361Das Verständnis von geistiger und körperlicher Behinderung Empirische Sonderpädagogik, 2013, Nr. 4, S. 361-373Das Verständnis von geistiger und körperlicherBehinderung: Zusammenhänge mit Alter, Kontaktund Einstellungen Luciano Gasser, Jennifer Chilver-Stainer & Sebastian TempelmannPädagogische Hochschule Luzern, Institut für Schule und Heterogenität ZusammenfassungIn dieser Studie wurden 381 Kindergarten- und Primarschulkinder (6-, 9-, 12-Jährige) zum Verständ-nis der Ursachen und Veränderlichkeit von geistiger und körperlicher Behinderung befragt. Im Wei-teren wurden Kontakte zu Gleichaltrigen mit Behinderungen erfasst. Die Mädchen und Jungenstammten zur einen Hälfte aus integrativen Klassen, in denen Kinder mit und ohne Behinderung ge-meinsam unterrichtet werden und zur anderen Hälfte aus nicht-integrativen Klassen. Die Ergebnis-se zeigten, dass die Schülerinnen und Schüler größere Schwierigkeiten haben, geistige Behinderungals Körperbehinderung zu verstehen. Mit zunehmendem Alter gelingt es ihnen besser, spezifischeErklärungen für verschiedene Behinderungen zu generieren. Schließlich zeigten sich positive Effek-te der integrativen Schulung und Kontakte auf das Behinderungsverständnis. Es wurden Zusammen-hänge zwischen dem Behinderungsverständnis und Einstellungen gegenüber Kindern mit Behinde-rungen gefunden. Die Zusammenhänge verschwanden jedoch nach Kontrolle des Alters. Schlüsselwörter: Verständnis von Behinderung, geistige Behinderung, körperliche Behinderung, In-tegration, Kindheit Understanding of mental and physical disabilities: Relations with age, contactand attitudes Kindergarten and elementary school children (6-, 9-, and 12-year-olds) were interviewed about theirunderstanding of the causes and controllability of mental and physical disabilities (N =381). Mo-reover, children’s contacts to peers with disabilities were assessed. One half of the sample consis-ted of children from classes inclusive of children with disabilities, the other half consisted of chil-dren from noninclusive classes. Results revealed that children had greater difficulties to explainmental disabilities compared to physical disabilities. With increasing age, children were more like-ly to provide specific explanations for different disabilities. Moreover, inclusive education and con-tact predicted children’s understanding of disabilities. Finally, disability-related attitudes were asso-ciated with children’s understanding of disabilities. However, these relations disappeared after con-trolling for children’s age. Key words: Understanding of disabilities, mental disabilities, physical disabilities, inclusive educa-tion, childhood 362 Luciano Gasser, Jennifer Chilver-Stainer & Sebastian Tempelmann Forschungen zu Einstellungen gegenüber Be-hinderungen zeigen, dass Kinder und Jugend-liche Personen mit Behinderungen negativerbewerten als solche ohne Behinderungen(Nowicki & Sandieson, 2002). Dieser Befunddeckt sich mit soziometrischer Forschung,wonach Mädchen und Jungen mit Behinde-rungen häufiger als nichtbehinderte Gleich-altrige zurückgewiesen und viktimisiert wer-den (Bless, 2007; Huber, 2009; Siperstein,Norins & Mohler, 2007). Um die soziale Ak-zeptanz von Schülerinnen und Schülern mitBehinderungen in Regelklassen zu verbes-sern, sind entwicklungspsychologische Er-kenntnisse hilfreich, die zeigen, wie sich dasBehinderungsverständnis von Kindern mitdem Alter verändert, welche sozialen Kon-texte für die Entwicklung relevant sind, undwie dieses Verständnis Gefühle und Verhal-ten gegenüber Gleichaltrigen mit Behinde-rungen beeinflusst (Diamond, 1993; Gasser,Malti & Buholzer, 2013b; Magitati, Dockrell& Logotheti, 2002; Smith & Williams, 2005).In der vorliegenden Studie wird das Ver-ständnis geistiger und körperlicher Behinde-rung bei Kindern aus drei verschiedenen Al-tersgruppen (6, 9 und 12 Jahre) untersucht.Zudem sollen Zusammenhänge des Behinde-rungsverständnisses mit integrativer Schulungund selbstberichteten Kontakten zu Gleich-altrigen mit Behinderungen in und außerhalbder Schule untersucht werden. Schließlichsoll die prädiktive Rolle des Behinderungs-verständnisses für individuelle Unterschiedebezüglich affektiven und behavioralen Ein-stellungen gegenüber Kindern mit Behinde-rungen untersucht werden. Entwicklung des Behinderungs-verständnisses In der Einstellungsforschung wird typischer-weise zwischen kognitiven, affektiven undbehavioralen Einstellungskomponenten un-terschieden (Nowicki, 2006). Das Behinde-rungsverständnis ist der kognitiven Einstel-lungskomponente zuzuordnen (Yu, Ostrosky& Fowler, 2012). Es bildet ein komplexes ko-gnitives System, welches verschiedene Aspekte wie das Wissen um Labels (Diamond& Hestenes, 1996; Magitati, Dockrell & Lo-gotheti, 2002), typische Merkmale (Dia-mond, 1994; Smith & Williams, 2001), Ursa-chen (Smith & Williams, 2004, 2005) sowieVeränderlichkeit und Beeinflussbarkeit ver-schiedener Behinderungen (Smith & Willi-ams, 2005) beinhaltet.In dieser Studie wurden angelehnt an dieStudie von Smith und Williams (2005) zweiAspekte des Behinderungsverständnisses un-tersucht: 1. das Ursachenverständnis (Wie er-klären sich Kinder Behinderungen?) und 2.das Verständnis der Unveränderlichkeit (Ver-stehen Kinder Behinderungen als unkontrol-lierbar und als stabil?). Bisherige Forschun-gen zeigen, dass Kinder meist auf Geburtoder Unfall als Ursachen für Behinderungenverweisen, wobei Geburt häufiger zur Erklä-rung geistiger Behinderung und Unfall zur Er-klärung körperlicher Behinderungen verwen-det wird (z. B. Magitati et al., 2002).Allerdings haben Kinder und Jugendlichegrößere Schwierigkeiten, geistige Behinde-rung zu erklären als Körperbehinderung.Dies wurde darauf zurückgeführt, dass die Er-klärung geistiger Behinderung Rückgriff aufabstrakte Konzepte wie Erblichkeit erforder-lich macht, während Körperbehinderungendurch saliente Ursachen wie Unfall erklärtwerden können (Diamond & Hestenes,1996; Lewis, 2002).Im Weiteren zeigte die Forschung deutli-che Alterseffekte: Kindergartenkinder sind imVergleich zu Grundschulkindern und Jugend-lichen weniger in der Lage, Behinderungenadäquat zu erklären, was sich in der größerenAnzahl undifferenzierter oder unkodierbarerAntworten zeigt (Diamond, 1993; Lewis,1995; Smith & Williams, 2005; Williams,2012). Auch gelingt es mit zunehmendem Al-ter besser, spezifische Ursachen für verschie-dene Behinderungen zu generieren (Smith &Williams, 2004). So wurde zum Beispiel ge-zeigt, dass nur 11-Jährige bei geistiger Behin-derung mehr biologische Ursachen nennenals bei Körperbehinderung, während jüngereKinder in ihren Erklärungen nicht nach Be-hinderung differenzieren (Smith & Williams, 363Das Verständnis von geistiger und körperlicher Behinderung 2005). Dies deckt sich mit Befunden zur Ent-wicklung des Ursachenverständnisses physi-scher und psychischer Eigenschaften („traits“)im Kindergarten- und Grundschulalter. Wäh-rend Kindergartenkinder kaum spezifische Er-klärungen (anlage- vs umweltbedingt) für psy-chologische Eigenschaften (z.B. klug – nichtklug) und physische Eigenschaften (z.B. gros-se Füße – kleine Füße) nennen, haben ältereKinder und Erwachsene ein differenziertesVerständnis davon, mit welchem GewichtAnlage und Umwelt bei der Entstehung ver-schiedener körperlicher und psychischer Ei-genschaften beteiligt sind (Heyman & Gel-man, 2000).Befunde zum Verständnis der Unverän-derlichkeit von Behinderungen zeigen einähnliches Bild: Ältere Kinder sind im Ver-gleich zu jüngeren Kindern eher der Über-zeugung, dass Krankheiten oder Behinderun-gen über die Lebensspanne stabil und unkon-trollierbar sind (Fox, Buchanan-Barrow &Barrett, 2010; Smith & Williams, 2005). Auchwird geistige Behinderung stärker als verän-derbar eingeschätzt als Körperbehinderung(Diamond, 1993; Lewis, 1995). Zusammenhänge zwischenBehinderungsverständnis undKontakt Kontakte zu Personen aus Minoritätsgruppensind eine zentrale Bedingung für den Abbauunrealistischer Konzepte und Erwartungen(Allport, 1954). Allerdings ist bisher kaumuntersucht worden, wie verschiedene sozialeErfahrungen mit verschiedenen Aspekten desBehinderungsverständnisses zusammenhän-gen.Integrative Schulung bietet Mädchen undJungen vielfältige Gelegenheiten, mit Kin-dern mit Behinderungen in Kontakt zu kom-men. Verschiedene Studien zeigen, dassSchülerinnen und Schüler aus integrativenKlassen positivere Einstellungen im affektivenoder behavioralen Bereich gegenüber Kin-dern mit Behinderungen mitbringen (Gasser,Malti & Buholzer, 2013a; Nowicki & Sandie-son, 2002). Bisher kaum untersucht ist aber die Frage, wie sich integrative Schulung aufdas Behinderungsverständnis auswirkt. EineAusnahme bildet die Untersuchung von Dia-mond, Hestenes, Carpenter und Innes (1997).In dieser Studie wurden Vorschulkinder ausintegrativen und nichtintegrativen Klassen (n= 60) zu ihrem Verständnis spezifischerKompetenzdefizite sowie zur Stabilität vonBehinderungen befragt. Während integrativeSchulung keinen Effekt auf das Verständnisder Kompetenzdefizite verschiedener Behin-derungen hatte, wussten Kinder aus integrati-ven Klassen besser, dass eine Behinderungüber die Lebensspanne hinweg stabil bleibt.Allerdings beschränkt sich diese Studie aufeine kleine Stichprobe und fokussiert nur ei-ne Altersgruppe, so dass keine Schlüsse hin-sichtlich der Effekte integrativer Schulung inverschiedenen Altersstufen möglich sind.Im Weiteren impliziert integrative Schu-lung nicht ohne Weiteres, dass Kontakt zwi-schen Kindern mit und ohne Behinderungzustande kommt. Nicht alle Kinder sind sichder Behinderung des integrierten Kindes be-wusst oder suchen den Kontakt zu ihm (Dia-mond & Hestenes, 1996). Umgekehrt habenKinder aus nichtintegrativen Klassen häufigauch Kontakte zu Kindern mit Behinderun-gen außerhalb der Schule (Geisthardt, Brot-herson & Cook, 2002; Webster & Carter,2007). Da Studien zeigen, dass soziale Inter-aktionen in Familie oder Freundschaften we-sentlich zur Entwicklung sozial-kognitiverKonzepte beitragen (Keller, 1996), wurde inder vorliegenden Untersuchung nicht nur derEffekt der Schulform, sondern auch der Effektselbstberichteter Kontakte zu Kindern mit Be-hinderungen in und außerhalb der Schule aufdas Behinderungsverständnis analysiert. Behinderungsverständnis undEinstellungen In welcher Weise die kognitive Komponentevon Einstellungen mit der affektiven oder be-havioralen Einstellungskomponente zusam-menhängt, ist weitgehend ungeklärt. EineStudie von Siperstein und Kollegen zeigtaber, dass die Bereitschaft von Jugendlichen, 364 Luciano Gasser, Jennifer Chilver-Stainer & Sebastian Tempelmann Kontakt zu Gleichaltrigen mit geistiger Behin-derung aufzunehmen (behaviorale Einstel-lungskomponente), von einer adäquaten Ein-schätzung der sozialen oder schulischenKompetenzen dieser Jugendlichen (kognitiveEinstellungskomponente) abhängt (Siperstein,Parker & Norins Bardon, 2007). Daraus lässtsich folgern, dass ein fortgeschrittenes Behin-derungsverständnis eine wichtige Vorausset-zung für die Kontaktbereitschaft konstituiert.Gleichzeitig wurde aber verschiedentlichargumentiert, dass sozial-kognitive Kompe-tenzen eine notwendige, aber keine hinrei-chende Bedingung für affektiv-motivationaleOrientierungen darstellen (Keller, 1996;Nunner-Winkler, 2007). So wurde beispiels-weise gezeigt, dass fortgeschrittene Perspekti-venübernahmefähigkeiten bei Kindern (alsIndikator für sozial-kognitive Kompetenz) nurdann mit prosozialem Verhalten einhergeht,wenn die Kinder hohe Empathie zeigen. Istdie Empathie hingegen wenig ausgeprägt, hatdie Perspektivenübernahme keine prädiktiveKraft für prosoziales Verhalten mehr (Gasser,Gutzwiller, Latzko & Malti, 2013). Basierendauf diesen Forschungserkenntnissen ist zu er-warten, dass ein fortgeschrittenes Behinde-rungsverständnis nicht notwendig mit mehrSympathie und Toleranz gegenüber Personenmit Behinderungen zusammenhängt. Um dieAkzeptanz von Kindern mit Behinderungenin Regelklassen zu verbessern, ist es wichtigzu klären, ob und in welchem Ausmaß dasBehinderungsverständnis zur Ausbildung po-sitiver affektiver und behavioraler Einstellun-gen beiträgt. Fragestellungen und Hypothesen Das erste Ziel der Studie liegt in der Untersu-chung von Altersunterschieden im Verständ-nis der Ursachen und der Veränderlichkeitvon geistiger und körperlicher Behinderung.Die Untersuchung schließt eine umfangrei-che Stichprobe (N = 381) von 6-, 9- und 12-jährigen Kindern aus integrativen und nicht-integrativen Klassen ein. Auf Basis bisherigerForschung zum Ursachenverständnis von Be-hinderungen (Diamond, 1993; Smith & Wil- liams, 2005) wurden folgende Hypothesengeprüft: H1: Jüngere Kinder zeigen generell grö-ßere Schwierigkeiten, Behinderungen zuverstehen als ältere.H2: Kindern fällt das Verständnis vongeistiger Behinderung schwerer als dasVerständnis von Körperbehinderung.H3: Kinder können mit zunehmendemAlter besser spezifische Erklärungen fürverschiedene Behinderungen generieren. Im Weiteren wurden Zusammenhänge zwi-schen der Entwicklung des Behinderungsver-ständnisses mit integrativer Schulung undselbstberichtetem Kontakt untersucht. Ein Be-hinderungsverständnis, wonach Kinder Be-hinderungen als biologisch bedingt und un-veränderlich verstehen, wurde als weiter ent-wickelt beurteilt, als wenn sie Behinderun-gen unfallbedingt und veränderlich verste-hen. Die unterschiedliche entwicklungspsy-chologische Beurteilung der beiden Ursa-chentypen (biologisch vs. Unfall) ergibt sichdaraus, dass Verweise auf Erblichkeit und Ge-burt komplexere und weniger saliente Erklä-rungskonzepte erforderlich machen als Ver-weise auf Unfall (Williams, 2012).H4: Kinder aus integrativen Klassen zei-gen ein weiter entwickeltes Behinderungsver-ständnis als Kinder aus nichtintegrativen Klas-sen.H5: Kinder, welche Kontakte zu Kindernmit Behinderungen in und außerhalb derSchule berichten, zeigen ein weiter entwi-ckeltes Behinderungsverständnis als Kinder,welche keine solcher Kontakte berichten.Schließlich wurden Zusammenhängezwischen Behinderungsverständnis und Ein-stellungen gegenüber Kindern mit Behinde-rungen analysiert. Da die bisherige For-schung kaum Zusammenhänge zwischen ko-gnitiven, affektiven und behavioralen Einstel-lungskomponenten untersucht hat und so-wohl fehlende als auch positive Korrelatio-nen vorstellbar sind, wurden dazu keine Hy-pothesen formuliert. 365Das Verständnis von geistiger und körperlicher Behinderung Methode Stichprobe An der Untersuchung nahmen insgesamt 381Kinder (180 Mädchen) aus drei verschiede-nen Altersgruppen teil: 99 Kindergartenkin-der (M = 6.1 Jahre), 137 Kinder aus 2. und 3.Klassen (M = 8.7 Jahre) sowie 145 Kinderaus 5. und 6. Klassen (M = 11.9 Jahre). 84%Prozent der Mädchen und Jungen warenSchweizer Nationalität. Von den Kindern an-derer Nationalität waren 14% europäischerund 2% nicht-europäischer Herkunft. Die El-tern aller Schülerinnen und Schüler wurdenum Einwilligung für die Studienteilnahme ge-beten. Die Teilnahmebereitschaft war hoch(92%).Die Hälfte der Stichprobe stammte ausnichtintegrativen Klassen (n = 10). Die ande-re Hälfte der Kinder stammte aus integrativenKlassen (n = 16), in denen ein Kind mit diag-nostizierter Behinderung im Rahmen einerEinzelintegration beschult wurde (51.2%).Acht der integrierten Kinder hatten eine geis-tige Behinderung, bei welchen die Behinde-rung mit einer Ausnahme (Down Syndrom)nicht anzusehen war. Acht der integriertenKinder hatten eine körperliche Behinderung(4 Paresen, 2 Spina Bifida, 1 kaudales Regres-sionssyndrom, 1 Gehbehinderung). Die Kon-takte zu den integrativen Klassen erfolgtenentweder über heilpädagogische Zentrenoder über Studierende der schulischen Heil-pädagogik. Die Kinder aus integrativen undnichtintegrativen Klassen waren homogenüber die drei Altersgruppen verteilt. Die inte-grativ beschulten Mädchen und Jungen mitBehinderungen erhielten durchschnittlich 4.7Stunden pädagogisch-therapeutische Unter-stützung pro Woche. Die 6-Jährigen mit Be-hinderungen waren im Schnitt seit 1.5 Jahrenintegriert, die 9-Jährigen seit 2.9 Jahren, die12-Jährigen seit 4.4 Jahren. Instrumente Interview zum Behinderungsverständnis Das Behinderungsverständnis wurde über in-dividuelle Interviews erfasst. Der Inter-viewleitfaden wurde von Smith und Williams(2005) übernommen. Die Erfassung des Ver-ständnisses für geistige und körperliche Be-hinderung erfolgte in separaten Interviewsit-zungen im Abstand von wenigen Tagen, wo-bei die Reihenfolge der Interviewsitzungenvariierte. In einem ersten Schritt wurden dieBehinderungen analog zu Forschungen vonSmith und Williams in einer altersgerechtenSprache beschrieben (Smith & Williams,2001, 2004, 2005). Die geistige Behinderungwurde wie folgt umschrieben: „Kinder mit ei-ner geistigen Behinderung sind solche, diemehr Schwierigkeiten als andere Mädchenund Jungen haben, sich Dinge zu merkenund mehr Zeit brauchen, um Aufgaben zu lö-sen. Deshalb benötigen sie von jemandemextra Hilfe fürs Lernen. Solche Kinder habeneine geistige Behinderung“. Für die Körper-behinderung wurde folgende Beschreibungverwendet: „Kinder mit einer Körperbehinde-rung sind sloche, die sich nicht so gut bewe-gen können oder sich gar nicht bewegen kön-nen und im Rollstuhl sitzen. Das könnenzum Beispiel Kinder sein, die eine Lähmunghaben oder nicht gut gehen können und des-halb eine Beinschiene tragen müssen. Siekönnen nicht alle körperlichen Aktivitäten al-leine ausführen und brauchen mehr Zeit da-für. Deshalb benötigen sie häufig Hilfe vonjemandem“. Die diskriminante Validität die-ser Beschreibungen gegenüber Beschreibun-gen anderer Behinderungen (z.B. ADHS,Lernbehinderung, Sinnesbehinderungen)wurde in verschiedenen Untersuchungenzum Behinderungsverständnis nachgewiesen(z.B. Smith & Williams, 2004).Es wurden folgende Aspekte des Behinde-rungsverständnisses erhoben: (1) Ursachen-verständnis („Was glaubst du, warum Samu-el/ Katja eine geistige Behinderung/ körperli-che Behinderung hat?“); (2) Verständnis derUnveränderlichkeit. Dazu wurde das Kind 366 Luciano Gasser, Jennifer Chilver-Stainer & Sebastian Tempelmann nach seinen Einschätzungen der Unkontrol-lierbarkeit („Glaubst du Samuel/ Katja könntebesser lernen/ sich bewegen, wen er/ siewirklich wollte?“) und der Stabilität von Be-hinderungen gefragt („Wenn Samuel/ Katjaälter wird und erwachsen ist, könnte er/ siedann wieder gleich gut lernen/ sich gleich gutbewegen, wie die anderen Erwachsenen?“).Kodierung des Behinderungsverständnisses.Die Erklärungen der Kinder zur Ursache ei-ner geistigen oder körperlichen Behinderungwurden mittels des Kategoriensystems vonSmith und Williams (2005) analysiert. Biolo-gische Erklärungen enthielten Verweise aufbiologisch relevante physiologische Systemeoder Prozesse, meist Verweise auf Heriditätoder prä-/peri- und postnatale Komplikatio-nen (z.B. „Körperlich behindert ist, wennman so auf die Welt kommt“, “weil er viel-leicht mit einer Krankheit auf die Welt kam“).Die Kategorie Unfall enthielt Verweise aufmechanische oder physikalische Einwirkun-gen (z.B. „Weil er vielleicht von einem Autoüberfahren wurde“, „weil sie vielleicht maleinen schlimmen Unfall hatte“). Andere Ur-sachen (psychologische, soziale oder religiö-se Ursachen) wurden nur selten genannt undnicht weiter analysiert. Jede Antwort wurdeeiner Kategorie zugeordnet und mit 1 (= Er-klärung genannt) und 0 (= Erklärung nichtgenannt) kodiert. 15% der Kinder nanntenzugleich biologische und unfallbezogene Er-klärungen. In diesen Fällen erfolgte eine dop-pelte Kodierung. 10% der Interviews wurdendoppelt kodiert und die Interraterreliabilitätbetrug  = .92.Das Verständnis der Unkontrollierbarkeitund Stabilität wurde mit 0 (= kontrollierbar/instabil) und 1 (= unkontrollierbar/ stabil) ko-diert. Zwischen dem Verständnis der Unkon-trollierbarkeit und der Stabilität bestand einesignifikante Korrelation (geistige Behinde-rung: r =.35***, Körperbehinderung: r =.20***). Da das Verständnis der Unkontrol-lierbarkeit und Stabilität auch konzeptuell zu-sammenhängen, wurde ein aggregierter Wert„Unveränderlichkeit“ gebildet. Selbstberichteter Kontakt Die Kinder wurden gefragt, ob sie ein Kindoder mehrere Kinder mit Behinderung inoder außerhalb der Schule kennen würden.Die Antworten der Kinder wurden mit 0 (=kein Kontakt) und 1 (= Kontakt) kodiert. Da-nach gefragt, wie sich der Kontakt mit demKind mit Behinderung gestaltet („Was machtihr zusammen?“), wurden folgende Aktivitä-ten oder Settings genannt: Spielen (41%),Sport (10%), schulische Aktivitäten (19%),Sprechen (8%), gemeinsame Pause oder Aus-flüge (7%), andere Aktivitäten (4%). 10% derKinder gaben an, sie würden das Kind mit Be-hinderung nur sehen. Dies wurde ebenfallsals Kontakt kodiert (vgl. Cameron & Rutland,2006). Affektive und behaviorale Einstellungen Diese beiden Einstellungskomponenten wur-den über sechs hypothetische Situationen er-fasst, in welchen sich eine Gruppe von Kin-dern für den Einschluss eines Kindes mit oderohne Behinderung entscheiden muss (für ei-ne detaillierte Beschreibung siehe Gasser,Chilver-Stainer, Buholzer & Perrig-Chiello,2012). Dilemmasituationen in Gleichaltri-genkontexten haben sich als reliable und va-lide Instrumente zur Erfassung von Einstellun-gen gegenüber Personen aus Minoritätsgrup-pen erwiesen (Killen & Rutland, 2011). ZurErfassung behavioraler Einstellungen wurdendie Kinder gefragt, ob sie sich in der Rolle desProtagonisten für das Kind mit oder ohne Be-hinderung entscheiden würden. Die Antwor-ten der Kinder wurden mit 0 (= Einschlussdes Kindes ohne Behinderung) und 1 (= Ein-schluss des Kindes mit Behinderung) kodiert.Zur Erfassung der affektiven Einstellungenwurde im Anschluss gefragt, wie sie sich imFalle eines Ausschlusses des Kindes mit Be-hinderung fühlen würden. Wenn die Kinderbei sich selbst Schuld oder Empathie erwarte-ten, wurden die Antworten mit 1 kodiert. Er-warteten die Kinder Zufriedenheit, Angstoder Wut, wurde dies mit 0 kodiert (sieheauch Gasser et al., 2013a). Jeweils die Hälfte 367Das Verständnis von geistiger und körperlicher Behinderung der Situationen handelten von einem Kindmit geistiger oder mit körperlicher Behinde-rung. Da die Analysen zum Behinderungsver-ständnis keine unterschiedlichen Ergebnissefür die beiden Behinderungsformen zeigten,wurde über die beiden Behinderungsformenaggregiert (Behaviorale Einstellungen:Cronbachs = .87, Affektive Einstellungen:Cronbachs = .90). Ergebnisse Deskriptive Statistiken Die Mittelwerte biologischer und unfallbezo-gener Erklärungen sowie der Einschätzungender Unveränderlichkeit von Behinderungsind in Tabelle 1 getrennt nach Altersgruppedargestellt. Knapp die Hälfte der Kinder(44%) erklärten Behinderungen biologischund 40% der Kinder erklärten Behinderun-gen durch Unfall. Schließlich schätzten 56%der Kinder Behinderungen als unveränder-lich ein.60% der Kinder gaben an, sie würden einoder mehrere Kinder mit Behinderungen ken-nen. Schulmodell (integrativ vs. nichtintegra-tiv) und selbstberichteter Kontakt warensignifikant assoziiert, χ2(1, 381) = 14.68, p< .001. In nichtintegrativen Klassen hattenmehr Kinder keinen Kontakt zu Personen mitBehinderungen (50%) als Kinder aus integra-tiven Klassen (30%). Umgekehrt hatten mehrKinder aus integrativen Klassen Kontakt zu Personen mit Behinderungen (70%) als Kin-der aus nichtintegrativen Klassen (50%). Zusammenhänge mit Alter,Behinderungsform und Kontakt Es wurden separate Varianzanalysen mitMesswiederholung für das Ursachenver-ständnis und das Verständnis der Unverän-derlichkeit von Behinderungen durchgeführt.Vorauslaufende Analysen ergaben keineHaupteffekte des Geschlechts des Kindes, sodass das Geschlecht aus den finalen Analy-sen entfernt wurde.Ursachenverständnis. Die Ursachennennun-gen waren dichotomer Natur (0 = Begrün-dung nicht gennant, 1 = Begründung ge-nannt). Die Varianzanalyse hat sich bei derVerwendung dichotomer Daten als robust er-wiesen (Lunney, 1970; Wainryb, Shaw, Lau-pa & Smith, 2001). Trotzdem wurden in Vor-läuferanalysen sämtliche Berechnungen mitArscin-transformierten Werten durchgeführt.Zudem wurden verallgemeinerte lineare Mo-delle für binäre Daten gerechnet. Weder dieAnalysen mit den transformierten Werten,noch die verallgemeinerten linearen Modelleergaben abweichende Ergebnisse. Aus Grün-den der besseren Lesbarkeit und Verständ-lichkeit werden deshalb im Folgenden die va-rianzanalytischen Ergebnisse mit untransfor-mierten Werten berichtet.Es wurde eine Altersgruppe (6-, 9-, 12-Jäh-rige) X Schulmodell (integrativ vs nichtinte-grativ) X selbstberichteter Kontakt (ja vs nein) Biologische Erklärung Unfallbedingte Erklärung Unveränderlichkeit Altersgruppe GB KB GB KB GB KB 6-Jährige .17 (.38) .20 (.40) .14 (.35) .33 (.47) .39 (.41) .51 (.38) 9-Jährige .42 (.50) .48 (.50) .23 (.43) .48 (.50) .54 (.40) .60 (.37) 12-Jährige .65 (.47) .53 (.50) .34 (.48) .79 (.41) .64 (.37) .63 (.39) Anmerkungen. GB = geistige Behinderung, KB = Körperbehinderung. Tabelle 1: Mittelwerte (SD) für die drei abhängigen Variablen getrennt nach Altersgruppe 368 Luciano Gasser, Jennifer Chilver-Stainer & Sebastian Tempelmann X Behinderungsform (geistige Behinderungvs Körperbehinderung) X Erklärungstyp (bio-logisch vs Unfall) Varianzanalyse mit denletzten beiden Faktoren als Messwiederho-lungsfaktoren berechnet. In Tabelle 2 sinddie deskriptiven Statistiken zu den Hauptef-fekten dargestellt.Die Analyse ergab einen signifikantenHaupteffekt der Altersgruppe, F(2, 369) =48.44, p < .001. Erwartungsgemäß generier-ten 12-Jährige häufiger Erklärungen für geisti-ge und körperliche Behinderung als 6- und 9-Jährige (beide p < .001) (siehe Tabelle 1).Neunjährige wiederum generierten häufigerErklärungen als 6-Jährige (p < .001). EinemHaupteffekt der Behinderungsform zufolge,F(1, 369) = 32.63, p < .001, hatten die Kin-der mit der Erklärung geistiger Behinderung,wie erwartet, größere Schwierigkeiten als mitder Erklärung der Körperbehinderung (sieheTabelle 2). Im Weiteren zeigte sich eine drei-fache Interaktion (Altersgruppe X Behinde-rungsform X Erklärungstyp), F(2, 369) =7.28, p < .001. Hypothesenkonform diffe- renzierten Kinder in ihren Erklärungen mitzunehmendem Alter stärker zwischen denbeiden Behinderungsformen (siehe Tabelle1). Separate Analysen pro Altersgruppe erga-ben, dass 6-Jährige keine behinderungsspezi-fischen Erklärungen abgaben. Die 9-Jährigenhingegen erklärten eine geistige Behinderunghäufiger biologisch als durch Unfall, t(136) =3.16, p < .01. Die Körperbehinderung wur-de von 9-Jährigen gleichermaßen häufig bio-logisch und durch Unfall erklärt. Die 12-Jäh-rigen erklärten die geistige Behinderungebenfalls häufiger biologisch als durch Un-fall, t(144) = 6.29, p < .001. Im Unterschiedzu den 9-Jährigen erklärten sie die Körperbe-hinderung häufiger durch Unfall als biolo-gisch, t(162) = 4.49, p < .001.Im Weiteren zeigte sich eine zweifacheInteraktion zwischen Schulform und Erklä-rungstyp, F(1, 369) = 7.75, p < .01. Entspre-chend unserer Hypothese erklärten Kinderaus integrativen Klassen Behinderungen häu-figer biologisch als Kinder aus nichtintegrati-ven Klassen (M = 51 vs .40), t(410) = 2.68, Tabelle 2: Mittelwerte (SD) des Ursachenverständnisses und der Unveränderlichkeit getrennt nach Behin-derungsform, Altersgruppe, Schulmodell und selbstberichtetem Kontakt BehinderungsverständnisBiologische Ursachen Unfallbedingte Ursachen UnveränderlichkeitBehinderungsformGeistige Behinderung .46 (.50) .25 (.43) .54 (.40)Körperbehinderung .43 (.50) .56 (.50) .59 (.38)Altersgruppe6-Jährige .19 (.32) .24 (.35) .45 (.35)9-Jährige .45 (.40) .36 (.39) .57 (.33)12-Jährige .61 (.38) .56 (.32) .63 (.33)SchulmodellNichtintegrativ .40 (.41) .49 (.40) .56 (.35)Integrativ .49 (.40) .32 (.33) .56 (.3)Selbstberichteter KontaktNein .28 (.36) .37 (.39) .51 (.33)Ja .55 (.40) .42 (.37) .59 (.34) 369Das Verständnis von geistiger und körperlicher Behinderung p < .01. Im Unterschied dazu erklärten Kin-der aus nichtintegrativen Klassen Behinde-rungen häufiger durch Unfall als Kinder ausintegrativen Klassen (M = .47 vs .32), t(410)= 4.23, p < .001. Schließlich zeigte sich ei-ne signifikante Interaktion zwischen selbstbe-richtetem Kontakt und Erklärungstyp, F(1,369) = 8.17, p < .01. Wie erwartet erklärtenMädchen und Jungen, welche über Kontaktezu anderen Kindern mit Behinderungen be-richteten, Behinderungen häufiger biologischals Kinder ohne solchen Kontakt (M = .57 vs.29), t(410) = 7.26, p < .001. Schülerinnenund Schüler mit und ohne Kontakt erklärtenBehinderungen gleich häufig durch Unfall (M=.41 vs .37). Unveränderlichkeit von Behinderungen Es wurde eine Altersgruppe X Schulmodell(integrativ vs. nichtintegrativ) X selbstberich-teter Kontakt (ja vs. nein) X Behinderungs-form (geistige Behinderung vs. Körperbehin-derung) Varianzanalyse mit dem letzten Fak-tor als Messwiederholungsfaktor berechnet.Die Analyse ergab einen signifikantenHaupteffekt der Altersgruppe, F(2, 369) =4.56, p < .05. Entsprechend unserer Annah-me verstanden 9- und 12-jährige Behinderun-gen stärker als unveränderlich als 6-Jährige (beide p < .05). Im Weiteren zeigte sich einHaupteffekt der Behinderungsform, F(1, 369)= 5.86, p < .05. Die Körperbehinderungwurde wie erwartet häufiger als unveränder-lich eingeschätzt als die geistige Behinde-rung. Entgegen unserer Hypothese zeigtensich keine Effekte integrativer Schulung oderselbstberichteter Kontakte. Zusammenhänge desBehinderungsverständnisses mitaffektiven und behavioralenEinstellungskomponenten Es wurden keine separaten Analysen für diebeiden Behinderungsformen durchgeführt,da sich keine unterschiedlichen Zusammen-hänge für das Verständnis geistiger und kör-perlicher Behinderung zeigten. Sowohl bio-logische als auch unfallbedingte Ursachen-nennungen waren positiv mit affektiven undbehavioralen Einstellungen korreliert (sieheTabelle 3). Ebenso war das Verständnis derUnveränderlichkeit positiv mit den affektivenund behavioralen Einstellungen assoziiert.Allerdings verschwanden nach Kontrolle derAltersgruppe sämtliche signifikanten Zusam-menhänge zwischen Variablen zum Behinde-rungsverständnis einerseits und affektiven Tabelle 3: Korrelationen und Partialkorrelationen nach Kontrolle der Altersstufe (in Klammern) zwischenVariablen zum Behinderungsverständnis und Einstellungsvariablen Anmerkungen. *p < .05, **p < .01, ***p < .001. Behinderungsverständnis EinstellungenBiologischeUrsache Unfall Unveränder-lichkeit Affektive Behaviorale Biologische Ursache - -.05(-.23***) .18***(.11*) .18*** (-.02) .18* (.03)Unfall - .13* (.06) .20*** (.04) .16** (.03)Unveränderlichkeit - . 11* (.01) .04 (-.05)Affektive Einstellun-gen - .56***(.51***) Behaviorale Einstel-lungen - 370 Luciano Gasser, Jennifer Chilver-Stainer & Sebastian Tempelmann und behavioralen Einstellungen andererseits(siehe Tabelle 3). Diskussion In Übereinstimmung mit unseren Hypothe-sen und der Forschungsliteratur zur Entwick-lung des Behinderungsverständnisses (Dia-mond, 1993; Lewis, 1995; Smith & Williams,2005) zeigten die Kinder mit zunehmendemAlter ein wachsendes Behinderungsverständ-nis. Ältere Kinder waren besser in der Lage,Behinderungen zu erklären als jüngere undverstanden besser, dass Behinderungen un-veränderlich sind. Zudem differenzierten äl-tere Mädchen und Jungen ihre Erklärungenstärker nach Behinderungsform als jüngereSchülerinnen und Schüler. Während 6-Jähri-ge geistige und körperliche Behinderung glei-chermaßen durch biologische Ursachen undUnfall erklärten, nannten 9- und noch stärker12-Jährige unterschiedliche Ursachen zur Er-klärung der beiden Behinderungsformen.Diese Befunde decken sich mit Forschungs-befunden zur Entwicklung des Verständnis-ses psychischer und körperlicher Krankheiten(Fox et al., 2010): Sechsjährige erklären psy-chische Erkrankungen ähnlich wie körperli-che Erkrankungen (z.B. durch Ansteckungoder Unfall), während ältere Kinder unter-schiedliche Gründe für psychische und kör-perliche Erkrankungen generieren (Fox et al.,2010). Auch schätzten jüngere Mädchen undJungen psychische Erkrankungen als wenigerdauerhaft ein als ältere Schülerinnen undSchüler.Wie erwartet generierten die Kinder zurgeistigen Behinderung weniger Erklärungenund verstanden diese als weniger unverän-derlich als die Körperbehinderung. Diese Er-gebnisse decken sich mit der Forschungslite-ratur, welche zeigt, dass Kinder Behinderun-gen, die körperlicher Natur sind, schon rela-tiv früh als entweder physikalisch oder biolo-gisch verursacht wahrnehmen (Magiati et al.,2002; Sigelman & Begley, 1987; Smith &Williams, 2004). Geistige Behinderungenhingegen sind auch für ältere Mädchen und Jungen schwieriger bezüglich ihrer körperli-chen Ursachen einzuordnen (Diamond,1993, 1994; Diamond & Hestenes, 1996; Le-wis, 1995; Magiati et al., 2002; Smith & Wil-liams, 2004, 2005). Diese Befunde lassensich so erklären, dass körperliche Behinde-rungen oft einen direkten Aufschluss über diebetroffenen Körpersysteme bzw. -funktionenerlauben und damit eine Ursachenzuschrei-bung auf körperlicher Ebene (biologisch oderphysikalisch) naheliegt. Dieser Zusammen-hang ist bei geistigen Behinderungen völligintransparent, da das beobachtbare Verhaltennicht offensichtlich mit dem Körper assoziiertist. Dementsprechend ist die Verknüpfungvon Ursache und Wirkung nicht intuitiv, son-dern nur über Wissensvermittlung (z.B. in Fa-milie oder Schule) möglich.Das Ursachenverständnis war mit integra-tiver Schulung und Kontakt assoziiert. Kinderaus integrativen Klassen verwiesen häufigerauf biologische Ursachen und weniger aufUnfall in ihrer Erklärung von geistiger undkörperlicher Behinderung als solche ausnichtintegrativen Klassen. Auch nanntenMädchen und Jungen mit Kontakt zu Kindernmit Behinderungen häufiger biologische Ur-sachen als Schülerinnen und Schüler ohneKontakt. Zum einen decken sich diese Befun-de mit Forschungen zur Entwicklung naiverBiologie, wonach kulturelle Überzeugungenund direkte Erfahrungen mit der Natur indivi-duelle Unterschiede im Verständnis biologi-scher Konzepte erklären können (z.B. Wax-man, Medin & Ross, 2007). So wurde bei-spielsweise gezeigt, dass häufiger Kontakt mitPflanzen oder Tieren mit fortgeschrittenenbiologischen Konzepten einhergeht (Inagaki& Hatano, 2002; Williams & Smith, 2006).Zum anderen sind die Befunde konsistent mitAllports Kontakthypothese (Allport, 1954),wonach Vorurteile aus fehlender Erfahrungmit Fremdgruppen entstehen. Kontakt zu Kin-dern mit Behinderungen könnte Schülerin-nen und Schüler dazu veranlassen, genauerüber die Ursachen von Behinderungen nach-zudenken und dadurch einen Wechsel vonsalienten Ursachenerklärungen (wie Unfall)zu stärker abstrakten Ursachenerklärungen 371Das Verständnis von geistiger und körperlicher Behinderung (wie Vererbung) vorzunehmen. Allerdingssind Vorurteile und Einstellungen gegenüberPersonen mit Behinderungen etwas anderesals das Behinderungsverständnis: Einstellun-gen haben eine stärker emotionale und moti-vationale Komponente, während das Behin-derungsverständnis kognitiver Natur ist. DerBefund, wonach Kinder mit Kontakt zu ande-ren Kindern mit Behinderungen, Behinde-rung als stärker biologisch bedingt verstehen,ist somit noch kein Beleg dafür, dass ein sol-ches Verständnis zur Ausbildung positiverEinstellungen im affektiven und behavioralenBereich beiträgt.Interessanterweise zeigten sich nach Kon-trolle der Altersgruppe keine signifikantenZusammenhänge zwischen Behinderungs-verständnis einerseits und affektiven und be-havioralen Einstellungen andererseits. DieKorrelationen kommen somit nur dadurchzustande, dass mit zunehmendem Altergleichzeitig das Behinderungsverständnis dif-ferenzierter und die affektiven und behavio-ralen Einstellungen positiver werden. Inner-halb der Altersgruppen zeigten sich aber kei-ne signifikanten Zusammenhänge. Dieser Be-fund stützt die Annahme, dass es sich beimBehinderungsverständnis um eine neutralesozial-kognitive Kompetenz handelt, welchessowohl mit positiven wie auch mit negativenEinstellungen gekoppelt sein kann. Nach die-ser Interpretation ist für positives Sozialver-halten gegenüber Gleichaltrigen mit Behin-derungen wichtiger, dass Kinder positive Ein-stellungen im affektiv-motivationalen Bereichmitbringen, als dass sie Behinderungen adä-quat erklären können.Bei der Interpretation der Ergebnisse sindfolgende Limitierungen zu beachten: Die Stu-die erlaubt keine Aussagen über die kausaleRichtung von Zusammenhängen. KünftigeForschung sollte längsschnittliche Designseinschließen, um Kausalmodelle überprüfenzu können. So wäre beispielsweise interes-sant zu untersuchen, ob sich im Verlaufe derEntwicklung wechselseitige Beeinflussungenzwischen Behinderungsverständnis und be-hinderungsbezogenen Einstellungen zeigen.Im Weiteren wurde in dieser Studie ein sehr allgemeines Maß für den Kontakt zu Kindernmit Behinderungen verwendet. Forschungenzur Kontakthypothese haben aber gezeigt,dass insbesondere die Qualität des Kontaktes(z.B. Freundschaften) für die Reduzierungvon Stereotypen ausschlaggebend ist (Cloer-kes, 2001; Killen & Rutland, 2011). Schließ-lich wurde in dieser Studie nur eine engereAuswahl an Aspekten des Behinderungsver-ständnisses erfasst. Für ein genaueres Ver-ständnis der Zusammenhänge zwischen Be-hinderungsverständnis, Kontakt und Einstel-lungen sollte das Behinderungsverständnisumfassender gemessen werden (z.B. Ein-schätzungen der unterschiedlichen Fähigkei-ten von Kindern mit verschiedenen Behinde-rungen).Insgesamt zeigt die Untersuchung einkomplexes Bild der Alterseffekte sowie dersozialen, affektiven und behavioralen Korre-late des Behinderungsverständnisses. Sozia-ler Ausschluss stellt eine häufige Erfahrungvon Kindern und Jugendlichen mit Behinde-rungen dar (Siperstein et al., 2007). Die vor-liegende Studie zeigt, dass ein fortgeschritte-nes Behinderungsverständnis keine Voraus-setzung für Toleranz gegenüber Personen mitBehinderungen darstellt und deshalb Einstel-lungskomponenten im affektiv-motivationa-len Bereich zu berücksichtigen sind. Literatur Allport, G. W. (1954). The nature of prejudice.New York: Doubleday Anchor Books.Bless, G. (2007). Zur Wirksamkeit der Integrati-on. Bern: Haupt.Cameron, L. & Rutland, A. (2006). Extendedcontact through story reading in school: Re-ducing children’s prejudice towards thedisabled. Journal of Social Issues, 62, 469-488.Cloerkes, G. (2001). 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Korrespondierender Autor: Luciano GasserInstitut für Schule und HeterogenitätPädagogische Hochschule ZentralschweizLuzernTöpferstrasse 106004 LuzernE-Mail: luciano.gasser@phlu.ch Die Studie wurde vom Schweizerischen Na-tionalfonds und vom HeilpädagogischenZentrum Hohenrain finanziert.