognitive Dissonanz zu reduzieren? Beantwortung der Fragestellung 1: Entstehung kognitive Dissonanz Nach Festinger (1957) Menschen streben nach Konsistenz zwischen Selbstbild und eigenen Handlungen. Die meisten Menschen möchten sich als vernünftig, intelligent und sittlich darstellen (Aronson, Wilson & Akert, 2008). Entspricht eine Handlung nicht dem Selbstbild entsteht eine kognitive Dissonanz (Festinger, 1957). Eine kognitive Dissonanz kann also nur entstehen, wenn eine Handlung erfolgt ist und diese nicht dem gewollten Selbstbild entspricht. In der vorliegenden Bachelorarbeit bezieht sich die Handlung, die dem Selbstbild nicht entsprechen soll, auf die Entscheidung was zu tun ist, wenn die Limitation einer Zeitleistung überschritten wird. Denn in so einem Fall hat der Arzt die Wahl zwischen fehlender materieller Vergütung oder falschem Abrechnen. Die Bezeichnung «Falsches Abrechnen» bezieht sich nur darauf, dass anders abgerechnet wird, als es vom System eigentlich vorgesehen ist und soll keine moralische Wertung darstellen. In den Kategorien «Umgang mit Zeitleistungen» und «Strategie Konfliktsituation» werden einige Hinweise auf alternative Abrechnungswege gemacht, die so vom System nicht vorgesehen sind und daher als falsch angesehen werden. Die Subkategorien «Verhinderung als Strategie» und «Vorgegebene Strukturen» deuten darauf hin, dass versucht wird die Limitation gar nicht erst zu erreichen und dies durch Beratung während der Untersuchung zu verhindern. Das heisst, der Arzt versucht dadurch gar nicht erst in die Konfliktsituation zu geraten und das unangenehme Gefühl der Dissonanz zu verhindern. Die Subkategorien «Sprechstundenorientiert», «Handgelenk mal Pi» und «Patientenorientiert» verfolgen ein ähnliches Ziel. Bei den ersten beiden Subkategorien hält der Arzt die effektiv erbrachte Zeit nur sehr ungenau fest. Bei der dritten Subkategorie passt er die effektiv erbrachte Zeit an die Gesamtrechnung für den Patienten an. Bei allen Subkategorien werden die Zeiten aber nicht exakt erfasst und abgerechnet. Die Absicht beim Bachelor-Thesis Michelle Koch 47 TARMED ist allerdings, dass die Ärzte das abrechnen, was sie effektiv erbracht haben. Es scheint fast so, als ob sich die Ärzte mit diesem Vorgehen versuchen ein Stück über TARMED hinwegzusetzen und der Zeiterfassung nicht die geforderte Aufmerksamkeit schenken. Die eigentliche Absicht des TARMED, nämlich die exakte Zeiterfassung und Abrechnung, würde aber den Arzt in eine unangenehme Lage bringen und ihn zwingen sich für eine Handlung zu entscheiden, mit welcher sein Selbstbild (im Interesse des öffentlichen Gesundheitswesens) nicht übereinstimmt. Durch das Ignorieren dieser eigentlichen Absicht wird damit die Limitation von Seiten der Ärzte in der Bedeutung etwas abgeschwächt. Die Subkategorie «Zweiter Termin» zeigt, dass Ärzte versuchen einen möglichen materiellen Verlust oder das falsche Abrechnen zu verhindern. Man schiebt den Termin auf einen anderen Tag und kann dann regelkonform abrechnen. In der Subkategorie «Materielle Einbusse» beschreiben die Ärzte, dass sie sich in der Konfliktsituation dafür entscheiden eine Leistung kostenlos zu erbringen. Man kann davon ausgehen, dass eine Leistung kostenlos zu erbringen eher zum eigenen Selbstbild (im Interesse des Patienten handelnd) passt, als eine Leistung falsch abzurechnen oder die Leistung nicht zu erbringen, dies hätte nämlich einen gesundheitlichen Nachteil für den Patienten. Aber es wird ganz klar beschrieben, dass das kostenlose Erbringen von Leistungen ein unangenehmes Gefühl auslöst: «Wenn die zu viel aufgewendete Zeit wenigstens vergütet werden würde, wäre das ja okay. Aber wenn wir einfach eine gewisse Zeit überschreiten und dann nichts mehr bekommen dafür, finde ich das nicht okay.» (Interview 1, Absatz 22). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine kognitive Dissonanz bei der Abrechnung von ärztlichen Leistungen entsteht. Es wird im Vorfeld versucht die Konfliktsituation zu vermeiden. Falls es aber dann zu der Konfliktsituation kommt und sich der betroffene Arzt entscheidet die Leistung kostenlos zu erbringen, bleibt ein unangenehmes Gefühl. Bachelor-Thesis Michelle Koch 48 Beantwortung Fragestellung 2: Strategien zur Reduktion der kognitiven Dissonanz Wie im vorherigen Kapitel beschrieben, entsteht bei der Abrechnung von ärztlichen Leistungen eine kognitive Dissonanz, wenn die Zeitlimitation überschritten wird. Bereits im Vorfeld aber werden Strategien angewendet, um die dissonante Situation zu vermeiden. In einem zweiten Schritt sollen nun die Strategien zur Reduktion der kognitiven Dissonanz erläutert werden. Dafür wird die Kategorie «Strategie zur Reduktion kognitiver Dissonanz» herangezogen. Es gibt fünf Subkategorien, die die Strategien für die Reduktion kognitiver Dissonanz beschreiben. In der Subkategorie «Abwertung» wird das System von einem Arzt explizit abgewertet und als blöd sowie viel zu kompliziert beschrieben. Mit dieser Abwertung wird eine mögliche falsche Abrechnung als weniger schlimm dargestellt, denn das System ist halt doof. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass im Falle eines falschen Abrechnens external attribuiert wird und der Grund für das falsche Abrechnen beim System gesucht wird. Die Subkategorien «Akzeptanz» und «Gewohnheit» zeigen, dass sich die Ärzte mit der Situation abgefunden und arrangiert haben. Einige Ärzte haben beschrieben, dass sie das System akzeptiert haben und sich gar nicht mehr grossartig damit auseinandersetzen. Andere Ärzte beschreiben auch, dass sie ihre Strategien gefunden haben, um im vorhandenen System abrechnen zu können. Die Ärzte beschreiben, dass man sich mit der Zeit daran gewöhnt und nicht mehr damit auseinandersetzt. Diese Situation ist ein Vorzeigebeispiel für die kognitive Dissonanz bei wiederholten Entscheidungen. Wie bereits in Kapitel 4.3.1 beschrieben, verfügen Menschen nach Athay und Darley (1981) über ein Repertoire an Routinen, welche ihnen helfen den Alltag zu erleichtern. Bei wiederholten Entscheidungen stehen nach Betsch, Funke und Plessner (2011) die möglichen Lösungen bereits zu Beginn fest und wir müssen uns gar nicht mehr neu damit auseinandersetzen. Ob die Ärzte sich allerdings mit der kognitiven Dissonanz an sich abgefunden und diese akzeptiert haben, ist fraglich. Es deutet mehr darauf hin, dass sich die Ärzte im Alltag nicht mehr darüber ärgern möchten und sich deswegen mit der Situation abgefunden haben. Ein Arzt äusserte dies sogar sehr bewusst: «Es ist interessant, denn ich denke im Alltag schon gar nicht mehr über diese Probleme nach, ich handle einfach, so wie ich es immer tue und rechne vieles nicht ab. Aber wenn man dann mal darüber nachdenkt und wieder einmal darüber spricht, fällt es auf, dass es schon nicht ganz richtig ist, so wie es der TARMED vorsieht im Moment. Es ist aber nicht so, dass mich dies im Alltag aufregt oder wütend macht. Ich habe mich damit abgefunden und meine Strategien entwickelt. Eigentlich sollte man sich ja wehren, denn einfach akzeptieren ist ja auch nicht gut.» (Interview 2, Absatz 33). Bachelor-Thesis Michelle Koch 49 Die neu gebildete Hauptkategorie «Berufsethik» zeigt eine Möglichkeit die unangenehme Situation für die Ärzte aufzulösen. Die Berufsethik wird von den Ärzten immer nur betont, wenn sie sich dagegen entschieden haben, die Leistungen falsch abzurechnen, wie dieses Zitat schön zeigt: "Dann geht man aber das Risiko ein, dass wenn man den Patienten aufs Velo setzt er dann tot umfällt, weil er einfach schon knapp vor einem Herzinfarkt war. Da ist es mir dann egal, ob ich ein Ruhe-EKG umsonst mache, aber so ein Risiko möchte ich nicht eingehen." (Interview 2, Absatz 31). Wenn der Arzt sich dafür entscheidet eine Leistung kostenlos zu erbringen, anstelle sie falsch abzurechnen, dann passt dies nicht zu seinem Selbstbild von einem guten Unternehmer, denn seine Praxis erbringt Leistungen gratis. Mit dem Hinweis auf die Berufsethik, stellen sie das Interesse der Patienten über ihre eigenen Interessen. Die Ärzte werten damit ihr finanzielles Interesse ab, denn es sei ja wichtiger die Patienten zufriedenzustellen. Sie verweisen damit von der Schwäche weg (Unternehmer sein) und deuten auf eine andere Stärke hin (Patienten zufriedenstellen). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Ärzte verschiedene Strategien zur Reduktion kognitiver Dissonanz anwenden. Zu den wichtigsten Strategien gehören die Akzeptanz und die Gewöhnung an die Situation. Auch den Verweis auf die Berufsethik wenden einige Ärzte an, um auf eine andere Stärke zu verweisen. Bachelor-Thesis Michelle Koch 50 9. Diskussion In diesem Kapitel wird festgehalten, inwiefern die eingangs formulierten Forschungsfragen mit der vorliegenden Arbeit beantwortet werden konnten. Im Anschluss folgen der Ausblick sowie weiterführende Gedanken. Nachdem in den ersten Kapiteln das Grundverständnis für das Umfeld der Ärzte sowie für die kognitive Dissonanz vermittelt wurde, lag der Fokus dieser Arbeit auf der erlebten kognitiven Dissonanz bei den interviewten Ärzten und deren Strategien, damit umzugehen. Auf der Grundlage der Theorie der kognitiven Dissonanz nach Festinger (1957) wurden deduktiv Kategorien gebildet, die für die Erstellung des Leitfadens relevant waren. Mithilfe der Interviews konnten beide Fragestellungen beantwortet werden. Es zeigte sich, dass eine tatsächlich eine kognitive Dissonanz beim Prozess der Abrechnung entsteht. Es gibt verschiedene Strategien, wie die Ärzte mit der kognitiven Dissonanz umgehen. Die wichtigsten Strategien sind die Folgenden: • Abwertung • Akzeptanz • Gewöhnung • Verweis auf Berufsethik Kritische Würdigung Zu beachten ist, dass die Stichprobe für die Datenerhebung in der vorliegenden Arbeit noch sehr unkonkret ist. Das heisst, es wurde weder die Geschlechterverteilung, noch die Unterscheidung des Fachgebietes besonders berücksichtigt. Es ging in erster Linie darum einen ersten Einblick zu erhalten und zu erfahren, ob überhaupt eine kognitive Dissonanz entsteht. Da sich die kognitive Dissonanz aber bei Geschlechtern kaum unterscheiden wird, sind bei weiteren Forschungsarbeiten, die sich gezielter mit den Geschlechtsunterschieden auseinandersetzen würden, keine anderen Ergebnisse zu erwarten. Die Konkretisierung der Stichprobe über die Unterscheidung der Fachgebiete könnte allerdings aufgrund des unterschiedlichen Involvements durchaus andere Ergebnisse liefern. Denn die Betroffenheit ist je nach Fachgebiet nicht gleich, wie bereits in Kapitel 7.1.1 mit dem Beispiel des angestellten Assistenzarztes beschrieben. Bei Angestellten ist die Betroffenheit viel geringer und dadurch auch die kognitive Dissonanz. In weiteren Forschungsarbeiten könnte man dementsprechend die Unterscheidung der Fachgebiete stärker berücksichtigen und noch mehr Erkenntnisgewinn erzielen. Bachelor-Thesis Michelle Koch 51 Ausblick Während den Interviews sind einige neue Aspekte erwähnt worden, für die weitere Forschungsarbeiten nötig wären. Die Zeiterfassung wird nicht einheitlich geregelt und jeder Arzt kann selber entscheiden, wie er die Zeit erfassen möchte. Eine weitere Forschungsarbeit könnte sich konkret mit der Ausarbeitung eines Zeiterfassungs-Tools beschäftigen, welches den Ansprüchen und Anforderungen der Ärzte, aber auch den Versicherungen entspricht. Eine weitere Forschungsarbeit könnte sich darauf konzentrieren, wie man die kognitive Dissonanz für die Ärzte bereits im Vorfeld an Stärke reduzieren kann. Die vorliegende Bachelorarbeit konnte beantworten, dass eine kognitive Dissonanz vorhanden ist und welche Strategien die Ärzte anwenden, um sie zu reduzieren. Es wäre durchaus interessant zu erforschen, wie man die Stärke der kognitiven Dissonanz bereits im Vorfeld reduzieren kann. 10. Fazit Bei Ärzten entsteht während des Abrechnungsprozesses und vor allem bei Zeitleistungen eine kognitive Dissonanz. Die Strategien, um die kognitive Dissonanz zu reduzieren sind vielfältig und reichen von Abwertung über Akzeptanz und Gewohnheit bis hin zur Verdeutlichung der Berufsethik. Bachelor-Thesis Michelle Koch 52 11. Literatur Aronson, E., Wilson, T. & Akert, R. (2008). Sozialpsychologie (6. Auflage). München: Pearson. Athay, M. & Darley, J.M. (1981). Toward an interaction centered theory of personality. In N. Cantor & J.F. Kihlstrom (Eds.), Personality, cognition and social interaction (S. 281- 308). Hillsdale, NJ: Erlbaum. ats-tms AG (2019). Verfügbar unter: http://www.ats-tms.ch/informationen/ Bauer, W., & Präsident, S. G. I. M. (2003). Charta zur ärztlichen Berufsethik. Schweizerische Ärztezeitung, 84(45), 2339. Bentele, G., Brosius, H-B. & Jarren, O. (2013). Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag. Betsch, T., Funke, J. & Plessner, H. (2011). Denken – Urteilen, Entscheiden, Problemlösen. Heidelberg: Springer. Bundesamt für Gesundheit (2019). 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(2006). Das Dilemma liegt im Auge des Betrachters. Zur Behandlung bio-ethischer Fragen im Biologie-Unterricht mit der Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion. Praxis der Naturwissenschaft/Biologie in der Schule, 1, 10-16. Medizinaltarif-Kommission (2019). Verfügbar unter: https://www.mtk-ctm.ch/de/ueber- uns/medizinaltarif-kommission-uvg-mtk/. Raab, G., Unger, A., Unger, F. (2010). Die Theorie kognitiver Dissonanz. In: Marktpsychologie. Wiesbaden: Gabler. Reimann, S. (2013). Die medizinische Sozialisation. Wiesbaden: VS Verlag. Schmid, P. (2011). EPOS – Ethische Prozesse in Organisationen im Sozialbereich. Ein Leitfaden für die Praxis. Bern: Curaviva. Sherif, M. & Cantril, H (1947). The psychology of ego-involvements: Social attitudes and identifications. Hoboken, NJ: John Wiley & Sons Inc. Thielscher, C. (2015). Medizinökonomie 1. Das System der medizinischen Versorgung (2. Auflage). Wiesbaden: Gabler. Wicklund, R.A. & Brehm, J. W. (1998). Resistance to change: The cornerstone of cognitive dissonance theory. In E. Harmon-Jones & J.S. Mills (Eds.), Cognitive dissonance theory: Revival with revisions and controversies (S. 310-322). Washington, DC: American Psychological Association. Bachelor-Thesis Michelle Koch 54 12. Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Übersicht Entstehung kognitive Dissonanz (eigene Darstellung) ...................................... 6 Abbildung 2: Übersicht Tarifpartner (eigene Darstellung) ..................................................................... 11 Abbildung 3: Übersicht deduktiv gebildete Hauptkategorien mit MAXQDA (eigene Darstellung) ........ 39 Abbildung 4: Übersicht aller Hauptkategorien mit MAXQDA (eigene Darstellung) ............................... 46 13. Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Deduktiv gebildete Kategorien (eigene Darstellung) ............................................................ 23 Tabelle 2: Kategoriendefinition «Probleme mit TARMED» (eigene Darstellung) .................................. 24 Tabelle 3: Kategoriendefinition «Beruflicher Kontext» (eigene Darstellung) ......................................... 25 Tabelle 4: Kategoriendefinition «Umgang mit Zeitleistungen» (eigene Darstellung) ............................ 26 Tabelle 5: Kategoriendefinition «Strategie bei Konfliktsituation » (eigene Darstellung)........................ 27 Tabelle 6: Kategoriendefinition «Strategie zur Reduktion kognitiver Dissonanz» (eigene Darstellung) 28 Tabelle 7: Ergebnisse «Probleme mit TARMED» (eigene Darstellung)................................................ 31 Tabelle 8: Ergebnisse «Umgang mit Zeitleistungen» (eigene Darstellung) .......................................... 33 Tabelle 9: Ergebnisse «Beruflicher Kontext» (eigene Darstellung) ....................................................... 36 Tabelle 10: Ergebnisse «Strategie in Konfliktsituation» (eigene Darstellung) ...................................... 37 Tabelle 11: Ergebnisse «Strategie zur Reduktion der kognitiven Dissonanz» (eigene Darstellung) .... 38 Tabelle 12: Kategoriendefinition «Involvement» (eigene Darstellung) .................................................. 41 Tabelle 13: Ergebnisse «Involvement» (eigene Darstellung) ................................................................ 42 Tabelle 14: Kategoriendefinition «Berufsethik» (eigene Darstellung) ................................................... 44 Tabelle 15: Ergebnisse «Berufsethik» (eigene Darstellung) ................................................................. 45 14. Anhang Anhang 1_Erhebungsplan und Interviewleitfaden Anhang 2_Codierte Transkriptionen Bachelor-Thesis Michelle Koch 55