16 Florian Eßer/Clarissa Schär/Stefan Schnurr/ Wolfgang Schröer (Hg.) Mit Beiträgen von: Partizipative Forschung in der Sozialen Arbeit Zur Gewährleistung demokratischer Teilhabe an Forschungsprozessen Herausgegeben von: umschlagaufbau_SD16.indd 1 18.06.20 06:46 Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie: detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar Alle Rechte vorbehalten © 2020 Verlag neue praxis GmbH, Lahnstein Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verbreitung in elektronischen Systemen. Satz: MedienServiceCenter Ute C. Renda-Becker, Lahnstein + Neuwied. Druck: rewi druckhaus, Reiner Winters GmbH, 57537 Wissen/Sieg Printed in Germany, Juli 2020 umschlagaufbau_SD16.indd 2 18.06.20 06:47 np Inhalt Partizipative Forschung in der Sozialen Arbeit – Zur Gewährleistung demokratischer Teilhabe an Forschungsprozessen Florian Eßer/Clarissa Schär/Stefan Schnurr/Wolfgang Schröer Einleitung: Partizipative Forschung in der Sozialen Arbeit. Teilhabe an der Wissensproduktion unter Bedingungen sozialer Ungleichheit 3 Rahel Heeg/Dorothee Schaffner/Olivier Steiner Partizipative Forschung, partizipative Aktionsforschung und die Frage nach Qualitätskriterien 24 Kathrin Aghamiri Das Recht auf den eigenen Standpunkt: Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess 36 Miriam Sitter »Aber Experten bestimmen.« Zur ungewissen Einlösung von Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern 48 Elisabeth Richter Handlungspausenforschung im Prozess: Partizipative Forschung am Beispiel des Forschungsprojekts »Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen« 63 Angela Rein/Katharina Mangold »Was macht Macht in partizipativer Forschung?« Reflexionen zur Bedeutung von Macht in einem Forschungsprojekt mit Care Leaver*innen 76 Kristina Schmidt Subjektorientierung in einem partizipativen Forschungsprojekt mit Menschen mit Lernschwierigkeiten 92 Marilena von Köppen/Daphne Hahn/Susanne Kümpers Ist das partizipative Forschung? Kritische Reflexion eines Action-Research-Projekts in einer Einrichtung der stationären Altenhilfe 105 Heiko Berner/Doris Rosenlechner-Urbanek/Rita Mouses Auf dem Weg zu einem machtsensiblen Dritten Raum. Erkenntnisse aus dem partizipativen Aktionsforschungsprojekt PAGES 118 Michael Wrentschur Mit dem Forumtheater szenisch und partizipativ forschen: Konzeption, Verfahrensweisen und Beispiele aus der Sozialen Arbeit 130 1 Sonderheft 16 np Inhalt Christian Reutlinger Authentizität und Passung: Den Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung auf der Spur. Ihr könnt uns gar nicht verstehen: Eine große Irritation als Ausgangspunkt 144 Autor*innenverzeichnis 157 2 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung Florian Eßer/Clarissa Schär/Stefan Schnurr/Wolfgang Schröer Partizipative Forschung in der Sozialen Arbeit Teilhabe an der Wissensproduktion unter Bedingungen sozialer Ungleichheit Die Soziale Arbeit in Englisch und Spanisch sprechenden Ländern praktiziert partizipative Forschung in großer Selbstverständlichkeit und pflegt dazu einen intensiven Austausch. Für die Sozialpädagogik und Soziale Arbeit (im Folgenden werden beide Begriffe synonym verwendet) in den Deutsch sprechenden Ländern spielt partizipative Forschung indes kaum eine Rolle. In den meisten einschlägigen Hand- und Lehrbüchern in deutscher Sprache (z.B. Bock/Miethe, 2010; Friebertshäuser et al., 2010; Gredig/Schnurr, 2012; Stegmann/Schwab, 2012; Schaffer, 2019) findet sich kein Eintrag zu partizipativer Forschung (Ausnahmen sind z.B.: Graßhoff et al., 2018; Alisch et al., 2017). Forschungsprojekte, bei denen Personen ohne Expertise für empirische For- schung in forschungsbezogene Entscheidungen einbezogen werden, sind in der Forschungskultur der deutschsprachigen Sozialen Arbeit eine Rarität. Solche Vorgehensweisen gelten als riskant und gesteigert legitimierungsbedürftig – sowohl hinsichtlich des methodischen Vorgehens als auch hinsichtlich der Ergebnisse. Für das Mainstream-Selbstverständnis der Sozialen Arbeit im deutschsprachigen Raum ist es bis heute zentral, dass sie sich seit den 1990er und 2000er Jahren zu einer forschenden Disziplin (Schweppe/Thole, 2005) entwickelt hat. Sie stellt sich heute als eine Disziplin mit eigener empirischer Tradition dar, die forschungsmethodisch und methodologisch zu den anderen Sozialwissenschaften aufgeschlossen hat. Der Flirt mit der Handlungs- oder gar Aktionsforschung in den 1970er Jahren (u.a. Haag et al., 1972; Horn, 1979; Moser, 1975; Nagel, 1983; Schneider, 1980) gilt als eine Art Jugendsünde, an die man sich heute nur noch mit Scham erinnert. Zwar ist Partizipation in der akademischen Sozialen Arbeit durchaus ein Thema – aber als Postulat für die Praxis, und das heißt für die Praxis der professionellen Sozialpädagog*innen und Sozialarbeiter*innen im Kontakt mit den Adressat*innen, aber nicht für die Praxis der Forschenden. Wir möchten mit diesem Sonderheft die deutschsprachige Soziale Arbeit dazu anregen, sich mehr als bisher mit partizipativer Forschung auseinanderzusetzen. Wir sehen diese als eine bedeutende Strategie zur Demokratisierung von Wissenschaft in der Wissensgesellschaft und zugleich als eine aktuelle Herausforderung in der Organisation und den sozialen Prozessen von Forschung und Wissenschaft. Dabei liegt es uns fern, partizipative Forschung als neuen one best way zu propa- gieren. Weder vertreten wir die Position, dass Forschung in der Sozialen Arbeit hauptsächlich und überwiegend dem Modell partizipativer Forschung folgen sollte, noch möchten wir für eine bestimmte Form von partizipativer Forschung eintreten. Gleichwohl sehen wir die Forschung der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik vor der Herausforderung, ihre eigenen Positionierungen und Beteiligungsstrukturen kritisch zu reflektieren, sich der Anliegen und der persönlichen und zivilgesellschaftlichen Rechte der Personen, die durch eigene Betroffenheiten und ihre gelebte Erfahrung mit dem Gegenstand der Forschung verbunden sind, stärker zu vergewissern und ihnen neue Beteiligungsmöglichkeiten zu eröffnen. Diese Herausforderung gilt es, gerade für eine sich politisch verstehende Soziale Arbeit, die sich »einer Transformation des Bestehenden ›in befreiender Absicht‹ verpflichtet sieht« (Kessl/Maurer, 2012: 44), grundlegend zu bearbeiten – und das heißt: in epistemologischer, methodologischer, methodischer, forschungspraktischer und forschungsethischer Hinsicht. Wir betrachten partizipative Forschung als einen Diskurs, der diese Herausforderung annimmt und sich auf avancierte Weise mit ihr auseinandersetzt. Gleichzeitig 3 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung schätzen wir nicht alle Antworten, die dieser Diskurs bisher hervorgebracht hat, als überzeu- gend ein. Vor diesem Hintergrund plädieren wir auch für Akzentverschiebungen im Verständnis partizipativer Forschung. Entwickeln wollen wir ein solches Verständnis im Folgenden vor dem Hintergrund einer kritischen Reflexion der Forschungslandschaft im Feld der Sozialen Arbeit (Abschnitt 1), bevor wir in einem zweiten Schritt eine Arbeitsdefinition partizipativer Forschung für die Soziale Arbeit vorstellen. Der dritte Abschnitt nimmt eine systematische Begründung des Verhältnisses von Sozialer Arbeit und partizipativer Forschung über den Bildungsbegriff vor und das vierte Kapitel lotet die organisationalen Prämissen für die Gewährung eines derartigen Bildungs- und Forschungsraums aus. Im fünften Abschnitt wiederum wird partizipative Forschung in Verhältnis zu etablierteren Forschungsstrategien gesetzt und die Frage nach (veränderten) Gütekriterien diskutiert. Im nächsten Schritt werden dann dezidiert jene Akteur*innengruppen in den Blick genommen, deren stärkere Beteiligung das Kernanliegen partizipativer Forschung ist (Abschnitt 6). Dies führt abschließend zu einer Analyse spezifischer forschungsethischer Herausforderungen (Abschnitt 7). 1 Partizipative Forschung im Kontext der Forschungstradition Sozialer Arbeit Die Forschungsagenda der Sozialen Arbeit entwickelt sich heute vorwiegend selbstreferenziell aus den Theorie- und Methodendiskursen der Erziehungswissenschaft, Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit, in denen Hochschulen und Forschungseinrichtungen den Ton angeben. Die Forschungslandschaft – einschließlich ihrer Zentren und Peripherien – gestaltet sich im Zusam- menspiel zwischen den Diskursformationen und -fraktionen der akademischen Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit einerseits und den Strukturen und Präferenzen vorwiegend staatlicher, aber inzwischen auch vermehrt privater oder zivilgesellschaftlicher Forschungsförderung an- dererseits. Worüber geforscht wird, bestimmen die Expert*innen für Forschung und politische Entscheidungsträger*innen weitgehend unter sich. Zwar nehmen forschungsbezogene Koope- rationen mit der sogenannten Praxis und Transferorganisationen zu. Gewachsen ist auch der Anteil an Forschungsprojekten, die auf das professionelle Handeln in Organisationen bezogen sind und zugleich Personen, die als Professionelle in Organisationen handeln, in den Forschungs- prozess einbeziehen. Aber welche Rolle spielen die Erfahrungen, Anliegen und Interessen der Adressat*innen der Sozialen Arbeit in der Forschung der Sozialen Arbeit? Nach einer verbreiteten Lesart »wird davon ausgegangen, dass das sozialpädagogische For- schungsfeld anhand von drei ›Eckpunkten‹ aufgespannt werden kann: (1) den zuständigen Institutionen, (2) den in ihnen tätigen Professionellen bzw. beruflich oder ehrenamtlich Tätigen, sowie (3) den Adressatinnen und Adressaten« (Lüders/Rauschenbach, 2005: 564; zit. n. Sommer- feld, 2011: 1469; ähnlich: Flösser/Otto/Rauschenbach/Thole, 1998; kritisch: Sommerfeld, 2011; Oelerich, 2017). Seit den 2000er Jahren ist vor dem Hintergrund vorwiegend theoretischer Begründungen das Interesse an der »Nutzer*innenperspektive« (Oelerich/Schaarschuch, 2005; 2006; 2013) und der »Stimme der Adressat*innen« (Bitzan/Bolay/Thiersch, 2006; Graßhoff, 2008; 2013) gestiegen. Dies hat sich auch in entsprechenden Forschungsprogrammen niedergeschlagen. Adressat*innenforschung, Nutzer*innenforschung und Adressierungsforschung sind Ausdruck einer neuen Sensibilität für die oft unreflektiert bleibenden Prozesse der Konstituierung von Adressat*innen im Wechselspiel von Adressierung und Re-Adressierung unter den Bedingun- gen ungleicher Machtressourcen (Bitzan/Bolay, 2017: 37; Mesmer/Hitzler, 2007; Messmer, 2013). Mit Blick auf ihre theoretischen Begründungen, ihre (qualitativ-)methodische Umsetzung und ihren Ertrag für die Weiterentwicklung von Disziplin und Profession markieren viele Arbeiten, die diesem Forschungsstrang zuzurechnen sind, das Potenzial kritischer Forschung der Sozialen 4 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung Arbeit. Sie zeigen exemplarisch, dass und wie empirische Forschung dazu beitragen kann, die Soziale Arbeit über sich selbst aufzuklären – über ihre Befreiungs- (Oelerich, 2017) wie auch über ihre Fehler- und Schadenspotenziale – und die Reflexivität der sozialen Akteur*innen in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit zu steigern. Partizipative Forschung in der Sozialen Arbeit kann an diesen Bestrebungen ansetzen, ver- schiebt jedoch nochmals den Fokus. Die dominante Forschungstradition ist zwar geprägt von Forschungsdesigns, die Adressat*innen der Sozialen Arbeit – wo diese unter die Aufmerksamkeit der leitenden Forschungsfrage z.B. der qualitativen Forschung fallen – in ihrer Subjekthaftigkeit explizit respektieren und darauf achten, dass die Produktion der Daten und methodisch gesicherte Aussagen diese nicht nur würdigen, sondern zur Geltung bringen sollen. Sie öffnet ihnen aber häufig keinen systematischen Raum, um an Entscheidungsprozessen und Durchführungspraxen von Wissenschaft als machtvolle Akteur*innen der Wissensproduktion in unserer Gesellschaft zu partizipieren. Hier haben bspw. die Auftraggeber*innen und Organisationen innerhalb der Sozialen Arbeit sowie die politischen Organe mit ihren Ressourcen ganz andere Möglichkeiten, sich an der Themensetzung wie auch an der Durchführungspraxis von Wissenschaft zu beteiligen. Erinnert sei nur zum einen an die Evaluationsforschung und die Begleitforschung von Modellpro- jekten, zum anderen an die Forschungsprogramme des BMBF, der Bertelsmann Stiftung, Volks- wagenstiftung, Mercator etc. Insgesamt befindet sich die Mehrzahl der Forschung in der Sozialen Arbeit im Mainstream der Sozialwissenschaft, in der die Beforschten (z.B. Adressaten*innen) als eine Gruppe angesehen werden, die Daten ›liefert‹, aber in den Prozess ihrer Verarbeitung, Interpretation und Auswertung nicht einbezogen wird, bezogen auf den Forschungsprozess keine Stimme hat und keine Entscheidungsmacht besitzt. Dass Personen, über die geforscht wird, nicht an forschungsprozessbezogenen Entscheidungen mitwirken, geschieht nicht nur regelmäßig, sondern wird zugleich auch als Ausdruck regelgerech- ten Vorgehens im Forschungsprozess verstanden. Partizipative Forschung fordert diese Regeln methodologisch heraus. Mit ihren Anfragen kritisiert sie diese, will sie erweitern und übertritt sie mitunter. Sie wird daher von vielen als Provokation verstanden und von manchen als illegi- time Abweichung vom geltenden Kanon glaubwürdiger methodologischer Begründungen und zuverlässiger methodischer Vorgehensweisen abgelehnt. Solche Abwehrreaktionen haben auch die Konsequenz, dass klärende Diskussionen, die eigentlich dringend nötig wären, gar nicht erst stattfinden. 2 What the hell is partizipative Forschung? – Versuch einer Arbeitsdefinition Clifford Geertz' berühmte Frage »What the hell is going on here?« (s. Haberhauer u.a., 2017) der ethnografischen Forschung zur Herstellung einer Befremdung erscheint auch in der Betrachtung der partizipativen Forschung zunächst einmal notwendig. Sehr häufig wird das Verständnis von partizipativer Forschung kaum reflektiert, sondern vorausgesetzt, es gäbe eine geteilte Auffassung. Insgesamt betrachten wir den Begriff der partizipativen Forschung zunächst einmal als ein buzz- word, also als einen Begriff, mit dem verschiedene aktuelle und auch normative Konjunkturen gesammelt werden und der einen gewissen Trend setzt, ohne an sich schon Erklärungskraft zu besitzen. Dabei interessiert uns vor allem das Diskussionsfeld, das mit diesem Begriff eröffnet wird und das sich in den vergangenen Jahren grundlegend ausdifferenziert hat. Während in der wissenschaftlichen Debatte »partizipative Forschung« vielfach unmittelbar mit der sogenannten Aktionsforschung – oder der Action Research – gleichgesetzt wird, ist die gegenwärtige Ent- wicklung wesentlich vielschichtiger einzuschätzen. 5 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung In diesem Diskussionsfeld der »partizipativen Forschung« wird aktuell die Frage ausgehandelt, welche soziale Position und persönlichen sowie zivilgesellschaftlichen Rechte die Beforschten in Planung und Vollzug von Forschung haben. Dies umfasst die Klärung, an welchen sozialen Prozessen der Forschung sie aus welchen Gründen beteiligt werden, an welchen sie zu beteiligen sind bzw. beteiligt werden können und welche Rechte und Möglichkeiten sie in Bezug auf den Forschungsprozess und ihre Mitwirkung tatsächlich besitzen resp. welche ihnen garantiert oder wenigstens eröffnet werden müssten. Insgesamt ist die partizipative Forschung damit auch eine Verständigungsdiskussion im Rahmen der vielschichtigen Entgrenzungen von Wissenschaft, angesichts derer z.B. die Grenzen zwischen Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Zivilgesellschaft etc. neu ausgehandelt werden. Vor diesem Hintergrund plädieren wir für ein Verständnis von partizipativer Forschung, welches die reflektierte und machtsensible Gestaltung von Beteiligungs- und Entscheidungsstrukturen bei der Planung und Realisierung von Forschung in den Mittelpunkt rückt. Wir sehen es als zentral an, in der Forschungspraxis die Rechte, Entscheidungsspielräume, Anliegen und Interessen jener Personen, die durch eigene Betroffenheiten und ihre gelebte Erfahrung mit dem Gegenstand der Forschung verbunden sind, transparent zu klären und zu berücksichtigen. Zudem verstehen wir partizipative Forschung als Chance und Aufforderung, in transparenten Beteiligungsstrukturen mit diesen Personen neue Forschungsfragen zu generieren, ihnen zu ermöglichen, am Forschungs- prozess mitzuwirken und über forschungsprozessrelevante Fragen mitzuentscheiden: bspw. bei der Wahl von Forschungsthemen, Forschungsfragen und Methoden, bei der Datenerhebung, der Datenauswertung, der Darstellung von Forschungsergebnissen, ihrer Verbreitung in der (Fach-) Öffentlichkeit und ihrer Nutzung. Wir plädieren also in der folgenden Arbeitsdefinition bewusst für eine eher analytische Bestimmung partizipativer Forschung, die sich auf formale und über- prüfbare Kriterien abstützt. Wir sprechen von partizipativer Forschung, wenn folgende Bedingungen (gleichzeitig) erfüllt sind: – In einem Forschungsprozess wirken nicht nur Personen mit, die dem organisierten Wissen- schaftssystem angehören, sondern auch Personen, die diesem nicht angehören. – Die Beteiligten teilen sich wechselseitig ihre Anliegen und Interessen in Bezug auf die For- schung, deren Themen und Fragezusammenhänge sowie über ihre Absichten hinsichtlich der Verbreitung und Nutzung der Ergebnisse mit und stellen diese zur Disposition. – Es wird systematisch Auskunft darüber gegeben, wer an welchen forschungsbezogenen Entscheidungen beteiligt ist und wer in Bezug auf welche Entscheidungen welche Entschei- dungsmacht besitzt. Die Rechte und Rollen aller Forschungsbeteiligten in Bezug auf den Prozess und die Ergebnisse der Forschung sind transparent geklärt. Die Bedingung der Möglichkeit der Beteiligung von Personen, die nicht der organisierten Wissenschaft angehören, ist, dass methodologisch, methodisch und sozial eine Forschungspraxis entwickelt wird, die eine solche Partizipation möglich macht. Indem diese Bedingungen erfüllt werden, entstehen neue Gelegenheiten, Forschung von einer expertokratischen Praxis in eine kommunikative Praxis zu überführen und sie demokratisch zu transformieren. Es wird umfassend darüber gestritten, wie die Wissenschaft intensiver mit der Wirtschaft und ökonomisch mit Betrieben und Konzernen kooperieren kann oder wie die Transferforschung neu auszurichten ist. Jedoch gibt es vergleichsweise wenig Diskussionen dazu, wie sich Men- schen, die kaum über Ressourcen verfügen, um sich wissenschaftliche Methoden zu erkaufen, oder kein entsprechendes soziales, kulturelles etc. Kapital besitzen, um auf ihre persönlichen und zivilgesellschaftlichen Rechte hinzuweisen, an der Wissenschaftsproduktion und an der wir- kungsmächtigen Aufbereitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen beteiligen können. Damit reproduziert das Wissenschaftssystem soziale Ungleichheit. Ein Blick in die unterschiedlichen »Spielarten« der partizipativen Forschung zeigt indes, dass keineswegs geklärt ist, wie diese Be- 6 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung teiligung zu organisieren ist, und dass dazu bislang auch kein geteiltes Verständnis vorliegt. Ohne eine Vollständigkeit in Anspruch nehmen zu wollen, soll dies durch die folgenden Ausführungen verdeutlicht werden. Einen wichtigen Bezugspunkt bildet die klassische Aktionsforschung oder Action Research. Es ist das charakteristische Merkmal der Ansätze der Action Research, dass hier Forschung als eine Veränderungspraxis von konkreten sozialen Prozessen verstanden wird. Der Fokus liegt somit auf einer von den Beteiligten wahrnehmbaren Verbesserung sozialer Zusammenhänge. Die sich aus der Action Research ergebende Entwicklung hin zur Participatory Action Research (z.B. Healy, 2001; von Unger, 2017) hingegen rekurriert zunächst auf die Rechte und die soziale Posi- tion der Beforschten im Forschungsprozess. Dies mag mitunter nur als eine Akzentverschiebung angesehen werden, ist aber für die gegenwärtige Diskussion von grundlegender Bedeutung, denn die partizipative Forschung verpflichtet sich zunächst nicht primär dazu, soziale Veränderung außerhalb der Wissenschaft herbeiführen zu können, sondern fragt nach den Organisationsfor- men und sozialen Prozessen der Wissenschaft selbst und ihrer Praxis. Hierbei geht es wiederum darum, die Fragen der partizipativen Forschung nach den Rechten und sozialen Positionen der Beforschten aufnehmen zu können. Ähnlich scheint die Verwandtschaft mit der sogenannten Praxis- und Handlungsforschung zu sein. Auch hier geht es zunächst in erster Linie nicht um die Rechte und Positionen der Be- forschten, sondern darum, wie die Forschung reflektiert, dass sie selbst Teil und Problem sozialer Handlungen und Prozesse ist und diesen nicht entkommen kann. Als Herausforderung wird angesehen, wie Forschung als Teil sozialpädagogischer Handlungsvollzüge überhaupt mit ihren Ansprüchen und Gütekriterien gelingen kann und wie sie ihre Möglichkeiten als Forschung – z.B. in der »Handlungspausenforschung« (vgl. Richter in diesem Sonderheft) – auch für die Demokratisierung von Gesellschaft nutzen kann. Auch hier nehmen neuere Diskussionen stärker auf die Rechte und Positionen der Beforschten Bezug. Gleichwohl liegt der Bezug vergleichbar mit der Aktionsforschung auf der Frage, welche Rolle Wissenschaft in der Gestaltung sozialer Handlungen hat – insbesondere dann, wenn sie sich auch noch als Ausbildungswissenschaft ver- steht (vgl. Lüders, 1989; 2004). In normativer Perspektive schließt an die Handlungsforschung das anspruchsvolle Versprechen einer »emanzipatorischen Forschung« an. Bei aller Unterschiedlichkeit der Zugänge nimmt »partizipative Forschung« den kritischen Impuls der Aktions- und Handlungsforschung wieder auf und bezieht diesen reflexiv auf die Forschung selbst. Zu der hieraus resultierenden Reflexivität gehört selbstverständlich auch, dass die Implikationen der Forschung für die soziale Wirklichkeit, in der sie situiert ist, selbst zum Verhandlungsgegenstand der unterschiedlichen Prozessbeteiligten werden – zumal wir weiter unten noch ausführen werden, dass sich die Positionierung von Adressat*innen im Forschungs- kontext durch hohe individuelle Betroffenheit und Vulnerabilität auszeichnet. Betrachtet man ausgehend von diesem Verständnis das weite Feld partizipativer Forschung, so lassen sich durchaus Abgrenzungen vornehmen. Wird dann das Diskussionsfeld über diese schon fast klassisch zu nennenden Ansätze geöffnet, wird der Fokus der aktuellen Spielarten schon in den Begriffen offensichtlich. So wird einmal von dem user involvement in Evaluations- und Forschungsprozessen gesprochen, während weitergehende Ansätze von einer user-led research (Beresford, 2002; Pelletier et al., 2011; Rose, 2015) ausgehen. Oder es wird mit dem Begriff der »inklusiven Forschung« (vgl. Buchner/Koenig/ Schuppener, 2016) darauf hingewiesen, dass die Rechte und soziale Teilhabe unterschiedlicher Personen in der Forschung die Benachteiligungsgruppen und Besonderungen in anderen gesell- schaftlichen Bereichen reproduzieren. Schließlich wird mit dem Begriff citizen science (Finke, 2014) hervorgehoben, dass Personen jenseits der organisierten Wissenschaft über vielfältiges wissenschaftlich relevantes Wissen verfügen und die Wissenschaft selbst Ressourcen übergeht, wenn sie dieses Wissen und diese Positionen nicht einbezieht sowie nicht anerkennt. 7 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung Gleichzeitig steht etwa nicht jeder Prozess sogenannter »kooperativer Forschung« oder »Trans- ferforschung« im Kontext der Klärung der Rechte und Positionen der Beforschten im Forschungs- prozess. Um im engeren Sinne als partizipative Forschung bezeichnet werden zu können, muss diese Klärung jeweils im Forschungsprozess herbeigeführt und reflektiert werden, inwieweit die Rechte und Positionen der Beforschten insbesondere in den Entscheidungsprozessen gestärkt oder transparenter gemacht werden können (vgl. Heeg/Schaffner/Steiner in diesem Sonderheft). 3 Partizipative Forschung und Soziale Arbeit: eine bildungstheo- retische Verhältnisbestimmung Was sind also die Chancen und Potenziale, die eine partizipative Forschung in sich trägt, die der Arbeitsdefinition folgt, wie sie soeben vorgestellt wurde? Partizipative Forschung scheint uns, insbesondere auf dem Feld der Sozialen Arbeit, eine Forschungsstrategie mit hohem Potenzial zu sein, insofern sie Beiträge leisten kann – zum Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und zur Schließung sozialer gaps zwischen der akademischen Sozialen Arbeit, der praktischen Sozialen Arbeit und den Adressat*innen der Sozialen Arbeit. – zur Politisierung von Ungleichheitsstrukturen, zur Förderung gesellschaftlicher Transforma- tionsprozesse, zur kritischen Reflexion von Machtprozessen in der Wissensgesellschaft und nicht zuletzt in diesem Kontext zur Demokratisierung von Wissenschaft. – zur Eröffnung von Bildungsgelegenheiten für die am Forschungsprozess Beteiligten in der Perspektive einer nicht nur beschreibenden, sondern auch im engeren Sinne sozialpädago- gischen Forschung. – zur Klärung forschungsethischer und zivilgesellschaftlicher Herausforderungen in der Wis- sensgesellschaft sowie der persönlichen Rechte von Menschen, die in Forschungsprozesse einbezogen werden. In diesen Punkten deutet sich eine Art innerer Kohärenz zwischen Sozialer Arbeit und partizi- pativer Forschung an, die sich auch mit Blick auf das verwendete Methodenrepertoire zeigt. So werden in den Forschungsprozessen vielfach auch Methoden z.B. zur Klärung des gemeinsamen Anliegens gewählt, die traditionell mehr im Kontext der Praxis der Sozialen Arbeit zum Einsatz kommen als in sozialwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen (World-Café, Fishbowl, Photovoice etc.) (vgl. z.B. von Unger, 2014). Deren Reaktivität scheint mitunter geeigneter als kanonisierte Methoden der quantitativen oder qualitativen Sozialforschung, denen eine stärkere Differenz zwischen Forschenden und Beforschten eingeschrieben ist. Dies deutet bereits eine mögliche »Wahlverwandtschaft« zwischen Sozialpädagogik bzw. Sozialer Arbeit sowie partizi- pativer Forschung an. Diese Wahlverwandtschaft – so wäre zumindest unsere These – liegt darin begründet, dass beide »Bildung« zum zentralen Medium ihrer Praxis machen. Zudem auch die Bildungsdiskussion in der Sozialen Arbeit aus der partizipativen Forschung die Herausforderung entnehmen kann, die persönlichen und zivilgesellschaftlichen Rechte der am Bildungsprozess Beteiligten und die strukturellen Machtasymmetrien systematisch zu reflektieren. In der partizipativen Forschung versteckt sich die Bildungsdimension in aller Regel durch den Rekurs auf Ansätze des »Empowerments« (Evans/Jones, 2004; Wright et al., 2010) der Betroffenen sowie einer prozessualen Entwicklung von Methodologie und Gegenstand der Forschung (siehe auch den Beitrag von Sitter in diesem Sonderheft). Forschung würde in diesem Zusammenhang nicht nur summativ und objektivistisch der Vermehrung von Wissen dienen, sondern auf wech- selseitigen Bildungsprozessen beruhen, wie etwa im Rahmen der Handlungspausenforschung systematisch angelegt (Richter et al., 2003). Zwischen den unterschiedlichen Gruppen von For- schenden und ihrem Gegenstand als gemeinsamem Dritten, das auch wiederum erst im Zuge der 8 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung Forschung gefunden werden muss, wird ein Bildungsprozess initiiert. So sind im gemeinsamen Forschen – und den darin eingelagerten Potenzialen des Gelingens und Scheiterns – unweigerlich Veränderungen der beteiligten Forschenden sowie deren Umfeld angelegt. Es können sich also (Selbst-)Bildungsprozesse im Sinne transformatorischer Bildungstheorien (z.B. Marotzki, 1990) vollziehen, die sich (im förderlichen wie im hinderlichen Sinne) auf die Handlungsfähigkeit aller Beteiligten auswirken. In der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit hingegen ist der Bildungsgedanke expliziter zu finden und historisch tief verwurzelt (Sting/Sturzenhecker, 2005; Dollinger, 2006; Dollinger et al., 2010) – und das nicht erst seit Natorps Definition von Sozialpädagogik als Theorie der »sozialen Bedingungen der Bildung und [der] Bildungsbedingungen des sozialen Lebens« (Natorp, 1894: 62 f.). An dessen epochaler Bestimmung lassen sich jedoch zwei grundlegende Aspekte eines sozialpädagogischen Bildungsverständnisses prototypisch ablesen, die auch im Zusammenhang mit partizipativer Forschung zentral sind. Zunächst ist jede Bildung sozial und es ist die Aufgabe von Sozialer Arbeit, die in konkreten Gesellschaften sich für Einzelne ergebenden Bildungsgele- genheiten nicht nur zu erforschen, sondern auch zu verändern. Sozialpädagogik habe, so lässt sich auch in Bezug auf Carl Mennicke als einem weiteren Klassiker der Sozialpädagogik formu- lieren, »die Aufforderung der kapitalistischen Moderne aufzunehmen und selbst pädagogische Soziokulturen zu schaffen, in denen der Mensch selbst aus seinen Lebensverhältnissen heraus einen Sinn an einer sozialen Teilnahme finden kann« (Schröer, 1999: 210). Insbesondere korreliert hier einerseits ein sozialpädagogischer Bildungsanspruch mit Commu- nity-basierten Ansätzen in der partizipativen Forschung (von Unger, 2014: 27 ff.), die auf eine Entwicklung von Solidarität durch die Ermöglichung von zivilgesellschaftlichen Gesellungsformen zielen. Dieser Entwicklungsaspekt wird andererseits auch von jenen Ansätzen in den Mittelpunkt gestellt, die sich in der Tradition der Participatory Action Research verorten und die davon aus- gehen, dass Wissenschaft nicht nur der Verbesserung von Lebensbedingungen zu dienen habe, sondern an dieser Verbesserung auch aktiv mitzuarbeiten habe (ebd.: 13 ff.). Der Anspruch partizipativer Forschung, die soziale Wirklichkeit zu verändern (selbst da, wo es sich um Grundlagenforschung handelt), lässt sich jedoch noch systematischer und grundle- gender über ihr Wissenschaftsverständnis begründen. Dieses arbeitet sich, wie auch die quali- tative Forschung, kritisch am Ideal objektivistischer Methodologien ab, die darauf zielen, eine unabhängig von Forschung gegebene Realität so zu beforschen, dass diese durch die Forschung selbst möglichst wenig verändert wird. Dem entgegen betont die partizipative Forschung die notwendige Situiertheit und Perspektivität der an Forschung beteiligten Personen und Gruppen (hierzu aus feministischer Perspektive: Haraway, 1988). Sie sieht dies nicht als Nachteil, sondern als Potenzial, das im Sinne einer multiperspektivischen Generierung von Erkenntnis genutzt werden kann und soll. Die Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse ist somit an kollektive Bildungsprozesse geknüpft. Dies betont die gemeinsame demokratietheoretische Bestimmung von Sozialer Arbeit und partizipativer Forschung. Während Soziale Arbeit als Antwort auf die »sozialpädagogische Verlegenheit der Moderne« (Carl Mennicke) Räume zur gesellschaftlichen Integration schafft, die den kapitalistischen Fliehkräften entgegenwirken, arbeitet auch partizipative Forschung als people’s science ihrem Anspruch nach auf eine Demokratisierung von Wissenschaft hin. Dies führt zu einem weiteren systematischen Zusammenhang von sozialpädagogischem Bil- dungsanspruch und den Intentionen partizipativer Forschung. Im Zuge der Lebensweltorientie- rung (Thiersch, 1995) wurde seit den 1970ern in der Sozialen Arbeit eine expertokratische Haltung kritisiert. Dem entgegen wurde der Respekt vor der Dignität des Alltags der Adressat*innen Sozialer Arbeit in den Mittelpunkt gestellt, der die Praxis Sozialer Arbeit als wechselseitige Bil- dungsprozesse zwischen den Beteiligten begreifen lässt. In ähnlicher Weise fordert partizipative 9 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung Forschung Wissenschaft auf, die akademische Expertokratie der Wissensproduktion gegenüber den Rechten und Erfahrungswelten der Betroffenen zu öffnen und diese organisational in den Forschungsprozessen stärker transparent einzubeziehen sowie sie mit Entscheidungsmacht auszustatten. Zudem werden in der Debatte um partizipative Forschung auch der wechselseitige Respekt und die Möglichkeit gemeinsamer Bildungsprozesse zwischen beruflicher Praxis und Laienpra- xis postuliert. Und dies – und damit wären wir wieder zurück am Anfang – erfordert auch die Entwicklung von Methoden, die einem solchen dialogischen Prinzip folgen und deren Ursprünge vielfach in der Praxis der Sozialen Arbeit liegen. Dabei nimmt die Diskussion um die partizipa- tive Forschung aber stärker die persönlichen und zivilgesellschaftlichen Rechte der Betroffenen sowie die strukturellen Machtasymmetrien im Forschungsprozess in den Blick und fordert auch die sozialpädagogische Bildungsdiskussion heraus, sich in ihren Zugängen diesbezüglich zu ver- gewissern. Hier gilt es, auch in der Sozialen Arbeit an Diskurse anzuknüpfen, die mit der Formel »von den Klient*innen zu Bürger*innen« (vgl. Keupp, 1996) oder gegenwärtig im Kontext der Entwicklung von Schutzkonzepten gegenüber sexualisierter Gewalt geführt werden (Domann/ Oppermann/Rusack, 2019). Eine bildungstheoretische Fundierung verweist also auf Herausforderungen und Ambivalen- zen, welche die Soziale Arbeit ebenso wie die Diskussion um partizipative Forschung betrifft. Die Referenz auf den Bildungsbegriff kann zu einer Umkehrung der Ziele von Sozialer Arbeit ebenso wie von partizipativer Forschung führen. Der Anspruch der Bildung darf folglich nicht (wieder) zu einer unidirektionalen Pädagogisierung des Verhältnisses von Sozialarbeiter*innen zu Adressat*innen bzw. von akademisch zu nicht akademisch Forschenden führen. Gemeint ist nicht, dass die einen die anderen bilden, sondern dass sich Wissenschaft – ebenso wie Soziale Arbeit – im Medium wechselseitiger Bildungsprozesse versteht und die hierfür nötigen Räume sichert. Dies erfordert auch eine entsprechende organisationale Rahmung, die wir im folgenden Abschnitt diskutieren wollen. 4 Organisationsformen partizipativer Forschung Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, dass partizipative Forschung keine eigene empi- rische Methode ist, über die Daten zur sozialen Konstruktion von Wirklichkeit in einer spezifi- schen Verfahrensweise erhoben und ausgewertet werden. Vielmehr fordert die Diskussion um partizipative Forschung die Organisationsformen von Wissenschaft mit dem Anspruch heraus, wissenschaftliches Arbeiten zu demokratisieren und zivilgesellschaftlich zu öffnen, die persön- lichen und zivilgesellschaftlichen Rechte der betroffenen Menschen in der Organisation von Menschen zu einem zentralen Ausgangspunkt zu nehmen. Es soll im Kontext der Entgrenzung von Wissenschaft ausgelotet und transparent gemacht werden, wie die Rechte der Menschen in der Forschung gestärkt werden können, inwieweit ihnen die Mittel der wissenschaftlichen Wissensproduktion zur Klärung ihrer Positionen zur Verfügung gestellt werden können und wie denjenigen ein beteiligungsorientierter Zugang zu dieser Wissensproduktion eröffnet werden kann, die selbst zum »Gegenstand« von Wissenschaft werden oder geworden sind. Mit dieser Perspektive wird deutlich, dass partizipative Forschung nicht einfach »kontextlos« in den gängigen Organisationsformen von Wissenschaft durchgeführt werden kann. Sie ist – wie man mit Ulrich Beck (1988) sagen könnte – ein organisationales »Gegengift«, um bestimmte Immunisierungen gegenüber denjenigen, die beforscht werden, zu vermeiden und ihnen eine Stimme im Forschungsprozess zu geben. Doch dieser Minimalanspruch verweist bereits auf die organisationale Herausforderung partizipativer Forschung in der Wissenschaft. 10 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung Zunächst kann festgehalten werden, dass die aktuellen Organisationsformen von Wissenschaft, von der Forschungsförderung über die wissenschaftlichen Anerkennungsrituale, die Rekrutie- rung und Ausbildung neuer Wissenschaftler*innen und die alltäglichen Gütekriterien partizi- pationsabgewandt sind und sich eher dagegen neutralisieren als öffnen. Bereits vor mehr als dreißig Jahren fragte Clifford Geertz (1987), wie sich »fremde Kulturen« in wissenschaftlichen Darstellungen angemessen repräsentieren lassen. Dabei, so Forster (2014), bezieht sich Geertz auf die »wissenschaftliche Praxis der Erkenntnisgewinnung und der damit verbundenen Bedeu- tungsproduktion. Diese Momente tangieren nicht nur das Verhältnis von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, sondern auch das Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem, die durch kategoriale, begriffliche und rhetorische Voraussetzungen auseinanderfallen. Damit ist die Gefahr verbunden, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Ich und dem anderen eine Differenz zu essentialisieren, und eine Asymmetrie einzuführen, die reale Machtverhältnisse wiederspiegelt« (Forster, 2014: 592). Gegenwärtig werden diese Differenzen im Kontext der Entgrenzungen von Wissenschaft mitunter noch verstärkt, während es aus unserer Sicht darauf ankäme, sie unter Einbezug wissenschaftlicher Gütekriterien mit den unterschiedlichen Beteiligten und ihren je- weiligen Interessenlagen – auch in der Perspektive eines Machtausgleichs – auszuhandeln und transparent zu bestimmen. Demokratietheoretische Überlegungen in der Wissenschaft fordern somit eine organisationale Selbstreflexivität heraus, die Grundannahmen und Setzungen – Naturalisierungen – des wissen- schaftlichen Organisationsgefüges zu hinterfragen. Es werden die strukturellen Machtasymme- trien in der Wissensproduktion thematisiert, die bis in die alltäglichen Organisationsstrukturen und Interaktionen reichen (vgl. dazu auch den Beitrag von Rein/Mangold in diesem Sonderheft). So stehen Forschende in der Gefahr, aufgrund ihrer wissenschaftlichen Sozialisation und organi- sationalen Position die Partizipation der Akteur*innen vor Ort einzig als Denkkategorie und als Informationsquelle zu verstehen, nicht aber praktisch z.B. Machtausgleich zu organisieren und partizipatorische Entscheidungsprozesse entsprechend institutionell abzusichern (vgl. Graßhoff/ Homfeldt/Schröer, 2016). Im Rahmen der politischen Diskussionen um eine zivilgesellschaftliche Öffnung des instituti- onellen Gefüges in der parlamentarischen Demokratie in Deutschland, die insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren geführt wurden, ist einerseits auffällig, dass die Organisationsformen der Wissenschaft nur am Rande einbezogen wurden und sich kaum eine breite Debatte z.B. um peoples oder citizen science herausgebildet hat. Andererseits fällt auf, dass sich die wenigen Projekte kaum in der Wissenschaftslandschaft durchsetzen konnten und zu keiner umfassenden Organisations- und Methodendiskussion geführt haben. Demgegenüber wurde eine methoden- orientierte Wissensproduktion organisational begründet, die allein durch die Verfahren und Organisationsformen der wissenschaftlichen Gemeinschaft selbst kontrolliert wird. In diesem Kontext wurde aber kaum diskutiert, wie die wissenschaftlichen Organisationsformen in einer Demokratie, der sie die Unabhängigkeit und Autonomie verdanken, zivilgesellschaftlich zu fundieren sind und welche organisationalen Konsequenzen sich daraus ergeben. Man kann das Verhältnis von Demokratie und Zivilgesellschaft – auch für die Wissenschaft – auf folgen- den einfachen Nenner bringen: Nicht jede Wissenschaftsorganisation in einer Demokratie sieht sich in zivilgesellschaftliche Aushandlungsprozesse eingebunden und diesen verpflichtet, aber eine konsequent zivilgesellschaftlich eingebundene Wissenschaftsorganisation ist nur in einer Demokratie denkbar. Gerade in der Gegenwart, in der das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft zumindest in einigen rechtspopulistischen Kreisen angefragt wird, erscheint diese Klärung von grundlegender Bedeutung. Soweit aber die Wissenschaftsorganisation zivilgesellschaftlich weiter fundiert werden soll, müssen – so kann in Anlehnung an Axel Honneth (1992) formuliert werden – folgende Punkte 11 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung beachtet werden: Erstens muss gezeigt und demokratietheoretisch normativ legitimiert werden, wie innerhalb der Wissenschaftsorganisation unserer Demokratie die persönlichen und zivilgesell- schaftlichen Rechte und politische Teilhabe verstärkt werden können. Dann gilt es zweitens, die institutionellen und motivationalen Ressourcen für eine weitere Demokratisierung darzulegen, und vor allem drittens, einen machttheoretischen Realismus einzuführen, durch den schließlich eine sozioökonomische Überprüfung der Konzepte eingefordert wird. Legt man diesen Anfrage- katalog zugrunde und sieht das weite Feld der Forderungen und sozialphilosophischen Traditionen in der zivilgesellschaftlichen Diskussion, so wird deutlich, dass die Ansätze der partizipativen Forschung noch kaum organisations- und demokratietheoretisch fundiert sind. Partizipative Forschung bedarf entsprechend, im Gegensatz zu einer nomothetisch ausgerich- teten Forschung, einer zivilgesellschaftlich aufgeschlossenen Organisationsstruktur, die an den Rechten und Positionen der sog. Beforschten und an einem Mehr an sozialer und politischer Teilhabe in der Wissenschaftsproduktion interessiert ist. Hier gilt es, eine Diskussion darüber zu führen, wie die Entwicklung ›von den Beforschten zu Bürger*innen im Forschungsprozess‹ gelingen kann. Gerade in der Sozialen Arbeit wird deutlich, dass für die Teilhabe von Bevölke- rungsgruppen, die durch soziale Benachteiligungen und Ausgrenzungen betroffen sind, auch ein neues Sprechen mit den Menschen entwickelt werden muss – in einer Sprache, die es erlaubt, die strukturellen Machtasymmetrien zu reflektieren und zu bearbeiten, ohne sie gleichzeitig zu reproduzieren. 5 Herausgeforderte Wissenschaft – Gütekriterien? Wissenschaftliche Forschung ist ein Prozess der Hervorbringung von Wissen, welches Geltung beanspruchen kann. Der Geltungsanspruch bemisst sich nicht an den Ergebnissen (dies wäre Dogmatismus), sondern am Prozess ihrer Hervorbringung. Als Mindestanforderungen an einen Forschungsprozess mit Aussicht auf Geltungsanspruch können genannt werden: Der zu den Ergebnissen führende Forschungsprozess bezieht vorhandenes wissenschaftliches Wissen ein; er ist theoriegeleitet und methodisch kontrolliert; die zu den Ergebnissen führenden Schritte sind transparent dokumentiert und nachvollziehbar begründet. Partizipative Forschung ist keine Forschungsmethode, sondern vielmehr ein Sammelbegriff für Forschungsstrategien und eine Bezeichnung für einen Forschungsstil (Bergold/Thomas, 2012: § 2). Hinsichtlich ihrer Gütekriterien reklamiert die partizipative Forschung daher keinen Sonder- status. Vielmehr orientiert sie sich am jeweils erreichten Stand des wissenschaftlichen Diskurses zur Geltungsbegründung wissenschaftlicher Aussagen. Im Kontext der Auseinandersetzungen um die Anerkennung des qualitativen Paradigmas wurde seit den 1990er Jahren die Frage nach den Gütekriterien von Forschung intensiv und kontrovers diskutiert. Im Zuge dieser Diskussionen haben Fragen der Gegenstandsangemessenheit von Methoden (Relationalität), der Gestaltung des Forschungsprozesses (Prozeduralität), der Kon- textualität von Forschung (z. B. die Situiertheit der Datenerhebung) und Fragen der Darstellung von Vorgehensweisen, Daten und Schlussfolgerungen an Bedeutung gewonnen. Unter anderem wurden Begriffe der prozeduralen Reliabilität, der prozeduralen Validität, der Triangulation und der kommunikativen Validierung in die Diskussion eingeführt (vgl. Flick, 1995). Aus unserer Sicht wäre es fatal, würde die partizipative Forschung hinter das methodologische Reflexionsni- veau und den Stand der Diskussion um Gütekriterien wissenschaftlicher Forschung, wie er im Kontext der Etablierung des qualitativen Paradigmas erreicht wurde, zurückfallen. Viele der in diesem Zusammenhang entwickelten Reflexionen, Einsichten, Forschungskonzeptionen und -stile können verstanden werden als Versuche, methodisch-methodologische Antworten auf das zu geben, was Denzin und Lincoln (1994/2005) als dreifache Krise der qualitativen Forschung 12 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung konstatiert haben: als Krise der Repräsentation (»qualitative researchers can no longer directly capture lived experience«), als Krise der Legitimation (Was sind die Gütekriterien qualitativer Forschung vor dem Hintergrund poststrukturalistischer, konstruktivistischer und feministischer Theorie?) und einer Krise der Praxis (»Is it possible to effect change in the world, if society is only and always a text?«) (ebd.: 20). Partizipative Forschung kann in einigen zentralen Aspekten als eine Antwort auf diese dreifa- che Krise verstanden werden. Damit soll freilich nicht gesagt sein, dass partizipative Forschung per se dem qualitativen Paradigma zuzuordnen ist, denn es kommen genauso quantitative Me- thoden in Projekten partizipativer Forschung zum Einsatz. Ist dies der Fall, dann kann erwartet werden, dass sich die Forschenden an den jeweiligen methodenspezifischen Verfahrensregeln und Gütekriterien orientieren. Auch für die partizipative Forschung gilt die Verpflichtung auf die Grundsätze der Methodenvielfalt und die Gegenstandsangemessenheit von Methoden. Das primäre Unterscheidungsmerkmal partizipativer Forschung liegt nicht in der Selektivität, mit der sie Methoden der empirischen Sozialforschung heranzieht, sondern in der demokratischen Organisationsstruktur und der Transparenz in Bezug auf Rechte und die Teilhabe an Entschei- dungen über Themen, Fragestellungen, Methoden, Ergebnisse und Formen der Veröffentlichung von Forschung. Im Mittelpunkt steht hierbei, dass die Beteiligung von Akteur*innen, die nicht der organisierten Wissenschaft angehören, am Forschungsprozess reflektiert, ihre persönlichen und zivilgesellschaftlichen Rechte gestärkt und (etwa im Falle von Adressat*innen Sozialer Arbeit) die strukturellen Machtasymmetrien nach Möglichkeit bearbeitet werden. Daraus folgt, dass sich der Diskurs um Gütekriterien partizipativer Forschung vor allem auf folgende Themen konzentriert: – die organisationale Gestaltung von Forschungsprozessen; – Fragen der Rechte, Anliegen und Beteiligung jener Akteur*innen, die primär eine auf eigenen Lebenserfahrungen basierende Expertise in ein Projekt partizipativer Forschung einbringen und deren Mitwirkung am Forschungsprozess nicht in Ausübung einer Professions- und Funktionsrolle des Wissenschaftssystems geschieht; – Fragen der Darstellung von Daten, Vorgehensweisen und Schlussfolgerungen und wer daran in welcher Weise beteiligt ist. Hinsichtlich der methodologischen Grundfragen wird der Diskurs an dem anknüpfen, was unter den Leitthemen der Relationalität, Prozeduralität, Kontextualität und der Darstellung von Vorgehensweisen, Daten und Schlussfolgerungen an methodologischen Einsichten und Plausibilität ausgearbeitet worden ist (siehe dazu auch den Beitrag von Heeg/Schaffner/Steiner in diesem Sonderheft). 6 Akteur*innen der partizipativen Forschung in der Sozialen Arbeit und ihre Beziehungen Bei den Beteiligten partizipativer Forschung in der Sozialen Arbeit handelt es sich in der Re- gel um Wissenschaftler*innen, professionelle Praktiker*innen und/oder Adressat*innen bzw. Nutzer*innen von Angeboten der Sozialen Arbeit (vgl. Unger, 2014: 37). Trotz dieses relativ scharf umrissenen Personenkreises entstehen in partizipativen Forschungsprojekten in der Sozialen Arbeit meist sehr heterogen zusammengesetzte Forschungsteams. So repräsentieren Wissenschaftler*innen unterschiedliche Disziplinen, vertreten Praktiker*innen unterschied- liche Professionen, Institutionen und Funktionsstufen oder bringen die Adressat*innen bzw. Nutzer*innen unterschiedliche Erfahrungen aus unterschiedlichen Institutionen mit (vgl. Unger, 2014: 2). Darüber hinaus variieren die Akteur*innen meist hinsichtlich ihrer fachlichen bzw. per- sönlichen Interessen und Ziele sowie auch (rollen- und personenübergreifend) hinsichtlich der 13 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung verschiedensten Differenzkategorien wie Alter, Geschlecht, Bildungshintergrund, Migrationser- fahrungen u.v.m. Um die Vielfältigkeit und Heterogenität partizipativer Forschungsprojekte zu verdeutlichen, seien an dieser Stelle exemplarisch einige aktuelle Studien im Feld der Sozialen Arbeit erwähnt, die zum Teil auch Gegenstand der in diesem Heft versammelten Beiträge sind: – Das Projekt »Hiergeblieben« (2017-2019) wurde von Wissenschaftler*innen der Fachhoch- schule St. Gallen (FHSG) und Fachpersonen aus der Linzgau Kinder- und Jugendhilfe e.V. sowie der Einrichtung Rückenwind für Familien e.V. initiiert. Es interessiert sich für neue Formen und Möglichkeiten der Begleitung, Unterstützung und Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten in Deutschland. Im Projekt explorieren die Wissenschaftler*innen und Fachpersonen gemeinsam mit den betroffenen jungen Menschen deren Lebenswelten, Wünsche und Vorstellungen, um zusammen alternative Konzepte und Angebote zu entwickeln, zu erproben und zu evaluieren1. – Im Projekt »AnNet: Angehörigennetzwerk« haben Wissenschaftler*innen der Universität Hildesheim gemeinsam mit Müttern und Partnerinnen von Personen mit problematischem Konsum von Alkohol oder illegalen Drogen von 2015 bis 2017 untersucht, wie es Angehörigen von Personen mit einem solchen Konsumverhalten geht, welche Unterstützungssysteme ihnen zur Verfügung stehen bzw. von ihnen genutzt werden und welche Themen und Probleme ihren Alltag prägen2. – Von 2016 bis 2018 haben Wissenschaftler*innen der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) und der MedienFalleBasel im Projekt »Generation Smartphone« gemeinsam mit Jugendlichen die Smartphone-Nutzung von Jugendlichen erforscht3. – Im Projekt »Care Leaver erforschen Leaving Care« (2017-2020) untersuchen Wissen- schaftler*innen der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) derzeit zusammen mit sogenannten Care Leavern und Unterstützungspersonen Herausforderungen, Unterstüt- zungsbedarfe sowie informelle und formelle Unterstützungsangebote im Übergang ins Er- wachsenenalter, mit dem Ziel der bedarfsgerechten und innovativen Angebotsentwicklung in diesem Bereich4. – Wissenschaftler*innen der Universität Hildesheim analysieren im Projekt »Kinder als INKlusi- onsAkteure« (2017-2020) gemeinsam mit Kindern in inklusiven pädagogischen Einrichtungen, wie Kinder in diesen Settings Zugehörigkeitsarbeit leisten und wie sie diese wahrnehmen5. Die Heterogenität der Beteiligten an partizipativen Forschungsprojekten prägt wesentlich die Beziehungen, die in diesen Forschungskontexten entstehen und gestaltet werden müssen. Das partizipative Forschen steht dem Bild eines »akademischen Unternehmens« entgegen (von Unger/Narimani, 2012: 11). Es ist Teilhabe und In-Beziehung-Treten in vielfältigen Formen und auf unterschiedlichen Ebenen. Wissenschaftler*innen nehmen teil und werden Teil der sozialen Bezüge, der Lebens- und Praxiswelten der Co-Forschenden, welche wiederum am Forschungs- prozess partizipieren, ihn bereichern, irritieren und zuweilen auch stören (vgl. von Unger, 2014: 43). In den Zusammenarbeits- und Wirkungskontexten entstehen Beziehungen und Vertrauen, die gerade in der Sozialen Arbeit, die es auch mit vulnerablen, benachteiligten, belasteten und/ oder marginalisierten Akteur*innen zu tun hat, immer auch in Abhängigkeits- und Machtver- hältnisse eingebunden sind. Damit sind unterschiedliche (forschungs-)ethische An- und Her- 1 Projekthomepage: https://www.fhsg.ch/fhs.nsf/de/ifsa-bildung-und-aufwachsen-projekte-hiergeblieben 2 Projekthomepage: www.uni-hildesheim.de/annet 3 Projekthomepage: http://www.generationsmartphone.ch/ 4 Projekthomepage: https://www.fhnw.ch/de/forschung-und-dienstleistungen/soziale-arbeit/kinder-und-jugend- hilfe/uebergang-in-die-selbstaendigkeit-junge-erwachsene-wirken-mit 5 Projekthomepage: https://www.uni-hildesheim.de/inklusive-bildungsforschung/teilprojekte/inka/ 14 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung ausforderungen für die beteiligten Akteur*innen verbunden, die die Fragen der Rollenklärung in den Vordergrund rücken. In der Literatur zu partizipativer Forschung finden sich bislang keine systematischen Refle- xionen zu den persönlichen und zivilgesellschaftlichen Rechten und Rollen der Beteiligten. Auch sind Schutzkonzepte zur Stärkung dieser Rechte in der Forschungsorganisation bisher wenig verbreitet. Gegenüber traditioneller Forschung werden die Co-Forschenden, die in par- tizipativen Forschungsprojekten von Datenlieferant*innen oder Rekrutierungsgehilf*innen zu Mitforschenden avancieren, meist in ihrem Emanzipations gewinn markiert (vgl. von Unger, 2012: 24). Demgegenüber werden die Rollen der Wissenschaftler*innen hinsichtlich ihrer ethischen Verantwortung für die Co-Forschenden und deren Arbeits- bzw. Lebenswelt befragt (vgl. Bergold/ Thomas, 2012: 102-110; von Unger/Narimani, 2012). Es wird nachfolgend der Versuch unternommen, die Rollen der Beteiligten an partizipativen Forschungsprojekten – sowohl der Wissenschaftler*innen als auch der Co-Forschenden – zu systematisieren. Hierzu werden die Rollenpositionierungen in ethnografischen Forschungspro- jekten herangezogen, um davon ausgehend die Differenzen und mithin die Spezifika der Rollen in der partizipativen Forschung herauszuarbeiten und zu markieren. Wir sind der Ansicht, dass sich ein Abgleich mit der Ethnografie besonders dazu eignet, die Rollen in der partizipativen Forschung genauer zu bestimmen, da beide Forschungszugänge eine besondere Nähe und Be- ziehung zum Forschungsfeld und seinen Akteur*innen suchen, um hierüber vertiefte Einblicke und Verständnisse ihrer Untersuchungsgegenstände und -felder zu erlangen. Beide Zugänge überwinden damit die traditionelle, »neutrale« Außenperspektive der Forschenden und ersetzen sie durch eine involvierte Innenperspektive (vgl. Breidenstein et al., 2015: 7 ff.; Hirschauer, 2002; von Unger, 2012: 67; 2014: 44). Den method(olog)ischen Reflexionen ethnografischer Feldforschung, die die Perspektive des*der Ethnograf*in in den Mittelpunkt rücken, folgend, nehmen wir nun zunächst eine Aus- einandersetzung mit der Rolle der akademisch Forschenden vor. Kennzeichnend für ethnografi- sche Feldforschung ist eine klare Abtrennung der »Studierstube« vom »Feld«. »›Feldforschung‹ erinnert an die Arbeit des Bauern, der von seinem Hof auf das Feld wandert, um jene Dinge zu säen oder zu ernten, die er und die Seinen für ihr Überleben benötigen. Ähnlich verlässt der Wissenschaftler seine Studierstube, um im Leben, am rauen Feld, sich all das zu erarbeiten, das er seiner Wissenschaft hinzufügen kann« (Girtler, 2010: 289). Das Feld ist der Ort, den der*die Forscher*in aufsucht, um teilnehmend beobachtend Daten zu erheben. In das Feld begibt er*sie sich hinein, sammelt vielfältige Eindrücke, macht unterschiedliche Erfahrungen, nimmt stärker oder geringer am Feld teil und tritt mal oberflächlicher, mal tiefer in Beziehung mit den vorge- fundenen Feldakteur*innen. Entscheidend ist nun, dass sich der*die Ethnograf*in aus dem Feld zurückziehen kann. Er*sie kann und muss – so das methodische Gebot der Befremdung – auf Distanz gehen und sich den Feldakteur*innen und -beziehungen entziehen, um seine*ihre Daten in der »Studierstube« kritisch-reflektiert für sich zu sortieren, zu analysieren und zu verwerten (vgl. Breidenstein et al., 2015: 121 f.; Breuer, 2010: 30). Damit ist die Rolle des*der Ethnograf*in deutlich von der Rolle der Feldakteur*innen abgegrenzt. Er*sie ist das forschungstätige und Wissen generierende Erkenntnissubjekt, das seine*ihre Rolle weitgehend unabhängig von den Feldakteur*innen entwirft (vgl. Unger, 2014: 44). Entsprechend geraten jene ethnografischen Forschungsprojekte und Forschende in den Verdacht, kolonialisierend zu wirken, die für sich beanspruchen, ihre Untersuchungssubjekte partizipieren und deren Perspektiven den Vorrang zu lassen, ohne sie an entscheidenden Forschungsschritten – wie z.B. der Auswertung der Da- ten – zu beteiligen (vgl. Sturzenhecker, 2018). Genau an diesem Punkt kristallisiert sich eine entscheidende Frage heraus: Wann ist Forschung partizipativ? Wir vertreten ein Verständnis von partizipativer Forschung, das eine reflektierte und ausgehandelte Transparenz darüber, wer, 15 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung warum, wann und wie im Forschungsprozess entscheidet, in den Mittelpunkt rückt. Wir sprechen uns gegen eine Universalisierung des Gebots der Partizipation in der Forschung aus. Weder ist es zweckdienlich und zielführend, wenn alle Abschnitte des Forschungsprozesses partizipativ angelegt sind, noch müssen alle Beteiligten an partizipativer Forschung im selben Maße und an allen Forschungsschritten partizipieren, um legitimerweise von partizipativer Forschung sprechen zu dürfen. Dieses Verständnis partizipativer Forschung hat in der Folge bedeutende Implikati- onen für die Gestaltung der Beziehungen und der Rollenpositionierungen der Beteiligten an partizipativen Forschungsprojekten. Die relativ klare Grenzziehung zwischen »Feld« und »Studierstube« bzw. zwischen Ethnograf*in und Feldakteur*innen, wie sie für die ethnografische Forschung in Anschlag gebracht wurde, gilt für die partizipative Forschung – unabhängig vom Grad der Beteiligung der Co-Forschenden – nicht im selben Maße. Durch die Beteiligung von Feldakteur*innen – von professionellen Praktiker*innen und/oder Adressat*innen bzw. Nutzer*innen von Angeboten der Sozialen Ar- beit – an der Forschung kann zwar ein Rückzug aus dem räumlich abgegrenzten Untersuchungs- feld, nicht aber aus dem Feld insgesamt passieren. Feldakteur*innen sind in der partizipativen Forschung auch abseits des Untersuchungsfeldes anwesend und übernehmen unterschiedliche Forschungsaufgaben (vgl. von Unger, 2014: 44). Für die Wissenschaftler*innen bedeutet dies, dass sie nicht auf Distanz gehen, sich dem Feld nie ganz entziehen können. Soweit sie das Ziel einer Veränderung sozialer Wirklichkeit verfolgen, sind sie (in Bezug auf dieses Veränderungs- interesse) auch nie »objektiv« oder »neutral«, sondern »immer auch selbst handelnder Akteur in diesem Veränderungsprozess« (Alisch et al., 2017: 85). Dies gilt auch für Co-Forschende. In ethnografischen Forschungsprojekten sind die Wissenschaftler*innen auf das Wohlwollen und die Akzeptanz der Feldakteur*innen angewiesen. Die Feldakteur*innen können als »Gate- keeper« fungieren, die die Wissenschaftler*innen in das Feld einführen, Zugänge ermöglichen und Kontakte herstellen (vgl. Breidenstein et al., 2015: 52 f.; Breuer, 2010: 33). Ebenso können Feldakteur*innen aber auch den Zugang zum Feld verweigern. Sie haben die Macht, zu bestim- men und zu beeinflussen, ob und welche teilnehmenden Beobachtungen der*die Ethnograf*in machen kann (vgl. Breuer, 2010: 32). In partizipativen Forschungsprojekten können sich die Co-Forschenden nicht im selben Maße der Forschung verweigern oder entziehen, wie das in der ethnografischen Forschung möglich ist. Als Co-Forschende sind sie in den Forschungsprozess bzw. in Teile davon involviert und tragen eine Mitverantwortung für das Gelingen des Forschungsprojekts. Dafür realisiert sich gerade in dieser Mitwirkung und Mitverantwortung ein Zugewinn an Macht und Einfluss, weil die Feldakteur*innen in der partizipativen Forschung nicht auf Datenlieferant*innen oder Rekrutierungsgehilf*innen beschränkt sind, sondern zu Mitforschenden werden, die über die Ziele, Erhebung und/oder Verwertung des Forschungsprojekts mitbestimmen können. Die gegenseitige Verwiesenheit der Wissenschaftler*innen und Co-Forschenden in partizipativen Forschungszusammenhängen macht es erforderlich, dass die Rollen der Beteiligten miteinander ausgehandelt, entworfen und (weiter-)entwickelt werden. Wenngleich sich partizipative Forschung durch den Anspruch einer gleichberechtigten Partner*innenschaft auszeichnet, heißt das nicht, dass Co-Forschende in allen Belangen gleiche Partner*innen sind. In vielen Projekten werden sie nicht dieselben Berechtigungen am Forschungsprojekt haben und unterschiedliche Rollen ausfüllen. Trotz Mehrfachzuge- hörigkeiten einzelner Beteiligter konzentrieren sich die Forschungskompetenzen in der Re- gel bei den Wissenschaftler*innen und die Feldkompetenzen bei den Co-Forschenden. Die Wissenschaftler*innen – so die Grundannahme – müssen die Co-Forschenden häufig erst befähigen, an unterschiedlichen Schritten des Forschungsprojekts partizipieren zu können, indem sie sie informieren, schulen und begleiten (vgl. von Unger, 2014: 41 f.). Dies erfordert 16 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung von den Wissenschaftler*innen die Verantwortungsübernahme für die Co-Forschenden, deren Partizipation sowie für den gesamten Forschungsprozess. Sie müssen darauf achten, alle rele- vanten Informationen und Fähigkeiten – soweit möglich, sinnvoll und gewünscht – mit den Co-Forschenden zu teilen und übergeordnete Belange (wie z.B. Gütekriterien der Forschung, forschungsethische Fragen, Forschungsfinanzierung) im Blick zu behalten. Demgegenüber ver- fügen die Co-Forschenden über feld- und gegenstandsspezifisches Wissen und Können, das den Zugang zum Feld, das Vorgehen darin und das Verstehen wesentlich bestimmt (vgl. von Unger, 2014: 42). Ihnen obliegt eine große Verantwortung für das Feld, dessen sensiblen Einbezug in das Forschungsprojekt und/oder die Vermittlung zwischen Feld und Wissenschaftler*innen. 7 Zum Umgang mit Vulnerabilität: Forschungsethische Herausforderungen Mit diesen Rollenpositionierungen sind zwar die Verantwortlichkeiten zwischen Wissen- schaftler*innen und Co-Forschenden geklärt, dennoch liefern sie noch keine Antworten auf die erwähnten (forschungs-)ethischen und organisationalen An- und Herausforderungen partizipati- ver Forschung in der Sozialen Arbeit (vgl. Eßer/Sitter, 2018). Die Heterogenität der Forschungs- beteiligten und insbesondere deren Vulnerabilitäten machen es vor – aber auch während und nach – der Durchführung partizipativer Projekte erforderlich, Fragen nach den Graden und Orten der Partizipation, nach Abhängigkeits- und Machtverhältnissen sowie nach den Verletzlichkeiten und Verletzungen kritisch zu reflektieren sowie entsprechende Schutzkonzepte zu installieren. Ausgangspunkt für die nun folgenden Ausführungen ist eine idealtypische Systematisierung der Akteur*innen in partizipativen Forschungsprojekten in der Sozialen Arbeit in Abhängigkeit von ihrem Grad an Vulnerabilität und ihrer Involvierung in das Forschungsfeld (vgl. Abb. 1). »Vulnerabilität« wird dabei in Anlehnung an Castel (2000) und Hanappi, Bernardi, und Spini (2015) bzw. Spini et al. (2013) als gesellschaftlich bedingte Verletzbarkeit von Individuen und Gruppen konzeptualisiert, die an individuelle Unsicherheitserfahrungen – an Gefühle von Macht- losigkeit und Kontrollverlust – rückgebunden ist. Sie wird nicht als statischer Zustand, sondern als dynamischer und relationaler Prozess verstanden (Eßer/Schröder, 2019). Idealtypisch ist die Darstellung deswegen, weil sie unterstellt, dass Adressat*innen bzw. Nutzer*innen von Angeboten der Sozialen Arbeit aufgrund ihres aktuellen oder vergangenen Hilfs- und Unterstützungsbedarfs und/oder ihrer Stellung im gesellschaftlichen (Macht-)Gefüge (nachhaltig) vulnerabler sind als professionelle Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen. Sie geht des Weiteren davon aus, dass Co-Forschende – professionelle Praktiker*innen und Adressat*innen bzw. Nutzer*innen von Angeboten der Sozialen Arbeit – stärker in das Forschungsfeld involviert sind und bleiben als die Wissenschaftler*innen. Diese sehr statische Darstellung ignoriert mithin die Dynamiken, Ambivalenzen und Verstrickungen von Forschung und Forschenden, wie sie z.B. in Mehrfach- zugehörigkeiten – Wissenschaftler*innen oder Praktiker*innen, die zugleich lebensweltlich Be- troffene sind – augenscheinlich werden. Dennoch vermag sie es, für spezifische Vulnerabilitäten und (forschungs-)ethische An- und Herausforderungen zu sensibilisieren. 17 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung Abb. 1: Idealtypische Systematisierung der Akteur*innen in partizipativen Forschungsprojekten in der Sozialen Arbeit in Abhängigkeit von ihrem Grad an Vulnerabilität und ihrer Involvierung in das Forschungsfeld Es ist evident, dass Adressat*innen bzw. Nutzer*innen von Angeboten der Sozialen Arbeit unter- schiedlich vulnerabel sind und darüber meist überhaupt erst zu Adressat*innen und Nutzer*innen von Angeboten der Sozialen Arbeit wurden. Sie können vulnerabel sein aufgrund ihres Alters (Kinder, Jugendliche, ältere Menschen), aufgrund von Behinderungen, Suchtbelastungen, Gewalt- erfahrungen, Lebenskrisen, Machtmissbrauch, Migrations- oder Fluchterfahrungen u.v.m. Kollegi- ale Arbeitsbeziehungen unter gemeinsam Forschenden können sich mitunter – insbesondere bei einer intensiven Partizipation der Co-Forschenden – um die Dimension pädagogisch-sorgender Beziehungen erweitern. Die Verantwortung für die Co-Forschenden, deren Partizipation sowie für den gesamten Forschungsprozess möchten wir bei den Wissenschaftler*innen verortet wissen. Gleichwohl plädieren wir im Sinne Trontos (1993) »Ethics of Care« dafür, den Umstand, dass sich Co-Forschende in manchen Bereichen der Forschung der Sorge akademisch Forschender anvertrauen, nicht als grundsätzliche Begründung für paternalistische Haltungen und Praxen heranzuziehen, die das Kriterium des Respekts und der Würde nicht erfüllen (vgl. Ziegler, 2014). In Trontos feministischer Interpretation stellt Angewiesenheit und nicht Unabhängigkeit den originären Modus menschlicher Existenz dar. Patriarchale Ordnungen hätten zu einem männ- lichen Autonomie-Ideal geführt, das zwischenmenschliche Verwiesenheit sozial diskreditiert. In der Folge werden auch solche gesellschaftlichen Gruppen diskreditiert, die besonders sorgebe- dürftig erscheinen – und die häufig zu den Adressat*innen Sozialer Arbeit gehören, mit denen es dann wiederum partizipative Forschung in diesem Feld zu tun bekommt. Wechselseitige Sorge und kollegial-forschende Beziehungen sollten sich also nicht ausschließen. Die Gefahr des Pa- ternalismus und von Grenzüberschreitungen bleibt jedoch immanent und muss stets reflektiert werden (vgl. Bergold/Thomas, 2012: 105; von Unger/Narimani, 2012: 13 f.). Adressat*innen bzw. Nutzer*innen von Angeboten der Sozialen Arbeit sind auch deshalb besonders vulnerabel, weil sich bei Misserfolgen oder beim Scheitern der partizipativen For- schungsvorhaben Erfahrungen der Enttäuschung, der Ausgrenzung oder der Unsichtbarkeit 18 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung reproduzieren können. Es gilt zu berücksichtigten, dass diese Co-Forschenden vor dem Hinter- grund ihrer biografischen Erfahrungen, nicht gehört und gesehen zu werden und ihre Sichtwei- sen nicht einbringen zu können, bestimmte Hoffnungen und Ziele mit dem Forschungsprojekt verbinden. Enttäuschungen dieser Hoffnungen und Ziele führen dann nicht nur zu individuellem Leid, sondern können auch das Misstrauen gegenüber Wissenschaft und Forschung vergrößern (vgl. Bergold/Thomas, 2012: 19; von Unger, 2012: 76). Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass sich durch die Einnahme der Rolle als Co-Forschende die Vulnerabilitäten von (ehema- ligen) Adressat*innen bzw. Nutzer*innen von Angeboten der Sozialen Arbeit verändern resp. verringern können. Partizipative Forschung birgt Potenziale des Empowerments (vgl. Bergold/Thomas, 2012: 19; von Unger, 2012: 24). In diesem Zusammenhang gilt es zu reflektieren, wie man auf potenzielle Co-Forschende zugeht, welche Vorstellungen des partizipativen Forschungsprojekts und dessen Reichweite man in ihnen weckt, welche Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse eine Rolle spie- len (vgl. Chung/Lounsbury, 2006; von Unger, 2012: 68-71; 2014: 49; von Unger/Narimani, 2012: 20 ff., 25) – hierzu zählen auch Fragen der Ressourcen und Entschädigung der Co-Forschenden (vgl. von Unger, 2014: 42) –, inwieweit sich ihre Vulnerabilitäten durch die Mitwirkung als Co- Forschende transformieren und welche Wirkungen unterschiedliche Beteiligungsgrade an den Forschungsschritten nach sich ziehen könnten. Darüber hinaus erfordern unterschiedliche Vul- nerabilitäten – aber auch Interessen, Ziele und Fähigkeiten – Aushandlungen der Grade und Orte der Partizipation. Auch gilt es zu bedenken, dass Adressat*innen bzw. Nutzer*innen von Angeboten der Sozialen Arbeit durch ihre Involvierung in das Forschungsfeld spezielle Vulnera- bilitäten aufweisen. Die Partizipation am Forschungsprojekt kann negative Auswirkungen auf die Co-Forschenden nach sich ziehen. Es kann z.B. zu Entfremdungen von der Community kommen, die Misstrauen gegenüber der neuen Rolle hegt (vgl. von Unger, 2012: 77), es können Konflikte in der Community entstehen oder verstärkt werden (von Unger/Narimani, 2012: 14) oder die Veröffentlichung von Forschungsbefunden zieht für die Co-Forschenden negative Konsequenzen nach sich (vgl. Bergold/Thomas, 2012: 109), insbesondere dann, wenn auf die Anonymisierung der Daten verzichtet wird (vgl. von Unger/Narimani, 2012: 17 ff.). Jenseits paternalistischer Haltungen heißt Verantwortung für die Forschung und die Co-Forschenden zu tragen dann, solche Fragen frühzeitig zu reflektieren, ein Bewusstsein für das Feld und seine Verstrickungen zu entwickeln und die Themen zum Gegenstand von Aushandlungen mit den Co-Forschenden zu machen. Ähnliche Vulnerabilitäten können sich auch bei professionellen Praktiker*innen zeigen. Auch sie weisen durch ihre Involvierung in das Forschungsfeld spezifische Verletzlichkeiten auf, bringen durch (berufs-)biografische Erfahrungen bestimmte Enttäuschungspotenziale mit und verfolgen Ziele und Interessen mit der Mitwirkung an der Forschung, die es zu reflektieren gilt. Professionelle Praktiker*innen als Co-Forschende sind primär in ihren professionellen Rollen mit ihren fachlichen Interessen in das Forschungsprojekt involviert. Die eigene Praxis zu erforschen, heißt, sowohl sich, die eigenen Erfolge wie auch Fehler als auch die Adressat*innen und deren Lebensbedingungen, Biografien und Krisen in den Fokus zu rücken, ohne Schweigepflichten und Vertrauensverhältnisse zu verletzen (vgl. von Unger/Narimani, 2012: 13 f.). Partizipative Forschung mit professionellen Praktiker*innen, die ihre eigene Praxis erforschen, erfordert daher kritische Rückfragen an die Grade und Orte der Involvierung sowie der Einhaltung ethischer Richtlinien. Eine weitere Reflexionsdimension ergibt sich in partizipativen Forschungsprojekten, die sowohl professionelle Praktiker*innen als auch Adressat*innen bzw. Nutzer*innen von Angeboten der Sozialen Arbeit aktiv einbeziehen. Adressat*innen bzw. Nutzer*innen von Angeboten der Sozi- alen Arbeit sind meist in ihrer persönlichen Betroffenheit mit ihren jeweiligen Erfahrungen oder Lebenslagen angesprochen. Darum erscheint es wichtig, diese Gruppen in Forschungsprozessen zu unterscheiden und die in ihr Verhältnis eingeschriebenen Machtasymmetrien zu reflektieren. 19 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung Die Macht-, Abhängigkeits- und ggfs. Vertrauensverhältnisse, die in einer Gruppe von Co- Forschenden bestehen, können die Zusammenarbeitskontexte in unterschiedlicher und kaum berechenbarer Weise beeinflussen. Sie erfordern reflektierte Klärungen der Grade und Orte der (gemeinsamen) Beteiligung sowie Vorarbeiten und Klärungen der Zusammenarbeitsweisen. Die Wissenschaftler*innen wurden bislang nur in ihrer Rolle der Verantwortungstragenden mar- kiert. Doch auch sie weisen ihre je spezifischen Vulnerabilitäten auf, die es zu reflektieren gilt und die teilweise mit ihrer Rolle der Verantwortungsträger*innen zusammenhängen. Insbesondere bei intensiver Partizipation von Wissenschaftler*innen und Co-Forschenden entsteht die Gefahr einer Instrumentalisierung der Wissenschaftler*innen durch die Co-Forschenden bzw. einer Iden- tifikation mit den Co-Forschenden. Wir gehen in Anschluss an Breidenstein et al. (2015: 42 ff.) davon aus, dass sowohl in der ethnographischen Feldforschung als auch in der partizipativen Forschung der in der Methodenliteratur zur (traditionellen, teilweise auch ethnografischen) Forschung vielfach als Problem diskutierte Prozess des going native – der Verlust der kritischen Distanz und »objektiven« Außenperspektive des*der akademisch Forschenden durch Nähe und eine zunehmende Vertrautheit und Empathie mit dem Feld und seinen Akteur*innen (vgl. Breuer, 2010: 31 f.; Flick, 2012: 291) – eine epistemologische Notwendigkeit darstellt. Wie bereits erläutert, können sich ethnografisch Forschende im Unterschied zu Wissenschaftler*innen in partizipativen Forschungsprojekten – im Sinne eines going home (Breidenstein et al., 2015: 14) – aus dem Feld zurückziehen. Aus der Allgegenwärtigkeit des Feldes bzw. dem »hybriden Zwi- schenraum« zwischen »Feld« und »Home« in der partizipativen Forschung und der Verantwortung für das Forschungsprojekt erwächst aufseiten der Wissenschaftler*innen damit ein schwieriger Balanceakt: das Interesse und die Mitwirkungsbereitschaft der Co-Forschenden zu gewinnen und zu erhalten, ohne das gemeinsam ausgehandelte übergeordnete Forschungsinteresse und die Qualitätskriterien der Forschung aus den Augen zu verlieren. Man könnte sogar pointieren, dass die Ambivalenz, die sich aus der Verantwortung für die Forschungsprozesse und die Co- Forschenden einerseits sowie aus der Anforderung, nicht-paternalistisch zu agieren, andererseits ergibt, eine »Paradoxie« (Schütze, 1992) bzw. paradoxale Herausforderung darstellt, die nicht gelöst werden kann, aber immer wieder reflexiv bearbeitet werden muss. Die Vulnerabilität der Wissenschaftler*innen tritt auch dort deutlich zu Tage, wo sie selbst zu Forschungsobjekten werden, wenn ihr Handeln in den Daten und Analysen sichtbar wird oder wenn sie sich im Sinne der Veränderung von Wirklichkeit (politisch) exponieren. Wenngleich mit dem Aufkommen von autoethnografischen Forschungsansätzen die Anonymität der Forschungssubjekte, die gleichzeitig die Forschungsobjekte sind und ihre eigengelebten Erfahrungen darstellen und reflektieren (vgl. u.a. Ellis/Adams/Bochner, 2010), nicht mehr unangetastet ist, ist die Frage der Anonymität der Wissenschaftler*innen (aber auch der Co-Forschenden) deswegen nicht obsolet. Ganz im Ge- genteil gilt es, in partizipativen Forschungsprojekten kritisch zu reflektieren und auszuhandeln, welche Auswirkungen Sichtbarkeiten und Exponierungen einzelner Personen für ihre persön- liche, berufliche und wissenschaftliche Zukunft haben könnten und wie entsprechend mit den Forschungsdaten umgegangen wird. Zur Bearbeitung der unterschiedlichen Vulnerabilitäten und (forschungs-)ethischen An- und Herausforderungen können bisherige Ansätze aus der sozialwissenschaftlichen Forschung als auch der Praxis der Sozialen Arbeit – wie z.B. Supervision, kollegiale Beratung oder Befremdungs- techniken – hilfreich sein. Zudem kommt man kaum umhin, jeweils neue und kreative Strategien der sinnvollen und gewünschten Teilhabe zu entwickeln (vgl. Nind, 2011: 360). Insgesamt sollten hier Erkenntnisse aus der Diskussion um Schutzkonzepte in pädagogischen Organisationen (vgl. Oppermann et al., 2017) aufgenommen werden. Denn gerade angesichts der Machtasymmetrien gilt es, achtsam gegenüber Grenzüberschreitungen zu sein und eine Struktur zu entwickeln, die persönliche Rechte verdeutlicht und stärkt. Im Fall von Übergriffen und Grenzverletzungen müss- 20 Sonderheft 16 np Eßer et al., Partizipative Forschung te klar sein, wie gehandelt werden muss und wie diese aufgearbeitet werden können. Letztlich erscheint es ohnehin notwendig, in der Organisation von Forschung entsprechende Schutzkon- zepte als Formen der Organisationsentwicklung von Forschungsprozessen zu etablieren – um den einzelnen Akteur*innen Möglichkeiten zu geben, in den jeweiligen Situationen eine Voice-, Choice- und Exit-Option (vgl. ebd.) zu haben. 8 Schlussbemerkung Es sollte in diesem Beitrag deutlich geworden sein, dass wir mit unserem Votum für partizipative Forschung in der Sozialen Arbeit Formen traditioneller Sozialforschung nicht infrage stellen wollen. Wir möchten ihr aber einen Forschungsstil zur Seite stellen, der sich im Besonderen dazu eignet, zivilgesellschaftlichen Anforderungen der Teilhabe und Mitwirkung an Wissens- und Wis- senschaftsproduktion nachzukommen, die persönlichen Rechte der Beteiligten zu stärken und bildungstheoretische wie -politische Forderungen der Sozialen Arbeit einzulösen sowie einige Anfragen an die aktuelle Forschungspraxis der Sozialforschung zu formulieren. Hierzu haben wir eine Bestimmung partizipativer Forschung vorgenommen, die relativ nüchtern die Frage in den Fokus rückt, wie Rechte und Positionen nicht akademisch Forschender in Forschungsprozessen gestärkt und transparent ausgehandelt werden können. Diese Ausrichtung von Forschung macht Rückfragen an die Einhaltung von Gütekriterien empirischer Sozialforschung ebenso erforderlich wie die Entwicklung zivilgesellschaftlich aufgeschlossener Organisationsstrukturen sowie die von Schutzkonzepten in der Wissenschaft. Mit den in diesem Beitrag ausformulierten Rollenbe- stimmungen der Beteiligten an partizipativen Forschungsprojekten und den damit verbundenen forschungsethischen Herausforderungen möchten wir einen Beitrag zur kritisch-reflexiven Weiterentwicklung partizipativer Forschung in der Sozialen Arbeit leisten und akademisch wie nicht akademisch Forschende in diesem Feld in ihren Vorhaben unterstützen und sie ermutigen. Wir hatten in unserem ersten trinationalen Workshop »Partizipative Forschung in der Sozialen Arbeit« vom 11. bis 13. April 2018 in Basel bereits die Möglichkeit, mit verschiedenen Kolle- gen und Kolleginnen über ihre partizipativen Forschungsprojekte in Austausch zu kommen. Die Fallstricke und Potenziale, die Herausforderungen und Hürden sowie die Ergebnisse und Entwicklungen der Projekte waren ebenso Gegenstand der anregenden Diskussionen wie grundlegende Fragen der Verortung partizipativer Forschung im Wissenschaftskanon. Die in diesem Sonderheft versammelten Beiträge sind Ergebnis dieses kollegialen und wertschätzenden Workshops. Wir danken Laura Seidel und Ann-Kathrin Heinze sehr herzlich für das Lektorat aller im Heft erschienenen Texte. 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Reason/Bradbury, 2015). Wenig Literatur existiert hingegen zu Fragen nach Qualitätskriterien, was den Anlass für den vorliegenden Beitrag gab. Ursprüngliches Ziel war es, Qualitätskriterien und Diskurse aus der qualitativen Sozialforschung und aus der partizipativen Forschung vergleichend zu diskutieren und daraus einen breiten Kri- terienkatalog zu entwickeln, welcher sowohl Aspekte der Partizipation als auch forschungsme- thodische Aspekte einschließt. Dies stellte sich als problematisch heraus. Am Beispiel der beiden zu diskutierenden Forschungsprojekte wird exemplarisch aufgezeigt, dass die unterschiedlichen Kriterien nicht additiv behandelt werden können. Vielmehr müssen mit zunehmendem Grad an Partizipation die Qualitätskriterien der qualitativen Sozialforschung gemeinsam mit Kriterien zur Gestaltung der Partizipation verhandelt werden. Dies führte zur Entscheidung der zwei Projektteams, sich basierend auf unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Orientierungen an unterschiedlichen Kriterienkatalogen zu orientieren. Exemplarisch wird in vorliegendem Beitrag das Kriterium der »methodischen Angemessenheit« zu prozessgestaltenden Kriterien in Bezug gesetzt. 2 Partizipative Forschung und partizipative Action Research: Anliegen und spezifische Herausforderungen Partizipative Forschung (PF) bzw. partizipative Aktionsforschung (PAF) sind Paradigmen der empirischen Sozialforschung, welche die Forschung gemeinsam mit Menschen ohne Forschungs- erfahrung ins Zentrum rücken. Im Vordergrund steht die partnerschaftliche Untersuchung der sozialen Wirklichkeit durch unterschiedliche Stakeholder (von Unger, 2014: 1, Groundwater- Smith/Dockett/Bottrell, 2015: 13). Gemeinsam wird deren »soziale Welt und sinnhaftes Handeln als lebensweltlich situierte Lebens- und Arbeitspraxis« untersucht (Bergold/Thomas, 2012). Damit verbunden ist das Ziel, die unterschiedlichen Perspektiven von Wissenschaft und Praxis zusam- menzubringen, um neue, erweiterte Sichtweisen zu erhalten (Bergold/Thomas, 2012: Abs. 9). Die gemeinsame Wissensproduktion gründet auf der Annahme, dass in jener nicht nur theoretisches und methodisches Wissen, sondern auch persönliche Erfahrungen relevant sind (Reason, 2006: 186; Beresford, 2013: 146). Die akademisch Forschenden treten dabei nicht als Expert*innen auf, sondern als Mitwirkende einer gemeinsamen Wissensproduktion (von Unger, 2014: 65). Außerdem zielt PF/PAF explizit darauf, Zugang zu schwer erreichbaren Erfahrungswelten und zu marginalisierten Gruppen zu finden (von Unger, 2014). Damit verbunden sind demokratische Ziele der Bürgerschaftlichkeit, Emanzipation sowie des Empowerments von benachteiligten Gruppen. Die Chancen werden darin gesehen, dass diese Forschungsansätze in verstärktem Maße 24 Sonderheft 16 np Heeg et al. Qualifikationskriterien in partizipativen Forschungsprojekten die Erhebung von kontext- und kultursensiblen Daten ermöglichen, dass sich die Ergebnisse aufgrund der Verschränkung von Perspektiven durch besondere Reichhaltigkeit auszeichnen und einen hohen Realitätsbezug sowie eine hohe Relevanz über das Wissenschaftssystem hinaus bieten (Smith/Monaghan/Broad, 2002; von Unger, 2014). In der Konsequenz werden Erkenntnisinteresse und Fragestellungen nach Möglichkeit mit allen Beteiligten (weiter-)entwickelt. Ferner werden die Forschungsphasen idealtypisch durch akademisch Forschende und Betroffene gemeinsam geplant, durchgeführt und präsentiert. Damit verbunden ist eine Forschungsrichtung, »die für die Möglichkeit, Bedeutsamkeit und Nützlichkeit des Einbezugs der Ko-Forscher/innen in den Erkenntnisprozess argumentiert« (Bergold 2007; zit. in Bergold/Thomas, 2012: Abs. 2). Hierbei werden durchaus Bezüge zu Methodologien und Methoden der qualitativen Sozialforschung hergestellt (Bergold/Thomas, 2012), jedoch sollen sich methodische Entscheidungen dem Ziel der gemeinsamen Reflexion unterordnen (von Un- ger, 2014: 61). Notwendig sind daher flexible, anpassbare Methoden, die sich an Fähigkeiten und Interessen der Mitforschenden orientieren (Smith/Monaghan/Broad, 2002). Gewählt werden in der Regel einfach anzuwendende Methoden, da komplexe Forschungsstrategien Mitforschende von Teilen des Forschungsprozesses ausschließen würden (McCartan/Schubotz/Murphy, 2012: Abs. 5; Fox, 2013; Smith/Monaghan/Broad, 2002). Die Methoden sollen den Bedürfnissen der Mitforschenden, dem Setting und den darin »üblichen« Ausdrucksformen entsprechen (Sanders/ Munford, 2005: 200;von Unger, 2014: 56), sodass die Mitforschenden ihr Wissen auch tatsächlich einbringen können (Vromen/Collin, 2010; Bagnoli/Clark, 2010; Fox, 2013). Damit ist PF/PAF kon- textabhängig und erfordert Offenheit für Anpassungen und eine kontinuierliche Aufmerksamkeit auf den Prozess. Zur Gestaltung solcher Prozesse finden sich insbesondere in der partizipativen Aktionsforschung Leitlinien (International Collaboration for Participatory Health Research, 2013; Reason/Bradbury, 2015). In der Forschungspraxis unterscheiden sich Projekte zum einen in Bezug auf den Grad der Mitgestaltungsmöglichkeiten der Mitforschenden (vgl. Stufenmodell von Arnstein 1969; zit. von Unger, 2014). Zum anderen bestehen Unterschiede in Bezug auf die pädagogischen, politischen oder forschungslogischen Ansprüche und Ziele. Damit verbunden zeigen sich unterschiedliche Ansprüche auf die Veränderung sozialer Wirklichkeit und individueller Entwicklung (Empo- werment). Entlang dieser unterschiedlichen Zielsetzungen lassen sich idealtypisch zwei For- schungs- und Diskussionsstränge unterscheiden: Ansätze der »partizipativen Forschung« (PF) und Ansätze der »partizipativen Aktionsforschung« (PAF). Laut Bergold & Thomas (2012) betont die PF die gemeinsame Wissensproduktion, ohne dass damit Ansprüche zur Umsetzung einhergehen, während bei PAF das Ziel der gemeinsamen Praxisveränderung im Vordergrund steht (Bergold/Thomas, 2012: Abs. 8). 3 Unterschiedliche Qualitätsdiskurse Alle Formen von PF und PAF sind von der Frage betroffen, welche Auswirkungen der Einbezug von ungeschulten Forschungspartner*innen auf die Qualität des Prozesses und des Ergebnisses hat. Die Beteiligung von Forschungsunerfahrenen erfordert eine fortwährende kritische Refle- xion der Konsequenzen für den Forschungsprozess und die Beteiligten. Damit verbunden stellt sich immer auch die Frage nach Qualität der Verfahren und der Ergebnisse. Es liegen einige Arbeiten mit Vorschlägen für ethische Kriterien und für Kriterien der Qualitätssicherung mit Bezug auf Partizipation vor (Faulkner, 2004; International Collaboration for Participatory Health Research, 2013). In eine ähnliche Richtung zielen grundsätzlich auch Prinzipien der qualitativen Sozialforschung wie Offenheit, Kommunikation, Gegenstandsangemessenheit, Prozesscharakter, Reflexivität, Flexibilität (vgl. Lamnek, 2005). Insofern wäre anzunehmen, dass die Qualitätskri- 25 Sonderheft 16 np Heeg et al. Qualifikationskriterien in partizipativen Forschungsprojekten terien der qualitativen Sozialforschung ohne größere Schwierigkeiten mit jenen zu Partizipation verbunden werden können. Es liegen jedoch kaum Überlegungen dazu vor, welche Auswirkungen der Einbezug von Forschungsunerfahrenen auf die Qualität der Methodenanwendung und der Forschungsergebnisse im Sinne »klassischer« Qualitätsverständnisse qualitativer Sozialforschung hat. Wie sich exemplarisch an den beiden im Folgenden dargestellten Projekten zeigen lässt, stellen sich hier tatsächlich grundsätzliche Fragen, die weiterer Aushandlung bedürfen. Qualität wird grundsätzlich als sozial definierter Begriff verstanden, der Wandlungs- und Aus- handlungsprozessen unterliegt (Bergold/Thomas, 2012: Abs. 90 f.). Entsprechend argumentieren Bergold und Thomas (ebd.: Abs. 80), dass Qualitätskriterien im Kontext von PF und PAF dis- kursiv entwickelt werden müssen und dass die Qualität eines partizipativen Forschungsprojekts nicht in allgemeiner Weise eingeschätzt werden könne. So hat beispielsweise das Kriterium »Wahrheit« im Sinn von »richtiger Erkenntnis« für viele gesellschaftlichen Institutionen nur sekundäre Bedeutung. Entscheidender ist für diese oftmals, ob das Wissen »sozial robust« ist, d.h., ob es für die Beteiligten und für die Veränderung des Kontextes relevant ist (ebd.: Abs. 93). Gemäß diesem Verständnis verschleiert eine Liste mit allgemeingültigen Qualitätskriterien die unterschiedlichen Qualitätsvorstellungen (ebd.: Abs. 89). Da PF-Projekte bzw. PAF-Projekte unterschiedlichen Werten und Interessen gerecht werden müssten, sei die Frage nach den Qua- litätskriterien mit Argumenten aus dem jeweiligen Diskurszusammenhang zu beantworten, wie z.B. von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Verwaltung oder Nutzer*innen (ebd.: Abs. 93). Bergold und Thomas schlagen deswegen – durchaus provokativ – vor, in den jeweiligen institutionellen bzw. kontextuellen Diskursen nicht von Qualitätskriterien, sondern von Rechtfertigungsargu- menten zu sprechen. (Bergold/Thomas, 2012: Abs. 93). Die Kommunikations- und Handlungssys- teme der unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsbereiche verfügen danach über eigene Rechtfertigungsnormen, Werte und Argumentationsstrukturen, auf deren Durchsetzung sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Machtmitteln bestehen. Die Argumente zur Qualität eines partizipativen Forschungsprojekts und seiner Ergebnisse müssen nach diesem Verständnis auf diese internen Normen und Werte Bezug nehmen, um akzeptiert und rezipiert zu werden (ebd.: Abs. 93). Daher gelte es, die Rechtfertigungsanforderungen der verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen zu analysieren und zu konzeptualisieren (ebd.: Abs. 101). Für Wissenschaft bedeu- tet diese Deutung von Qualität als je systemabhängige Rechtfertigungsanforderung einerseits, dass ihre Qualitätskriterien nur ein Diskurs unter vielen sind und nicht per se die letztgültige oder alleinige Argumentationsstruktur darstellen. Andererseits müsste der Frage nachgegangen werden, ob übergreifende Qualitätskriterien für die PF/PAF bestimmt werden können oder ob diese je kontextbezogen ausgehandelt werden müssen. Zur Konkretisierung wird anhand von zwei partizipativen Forschungsprojekten dargestellt, welche methodischen Fragen sich dadurch stellten, dass Forschungsunerfahrene in den For- schungsprozess einbezogen wurden. In der Diskussion zwischen den Forschungsteams aus den zwei Projekten kristallisierten sich zwei Haupterkenntnisse heraus: Erstens beinhaltet die Frage nach Qualitätskriterien von PF und von PAF immer sowohl die Ebene der Forschungsmethoden als auch diejenige der Prozessgestaltung. Zweitens zeigte sich im Vergleich, dass der Grad des Einbezugs von Mitforschenden zu unterschiedlichen Gewichtungen der Prozessgestaltung gegen- über kodifizierten Forschungsmethoden führt, die über unterschiedliche Diskurszusammenhänge legitimiert werden müssen. Diese These wird im Beitrag anhand der zwei Projekte erläutert. Das im Folgenden vorgestellte partizipative Forschungsprojekt »Generation Smartphone« diente der Wissensgenerierung und orientierte sich damit stärker an Qualitätsdiskursen der qualitativen Sozialforschung. Das Forschungsprojekt »Care Leaver erforschen Leaving Care« mit seinem erhöhten Anspruch an Partizipation und dem Ziel der Veränderung/Empowerment orientierte sich stärker am Qualitätsdiskurs der partizipativen Aktionsforschung. Im Folgenden 26 Sonderheft 16 np Heeg et al. Qualifikationskriterien in partizipativen Forschungsprojekten wird Einblick in die Qualitätseinschätzungen gegeben und dargelegt, wie und warum die Ori- entierungen sich unterschieden. Exemplarisch wird bei beiden Projekten das Qualitätskriterium der »Angemessenheit von Forschungsmethoden« diskutiert. Dieses Kriterium wurde ausgewählt, da es in beiden Diskurssträngen diskutiert wird und entsprechend die Möglichkeit einer ver- gleichenden Betrachtung eröffnet. Zudem stellt es in der Scientific Community der qualitativen Forschung ein zentrales Kriterium dar. Die unterschiedlichen Bezugspunkte führen zu unterschiedlichen Textsorten: Qualitative Qualitätskriterien bieten vergleichsweise klar umrissene Aspekte zur Reflexion, der Duktus fällt deshalb deduzierender aus. Im Rahmen der PAF wird Qualität als Darstellung von Entschei- dungen und Prozessen begriffen, weswegen der Duktus ein explizierender ist. Der Einblick in unterschiedliche methodologische Verortungen von Fragen zur Qualität soll die damit verbun- denen Herausforderungen und Chancen aufzeigen. Im Fazit werden die beiden Vorgehensweisen übergreifend diskutiert. 4 Projekt »Generation Smartphone« – Orientierung an Qualitäts- kriterien der qualitativen Sozialforschung Im partizipativen Forschungsprojekt »Generation Smartphone« untersuchten Wissen- schaftler*innen gemeinsam mit Jugendlichen, welche Bedeutung das Smartphone für Jugendliche hat und welche Chancen und Risiken sie selbst darin sehen. Ziel war, die Perspektive der Ju- gendlichen auf eine Thematik sichtbar zu machen, welche diskursiv durch Erwachsene dominiert wird und normativ hoch besetzt ist. Das Forschungsprojekt war insgesamt stark strukturiert und vorausgeplant. Verfahren, Zeit- pläne und Rollen wurden im Voraus definiert. Das Projekt orientierte sich an kodifizierten Ver- fahren, womit die Orientierung an Qualitätsdiskursen der qualitativen Sozialforschung sinnvoll erschien. Die Datenerhebung war nicht partizipativ organisiert. 30 Jugendliche schrieben einen Monat lang ein Tagebuch zu ihrem Umgang mit Smartphones. Es wurde bei der Auswahl auf eine heterogene Gruppe bezüglich Alter, Geschlecht, Schulstufe und Onlineverhalten geachtet. Mit diesen Jugendlichen wurde danach je ein Interview geführt. Ein Team aus acht Erwachsenen und acht Jugendlichen (die ebenfalls Tagebuch geschrieben hatten) wertete die Daten in drei Treffen aus. Für die Auswertung waren klar begrenzte, knappe Zeitfenster definiert – damit wurde unter anderem auch Rücksicht auf die Wünsche der Jugendlichen nach einem zeitlich und inhaltlich definierten Vorhaben genommen. Die Daten wurden auf vier Gruppen zu je zwei Erwachsenen und zwei Jugendlichen aufgeteilt und mit Blick auf zwei Fragestellungen ausge- wertet: Welche Bedeutungen haben Smartphones für Jugendliche? Welche Chancen und Risiken haben Smartphones aus der Sicht Jugendlicher? Die Daten zur ersten Forschungsfrage wurden an hermeneutische Verfahren angelehnt ausgewertet. Dazu wählten die Jugendlichen jeweils Schlüsselthemen und Schlüsselsequenzen, diese wurden in Kleingruppen ausführlich diskutiert. Die Daten zur zweiten Forschungsfrage wurden angelehnt an die qualitative Inhaltsanalyse ausgewertet. Die Jugendlichen erstellten in der Vorbereitung Listen mit Chancen und Risiken, diese Listen wurden zusammengeführt. Die Ergebnisse der vier Kleingruppen wurden im Plenum gesammelt, geclustert und gewichtet. Die akademisch Forschenden verfassten zu den gemeinsam erarbeiteten Ergebnissen einen ausführlichen Bericht. Des Weiteren entwickelten die an der Auswertung beteiligten Jugendlichen Karten mit Botschaften an Jugendliche sowie zwei Briefe an Eltern in einer Elternzeitschrift. Das Forschungsprojekt konnte gemäß der ursprünglichen Zeitplanung durchgeführt werden. Das Forschungsprojekt orientierte sich an »klassischen« Methoden und Strategien qualitativer Sozialforschung. So wurden im interdisziplinären Projektteam immer wieder kontroverse Dis- 27 Sonderheft 16 np Heeg et al. Qualifikationskriterien in partizipativen Forschungsprojekten kussionen dazu geführt, ob und wie das Projekt etablierten Qualitätskriterien entsprechen kann oder muss. Aus diesem Grund werden im Folgenden Qualitätskriterien qualitativer Forschung kurz umrissen. Nachfolgend wird geprüft, in welcher Weise diese für die Beurteilung und Wei- terentwicklung der Qualität partizipativer Forschungsprojekte dienen können. Die Diskussion zu Qualitätskriterien für qualitative Forschung ist umfangreich. Dabei lassen sich verschiedene Ebenen unterscheiden. Erstens existieren methodenimmanente Formen der Qualitätssicherung (z.B. die Regel der strikten Sequenzanalyse in der Objektiven Hermeneu- tik). Diese methodenimmanenten Formen der Qualitätssicherung sind meist gut ausgearbeitet (Strübing, 2013: 191 f.). In partizipativer Forschung beziehen sich methodenimmanente Regeln auf den Aspekt der Partizipation. Zweitens existieren in der qualitativen Forschung methoden- übergreifende Qualitätskriterien, die einen Kanon des Qualitätsverständnisses qualitativer For- schung aufzuzeigen versuchen (Strübing, 2013: 192). Breit rezipiert wurden die Qualitätskriterien qualitativer Forschung nach Steinke (2005): Intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Indikation des Forschungsprozesses, empirische Verankerung, Limitation, Kohärenz, Relevanz und reflektierte Subjektivität. Laut Strübing haben Angemessenheit, intersubjektive Nachvollziehbarkeit und empirische Verankerung einen breiten Geltungsbereich im Kanon qualitativer Methodendiskurse (Strübing, 2013: 192; vgl. Mayring, 2002). Im Folgenden wird das Forschungsprojekt »Generation Smartphone« mit Blick auf das ausgewählte Kriterium »Angemessenheit der Forschungsmethoden« diskutiert – ein Aspekt des Kriteriums der Indikation des Forschungsprozesses. Unter Indikation der Methodenwahl versteht Steinke (2005) die Frage, ob die Methoden zur Erhebung und Auswertung dem Unter- suchungsgegenstand angemessen sind. Im Einzelnen nennt Steinke hierbei folgende Kriterien (Steinke, 2005: 327): 1. Sind die Methoden dem Gegenstand angemessen? Dieses Kriterium betrifft den Anspruch, die Anwendungsbereiche und die Grenzen der je- weiligen Forschungsmethode mit Blick auf den zu untersuchenden Gegenstand zu kennen und einschätzen zu können. Bei »Generation Smartphone« können dazu zwei Fragen gestellt werden: ob ein partizipatives Vorgehen sowie die gewählten partizipativen, vereinfachten Auswertungs- methoden im Hinblick auf die Erkenntnisgewinnung grundsätzlich angemessen waren. Beides hängt eng miteinander zusammen, da das partizipative Vorgehen eine radikale Vereinfachung der Auswertungsmethoden erforderte und diese Vereinfachung durch das partizipative Vorgehen begründet wird. Wenn das partizipative Vorgehen als unnötig oder unangemessen betrachtet wird, kann auch die Vereinfachung der Methoden nicht begründet werden. Den partizipativen Ansatz betrachten wir im vorliegenden Projekt als angemessen und notwendig, da Jugendliche eine spe- zifische Sichtweise auf das Thema haben. Auch die gewählten partizipativen Methoden beurteilen wir als geeignet. Sie wurden von den Jugendlichen akzeptiert und umgesetzt, und sie führten zu Erkenntnissen, welche den bisherigen Wissensstand überschreiten. Insofern erscheint auch die vereinfachte Anwendung der inhaltsanalytischen und hermeneutischen Auswertungsmethoden vertretbar, auch wenn damit spezifische Limitationen des Erkenntnisprozesses einhergingen (vgl. dazu nachfolgend Punkt 3). 2. Wurde den Äußerungen und Bedeutungen der Befragten genügend Raum eingeräumt? Das zweite Kriterium fordert von qualitativer Forschung, dass die subjektiven Perspektiven und lebensweltlichen Kontexte der Befragten im Forschungsprozess abgebildet werden. Die Erfahrungen in »Generation Smartphone« zeigten auf, dass die Ergebnisse die subjektive Per- spektive der Jugendlichen tatsächlich in hohem Maß abbilden. So intervenierten beispielsweise Jugendliche in den Auswertungssitzungen gegenüber Erwachsenen, wenn diese sich in ihren Deutungen von der jugendlichen Interpretation entfernten. 28 Sonderheft 16 np Heeg et al. Qualifikationskriterien in partizipativen Forschungsprojekten 3. Ermöglichen die Verfahren Irritationen des Vorwissens der Forschenden? Das dritte Kriterium welches auf die phänomenologische Methodologie zurückgeht, betrifft einen methodischen Kern qualitativer Sozialforschung. Erst mit der »Befremdung« der For- schenden von eigenen Vorannahmen und Einstellungen wird der Blick auf Neues, Unerwartetes möglich (vgl. Brinkmann, 2018). In partizipativer Forschung kann argumentiert werden, dass die akademisch Forschenden Befremdung erleben, wenn sie mit den lebensweltlichen Interpre- tationen der Mitforschenden konfrontiert sind. Die Auswertungsdiskussionen in »Generation Smartphone« zeigten allerdings einen weiteren Effekt auf: Einige Jugendliche übernahmen die Rolle von (Lebenswelt-)Expert*innen oder diese wurde ihnen durch die akademisch Forschenden übertragen, was teilweise zu einer Schließung des Deutungsprozesses führte, da die Jugendlichen qua ihres Expert*innenstatus die »richtige« Interpretation lieferten und damit Explorationen unterschiedlicher Deutungen beendet wurden. 4. Längere Anwesenheit im Feld, insbesondere bei fehlender Vertrautheit Das Kriterium der Feldnähe kann durch partizipative Forschung als in besonderem Maß erfüllt angesehen werden. Durch den Einbezug von direkt Betroffenen in den Forschungsprozess wird die Vertrautheit und Nähe zum Forschungsgegenstand systematisch in die Forschung miteinbe- zogen. Das der Forschung grundlegend inhärente Paradoxon der Annäherung an Wirklichkeit trotz systematisch eingehaltener Distanz entfällt. Dennoch zeigte sich in dem hier diskutierten Projekt eine Limitation darin, dass die zeitlichen Ressourcen der teilnehmenden Jugendlichen eingeschränkt waren und die Auswertung des umfangreichen Datenmaterials auf insgesamt drei Auswertungssitzungen begrenzt war. Hier ergaben sich durch den Einbezug von schulisch engagierten Mitforschenden praktische Grenzen der Feldnähe. Die exemplarische Diskussion des Vorgehens und der Auswertungsmethode von »Generation Smartphone« anhand eines ausgewählten Qualitätskriteriums verweist sowohl auf das Potenzial als auch auf Herausforderungen, die entstehen, wenn qualitative Qualitätskriterien für die Be- urteilung partizipativer Forschung angewendet werden. Die Qualitätskriterien der qualitativen Sozialforschung bieten eine Reflexionsfolie an, welche sich thematisch von den Diskussionen zur Qualität innerhalb der partizipativen Forschung unterscheidet. Diese Erweiterung der Re- flexionsthemen erachten wir für das vorliegende Forschungsprojekt als wertvoll. Die Einschät- zung der Qualität erfordert jedoch oftmals eine Übersetzung des jeweiligen Kriteriums in den partizipativen Forschungskontext. 5 Projekt »Care Leaver erforschen Leaving Care« – Orientierung an Choicepoints der partizipativen Aktionsforschung Im laufenden partizipativen Forschungs- und Entwicklungsprojekt »Care Leaver erforschen Lea- ving Care« (Ahmed/Rein/Schaffner, 2018) werden gemeinsam mit jungen Menschen, die ehemals in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung lebten und sich im Übergang in die selbstständige Lebensführung befinden, Erfahrungen im Übergangsprozess erforscht. Care Leaver gelten in vielen Lebensbereichen als benachteiligt im Vergleich zu Peers, die in Familien aufwachsen (Rein, 2018; Schaffner/Rein, 2015). Care Leaver müssen den Übergang vergleichsweise früher und schneller bewältigen. Eine Rückkehr ist in der Regel nicht möglich. Damit verbunden stellen sich zahlreiche Herausforderungen in allen Lebensbereichen. Ziel des Forschungsprojekts ist es, Erkenntnisse zu Herausforderungen im Leaving-Care-Prozess sowie zu erfahrenen Hilfen zu gewinnen. Ausgehend davon sollen Empfehlungen für adäquate Unterstützungsstrukturen im Übergang abgeleitet und die Fachöffentlichkeit für Anliegen der Care Leaver sensibilisiert werden. Gleichzeitig sollen Care Leaver ihre Rechte kennen lernen (Positionspapier) und in der Nutzung von Hilfe gestärkt werden (Empowerment). Einen Beitrag zur Verbesserung der 29 Sonderheft 16 np Heeg et al. Qualifikationskriterien in partizipativen Forschungsprojekten Bedingungen im Übergang zu bewirken, war die zentrale Motivation der Care Leaver, am Pro- jekt mitzuwirken. Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt ist durch vier Zyklen von Aktion und Reflexion strukturiert, wie dies typisch ist für partizipative Aktionsforschung (von Unger, 2014): Netz- werkaufbau, Datenerhebungs- und Auswertungsphase, Erprobungsphase sowie Diskussion und Präsentation von Erkenntnissen mit dem Ziel der Praxisveränderung. Seit 2017 arbeiteten 20 Care Leaver mit wechselnder Beteiligung in drei kleinen Forschungsnetzwerken mit (vgl. unten). Neben drei verantwortlichen akademisch Forschenden sind drei weitere Fachpersonen aus dem Jugendhilfekontext beteiligt. Gemeinsam wurde ein Leitfaden entwickelt, mit dem die Care Lea- ver 39 Interviews erhoben. Die transkribierten Interviews wurden inhaltsanalytisch ausgewertet und die Ergebnisse gemeinsam diskutiert und weitere Fragen reflektiert. Im laufenden Zyklus werden die Ergebnisse gemeinsam mit relevanten Akteuren (bspw. Fachpersonen aus Heimen und Kinder- und Jugenddiensten, Sozialdiensten, Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, Jugendanwaltschaft) diskutiert. Mit dem Anspruch an Partizipation in allen Prozessphasen und zugleich dem Anspruch auf Veränderung im Unterstützungssystem kann das Projekt der partizipativen Aktionsforschung (PAF) zugerechnet werden. Forschen verlangt in diesem Verständnis einen offenen Gestal- tungsraum für eine gemeinsame Wissensproduktion. Anstelle eines kontrollierten und vorab bestimmten Vorgehens ist hier eine flexible und kreative Prozessgestaltung nötig, abgestimmt auf die Fähigkeiten und Interessen der Beteiligten. Aus diesem Grund können kodifizierte Methoden nicht ohne Weiteres umgesetzt werden. Im Kontext von PAF kann das Kriterium der »methodischen Angemessenheit«, deswegen nur bedingt über kodifizierte Verfahren erfolgen. Je »kontextbezogener« (vs. kodifizierter) die Verfahren, umso ausführlicher muss im Sinne der Trans- parenz das Verfahren dokumentiert werden. Zugleich müssen die methodischen Schritte laufend kritisch sowohl unter Kriterien der Prozessgestaltung wie auch der Forschungsmethoden betrachtet werden. Da in der Logik der PAF die optimale Einbindung der Beteiligten höher gewichtet wird, treten die methodenübergreifenden Qualitätskriterien der qualitativen Sozialforschung als Refe- renzrahmen in den Hintergrund (vgl. oben). Im Folgenden wird Einblick in die Qualitätsdiskussionen gegeben, die sich aus der Beschäftigung mit den Qualitätskriterien der partizipativen Aktionsforschung ergaben. Bezug genommen wurde dazu insbesondere auf die sieben Kriterien bzw. Choicepoints nach Bradbury et al. (Bradbury/Rea- son, 2006; Bradbury Huang, 2010). Diese Choicepoints verweisen auf wichtige Prozessmomente, die fortlaufend kritisch geprüft werden müssen. Je nach Projekt können unterschiedliche Choicepoints relevant sein. Entscheidend ist nach Bradbury, dass transparent gemacht wird, welche Choicepoints gewählt wurden und welche Limitationen sich damit allenfalls ergeben (ebd.: 101). Tab. 1: Seven criteria for quality (Action Research Journal criteria) Choicepoints Definition 1 Quality requires articulation »The extend of which authors explicitly address the objectives they believe of objectives relevant to their work and the choices they have made in meeting those.« (ebd.: 102) 2 Quality requires partnership »The extent to and means by which the project reflects or enacts participative and participation values and concern for the relational component of research. By the extent of participation we are referring to a continuum from consultation with stakehol- ders to stakeholders as full co-researchers.« (ebd.: 102) 3 Quality requires »The extent to which the project builds on (creates explicit links with) or action contribution to action research contributes to a wider body of practice knowledge and or theory, that research theory-practice contributes to the action research literature.« (ebd.: 103) 30 Sonderheft 16 np Heeg et al. Qualifikationskriterien in partizipativen Forschungsprojekten 4 Quality requires appropriate The extent to which the action research methods and process are articulated methods and process and clarified. (ebd.: 103) 5 Quality requires The extent to which the project provides new ideas that guide action in actionability response to need. (ebd.: 103) 6 Quality requires reflexivity The extent to which the authors explicitly locate themselves as change agents. (ebd.: 103) 7 Quality requires significance The extent to which the insights in the manuscript are significant in content and process. By significant we mean having meaning and relevance beyond their immediate context in support of the flourishing of persons, communities, and the wider ecology. (ebd.: 103) Quelle: in Bradbury Huang, 2010: 102 f.; eigene Darstellung Das Kriterium der methodischen Angemessenheit entspricht dem Punkt 4: »Quality requires appropriate methods and process« (Bradbury Huang, 2010). PAF als Forschungsansatz bietet kein eigenes Methodenrepertoire, vielmehr sind die methodologischen Grundlagen leitend bei der Auswahl, die sowohl qualitative und quantitative als auch visuelle und performative Methoden umfassen kann (vgl. Wöhrer et al., 2017). Orientierungspunkte für die Wahl der Methode sind laut Bradbury et al. die Ermöglichung von Partizipation für alle, die Ermöglichung eines gemein- samen Erkenntnisprozesses und die Generierung von praktischem und theoretischem Wissen. Die Methodenwahl muss laut Bradbury (2015) ausführlich illustriert werden: »By illustrated we mean that empirical papers ›show‹ and not just ›tell‹ about process and outcomes by including analysis of data that includes the voices of participants in the research« (Bradbury, 2015). Die Überprüfung des Qualitätskriteriums erfordert somit eine detaillierte Dokumentation und Reflexion entlang des gesamten Forschungsprozesses, was hier nur ansatzweise dargestellt werden kann. Im vorliegenden Projekt wurde zunächst viel Zeit investiert, um mit möglichst unterschiedlichen Care Leavern in Kontakt zu kommen und eine Arbeitsbeziehung aufzubauen. Dieser Netzwerkaufbau ermöglichte es, die potenziellen Mitforschenden für die gemeinsame Forschung zu gewinnen sowie sie kennenzulernen. Dies erwies sich im weiteren Prozess als sehr wichtig. Gleichzeitig zeigten sich Grenzen der Beteiligung. So konnten einige Interessierte auf- grund von anderen Anforderungen, wie z.B. Prüfungen, Sorge für eigene Kinder, Strafvollzug, Psychatrieaufenthalten oder Militärdienst, nur kurze Zeit am Projekt teilnehmen. Ein junger Mann mit einer psychischen Beeinträchtigung konnte nicht partizipieren, weil die Möglichkeiten der Betreuung zu begrenzt waren. Die anfänglich erhoffte Vielfalt an Mitforschenden wurde daher sowohl durch die Beteiligten selbst wie auch durch den Projektrahmen begrenzt. Den Beteiligten den Zugang zu Forschungstätigkeiten zu ermöglichen, erfordert methodische und thematische Offenheit im Prozess – »an emergent developmental form« (vgl. Reason 2006). Cook folgend, handelt es sich um »einen dialektischen Prozess, der von Unordnung« gekennzeichnet ist (Cook, 2015). Die Kontakte zu den Care Leavern ermöglichten uns das Vorgehen grob zu planen. Allerdings mussten die Methoden im Verlauf häufig angepasst werden, um adäquate Lösungen zu finden. Dazu nutzten wir auch Anregungen und Kritik der Care Leaver sowie die Reflexionen in den Teamsitzungen unter den Fachpersonen. Zur Einführung in die Forschung, zur Entwicklung der Fragestellung sowie zur Einführung in die Interviewführung wurden mit drei Forschungs- gruppen je vier bis fünf Workshops durchführt (dazu liegen Protokolle vor). Zu Beginn fand eine Verständigung über das Forschungsverständnis statt sowie ein Austausch über eigene Erfahrungen mit der Übergangsphase. Dies löste bei vielen Mitforschenden einen intensiven Reflexionsprozess bezüglich eigener Erfahrungen aus. Ein Mitforschender mahnte uns, hier nicht zu schnell voran- zugehen, da es Zeit brauche, die Erfahrungen zuzulassen und zu sortieren. Bei einem weiteren 31 Sonderheft 16 np Heeg et al. Qualifikationskriterien in partizipativen Forschungsprojekten Mitforschenden löste dieser Prozess viel Verunsicherung aus. Weiter zeigte sich, wie anspruchsvoll es ist, in eigenen Erfahrungen übergreifende Themen zu erkennen. Dazu war der Austausch sehr wichtig: Aussagen wie »ja genau, bei mir war es auch so« oder »ich habe das anders erlebt, weil …« zeugen davon, dass es gelang, Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede zu erkennen. Ausgehend von den Diskussionen wurden schließlich relevante Themen eruiert und ein Interviewleitfaden erstellt. Da sich die Gruppen hinsichtlich des Alters (G1: 24-29 J.; G2: 20-25 J.; G3: 17-19 J.) und der Erfahrungen in Bezug auf den Übergangsprozess unterschieden, differierten die Leitfragen zwischen den Gruppen geringfügig. Wie die Auswertung zeigt, verweisen die unterschiedlichen Themen auf sich altersbedingt verändernde Herausforderungen. Die gemeinsam protokollierten Reflexionen nach der ersten Interviewführung sowie während der Erhebungsphase zeigten weiter, dass bei allen Beteiligten das Vorwissen irritiert und weitere Reflexionen angeregt werden konnten. Die Treffen ähnelten teilweise einer Selbsthilfegruppe. Die Interviewmethode erwies sich grundsätzlich als gute Form, die Erfahrungen von 39 Care Leavern einzuholen – die Care Leaver waren motiviert und führten Interviews entlang ihrer Leitfäden. Bewertet man die Transkripte nach den methodenimmanenten Kriterien für eine gute Interviewführung (vgl. Helfferich, 2011), so zeigt sich, dass die Interviews sehr unterschiedlich und häufig dialogisch geführt wurden. Aufgrund der Nähe der Mitforschenden zu den befragten Care Leavern lässt sich ein starker Co-Konstruktionsprozess erkennen. Manche Interviewer*innen be- fragten eher direktiv, während es anderen gelang, offene Fragen zu stellen und so den Interviewten die Relevanzsetzung zu überlassen. Die unterschiedlichen Stile der Gesprächsführung spiegeln sich in einer unterschiedlichen Qualität und Dauer der Interviews wider. Das partizipative Vorgehen erfüllt somit die methodenimmanenten Kriterien kodifizierter qualitativer Methoden nur teilweise. Zugleich zeigte sich, dass eine dialogische Befragung für viele Beteiligten adäquat war. Dies ist im Kontext der PAF höher zu gewichten als die methodenimmanenten Kriterien. Anschließend wurde das so erzeugte Datenmaterial durch die akademisch Forschenden inhaltsanalytisch nach zentralen Themen ausgewertet. Diese wurden – unter Bezugnahme auf Textstellen – in einem nächsten Schritt gemeinsam mit Care Leavern und Fachpersonen diskutiert. Die gemeinsame, zirkuläre Reflexion ermöglichte es, weitere Erfahrungen einzubringen und zu vertiefen, was die unterschiedliche Qualität der Transkripte auszugleichen vermochte. Somit wurde unterschiedliches Wissen zusammengebracht und kollektiv validiert. Die Sichtweisen der Care Leaver boten auch neue, für die beteiligten Fachpersonen teilweise irritierende Erkenntnisse. Entlang von unterschiedlichen Sichtweisen ergaben sich vertiefte Diskussionen. Hier zeigte sich, wie wichtig es ist, unterschiedliche Sichtweisen einzubeziehen, Ambivalenzen zuzulassen und Ergebnisse in mehrfachen gemeinsamen Reflexionsschlaufen zu validieren und zu protokollieren. Die Ergebnisse bieten die Gelegenheit, die Heimerziehung »vom Ende her zu denken« (Forschungsteam »Care Leaver erforschen Leaving Care«, 2019). Obwohl der gemeinsame Erkenntnisgenerierungsprozess reichhaltig war, zeigten sich zugleich auch Grenzen. So fehlten gewisse Themen, die im Fachkontext diskutiert werden wie bspw. Erfahrungen von Rassismus und/oder von Ausgrenzung als LGBTIQ* Jugendliche und/ oder Erfahrungen der Abwertung geistiger und körperlicher Fähigkeiten. Es ist zu vermuten, dass es sich hierbei um sehr persönliche Themen handelt, die nicht so leicht in einer Forschungsgruppe besprochen werden können. Weiter wurde der Bedarf an emotionaler Unterstützung und sozialer Anerkennung nur implizit sichtbar in Äußerungen wie »ich war alleine«, »ich hätte mir gewünscht, dass jemand nachfragt« – dies erforderte eine sorgfältige Analyse impliziter Thematisierungen. Dieser exemplarische Einblick in Erfahrungen und Diskussionen zeigt, wie zur Einschätzung des Qualitätskriteriums der Angemessenheit der Methoden und des Prozesses laufend Entscheidungen zu treffen sind: »It is argued that action research is characteristically full of choices, and the argu- ment is made that quality in inquiry comes from awareness of and transparency about the choices available at each stage of the inquiry« (Reason, 2006: 187). Deutlich wird, dass bei Entscheidungen 32 Sonderheft 16 np Heeg et al. Qualifikationskriterien in partizipativen Forschungsprojekten das prozessuale Argument höher gewichtet wird als das der methodischen Genauigkeit. Vielmehr werden laufend adäquate Formen der Wissensgenerierung gesucht, die aus diesem Grund fortlaufend reflektiert und begründet werden müssen. Dies führt zugleich zu neuen Fragen bspw. hinsichtlich der Aussagekraft und Reichweite des gemeinsam hervorgebrachten Wissens sowie zum Einfluss der akademisch Forschenden und Fachpersonen – was hier nicht weiter ausgeführt werden kann. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass bei der Prozessreflexion die Qualitätskriterien qualitativer Forschung immer auch als Referenzrahmen implizit beigezogen wurden, allerdings eher um zu begründen, warum bestimmte Entscheidungen anders getroffen werden mussten. 6 Schlussfolgerungen Argumentiert wurde in diesem Beitrag, dass mit zunehmendem Grad an Partizipation eine vermehrte Abwägung zwischen Qualitätskriterien qualitativer Sozialforschung und Qualitäts- kriterien zur Gestaltung der Partizipation notwendig ist. Zur Veranschaulichung wurden ein partizipatives Forschungsprojekt (PF) und ein partizipatives Aktionsforschungsprojekt (PAF) mit Hinblick auf das Kriterium der »methodischen Angemessenheit« diskutiert. Das Projekt »Generation Smartphone« wurde vom Ergebnis ausgehend konzipiert: Es wurde gefragt, mit welchem Vorgehen welche Daten und Schlussfolgerungen zu erwarten sind. Die akademisch Forschenden nahmen die Experten*innenrolle im Hinblick auf die Wissensgenerierung ein. Sie planten das gesamte Forschungsdesign und trugen die Hauptverantwortung bei der Umsetzung. Die Jugendlichen wurden in der Auswertung als Experten*innen einbezogen. Mit dieser Setzung orientierte sich das Projekt an einer Wissensproduktion in einem eher klassischen Wissenschafts- verständnis. Damit war der Bezug zu Kriterien der qualitativen Sozialforschung naheliegend und anregend mit Blick auf die Reflexion des eigenen Vorgehens. Qualitätskriterien der qualitativen Sozialforschung – wie bspw. Abbildung der subjektiven Perspektiven der Befragten sowie ihrer Lebenskontexte, Anwesenheit im Feld, Interpretation in Gruppen, kommunikative Validierung – wurden im vorliegenden partizipativen Forschungsprojekt in hohem Maße berücksichtigt. Im Forschungs- und Entwicklungsprojekt »Care Leaver erforschen Leaving Care« erwies sich eine ausschließliche Orientierung an qualitativen Qualitätskriterien hingegen als unbefriedi- gend beziehungsweise zuweilen hinderlich. In den Mittelpunkt des Prozesses wurde gelingende Partizipation als Voraussetzung für die Produktion sozial robusten Wissens gestellt. Durch den Einbezug von Care Leavern und Fachpersonen im gesamten Prozess war viel Offenheit für den partizipativen Prozess und die Formen der Wissensgenerierung erforderlich. Die methodenimma- nenten Kriterien der qualitativen Forschungsmethoden wurden zwar als Referenzrahmen bei der Reflexion einbezogen, sie erwiesen sich allerdings häufig als zu eng für den offenen und laufend zu gestaltenden partizipativen Forschungsprozess. Die richtungsweisenden Entscheide wurden stärker mit Blick darauf getroffen, dass die Beteiligung gestärkt wurde und weniger im Hinblick auf kodifizierte methodische Verfahren. Auf diese Weise wurden beispielsweise für das Projekt adäquate Formen der Wissensverdichtung – wie gemeinsame Reflexionsschleifen – entwickelt. Insgesamt, so unsere Schlussfolgerung, besteht ein Kontinuum zwischen einem auf Wissenszu- wachs fokussierten partizipativen Forschungsprojekt (in welchem in der Tendenz ein gewisses Maß an Vorausplanung möglich ist) und einer rollend geplanten PAF mit ihrer starken Orientierung an Empowerment und gemeinsamer Veränderung von Praxis. Je nach Positionierung innerhalb dieses Kontinuums stellen sich unterschiedliche erkenntnistheoretische Fragen sowie Fragen nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Praxis. Damit verbunden entstehen verschiedene paradig- matische Anforderungen an die Offenheit, die Beteiligung und die Geltung unterschiedlicher Perspektiven des Wissens. Die Frage zur Qualität von partizipativer Forschung und von PAF erschöpft sich daher nicht in der Darlegung und Rechtfertigung von einem Mehr oder Weniger 33 Sonderheft 16 np Heeg et al. Qualifikationskriterien in partizipativen Forschungsprojekten an Partizipation oder von einem Mehr oder Weniger an Orientierung an etablierten Methoden. Vielmehr verlangt die Auseinandersetzung mit partizipativen Ansätzen eine Vergewisserung bezüglich der leitenden erkenntnistheoretischen Positionen und Begründungszusammenhänge. Die qualitative Sozialforschung bezieht sich erkenntnistheoretisch stark auf die Phänomeno- logie, deren Ziel darin besteht, das Wesen einer Sache, also das Verallgemeinerbare, Invariante, zu erfassen. Damit ein Phänomen so erfasst werden kann, wie es ist, soll das Vorwissen über einen Gegenstand nach Möglichkeit ausgeschaltet werden (Lamnek, 2005). Ansätze qualitativer Sozialforschung haben grundsätzlich ein hohes Interesse an methodisch kontrollierter Wissens- produktion. Das Projekt »Generation Smartphone« lässt sich hier verorten. Projekte wie das partizipative Projekt »Care Leaver erforschen Leaving Care« sind erkennt- nistheoretisch in einem praxeologischen Paradigma verortet (vgl. Pascal/Bertram, 2012; Rigg, 2014). Ausgegangen wird davon, dass Wissen im gemeinsamen Handeln konstruiert wird und sich in unterschiedlichen Formen ausdrückt (z.B. kognitives Wissen, praktisches Wissen, Erfahrung, Intuition, Kunstfertigkeit) (Bradbury, 2015: 5). Die unterschiedlichen Wissensformen müssen somit rekonstruiert, zusammengeführt und gemeinsam zirkulär reflektiert werden. Nach Strübing müssen Gütekriterien »die jeweiligen Geltungsbegründungen eines Forschungs- stils ebenso mitberücksichtigen wie die Intention des jeweiligen Forschungsvorhabens« (Strübing, 2013: 191 f.). Dies erfordert laut Bradbury Huang (2010:104) zugleich eine Positionierung des Forschungsprojekts: »We must also acknowledge that confusion and disdain will always arise when we insistently evaluate one paradigm using the standards of the other. In simple terms we cannot compare apples and oranges, or, more properly as we are reflecting on paradigmatic difference, we cannot compare apples and blue.« Der exemplarische Einblick in die beiden Projekte zeigt, dass diese unterschiedlichen Diskurse tatsächlich nicht ohne Weiteres zusammengeführt werden können, weil sie einer unterschied- lichen Logik unterliegen und sich auf unterschiedliche erkenntnistheoretische Grundlagen beziehen. Dennoch erwies sich die Betrachtung der beiden Diskursstränge als produktiv, da die kontinuierliche Diskussion des Verhältnisses von Partizipation und kodifizierten Methoden auf bestehende Herausforderungen verweist und Anregungen zur Selbstreflexion bietet. So sind die Fragen, die durch die Kooperation von akademischen und außerakademischen Akteur*innen auftauchen, gewinnbringend für die Qualitätsdebatte in beiden Diskurssträngen. Im Rahmen des Diskursstrangs zu qualitativer Forschung kann er zu einer Vergewisserung bezüglich des Einbezugs von außerwissenschaftlichem Wissen dienen und die Sensibilität für unterschiedliche Perspektiven und neue Methoden schärfen. Im Rahmen der partizipativen Aktionsforschung können methodologische Diskurse der qualitativen Sozialforschung Anregungen für methodische Überlegungen bieten. Damit verbunden stellt sich auch immer die Frage nach den Grenzen von Wissenschaft/Forschung und anderen gesellschaftlichen Diskursfeldern, was von Unger mit Bezug auf Gieryn als nötige »Grenzarbeit« bezeichnet (von Unger, 2014: 9). Partizipative Forschung und partizipative Aktionsforschung verschieben traditionelle Grenzziehungen, was unserer Ansicht nach eine weitere Auseinandersetzung erfordert. 34 Sonderheft 16 np Heeg et al. Qualifikationskriterien in partizipativen Forschungsprojekten Literatur Ahmed, S./Rein, A./Schaffner, D., 2018: Einblicke ins Mayring, P., 2002: Einführung in die qualitative Sozial- partizipative Forschungs- und Entwicklungsprojekt forschung. München »Care Leaver erforschen Leaving Care«. In: Soziale McCartan, C./Schubotz, D./Murphy, J., 2012: The self-con- Innovation 2018, H. 1: 66-71 scious researcher-post-modern perspectives of Bagnoli, A./Clark, A., 2010: Focus groups with young peo- participatory research with young people. In: Forum ple: a participatory approach to research planning. Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative In: Journal of Youth Studies 13, H. 1: 101-119 Social Research 13, H. 1 Beresford, P., 2013: From ›other‹ to involved: user involve- Pascal, C./Bertram, T., 2012: Praxis, ethics and power: ment in research: an emerging paradigm. 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Weinheim 35 Sonderheft 16 np Aghamiri, Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess Kathrin Aghamiri Das Recht auf den eigenen Standpunkt: Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess The approach that sees children as objects depends, and in parts relies, on the exclusion of children from a voice in research. (Christensen/Prout, 2002: 482) 1 Einleitung: Kinder als Beforschte der Sozialen Arbeit Begründungen für partizipative Forschung in der Sozialen Arbeit können sich unter anderem auf zwei prominente Theorieentwürfe stützen: das Konzept der Lebensweltorientierung und seine zentrale Forderung »die Eigensinnigkeit der Adressat*innen« anzuerkennen und zum Ausgangspunkt des eigenen Handelns zu machen (Grunwald/Thiersch, 2018: 307) sowie die Be- stimmung Sozialer Arbeit als »Menschenrechtsprofession«, die vor der Herausforderung steht, wissenschaftliches Wissen stets (auch) unter Aspekten von Deutungsmacht zu reflektieren und mit dem Wissen der Adressat*innen in einen Dialog zu bringen (Staub-Bernasconi, 2018: 379). Im Zuge der Professionalisierungsdebatte wurde das Postulat, die Perspektive der Adressat*innen zu berücksichtigen, jedoch vor allem an die Profession adressiert, weniger an die Disziplin: Empirisch- qualitative Sozialarbeitsforschung sollte sich dementsprechend systematisch(er) mit der Frage beschäftigen, wie sie sicherstellt, dass diejenigen, die mit Sozialer Arbeit konfrontiert sind, auch Gehör finden in Bezug darauf, was Soziale Arbeit (aus-)macht (Aghamiri/Streck, 2018: 107 ff.). In der Diskussion um die Forschungsperspektive auf Adressat*innen oder Nutzer*innen (einen Überblick gibt Graßhoff, 2013) wird immer wieder auf ein asymmetrisches Machtverhältnis ver- wiesen, in dem die Forschenden beispielsweise Deutungsmuster der Beforschten stellvertretend rekonstruieren. Sind die Beforschten nun allerdings Kinder, wird diese Machtasymmetrie noch potenziert, weil das intergenerationale Moment hinzutritt: In der Forschung mit Kindern treten nicht nur Wissenschaftler*innen Beforschten gegenüber, sondern Erwachsene treffen auf Kin- der. Das pädagogische Verhältnis als Machtverhältnis überlässt den Erwachsenen in der Regel die Definitionsmacht darüber, wie Kinder sein sollen, ob ihre Anliegen berechtigt sind, ob sie Gehör finden. Implizit defizitäre Unterstellungen an junge Menschen schreiben sich bisweilen auch in die Forschungsmethodenliteratur ein, wenn Kindern beispielsweise abgesprochen wird, »ein solides Maß an Erinnerungsvermögen – gekoppelt mit sprachlicher Klarheit« aufzubringen, was den »Wahrheitsgehalt« ihrer Aussagen schmälere (Trautmann, 2010: 83); sie würden sozial erwünschte Antworten geben und könnten Fiktives und Erlebtes nicht »korrekt« unterscheiden (z.B. Mayall 1994 zit. n. Hülst, 2012: 55). Die Deutungshoheit der erwachsenen Forscher*innen wird auf diese Weise nicht nur aus methodologischer, sondern auch aus einer adultistischen Perspektive unterstellter Unmündigkeit legitimiert. Um dem gegenzutreten, schlagen Christensen und Prout das Prinzip einer ethical symmetry vor (Christensen/Prout, 2002: 482 ff.), die Aspekte der Machtasymmetrie zwischen forschenden Er- wachsenen und Kindern als sozial konstruiert versteht und mit Bezug auf forscherische Aktivitäten einfordert, die Informations- und Beteiligungsansprüche von Kindern als Beforschte genauso zu behandeln wie die von Erwachsenen. Die Forscher*innen schlagen in ihrem Konzept zum einen vor, Dilemmata des intergenerativen und forscherischen Machtverhältnisses in der Forschung 36 Sonderheft 16 np Aghamiri, Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess mit Kindern offenzulegen und verbindliche Abmachungen ethischer Selbstverpflichtung der Beteiligung zu entwickeln, zum anderen aber auch persönlich an einer dialogisch-respektvollen Haltung im direkten Kontakt mit den Kindern zu arbeiten (ebd.: 495). So sollte Forschung mit Kindern die Eigensinnigkeit der sozialen Interaktion im Alltagsleben der Kinder respektieren und die Interessen der Kinder vermitteln und achten (ebd.: 490). Die Frage einer partizipativen Forschung mit Kindern (auch im Kontext Sozialer Arbeit) wäre dann vor allem eine der sozialen Positionierung und Interaktion zwischen den Beteiligten und weniger eine nach »kindgerechten« Forschungsmethoden. Um also das maßgebliche Anliegen partizipativer Forschung, die Akteur*innen aus den jewei- ligen beforschten Lebenswelten als »Co-Forscher*innen« zu beteiligen (von Unger, 2014: 35), auch mit Kindern umzusetzen, stellen sich zwei zentrale Reflexionsanforderungen: Zum einen gilt es, den durch die Zugehörigkeit zur Erwachsenenwelt bestimmten Deutungskontext in Bezug auf die Repräsentationsformen der Kinder ständig zu hinterfragen, zum anderen aber auch das intergenerationale Machtverhältnis zwischen Kindern und erwachsenem*r Wissenschaftler*in substanziell kritisch zu betrachten und so zu gestalten, dass die Kinder sich selbst als relevant Beteiligte im Forschungsprozess erfahren (können). Inzwischen mehren sich in der deutschsprachigen Kindheits- und Schulforschung verschiedene Initiativen und Studien, die mit Kindern forschen (Heinzel/Kränzl-Nagl/Mierendorff, 2012; Feich- ter, 2015; Wöhrer et al., 2017; Kordulla, 2017; Büker et al., 2018; Eßer/Sitter, 2018); demgegenüber gibt es im Bereich der Sozialen Arbeit bzw. einer explizit sozialpädagogischen Forschung bisher nur wenige Versuche, junge Menschen systematisch in den Forschungsprozess einzubeziehen (ein Beispiel dafür ist die »Reisende Forschungsgruppe«: Ackermann/Robin, 2017). Für die Reflexion der Partizipationsqualität in Forschungsprojekten mit Kindern schlagen Mayne, Howitt und Rennie (2018) in Anlehnung an Roger Hart und mit Bezug auf die Formu- lierungen in Art. 12 und 13 der UN-Kinderrechtskonvention vier Dimensionen1 der Beteiligung vor: information, understanding, voice and influence. Mit Blick auf die Aneignung der Forschung durch die Beforschten diskutieren Richter et al. (2003) in einem Beitrag zur »Handlungspau- senforschung« die Möglichkeiten sozialpädagogischer Forschung als reflexiven Prozess. Wenn sozialpädagogische Forschung über Kinder den Forschungsprozess mit Kindern offenlegt, hinter- fragt, gestaltet und veröffentlicht, könnten sich die Kinder auch die Forschung selbst wiederum aneignen. Der Forschungsprozess würde dann selbst zum Bildungsprozess. Die diesem Beitrag zugrundeliegende Studie war nicht explizit als partizipative Forschung angelegt.2 Erst im Verlauf einer zirkulären Vertiefung in die heuristischen Grundannahmen ei- ner adressat*innenorientierten Fragestellung und im kontinuierlichen Dialog mit den Kindern während meiner Feldaufenthalte, die mich mit der Herausforderung konfrontierten, meine Beobachtungen immer wieder gemeinsam mit ihnen zu reflektieren und ggf. eigene Deutungen zu revidieren, entwickelte ich partizipative Vorgehensweisen und setzte mich mit den Bedin- gungen einer systematische(re)n Beteiligung der Kinder am Forschungsprozess auseinander. Im Verlauf meiner Forschung stellte sich mir also die Frage, wie das Verhältnis von Ethnografie und partizipativer Forschung beschrieben werden kann. Ist eine qualitative Studie, die zum Ziel hat, soziale Deutungs- und Handlungsmuster der Feldteilnehmer*innen möglichst subjektori- 1 Die vorgeschlagenen Kategorien sind ausdrücklich nicht als hierarchische Stufenleiter zu verstehen, sondern als Dimensionen der Beteiligung im Sinne unterschiedlicher Interaktionen, die auch wechselseitig aufeinander ver- weisen oder gleichzeitig präsent sein können. 2 Es handelt sich dabei um meine Dissertationsstudie, für die ich Kinder einer zweiten Grundschulklasse über einein- halb Jahre beobachtend begleitete, während sie sich mit einer sozialpädagogischen Gruppenarbeit zum »Sozialen Lernen« auseinandersetzten (Aghamiri, 2016). 37 Sonderheft 16 np Aghamiri, Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess entiert zu rekonstruieren, automatisch partizipativ? Oder aber: (Wie) Kann ein ethnografischer Forschungsstil die Idee einer ethical symmetry unterstützen? Der folgende Beitrag beschreibt und reflektiert meine Erfahrungen damit, die Kinder einer zweiten Grundschulklasse als Forschungspartner*innen an einer Studie über sozialpädagogische Angebote im Kontext Schule zu beteiligen. Im Zentrum steht dabei das Recht der Kinder auf einen eigensinnigen Standpunkt. Die Studie fragt danach, wie sich Kinder eine sozialpädagogische Gruppenarbeit der Schulsozialarbeit zum »sozialen Lernen« aneignen. Was machen die Kinder mit dem sozialpädagogischen Angebot? Wie nutzen sie es? Was ziehen sie aus ihrer Sicht aus dem Erlebten? In einem zirkulären und dialogischen Erhebungsprozess aus teilnehmender Beobach- tung und Einzel- sowie Gruppengesprächen wurden die Daten mit den Kindern diskutiert; die Ergebnisse dieses Prozesses flossen wiederum in das weitere Vorgehen ein. Zudem unternahm ich den Versuch, die (ersten) Ergebnisse den Kindern zugänglich zu machen und dafür eine (Klassen-)Öffentlichkeit zu schaffen. Der Beitrag beschreibt zunächst die Fragestellung und die zentralen Erkenntnisse der zugrun- deliegenden Studie (Kapitel 2). Im Anschluss fokussiert er die einzelnen Phasen von Daten- erhebung und Auswertung mit Bezug auf die Partizipation der beteiligten Kinder (Kapitel 3). Zum Abschluss reflektiere ich entlang der Dimensionen von information, understanding, voice and influence (Mayne/Howitt/Rennie, 2018), wie Partizipation in der Sozialarbeitsforschung mit Kindern weiterentwickelt werden könnte (Kapitel 4). 2 Die Studie: Das Sozialpädagogische als Spektakel Sozialpädagogische Gruppenarbeit inszeniert Gemeinschaften mit dem Ziel, Kindern und Ju- gendlichen Anregungen zu geben, Subjekte in Gesellschaft zu werden. Mollenhauer (1959/1987) vertritt die These, dass die Inszenierung von Gemeinschaften in der Pädagogik immer dann eine Renaissance erlebt, wenn sich tradierte und selbstverständliche Gruppenformen auflö- sen oder verändern und das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ungeklärt oder schwierig erscheint. Die Motivation der pädagogischen Institution Schule, auf »ihrem« Terrain mit der Kinder- und Jugendhilfe zusammenzuarbeiten, entsteht aus der Wahrnehmung heraus, mit konfliktbelasteten Gruppensituationen, aggressivem Verhalten und prekären kindlichen Lebenslagen überfordert zu sein (zusammenfassend: Schubarth, 2010). Vor diesem Hintergrund stellt sich Prävention als dominante Begründungsfigur für Soziale Arbeit an Schulen dar. Damit verbunden erscheint allerdings eine implizite Klientifizierung der Schüler*innenrolle am eigent- lich alltäglichen Lebensort Schule sowie eine erzieherische Perspektive mit dem Fokus auf die Verhinderung von unerwünschtem Verhalten. Partizipation wird in diesem Kontext typsicherweise weniger als Wert für sich, sondern eher als Mittel zum Zweck der Erreichung von Erziehungs- zielen angesehen (Oser/Biedermann, 2006: 25) und entsprechend selten in Form verbindlicher Mitbestimmungsrechte ermöglicht. Meine ethnografische Fallstudie stellt demgegenüber die Perspektive der Kinder auf das Ereignis in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Theoretischer Bezugspunkt ist das Aneignungskon- zept der kulturhistorischen Schule (z.B. Leontjew), insbesondere in seiner sozialpädagogischen Weiterentwicklung von Michael Winkler (1988; 2006), das sich der Frage widmet, wie Menschen sich kulturelle Gegenstände aneignen bzw. wie soziale Wissensbestände aufgenommen und im Prozess der Aneignung gleichzeitig verändert werden. Sozialpädagogische Erziehungs- und Bildungsdiskurse verweisen in diesem Kontext vor allem auf den Zusammenhang und die wechselseitige Verschränkung von Subjekt und Welt: Indem die Adressat*innen sich Angebote Sozialer Arbeit zu eigen machen, formen sie diese um. Aneignung ist dabei gekennzeichnet von Tätigkeit, Interaktion und Sinnhaftigkeit in Bezug auf persönliche, eigensinnige Erfahrungen 38 Sonderheft 16 np Aghamiri, Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess (Aghamiri, 2016: 50 ff.) und die jeweilige, geteilte Lebenswelt (ebd.: 71 ff.). Aneignung ist also immer relational eingebettet. Die Forschungsfragen richten sich dementsprechend auf die Perspektive und die Tätigkeit der beteiligten jungen Menschen: Wie eignen sich Kinder eine sozialpädagogische Gruppenarbeit an? Wie deuten sie das Erlebte? Was machen sie daraus? Was passiert mit dem Programm, den Interaktionen, den Kindern selbst? Dabei wird von der Grundannahme ausgegangen, dass sich die Kinder diejenigen Aspekte sozialpädagogischer Erziehung zu eigen machen, die ihren eigen- sinnigen Interessen entsprechen bzw. von denen sie irgendetwas haben. Um sowohl die Tätigkeit der Kinder als auch ihre Perspektive auf den Prozess erforschen zu können, entschied ich mich für eine ethnografische Einzelfallstudie, in der ich mich an den Prinzipien der Grounded Theory orientierte. Durch die Kombination dieser Forschungszugänge wurde eine mikroanalytische, zirkuläre Datenerhebung und -auswertung möglich. Dieses, für die Methodologie der Grounded Theory konstitutive Vorgehen, hat eine Analogie in der Diskussion um partizipative Forschung als »Aktion und Reflexion« (von Unger, 2014: 59 f.) und führte auch in meinem Projekt zu einem im Verlauf immer intensiveren Einbezug der Kinder in den Erhe- bungsprozess (vgl. Kapitel 3). Nach einem Beobachtungszeitraum von insgesamt 14 Monaten lag ein Datenkorpus von 13 zusammenhängenden Beobachtungsprotokollen vor, Transkripte von 30 Einzelgesprächen mit den Kindern sowie fünf Transkripte von Gruppengesprächen nach Abschluss des »Klassenseminars«. Ich beobachtete zum einen teilnehmend, wie die Kinder mitei- nander und mit dem Angebot interagierten, und näherte mich zum anderen über die Gespräche den eigensinnigen Deutungen der Kinder in Bezug auf das Erlebte und von mir Beobachtete an. Während der Beobachtungsphasen legte ich meine Notizen auf Nachfrage der Kinder offen und sprach mit ihnen über meine Ideen und Fragen. Eine der zentralen Ergebniskategorien für die Gruppenarbeit lautet: »Spiel und Spaß«. Diese Kategorie ist zudem maßgeblich für die Kernkategorie des Sozialpädagogischen als Spektakel (Aghamiri, 2016). Ein Spektakel meint einen außeralltäglichen und zeitlich limitierten Deutungs- und Handlungsrahmen innerhalb der lebensweltlichen Wirklichkeit, der als besonderes Ereignis die Ordnung der Schule zeitlich und räumlich begrenzt verändert. Im Spektakel werden Akti- vitäten, Initiativen, Rollenoptionen und leibliche Äußerungen möglich, die in der alltäglichen Rahmung der Schule nicht vorgesehen sind. Es darf gelaufen, geschrien und gelacht werden. Rollen werden erprobt und Freundschaften geknüpft. Das Spektakel ermöglicht eine stärkere Betonung von Leiblichkeit gegenüber der schulischen Disziplinanforderung, die Thematisierung von relevanten Aspekten wie Zugehörigkeit oder Konflikte um Regeln aus der Perspektive der Adressat*innen – oder auch ganz einfach die Aussetzung von exkludierenden Leistungsbe- wertungen als Entlastung von der Schüler*innenrolle. Ein Beispiel aus der ersten Einheit der Gruppenarbeit: Die Sozialpädagog*innen initiieren das Stuhlkreisspiel »Obstsalat«: Aimees3 Wangen sind gerötet. Sie schreit: »Apfel«. Die »Äpfel« springen hoch. Philippo schmeißt sich auf einen freien Stuhl und lacht laut. (…) Die Kinder quietschen, juchzen und rufen sich ge- genseitig an: »Banane, Banane!«. (…) Kinder, die bereits sitzen, weisen andere auf freie Plätze hin. »Hier, hier, hier!!«. Es geht schnell, die Kinder laufen hin und her. Jauchzen und Gelächter. Frau Knopf [die Lehrerin] geht laut dazwischen: »Obst kann nicht kreischen und nicht schreien!« Die Kinder schauen sie an, es wird kurz leiser, beim nächsten Aufruf brandet das Jauchzen erneut auf. (Beobachtungsprotokoll1/Z348–364) Spiel und Spaß erscheinen als die zentralen Modi der Aneignung des Sozialpädagogischen. Ihre Benennung als Kategorie ist das Ergebnis der Deutung durch die Kinder (vgl. Kap. 3.2), die im 3 Die in der Studie verwendeten Namen wurden von den Kindern selbst bestimmt. Sie entsprechen nicht ihren tat- sächlichen Namen. 39 Sonderheft 16 np Aghamiri, Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess Verlauf meines Feldaufenthalts immer mehr zu Forschungspartner*innen wurden. Die sich im Forschungsprozess entwickelnden Ansätze und Überlegungen, die Kinder systematisch(er) in Erhebung, Auswertung und Thematisierung der Ergebnisse einzubeziehen und damit ein Recht auf den eigenen Standpunkt der Beforschten zu realisieren, stelle ich im Folgenden vor. 3 Die Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess Wie einleitend bereits verdeutlicht, stellt eine spezifische Reflexivität des intergenerationalen Machtverhältnisses in der Forschung mit Kindern eine notwendige Selbstverpflichtung dar (vgl. Eßer/Sitter, 2018; Christensen/Prout, 2002; Honig/Lange/Leu, 1999). Forschung über Kinder sollte als Forschung mit Kindern stattfinden, wenn sie vermeiden will, Kinder erneut zu objektivieren (Christensen/Prout, 2002: 480 ff.). Forschung »aus der Perspektive von Kindern« (Honig/Lange/ Leu, 1999) ist demnach ohne Partizipation nicht zu realisieren und setzt ein aktives Interesse und eine Orientierung an den Relevanzsetzungen und Deutungen der Kinder voraus. Die erste Schlussfolgerung für eine partizipative Sozialarbeitsforschung mit Kindern lautet demnach universal: Die Kinder sind über ihre Rolle als beforschte Akteur*innen hinaus am Forschungs- prozess zu beteiligen. Ein partizipatives Forschungsinteresse wäre zunächst als Achtung und Anerkennung der eigensinnigen Deutungen der Kinder zu verstehen. Das bedeutet, dass Kinder über das Forschungsvorhaben, die Fragestellung(en), die Datenerhebung und auch die Ergeb- nisse zumindest gut verständlich informiert und verbindlich angehört werden müssten (Büker et al., 2018: 111). Auch die Eröffnung von Möglichkeiten der Einflussnahme auf die einzelnen Schritte im Forschungsprozess wären hierbei aktiv durch die Forscher*innen zu gestalten (ebd.). Als zentrales Element einer sozialpädagogischen Forschung plädieren Richter et al. (2003) dafür, den Forschungsprozess gemeinsam mit den Beforschten im Sinne einer »Handlungspause« (ebd.: 52) diskursiv und ohne Handlungsdruck zu gestalten. Die Beforschten erhielten dann die Möglichkeit, zum einen darüber mitzubestimmen, was sie in den Prozess einbringen wollen, zum anderen würde der Forschungsprozess auf diese Weise in pädagogischer Perspektive selbst zum Gegenstand der Aneignung durch die Beforschten. Dieses Vorgehen strebt die Verwirklichung eines anzunehmenden, grundsätzlichen Rechts der Subjekte auf eine stärker von ihnen kontrol- lierte Deutung ihrer Erfahrungen und Lebenswelten an (z.B. Rappaport, 1981). Wie aber können diese forschungsethisch und methodologisch begründeten Überlegungen im Forschungsprozess praktisch werden? Im Folgenden werde ich mit Bezug auf die skizzierte Studie einige Überlegungen zu einer partizipative(re)n Forschung mit Kindern vorstellen. Diese Überle- gungen beinhalten beide Perspektiven: Zum einen frage ich, wie Partizipationsmöglichkeiten für Kinder von erwachsenen Wissenschaftler*innen aktiv geschaffen werden können (3.1 und 3.2), zum anderen, wie Kinder sich Möglichkeiten von »voice« (Büker et al., 2018: 110; mit Bezug auf die zugrunde liegende Studie: Aghamiri, 2016: 344 ff.; 356 f.) im Forschungsprozess aneignen (3.3). 3.1 Datenerhebung: Reflexion, Information und Transparenz schaffen Ein ethnografischer Forschungsstil dient dazu, die sozialen Interaktionen von Akteur*innen in besonderen sozialen Situationen und Handlungskontexten zu untersuchen, die dort über einen längeren Zeitraum stattfinden. Der Gegenstand der Ethnografie sind soziale Praktiken, denen eine Sinnhaftigkeit zugrunde liegt, die durch das implizite Wissen der Feldteilnehmer*innen be- stimmt ist (Breidenstein et al., 2013: 33). Was tut eine Gruppe von Akteur*innen unter welchen Umständen und warum? Um begründete Aussagen darüber treffen zu können, was die Kinder 40 Sonderheft 16 np Aghamiri, Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess mit und aus dem sozialpädagogischen Klassenseminar machen, war es unumgänglich, dabei zu sein und ihre Interaktionen zu beobachten, d.h. zu sehen, zu hören und zu spüren. Um die Kinder am Forschungsprozess zu beteiligen und sie als Forschungspartner*innen anzuerkennen, reichen Beobachtungen aber nicht aus; im Gegenteil: In der Teilnahme an le- bensweltlichen Situationen sind Beobachtungen gerade mit Blick auf die »Befremdung der eigenen Kultur« (Amann/Hirschauer, 1997) auf die Dualität von beobachtendem Subjekt und beobachteten Objekten angewiesen. Ethnografische Beobachtungen in einer vertrauten, aber überaus hierarchisierten, pädagogischen Institution wie der Schule durch eine erwachsene Wissenschaftlerin laufen beständig Gefahr, adultistische Deutungsmuster mit Blick auf die Handlungen der Kinder zu reproduzieren und in die Datenerhebung einzubringen.4 Entlang eines partizipativ-ethischen Symmetrieanspruchs, der einen diskursiven Einblick in die jeweils unterschiedlichen Perspektiven eröffnen will (vgl. Eßer/Sitter, 2018: [24]), müssten die Kinder als vormalige »Beobachtungsobjekte« also Gelegenheiten bekommen, sich über die teilnehmende Beobachtung hinaus an der Datenerhebung zu beteiligen. Diesem Gedanken folgend führte ich während meiner Feldaufenthalte regelmäßige Gesprä- che mit den Kindern, um eine beidseitige Reflexion des Forschungsprozesses zu eröffnen. Die Teilnahme an den Gesprächen war freiwillig; eine Auswahl traf nicht ich, die Kinder selbst konnten sich bei mir melden.5 In den Gesprächen thematisierte ich Beobachtungen aus der sozialpädagogischen Gruppenarbeit und fragte die Kinder z.B., wie sie sich das Ereignis selbst erklärten (vgl. Fuhs, 2012: 94). Dabei wich ich z.T. bewusst von methodischen Hinweisen für das Führen von Interviews ab; indem ich die Kinder beispielsweise weniger durch Wie-Fragen zum Erzählen aufforderte (Kelle/Breidenstein, 1996), sondern sie nach dem Warum fragte und um eigene Positionierungen bat.6 Ein Beispiel aus einem Gespräch nach dem dritten Treffen mit der Gruppenarbeit: Die Auswer- tung meiner ersten Beobachtungsprotokolle hatte ergeben, dass die Kinder nicht über Zielsetzung und Begründung des Angebots informiert waren: I.: Warum glaubst du findet das hier statt in der Schule? Alissia: Weiß ich auch nich. (3,0) Weißt /DU das? I.: Ich glaube es hat damit was zu tun, dass sich die Erwachsenen wünschen, dass ihr als Klasse lernt, besser zusammen zu halten. (…) Du hast ja mal gesagt, bei KARL1 is das gut, weil da muss man nix lernen. Wie meintest du das denn? Alissia: < Jo. Da muss man nur n paar Sachen sagn, die /sind. Das is ja nix lern, das is ja einfach nur über sich erzähln. (Gespräch1/Alissia/Z218–226) Die Frage nach dem »Warum« regt jene subjektiven Argumentationen an, die in Interviews sonst eher kritisch gesehen werden. Ich bezog solche Fragen in die Datenerhebung ein, um eine dialogi- sche Reflexion über das Ereignis zu ermöglichen. Die Kinder ließen bei den Warum-Fragen keine Bedrängnis erkennen, sondern teilten ihre persönlichen Theorien mit oder stellten, wie Alissia im obigen Beispiel, auch Gegenfragen. Ich entschied mich in solchen Situationen, die mitunter künstliche Naivität der Wissenschaftlerin zu verlassen, die von den Kindern Deutungen einfor- derte, aber mit eigenen Informationen sparsam umging, und als Person zu antworten. Ausgehend von den Partizipationsdimensionen »Information« und »Verständnis« (Büker et al., 2018: 111) 4 So finden sich beispielsweise in meinen Beobachtungsprotokollen zahlreiche Hinweise auf die Lautstärke. Lautstärke ist in der Schule ein Zeichen für eine ungeregelte, »wilde« Unterrichtssituation, in der Kinder »über die Stränge schlagen« oder Erwachsene ihren Disziplinanspruch nicht durchsetzen (können). 5 Anfänglich hatte ich einzelne Kinder ansprechen wollen, aber das Interesse war so groß, dass ich von meinen forschungspragmatischen Beschränkungen Abstand nahm (vgl. Christensen/Prout, 2002: 490 [4]). 6 Vgl. ausführlich: Aghamiri, 2016: 111 ff. 41 Sonderheft 16 np Aghamiri, Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess vermittelte ich in den Gesprächen Informationen, über die auch die beteiligten Erwachsenen verfügten. Auf diese Weise bemühte ich mich um mehr Symmetrie im Erhebungsprozess. Zudem stellten die Gespräche Gelegenheiten dar, die sozialpädagogische Gruppenarbeit, aber auch die Beobachtungs- bzw. Forschungssituation selbst sowie meine ersten Auswertungsüber- legungen zu kommentieren. Ein Beispiel aus einem Gespräch mit Max: Wir reden über die Funktionsweise des Aufnahme- geräts. Max kommt dabei auf die Beobachtungssituation im Klassenraum zu sprechen. Max: Ja. Wenn du alles aufschreibst, das is dann //uhhh (.) ganz verwirrend. I.: < Das stimmt. Max: Hallo, hallo du sitzt also dann (--) da und nimmst ein Blatt (--) so. Und verschiedene Kinder reden, was sollst du dann zuerst aufschreiben? I.: Ganz genau. Max: Du guckst immer da und da und welche sollst du zuerst aufschreiben? Alle reden an einer Stelle und alle reden oder machen was anderes. (---) I.: Wie würdest /du das machen? Max: Ich würde sagen: still. Alle /still. Wenn sie still wärn (.), dann wärs besser. Weil nur //einer redet. (.) Dann. (Gespräch2/Max/158–167) Max versetzt sich in die Rolle der Beobachterin und antizipiert die Herausforderung, Feldnoti- zen anzufertigen. Daraus ergibt sich eine Gelegenheit, die Datenerhebung zu thematisieren, zu reflektieren und in gewissem Sinne auch zu rechtfertigen. Die Tätigkeit der Beobachterin wird für die Kinder transparent. »Nicht nur die Kinder sondern auch die ForscherInnen sollten zum Untersuchungsobjekt werden« (Heinzel, 2003: 129). Mit meinen Beobachtungsnotizen setzten sich die Kinder auch während der sozialpädagogi- schen Gruppenarbeit auseinander; sie fragten nach, was ich aufschrieb, suchten nach bekannten Namen und Begriffen und wiesen mich auf ihrer Einschätzung nach interessante Situationen hin. Paula und Ray schicken fast gleichzeitig die letzte Karte auf den Weg durch die Stuhlreihe. Anfeuern, Rufen, »LOS!«. Beide Gruppen reißen gleichzeitig die Arme hoch und rufen: »WIR!« Stefan [Sozialpädagoge] bittet um Ruhe, lacht, lobt, da müsse das Zielfoto entscheiden (…) Ray kommt zu mir: »Hast du aufgeschrieben, wie ich die Karte verloren hatte?« Ich schüttele den Kopf: »So schnell konnte ich das nicht.« Ray schaut auf meinen Block: »Da steht Ronny.« »Ja«, sage ich, »da habe ich geschrieben, wie Ronny seinen Tanz aufgeführt hat.« Ray nickt: »Schreib das mit der Karte auch noch auf.« (Beobachtungsprotokoll9/Z 332–346) Während die Gespräche mit den Kindern einen verbindlich(er)en Reflexionsort bildeten, ini- tiierten die Kinder im Verlauf meines Feldaufenthalts selbst verschiedene Gelegenheiten einer dialogischen Einflussnahme auf die Datenerhebung. Für die Kinder wurde die Forschungssituation zu einem Teil des »Spektakels«, innerhalb dessen sie es kommentieren konnten. 3.2 Auswertung der Daten: Spiel und Spaß als Kategorien der Kinder In der Diskussion um partizipative Auswertung werden Ansätze und Verfahren im Allgemeinen nach ihrem Grad der Formalisierung und Strukturierung sowie nach expliziter und impliziter Anlage unterschieden (von Unger, 2014: 61). Von Unger plädiert dafür, den Blick nicht auf die mehr oder weniger »korrekte« Anwendung eines spezifischen Verfahrens zu richten, sondern auch die Auswertung in erster Linie als gemeinsame Reflexion der verschiedenen Perspektiven zu betrachten (ebd.). In diesem Sinne überschneiden sich die Phasen der Erhebung und Aus- wertung; sie sind gemeinsam als Co-Konstruktionsleistung zu verstehen. Im Folgenden führe ich einige eher fragmentarische Gedanken zur Umsetzung dieser Co- Konstruktionsleistung im Auswertungsprozess an. Im zirkulären Verlauf der Datenerhebung und -auswertung im Sinne der Grounded Theory übernahm ich Deutungsbegriffe der Kinder 42 Sonderheft 16 np Aghamiri, Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess zunächst als »in vivo«-Kodes in mein Kategoriensystem: Spiel und Spaß wurden zu zentralen Bezeichnungen der Aneignung des Sozialpädagogischen (Aghamiri, 2016: 175 ff.; 219 ff.). Die- ses Vorgehen entsprach zunächst der gewählten Methodologie, es war weniger als Ergebnis einer partizipativen Machtabgabe zu verstehen. In der Diskussion meiner Daten im Rahmen verschiedener Forschungswerkstätten und Kolloquien wurde diese Benennung allerdings sehr kontrovers debattiert: Die Begriffe seien zu kindlich pauschal; es seien Ausdrücke, die Kinder ganz allgemein verwendeten und die wenig Aussagekraft besäßen, sie stellten lediglich Verle- genheiten dar mangels präziserer Ausdrucksmöglichkeiten seitens der Kinder. Ich entschied mich schließlich, die Begriffe genau deswegen zu übernehmen, weil sie von Kindern gebräuchliche Begriffe zur Meinungs- und Selbstäußerung darstellten, insbesondere wenn es um pädagogische Angebote geht (vgl. z.B. Dimbath, 2005). In den Gesprächen bemühte ich mich um eine dialogische Auswertung, indem ich die Kinder beispielsweise bat, mir zu erzählen, wie und wo Spaß denn entstehen würde, was besonders Spaß mache und wie sich der Spaß vom Nicht- Spaß unterscheide. Spiel und Spaß bekamen als Elemente der kindlichen Alltagssprache so einen bedeutsamen Platz im Kategoriensystem. In der Folge traten pädagogisierende Bedeutungen in der Entwicklung des Kategoriensystems zurück. Die Kernkategorie »das Sozialpädagogische als Spektakel« greift Spiel und Spaß auf, kontrastiert die kindlichen Deutungskategorien aber mit der Disziplinanforderung von Schule als alltägliche Lebenswelt. Auf diese Weise spiegelt das Kategoriensystem die verschiedenen Perspektiven der Beteiligten, deren verschränkte Dar- stellung und Reflexion grundlegend für eine partizipative Forschung gelten (Berghold/Thomas, 2012; von Unger, 2014; Eßer/Sitter, 2018).7 (Wie) Kann das Ergebnis der Forschung nun aber an die Kinder zurückgegeben werden (vgl. Richter et al., 2003)? Von Unger verweist darauf, die Daten entsprechend aufzubereiten (2014: 64). Nach Beendigung der Feldaufenthalte schrieb ich die bis dahin erarbeiteten Kodenamen auf große Papierbögen und illustrierte sie mit Fotos aus den teilnehmenden Beobachtungen. Außerdem ging ich das Material durch und stellte für jedes Kind der Klasse Zitationen und Datensequenzen zusammen, die ich für interessant hielt und zu denen das betreffende Kind in Beziehung stand – entweder, weil das Zitat von ihm stammte oder es in der Beobachtungssequenz als Akteur*in sichtbar wurde. Diese Segmente klebte ich als Leporello zusammen. Danach vereinbarte ich mit der Klasse ein Abschiedstreffen, zu dem ich die Leporellos und die Wandzeitung mitbrachte. Ich hole nun die »Forschungsgeschenke« aus meinem Korb und hänge die Wandzeitung mit Frau Knopf [Lehrerin] an die Tafel. »Oh.« »Ist //das schön.« »Danke.« Ich frage, ob jemand etwas wiedererkennen kann. »Am Strand!«, ruft Max. »Da haben wir das mit der ganzen Mannschaft geschafft!« Ich lese die Moderationskarten vor, die auf die Fotostrecke geklebt sind: »Neue Spiele kennen lernen.« »Freunde haben.« »Freunde besser kennen lernen.« »Alle spielen zusammen.« »Spaß in der Klasse haben« »Die Geschichte war am Anfang ein Fragezeichen und am Schluss nicht mehr wichtig.« »KARL ist kein Lernen, wie in der Schule.« »Mal was anderes in der Schule erleben.« Ich lese die Karten vor. »Was dort steht, habe ich aus dem, was ihr mir erzählt habt und was ich beobachten konnte. Das ist noch nicht fertig, aber erst mal das, was ich habe. (…)« Viele nicken, Aimee meldet sich: »Ich fande die Piratengeschichte aber gut.« Jan: »Ich auch.« Lara zuckt die Schultern: »Welche Geschichte? Die Spiele.« Daniel: »Käptn Jack!« »Mmh, nich wichtig. War Babykram. Die /Spiele warn gut«, sagt Hannah. Wir einigen uns darauf, dass es dort so stehen bleiben kann. Ich bitte Max, der sich meldet, die Überschrift vorzulesen. »Weil ohne Freunde is das für jeden so allein.« Es ist ganz leise. Man könnte jetzt eine Stecknadel fallen hören. Ich sage den Kindern, dass ich den Satz wichtig finde und ihn auch so in das Buch schreiben will. (…) 7 Dazu ergaben sich verschiedene in-vivo-Kodes, die die Entwicklung einer Theorie von sozialpädagogischer Gruppen- arbeit als Spektakel zusätzlich anregten; hierzu zählt z.B. die Bezeichnung »Spielleute« für die Sozialpädagog*innen. 43 Sonderheft 16 np Aghamiri, Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess Die Leporellos nehmen die Kinder mit großem Interesse entgegen. Sie zeigen sich gegenseitig die Einträge. Hannah und Alissia fragen, warum ich gerade diesen Eintrag ausgesucht hätte. (Beob- achtungsprotokoll13/Abschied/Z 92–119; 136–140) Die Co-Forscher*innen gehen hier noch einmal in die Reflexion, aber auch in eine gemeinsame Diskussion der vorläufigen Kategorien. Solche Ansätze könnten in der Forschung mit Kindern ausgeweitet und systematisiert werden. Das Recht auf den eigenen Standpunkt bedingt auch das Recht auf Information. 3.3 Die Gespräche als Verhandlungsraum von Bildung und Beschwerde Ausgehend von der Fragestellung, wie sich Kinder eine sozialpädagogische Gruppenarbeit zu eigen machen, kann unter Gesichtspunkten beteiligungsorientierter Forschung nicht nur nach dem Zurverfügungstellen von Orten für Partizipation durch die Wissenschaftler*innen gefragt werden, sondern auch nach dem »Wie« der Aneignung dieser Orte durch die Kinder (vgl. Agha- miri, 2016: 309 ff.). Der folgende Gesprächsausschnitt stammt aus dem Gruppengespräch mit Lara, Hendrina und Hannah am Schuljahresende (vgl. ebd.: 312 ff.). I.: Dies Gefragt werden beim Interview wie fandet ihr /das denn? Lara: Gut. Hendrina: [Grade? I.: Überhaupt so. Hannah: //Richtig gut. Lara: Gut. Hendrina: Ich auch. (…) Lara: =also dass wir über alles gesprochen haben noch mal und dass du jetzt auch weißt, was wir so fühln. Hendrina: Also /ich weil (.) also ich hab jetzt auch n bisschen also n bisschen //mehr gelernt (.) und jetzt weiß ich auch (.) jetzt weiß ich auch genau /was mir gefalln hat und so. Weil sonst hätt ich das vergessn und jetzt is das da drinne <> (Gespräch4/Hannah/Hendrina/Lara/Z 484–498) Auf die Frage im Abschlussgespräch, wie die Kinder die Interviewgespräche bewerten, bekräftigen sie die allgemein positive Einschätzung, die sie auch dem »Spektakel« entgegenbringen. Lara schätzt die Gespräche, weil die Forscherin die subjektive Sicht der Kinder erst dort erfahren habe. Sie verdeutlicht damit die Gespräche als Gelegenheit der Perspektivenverschränkung zwischen sichtbaren Handlungen und Selbstpräsentation, indem sie das Beobachtbare und das Erleben unterscheidet. Das Geschehen und die Erlebnisebene werden verknüpft und enthüllen erst auf diese Weise den Sinn subjektiver Handlungen. Eine Aneignung der Gespräche findet für Lara im Austausch mit der Forscherin statt. Hendrina knüpft ebenfalls an die dialogische Reflexion an. Sie argumentiert allerdings in um- gekehrter Richtung, indem sie ihren eigenen Zuwachs an Verstehen benennt. Nach dem Inter- viewgespräch sei sie nun »genauer« in der Lage, sich eine Meinung über das Erlebte zu bilden. Sie betont, dass die Reflexion über Erlebnisse und Empfindungen ihre Erfahrungen nun in der verfügbaren Erinnerung verankert habe. Hendrina bestätigt damit die Annahme, dass dialogische Interviewgespräche dazu beitragen, den Forschungsprozess selbst zum Bildungsprozess werden zu lassen (vgl. Richter et al., 2003: 48). Beide Kinder fassen an dieser Stelle in wenigen Sätzen komplexe Zusammenhänge von Forschung und Dialog sowie von Reflexion und Bildung als wechselseitige Prozesse zusammen. In der Herstellung von Erkenntnis sind die Kinder als Co- Konstrukteur*innen in den Forschungsprozess einbezogen. Aneignung geschieht als reziproke 44 Sonderheft 16 np Aghamiri, Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess Selbstreflexion in einem Dialog, der (weitere) Bildungsprozesse anregt und dazu beiträgt, eine eigene Position zum Erlebten zu entwickeln. Während im oben genannten Beispiel der Dialog zur Meinungsbildung im Vordergrund steht, eignen sich die Kinder Gesprächssituationen auch als Gelegenheit zur Positionierung zum sozi- alpädagogischen Angebot selbst an. Dazu Gözde im ersten Gespräch nach der dritten Einheit: Gözde: Also (--) ich f´ ich hätte gerne so /andere Spiele, nich immer so /gleiche und so. Das wird dann immer wieder langweilig und langweiliger. (…) I: Ok. Hast //du denn vielleicht noch ne andere Frage? Gözde: Also, eine Sache fand ich //nich toll. Das war dieses eine (--) dieses eine mit den Dings. Dieses Schatzsuche. (.) Diese eine /Trommel mit dieser Dings meint ich mit dieser Pferd und so. Als wir das gemacht haben. (…) Das wollt ich nur noch mal sagn. (.) Kannst du (.) Anja und Stefan vielleicht weiter sagen? (Gespräch1/Gözde/Zeile 143–148;180–189) Gözde bringt im Gespräch ein eigenes Anliegen zur Sprache, indem sie ihr Bedürfnis nach ab- wechslungsreichen Spielen formuliert, die im Spektakel die Spannung erhalten. Dabei spricht Gözde die Forscherin als Vermittlerin zwischen der sozialpädagogischen Gruppenarbeit und einer persönlichen Beschwerde an. Eine unmittelbare Kritik an den Sozialpädagog*innen scheint nicht möglich, aber die Forscherin in ihrer Sonderrolle als Begleiterin und Gesprächsfrau wird mit diesem Anliegen betraut. Gözde eignet sich das Gespräch im Sinne von »voice and influence« (Büker et al., 2018: 110 f.) an, indem sie Kritik übt und Informationen erfragt. Das curriculare Setting der sozialpädagogi- schen Gruppenarbeit lässt wenig Mitsprachemöglichkeiten zu. Das Interviewgespräch ist dagegen ein handlungsreduzierter und weniger pädagogisierter Ort, sodass die Kinder eigene Vorschläge einbringen können. Die Aneignung der Interviewgespräche im Verhältnis zum Spektakel be- deutet, dass die Kinder eigene Erlebnisse reflektieren, die Ideen der Forscherin kommentieren sowie Erkundigungen einholen und Vorschläge und Kritik am Erlebten äußern. Sie wirken auf diese Weise nicht nur an der Forschung mit, sondern positionieren sich auch gegenüber der sozialpädagogischen Gruppenarbeit. 4 Fazit: Das Recht auf den eigenen Standpunkt Wie aber steht es nun um die Frage nach dem Verhältnis einer subjektorientierten Ethnografie und partizipativer Forschung? Es konnte gezeigt werden, dass ein ethnografischer Forschungsstil nicht automatisch partizipativ ist. Allerdings implizieren und begünstigen der ethnografische For- schungsprozess und seine Eigenheiten, wie die längere Feldteilnahme und die Notwendigkeit der Etablierung einer Feldrolle, eine mögliche Hinwendung zu partizipativen Forschungsprinzipien. So erfordert und ermöglicht ein ausgedehnter Feldaufenthalt den Aufbau von dialogisch geprägten Beziehungen zu den Feldteilnehmer*innen, was wiederum eine Aushandlung von Bedeutung wahrscheinlicher und (im Sinne der Orientierung an normativen Theorien Sozialer Arbeit) ethisch notwendig erscheinen lässt. Entscheidend für die Umsetzung aber ist die Etablierung einer Feldrolle als soziale Verortung im Feld. Über die Ausgestaltung der Feldrolle treffen die Wissenschaftler*innen ethische Entscheidungen, wie z.B. Geheimnisse der Feldteilnehmer*innen nicht zu verraten oder alle zu Wort kommen zu lassen, die sich äußern wollen. Über die Feldrolle werden Entscheidungs- und Definitionsmacht geteilt oder aber als Expert*in behauptet. Die Voraussetzungen, um Kinder innerhalb der Disziplin Soziale Arbeit an Forschung und Forschungsentscheidungen partizipieren zu lassen, sind im Sinne einer »ethischen Symmetrie« (Christensen/Prout, 2002: 482) von den erwachsenen Wissenschaftler*innen so zu gestalten, dass die Kinder sich auch beteiligen können. Das heißt, dass Informationen für die Kinder 45 Sonderheft 16 np Aghamiri, Kinder als Beteiligte im Forschungsprozess verständlich, aber auch verbindlich zugänglich sein sollten (information). Sich informieren zu können und selbst zu entscheiden, ob man sich beteiligen möchte oder nicht, setzt methodisch angemessen vermitteltes, aber auch verlässlich zur Verfügung gestelltes Wissen voraus. In der von mir vorgestellten Studie ergab sich vieles erst im Prozess. Um aber ein Recht der Kinder auf den eigenen Standpunkt zu verwirklichen, sollten verlässliche, zugängliche Orte der Information und Reflexion von Beginn an mitgedacht werden. Eine besondere Herausforderung stellt dabei die Dimension von influence dar. Wird nämlich »gute Forschung« allein im wissenschaftlichen Diskurs ausgehandelt, bleibt jedwede »letzte Ent- scheidung« bei den erwachsenen Forscher*innen. Die Beteiligung der Kinder am Prozess wäre dann in letzter Konsequenz vor allem ein pädagogisches Projekt. Es müsste demnach auch mit der Perspektive der Kinder auf gute, verständliche Forschung geachtet werden (vgl. (Berghold/ Thomas, 2012: Abs. 90). Dafür braucht es die geforderte Reflexivität und ethische Selbstverpflich- tung, aber in erster Linie macht dies nur Sinn, wenn die Kinder auch ein relevantes Interesse an der Forschung haben. Es wäre also interessant, verstärkt danach zu fragen, welches Interesse Kinder an Forschung haben könnten und wie ihr Interesse auch in den entsprechenden Diskurs eingebracht werden kann. Wissenschaftler*innen müssten Machtabgabe dann dreifach denken: als Fachexpert*innen, Forschungsexpert*innen und Erwachsene. Literatur Ackermann, T./Robin, P., 2017: Partizipation gemeinsam https://doi.org/10.3224/diskurs.v13i1.10, Datum des erforschen: Die Reisende Jugendlichen-Forschungs- Zugriffs: 20.03.2019) gruppe (RJFG) – ein Peer-Research-Projekt in der Christensen, P./Prout, A., 2002: Working with ethical sym- Heimerziehung. EREV-Beiträge zu Theorie und Praxis metry in social research with children. In: Childhood der Jugendhilfe (TPJ), H. 18 9, H.4: 477-497 Aghamiri, K., 2016: Das Sozialpädagogische als Spekta- Dimbath, O., 2005: Alles aus ›Spaß an der Freud‹? Ein kel. Eine Fallstudie sozialpädagogischer Gruppenar- Versuch über die Deutung von ›Spaß‹ in der Jugend- beit in der Grundschule. 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Weinheim und Basel baden 47 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern Miriam Sitter »Aber Experten bestimmen.« Zur ungewissen Einlösung von Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern 1 Einleitung Partizipatives Forschen mit Kindern ist in zweierlei Hinsicht höchst bedeutsam: Zum einen, weil Kinder als Co-Forscher*innen1 die Möglichkeit erhalten, in der Bearbeitung und Analyse von Themen angehört zu werden, die ihr junges Leben betreffen. Und zum anderen, weil erwachsene Forscher*innen dazu beitragen können, dass Kinder dabei nicht nur in einem Anhörungsmo- dus verweilen, sondern in Entscheidungsfindungen und diesbezügliche Einflussnahmen aktiv einbezogen werden. Partizipative Forschung mit Kindern schafft somit – und idealerweise – die Möglichkeit für Kinder, Entscheidungen mit Erwachsenen zu teilen und eine wichtige Rolle in der Ausführung und Beeinflussung von empirischen Aktivitäten, an denen sie beteiligt sind, zu übernehmen (vgl. Lansdown, 2005: 15). Angesichts der generationalen Differenz sind diese geteilten Entscheidungen sowie Einfluss- nahmen im Rahmen eines Forschungsprojektes und darüber hinaus jedoch vor einige praktische Herausforderungen gestellt. Denn insbesondere bei notwendigen Überlegungen bspw. hinsichtlich des empirischen Designs müssen akademische Forscher*innen regelmäßig letztverantwortliche Entscheidungen alleine treffen, um das Vorankommen des Projektes zu garantieren. In dieser Übernahme sind durchaus auch forschungsethische Notwendigkeiten (vgl. Eßer/Sitter, 2018) eingelagert, zumal Kindern die alleinige empirische Verantwortung über das Vorankommen eines Projektes nicht zugemutet werden darf. Schließlich sind junge Co-Forscher*innen noch Kinder, denen das Recht zusteht, sich in Entscheidungen einzubringen, die sie anbelangen – aber eben stets mit einer aufmerksamen Berücksichtigung ihrer Kapazitäten (vgl. Groundwater-Smith/ Docket/Bottrell, 2015: 4; eigene Übersetzung) und ihres Anspruchs auf »Schutz und Fürsorge«, wie er in der Grundrechte-Charta der Europäischen Union zu finden ist. Forschungsethische Abwägungen geraten daher zeitweise mit dem Anspruch der partizipativen Forschung in Kon- flikt, Co-Forscher*innen und somit auch Kindern ausreichend Einflussnahmen zu ermöglichen, indem sie vor allem »persönliches Empowerment« (Bergold/Thomas, 2012: Abs. 49; dazu auch Lansdown, 2005: 14) entwickeln. 1 Entgegen einiger Kritik und Bedenken, die gelegentlich auf Tagungen oder Kongressen geäußert werden, dass die Verwendung des Begriffes Co-Forscher*innen zu geringschätzig sei, möchte ich die Nutzung dieser Begrifflichkeit für die partizipative Forschung mit Kindern anders bewerten und befürworten. Dafür beziehe ich mich auf die etymologische Herkunft der Vorsilbe »Co«/»Ko« oder »kon«, die – in deutscher Entlehnung – auf ein kooperatives und konzentrisches Moment (vgl. Seebold, 2011: 520 und 530) verweist. Kinder forschen schließlich zusammen mit akademischen Forscher*innen und kooperieren mit ihnen, womit implizit ihre lebensweltliche Perspektive zum Ausdruck gebracht wird, die für den kollaborativen Forschungsprozess so wertvoll ist. Eine systematische Unterscheidung zwischen co-forschenden Kindern und akademischen Forscher*innen vorzunehmen, drückt des- halb meines Erachtens ganz und gar nicht eine Geringschätzigkeit aus, sondern unterstreicht die enorme Relevanz unterschiedlichen (Erfahrungs-)Wissens aus der Lebenswelt der Kinder einerseits und aus dem Wissenschaftssystem der Akademiker*innen andererseits für den Forschungsprozess. 48 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern Als ein Konzept, das sich innerhalb der sozialen Arbeit u. a. der Stärkung von »Eigenmacht und Autonomie« (Herriger, 2014: 13) verschreibt, scheint Empowerment jedoch in genau diesem Sinne für die partizipative Forschung brauchbar zu sein, um zu einer »individuellen und kollektiven Selbst-Befähigung und Ermächtigung der Beteiligten« (von Unger, 2014: 45) beizutragen. Co- Forschende – und somit auch Kinder – sollen demgemäß in und durch Forschung gleichberechtigt in Wissensproduktionen einbezogen (vgl. Bergold/Thomas, 2012: Abs. 40) werden, um »ihre Ange- legenheiten selbst in die Hand zu nehmen und ihre Interessen durchzusetzen« (Bergold, 2013: 6). Innerhalb der Co-Forschung mit Kindern ist diese am Empowerment-Konzept orientierte Umsetzung und Einlösung mit Verantwortung tragenden Erwachsenen aus generationalen Differenzen heraus immer wieder ungewiss. Diese Ungewissheit anzuerkennen kann – so lautet meine These – dazu beitragen, den Empowerment-Begriff in seiner oftmals positiv-schillernden Verwendung kritisch zu reflektieren. Denn Kinder gelegentlich nicht ermächtigen und ihnen nicht kontinuierlich selbst-initiierte Forschungspraktiken eröffnen zu können, heißt nicht, ih- nen Momente für Empowerment grundsätzlich zu verwehren. Bestenfalls resultiert aus diesen Momenten eine Empowerment förderliche selbstreflexive Haltung, die den Einfluss von gene- rationalen Machtverhältnissen auf die (Un-)Möglichkeitsspielräume für Selbst-Initiierungen der Kinder bedenkt und niemals übersieht. Um dieses Argument zu verdeutlichen, wird im vorliegenden Beitrag zunächst das Empower- ment-Konzept theoretisch geklärt. Hierbei ist die Frage auszuloten, was Empowerment explizit für einen partizipativen Forschungsprozess mit Kindern bedeutet. Anhand eines laufenden For- schungsprojektes (dazu Eßer/Sitter, 2018) wird demonstriert, in welchen Forschungssituationen die anspruchsvolle Befürwortung von Empowerment ungewiss zu werden droht, gleichzeitig aber aufgrund genau dieser »Bedrohung« zum Gewinn für eine reflektierte Forschungspraxis und für die Ergebnisse über Zugehörigkeit werden kann. 2 Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern 2.1 Zweifel an einer gleichberechtigten Einflussnahme von Kindern Die Prämissen des partizipativen Forschungsstils und Empowerment-Konzeptes gehen in gewis- ser Weise Hand in Hand: So wird im Rahmen von partizipativer Forschung vielfach der Vorteil betont, dass gerade traditionell marginalisierte Gruppen der Bevölkerung durch kollaborative Forschungsprozesse die eher seltene Gelegenheit erhalten, »ihre Interessen begründet einzu- bringen und durchzusetzen« (Bergold/Thomas, 2012: Abs. 19). Anschlussfähig daran verweisen auch Goeke und Kubanski (2012: Abs. 29) auf die »erschwerten Partizipationsmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen in Forschungsprozessen«. An diese Beobachtungen schließt sich die sozialpolitische Wurzel des Empowerment-Konzeptes insofern gut an, als mit dieser doch ein »Prozeß der Umverteilung von politischer Macht« (Herriger, 2006: 14, Herv. i. O.) angestoßen wurde. Diese Umverteilung erlaube es schließlich Gruppen von Menschen, »aus einer Position relativer Machtunterlegenheit« (ebd.) herauszutreten und sich »ein Mehr an demokratischem Partizipationsvermögen und politischer Entscheidungsmacht« (ebd.) anzueignen. Entlang dieser Argumentation wird der Empowerment-Begriff für die partizipative Forschung daher recht selbstverständlich im traditionellen Kontext von Selbstbemächtigungen und Befä- higungsprozessen durch reflexive Zugänge zu Wissen aufgeführt. Hella von Unger (2014: 46) etwa diskutiert Empowerment dahingehend, dass Lernprozesse der Co-Forschenden anzustoßen sind, sodass sich neue Perspektiven für sie eröffnen und ihre Handlungsfähigkeit – über den Forschungsprozess hinaus – gestärkt wird. Unter Verweis auf einschlägige Forschungsprojekte 49 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern betonen auch Koenig und Buchner (2011: 270), wie die »Öffnung bislang verschlossener Systeme und Wissensbestände gänzlich neue Möglichkeiten für selbst-initiiertes Empowerment von Men- schen mit (intellektuellen) Behinderungen« mit sich bringt. Derartige Möglichkeiten können für sie als »Ausdrucksformen eines reflexiven Empowerment (Theunissen 2006) angesehen werden, wodurch der Zugang zu Wissen in der Lage ist, Grenzen zu verschieben und Handlungsmöglich- keiten zu erweitern« (ebd.). Ebenso häufig wird Empowerment mit dieser Perspektive anschlussfähig für eine ethisch ver- antwortungsvolle sowie Menschenrechte befördernde Forschung. Daher sollten für Goeke und Kubanski (2012: Abs. 71) Wissensbestände und Handlungskompetenzen »zur Verfügung gestellt werden, um individuelles Empowerment zu ermöglichen und Menschen mit Behinderungen mit ihrer Expertise anzuerkennen«. Eine partizipative Forschung unter Berücksichtigung von Empowerment ist somit für die Wissenschaftlerinnen erstrebenswert, weil »damit der aktuelle Anspruch der UN-Behindertenrechtskonvention nach ›der vollen, wirksamen und gleichbe- rechtigten Teilhabe an der Gesellschaft‹ unterstützt werden kann« (ebd.: Abs. 29). Partizipative Forschung, die Empowerment für eine ausgesuchte Klientel zu befördern beabsichtigt, versteht sich offensichtlich immer auch als eine »inklusive Forschung« (Hauser, 2013). Diese schafft die Möglichkeit, dass bspw. Menschen mit Lernschwierigkeiten eigene Wünsche und Vorstellungen entwickeln und selbstbestimmt artikulieren können (vgl. ebd.: 2). Und all dies mit dem Ziel, »Umsetzungsideen zu entwerfen« (ebd.). Eine derartige inklusive Forschung betrachten Koenig und Buchner (2011: 275) als eine Art »Selbstvertretung«; Menschen werden demgemäß vermittels ihrer Teilnahme an Forschung empowert, »um sich zur Wehr zu setzen«. Für den Einbezug von Kindern in partizipative Forschungsprozesse scheinen all diese aufge- führten Ziele einer empowernden und an den Menschenrechten orientierten Forschungspraxis ähnlich bedeutsam zu sein. Immer wieder rückt dabei die sozialpolitische Bedeutung von Empow- erment hinsichtlich der Umverteilung von politischer Macht besonders in den Fokus, um Kindern den Weg für mehr politische Einflussnahme zu bereiten (etwa Hart, 1992; Groundwater-Smith/ Dockett/Bottrell, 2015). Denn im Kontext der Kinderrechtsdebatte besteht nach wie vor Grund, in Zweifel zu ziehen, ob das Selbstbestimmungsrecht von Kindern und die angemessene Berück- sichtigung ihrer Meinungen, wie sie Art. 12 der UN-Kinderrechtskonvention formuliert, in der Praxis überhaupt ausreichend umgesetzt werden. Diesbezügliche bundespolitische Bemühungen zur Umsetzung, wie sie eine jüngere Hintergrundmeldung des BMFSFJ (2019) ankündigt, klingen in ihrer Differenziertheit nahezu heuchlerisch, wenn man bedenkt, dass die Kinderrechte in toto im 21. Jahrhundert noch nicht einmal im deutschen Grundgesetz verankert sind. So sei erst Ende 2019 ein Vorschlag für die »Ausgestaltung einer entsprechenden Grundgesetzänderung« (ebd.: o. S.) durch die Bund-Länder-Arbeitsgruppe zu erwarten. Umso mehr ist daher in jüngster Zeit der fordernde Ruf nach einer Forschung zu vernehmen, in deren Rahmen dieser Rückstand reflektiert und danach gefragt wird, wie Kinder durch Forschung und im Hinblick auf die Umsetzung ihre Kinderrechte und Bedürfnisse mehr Möglichkeiten für eigenständige Einflussnahmen erhalten können. Gemäß dieser Absicht ist eine derartige For- schung bspw. darauf fokussiert, Kindern und auch Jugendlichen zu zeigen, »wie man auf Strukturen [der, M. S.] Umwelt Einfluss nehmen« (Moser, 2012: 1) und sie ermächtigen kann, »sich die Welt anzueignen« (ebd.). Der Empowerment-Begriff taucht daher häufig im Kontext von partizipativer Forschung mit Kindern auf und steht regelmäßig für die Verbindung von Selbst-Befähigung und Selbst-Initiierung. Kinder sollten also in ihren potenziellen Einflussnahmen unterstützt und folglich empowert werden, »to take action« (Groundwater-Smith/Dockett/Bottrell, 2015: 13). »Through self-initiated processes, children [...] identify and define the area and methods of investigation. Children [...] themselves adopt the roles of researchers, facilitated by adults« (ebd.). 50 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern Eine Forschung, die sich diesem Anliegen widmet, versucht den Rechten von Kindern – ein- schließlich einer angemessenen Beachtung ihrer subjektiven Standpunkte zu Themen, die sie betreffen – in einem kollaborativen Forschungsrahmen ausreichend Aufmerksamkeit zu schenken und sie nicht auf eine »bürokratische Prozedur« (Krappmann, 2013: 4) zu reduzieren. Deshalb wird seit einiger Zeit vielfach betont, dass Kinder explizit in partizipativen Forschungsprozessen ausreichend an empirischen Entscheidungsfindungen teilhaben und diese beeinflussen sollten (u. a. Wöhrer, 2017; Groundwater-Smith/Docket/Bottrell, 2015; McCartan/Schubotz/Murphy, 2012; Prout/James, 1990). »Partizipativ« ist hier allerdings, wie es Wöhrer (ebd.: 38) betont, oftmals »sehr breit im Sinne von teilnehmend oder die eigene Perspektive einbringend gemeint, nicht unbedingt im Sinne einer gleichberechtigten Forschungsteilnahme«. Diese Kritik teilen auch Lansdown (2005) sowie Groundwater-Smith/Docket/Bottrell (2015). Eine Frage, die sie hierbei grundsätzlich aufwerfen, ist, ob partizipative Forschung nur eine vorgetäuschte oder doch eine echte Anstrengung sei, um die kindlichen Perspektiven gleich- berechtigt und hinsichtlich der Umsetzung der Kinderrechte zu involvieren (vgl. ebd.: 12). An diese kritische Frage anknüpfend unterscheidet Lansdown (2005: 14) schließlich drei »Degrees of participation«, indem sie argumentiert: »The deeper the level of participation, the more they are able to influence what happens to them, and the greater the opportunities for personal development«. Auf der ersten Ebene lokalisiert Lansdown »Consultative processes«. Entlang der Einsicht, dass Erwachsene nicht über das erforderliche Fachwissen verfügen, um Kinder angemessen zu berücksichtigen, wird für Mechanismen plädiert, mit denen die Perspektiven der Kinder zu eruieren sind, um diese für die Umsetzung der kindlichen Bedürfnisse nützlich zu machen. Derartige Konsultationsprozesse werden allerdings noch immer stark von Erwach- senen initiiert (vgl. ebd.). Auf der zweiten Ebene verortet Lansdown »Participatory processes«. Interessanterweise führt sie hier auf, dass Kinder auf dieser Ebene empowert werden können, um sowohl den Forschungsprozess als auch die Ergebnisse zu beeinflussen (vgl. ebd.: 15). Ein solches Beeinflussen bietet Kindern – trotz der Initiierung von Erwachsenen – die Möglichkeit, die Macht mit Erwachsenen zu teilen und die Aktivitäten, an denen sie beteiligt sind, maßgeblich mitzugestalten (ebd.). «Self-initiated processes« – auf der dritten Ebene – sind schließlich jene, »where children themselves are empowered to take action, and are not merely responding to an adult-defined agenda« (ebd.). Im Unterschied zur zweiten Ebene respektieren Erwachsene hier »children’s capacities to define their own concerns and priorities, as well as the strategies for responding to them. It involves a commitment to creating real partnerships with children, with adults fulfilling key roles, for example, as advisers, supporters, administrators, fund-raisers and counsellors« (ebd.: 16). 2.2 Empowerment als das Zünglein an der partizipativen Waage? Empowerment scheint sich offensichtlich als das Zünglein an der partizipativen Waage zu erwei- sen, wenn es darum geht, Kindern eine vollends eigenständige Einflussnahme am und über den Forschungsprozess hinaus zu garantieren. Innerhalb der partizipativen Forschung mit Kindern setzt sich daher bevorzugt die reflexive Ausbuchstabierung von Empowerment durch, wie sie Herriger (2014) in einem Überblick – und unter Ergänzung der politischen, lebensweltlichen und transitiven Auslegung – skizziert. Mit einer reflexiven Ausbuchstabierung steht Empowerment begrifflich zunächst einmal für jenen, hier an einigen Stellen bereits betonten Prozess der »Selbst-Bemächtigung und der Selbst- Aneignung von Lebenskräften« (ebd.: 16), der für die Soziale Arbeit seit langer Zeit wegweisend ist. Denn durch seine Rezeptions- sowie Wirkungsgeschichte konstituierte sich Empowerment – auch durch die (Gemeinde-)Psychologie, Sozialpsychiatrie und -pädagogik prägent – zu einem 51 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern »Prozess, infolgedessen Personen, Organisationen und Gemeinschaften mehr Kontrolle über ihr Leben erlangen« (von Unger, 2014: 45 unter Bezug auf Rappaport 1981). Statt An- oder »Einpas- sung von Subjekten in vorhandene soziale Zusammenhänge kommt es [in sozialarbeiterischen Kontexten, M. S.] darauf an, Menschen dazu zu befähigen, sich selbst solche Zusammenhänge zu schaffen« (Keupp, 2018: 559-560). Das reflexive Moment knüpft daher unmittelbar an einen »selbstinitiierten und eigengesteuerten Prozeß der Wiederherstellung von Lebenssouveränität« (Herriger, 2006: 16) an und bindet – nahezu automatisch – sowohl die lebensweltliche als auch die politische Ausbuchstabierung von Empowerment im Sinne der Maxime »das Private ist po- litisch« ein. Somit meint Empowerment für die lebensweltliche Mikropolitik des Alltags, dass Individuen eine »autonome Lebensform in Selbstorganisation« (ebd.: 15) erlangen; all dies aber eben im Kontext von makropolitischen Rahmungen und diesbezüglichen Ordnungen, mit denen Individuen umzugehen haben und gegen die sie sich unter Umständen auch politisch widerset- zen können. Power steht dabei im Kontext einer lebensweltlichen Umschreibung nicht nur für politische Entscheidungsmacht, sondern auch für »Stärke« und »Durchsetzungskraft« (ebd.). Nun befinden sich co-forschende Kinder nicht alle und zwangsläufig in einer sozialen Lebenssi- tuation, in der sie als »Betroffene« – und unterstützt durch partizipative Forschung – dazu befähigt werden müssten, sich neue Lebenskräfte und -souveränität sowie Durchsetzungskraft infolge ungünstiger Sozialisationsbedingungen anzueignen. Für was also steht dann der Empowerment- Begriff in der partizipativen Forschung mit Kindern? Die Antwort darauf lässt sich nicht so klar und eindeutig formulieren. Aufgrund seiner begrifflichen Unschärfe bietet der Empowerment-Begriff schließlich »Tür und Tor für alle möglichen, durchaus divergenten Anwendungen im Fachbereich Soziale Arbeit« (Bakic, 2013: 183) und insofern auch für die partizipative Forschung mit Kindern. Kernargument ist jedoch, dass Kinder als Co-Forschende in Themen nicht nur angehört, bloß konsultiert werden sollten; vielmehr sollen sie durch partizipatives Forschen die Möglichkeit er- halten, Rollen von Forscher*innen zu übernehmen, sodass sie Forschungsgebiete und -methoden eigenmächtig identifizieren und definieren können (vgl. Groundwater-Smith/Docket/Bottrell, 2015: 13). In der partizipativen Forschung mit Kindern wird in gewisser Weise regelmäßig auf die verkürzte Kernformel einer Selbst-Befähigung zurückgegriffen. Empowerment ist in dieser Logik oftmals das handlungsorientiert verstandene Ergebnis einer partizipativen Forschung. Auch Moser reiht sich hier ein, indem er betont, dass die Forschung mit Kindern und Jugendlichen auf einer humanistischen Ebene »Empowerment durch Forschung« (Moser, 2012) fördert. Wie dies im praktischen Detail geschieht, führt er allerdings nicht näher aus. Klar ist nur, dass Kinder durch Forschung selbst-befähigt werden sollten, (um) ihre Kinderrechte einzulösen. Kellet fasst ergänzend dazu und unter der Überschrift »Empowering Children and Young People as Resear- chers« Empowerment in die Richtung einer aktiven Suche nach Plattformen der Dissemination für Kinder als Forscher*innen. Auch hier wird Empowerment als Ergebnis gedacht, indem Kin- dern schließlich ausreichend Einfluss verliehen werden soll, um mit ihren Forschungsergebnissen eigenständig etwas bewirken zu können. Empowerment in der partizipativen Forschung lehnt sich mit dieser Logik unmittelbar an den Terminus der Selbst-Initiierung an. Mit diesem wird regelmäßig betont, Kindern die Möglichkeit zu eröffnen, den Forschungsprozess zu kontrollieren. Selbst-Initiierung meint hier schließlich einen Aktionsmodus, der den höchsten Grad an gleichberechtigter partizipativer Forschung auf der dritten Ebene nach Lansdown (2005) umfasst. Auf dieser Ebene soll erreicht werden, dass Kinder bspw. Forschungsfragen sowie -anliegen selbst initiieren können (ebd.: 16). Erwachsene sollten hierbei lediglich als Vermittler agieren, Kinder dagegen kontrollieren den Forschungs- prozess (ebd.; eigene Übersetzung). Selbst-initiierte Forschungsweisen implizieren daher immer auch eine Verabschiedung sehr von Erwachsenen dominierten Interventionen. Mary Kellet (2011: 210) prägt für diese Sichtweise den Begriff child-led research, um darauf hinzuweisen, dass die 52 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern Rolle der Erwachsenen darin besteht, forschende Kinder lediglich zu unterstützen und sie nicht zu kontrollieren oder zu steuern (ebd.; eigene Übersetzung). Im Weiteren führt sie aus: »It is an empowering process that negotiates access with gatekeepers and provides training and resources, and not one that closes down options or imposes adult norms« (ebd.). Obgleich der Empowerment-Begriff in diesen Weisen oftmals selbstverständlich und als eine nahezu selbsterklärend positiv konnotierte analytische Kategorie verwendet wird, ist nicht gänzlich klar, wie sich dieser Empowerment-Prozess in der konkreten praktischen partizipati- ven Forschung bewerkstelligen und herstellen lässt. So führen doch generationale Differenzen im Wissensstand und in den (sozial-)wissenschaftlichen Erfahrungen zwischen co-forschenden Kindern und akademischen Forscher*innen nicht selten dazu, dass Selbst-Befähigung und Selbst- Initiierung der Kinder im Forschungsprozess durch als notwendig erachtete Anweisungen der Erwachsenen vermindert werden. Und insbesondere wenn forschungsrelevante Abwägungen wie bspw. die empirische Umsetzung oder die Analyse von Daten zu treffen sind, sorgen erwachsene Forschungsverpflichtungen hinsichtlich der Reliabilität der Daten regelmäßig dafür, Entschei- dungen letztverantwortlich und autonom auszuführen. Selbst-befähigende Momente sowie genuin selbst-initiierte Forschungsprozesse der Kinder sind somit häufig ungewiss und erfordern eine hohe Aufmerksamkeit, um nicht systematisch im Bereich der Bevormundungen zu landen. Die zentrale Frage, die sich folglich herausschält, ist, wie viel Empowerment-Potenzial im Sinne der höchsten Stufe an Selbst-Initiierung durch partizipative Forschung mit Kindern ermöglicht und geschaffen werden kann, wenn ihnen doch schließlich nur »ein Stück weit [...] das Lenkrad im Forschungsprozess« (Moser, 2012: 2) übergeben wird? Und in welcher Weise sind die für diese Stufe charakteristischen Optionen umsetzbar, dass Kinder a) Forschungsanliegen und -fragen eigenständig identifizieren, b) Erwachsene bloß als Vermittler dienen und c) Kinder den Forschungsprozess kontrollieren? 3 Das INKA-Projekt: Kinder als INKlusionsAkteur*innen Um diesen zwei Fragen nachzugehen, soll im Folgenden auf Forschungssituationen in einer partizipativen Studie mit Kindern geblickt werden, in der unter dem Namen »INKA« die Zu- gehörigkeitsarbeit von Kindern in zwei unterschiedlichen pädagogischen Settings (in Kinder- tageseinrichtungen sowie in der offenen Kinder- und Jugendarbeit) analysiert wird2. Die Studie ist Teil eines Verbundprojektes, das unter dem Namen »Inklusive Bildungsforschung der frühen Kindheit als multidisziplinäre Herausforderung«, angesiedelt am »Kompetenzzentrum frühe Kindheit Niedersachsen« der Universität Hildesheim, durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur sowie die VolkswagenStiftung von 2017 bis 2020 gefördert wird. Das INKA-Projekt wird am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildes- heim wissenschaftlich begleitet und durchgeführt. Gemeinsam mit bis zu 20 Kindern im Alter von sechs bis zehn Jahren3 wird zu der Frage geforscht, wie Kinder Zugehörigkeitsarbeit leisten und wie sie diese wahrnehmen. Wir stellten dafür zu Beginn eine recht offene Forschungsfrage (»Wer ist dabei?«), damit sich die Kinder diese aneignen und sie ggfs. transformieren konnten. Diese 2 Da die Feldphase in den Kindertageseinrichtungen noch nicht abgeschlossen ist, wird sich dieser Beitrag vorerst auf die Erfahrungen beziehen, die mit co-forschenden Kindern von Ende September 2017 bis März 2019 in einer Einrichtung der offenen Kinder- und Jugendarbeit gesammelt wurden. 3 Die Zahl der co-forschenden Kinder variierte kontinuierlich. So haben wir bspw. mit einer Gruppe von zwölf Kindern begonnen, um einen Forschungsplan zu entwickeln und zu erproben. Innerhalb des Kinder- und Jugendhauses wuchs das Interesse und die Aufmerksamkeit für diese Aktivitäten, sodass die Teilnahme auf 20 Kinder sukzessiv anstieg. Hinsichtlich der regelmäßigen Anwesenheit lässt sich jedoch konstatieren, dass wir mit 13 Kindern konstant geforscht haben. 53 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern offene Forschungsfrage, die wir in dieser kindgerechten Art und Weise unseren Co-Forscher*innen präsentierten, fokussierte das Spektrum an potenziellen Ein- und Ausschlüssen u. a. beim Spielen, Essen, Freundschaften schließen, Geheimnisse haben etc. Damit orientierten wir uns theoretisch an einem Zugehörigkeitsbegriff, der keine feste und unveränderliche Größe darstellt (vgl. Riegel/ Geisen, 2010: 7). Vielmehr konstituiert sich Zugehörigkeit über Differenzsetzungen. Sie ist daher immer auch ein Produkt von variablen Aushandlungsprozessen, denen sowohl eine »objektive Komponente im Sinne einer sozial-strukturellen Positionierung des Individuums im gesellschaft- lichen Raum« (ebd.) als auch eine »subjektiv-biografische« (ebd.) inhärent ist. Um diese Aushandlungsprozesse empirisch in den Blick zu nehmen, wurden sämtliche empiri- sche Vorbereitungen so vorgenommen, dass die co-forschenden Kinder darin selbstverständlich eingebunden waren (dazu ergänzend Eßer/Sitter, 2018). Dies implizierte einerseits, mit Kindern nicht erst und »nur« im empirischen Forschungsprozess zusammenzuarbeiten, sondern sie als Co-Forschende bereits für die Forschungsplanungen zu gewinnen, die es gemeinsam anzustellen galt. Ein wesentliches Element dieser Planungen war die Auswahl der Untersuchungsmethoden. Die von den Co-Forscher*innen gewünschte Erhebungsmethode der Videografie versuchten wir mit weiteren sozialwissenschaftlichen Methoden wie Interviews und Gruppendiskussionen zu kombinieren. Die Kinder waren dabei stets in der Rolle der Forschenden, die Praktiken in »ihrer« Einrichtung analysierten. Die nachkommenden Analyseeinblicke basieren auf einer interpretativen, hermeneutischen Videoanalyse in Kombination mit einer konversationsanalytisch und damit ethnomethodologisch orientierten Methodik (dazu Tuma/Schnettler/Knoblauch, 2013; Reichertz, 2018). Hiermit war es möglich, die umfangreichen Videodaten in brauch- und nachvollziehbare Sequenzabschnitte einzuteilen, die Äußerungen sowie Handlungen der Kinder zu berücksichtigen und (Nicht-)Zu- gehörigkeit immer als eine in den (Kamera-)Interaktionen der Kinder hergestellte zu betrachten. Wie sich im Folgenden zeigen wird, sind nicht nur die Situationen, in denen gefilmt wurde, sondern auch die Handlungen der Kinder mit der Kamera, die sie als Filmende praktizierten, von analytischer Bedeutung in zweierlei Hinsicht: zum einen für die Beantwortung der For- schungsfrage, wie Kinder Zugehörigkeit herstellen, und zum anderen für die Einsicht, dass die Gestaltung der partizipativen Forschung rund um die Ermittlung diesbezüglicher Antworten eine gleichberechtige Einflussnahme der Kinder am Forschungsprozess niemals vollständig einlösen kann. Eine im Kern selbst-initiierte Forschung der Kinder und selbst-befähigende Momente des Forschens sind daher immer wieder und regelmäßig ungewiss. 4 Das Auf und Ab von selbst-initiierten Momenten des kindlichen Forschens 4.1 »Was spiel’n wir jetzt?« – Zur Bedeutsamkeit von Eventisierung und Spiel Im INKA-Projekt machten wir bei den ersten Treffen und Planungen die Erfahrung, wie sehr sich akademische Forscher*innen während der partizipativen Forschung mit Kindern zuweilen von der Idee leiten ließen, dass es einen gewissen Grad an Event-Charakter und somit eine Eventisierung benötigt, um Kinder für das Forschen zu begeistern. Diese Annahme wurde einerseits durch die recht normative und der generationalen Asymmetrie zuspielende Auffas- sung geprägt, das Forschungssetting für Kinder müsse nur genug Interesse und Neugierde am Forschen weckend, damit sich Kinder auf Forschung einlassen. So wurde Forschung daher ge- legentlich als ein »›außeralltägliches‹ Erlebnispotenzial« (Hitzler, 2011: 94) für die co-forschen Kinder strukturiert. Bspw. gestalteten wir bereits die Auftaktveranstaltung mit den Kindern in 54 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern der Logik einer ereignishaften Rallye, bei der sie das Universitätsgebäude erkunden und mit viel Bewegung kennenlernen konnten. Ersichtlich wird an dieser Form der Forschungsorganisation, wie sehr erwachsene Forscher*innen hierbei autonom den Rahmen vorgeben, wie sich Forschung zu ereignen hat, sich dabei gleichzeitig aber auch an den von ihnen wahrgenommenen Interessen und Aufmerksamkeitsmustern der Kinder orientieren. Schließlich war zu beobachten, dass Forschung – besonders sozialwissenschaft- liche – für Kinder oftmals erst dann interessant wird, wenn sie Spaß macht und schöne Erlebnisse herbeiführt. Kaum eine Begegnung mit den Kindern in der offenen Kinder- und Jugendarbeit verlief folglich ohne die anfängliche Frage: »Was machen wir heute?«. In dieser Frage deutete sich für uns zum einen an, dass Kinder in der partizipativen Forschung etwas »Besonderes« sehen, das sie von ihren herkömmlichen Tätigkeiten in der Einrichtung abbringt und das Neugierde in ihnen weckt. Zum anderen wies diese Frage uns darauf hin, dass sich die co-forschenden Kinder für eine grundsätzliche Aktivität mit »Selbstzweckcharakter« (Zimpel, 2016: 33) interessierten. Insbesondere letzte Beobachtung machte uns akademischen Forscher*innen deutlich, dass dem Spiel(en) innerhalb der partizipativen Forschung mit Kindern eine besondere Bedeutung zukom- men musste. So war das Interesse der Kinder bereits groß, wenn es hieß: »Heute forschen wir wieder«. Schließlich waren wir als Forscher*innen von der Universität angekündigt und betraten das Kinder- und Jugendhaus mit mehreren bunten Materialien und technischer Ausstattung, was für allgemeines Interesse sorgte. Im Weiteren ließ sich konstatieren, dass uns die co-forschenden Kinder, wenn wir in den eingerichteten Forschungsraum kamen oder wenn ihre Aufmerksamkeit und Geduld – nach einiger Zeit empirischen Tuns – verloren zu gehen schienen, häufig die Frage stellten: »Was spielen wir jetzt?« Anders als für uns akademische Forscher*innen war und ist für Kinder das Sitzen in einem Forschungsraum sowie das längere, teils wiederholende empirische Arbeiten offensichtlich nicht kontinuierlich interessant und ab einem gewissen Zeitpunkt sogar zweitrangig. Kinder forschten also im INKA-Projekt nicht, weil sie herausfinden wollten, wie und wo Zugehörigkeit hergestellt wird, sondern weil sie Spaß daran hatten, die pädagogischen Ereignisangebote zu nutzen, die ihnen die Erwachsenen für das Forschen bereitstellten. Die Frage »Was spielen wir jetzt?« demonstrierte uns daher, dass wir den »Aufmerksamkeitsbogen« der Kinder gelegentlich überspannten. Somit hatten wir anerkennend zu berücksichtigen, dass Kinder ihre freie Zeit in einem Kinder- und Jugendhaus schließlich an einem außerschulischen, non-formale Bildung ermöglichenden Sozialisationsort verbrachten. Forschungsanliegen muss- ten somit stets mit dem bedeutsamen Spiel, das sie an diesem Ort anvisierten und das ihnen eröffnete, ihr Leben zu gestalten, in Einklang zu bringen sein, »um die vielen tagtäglichen neuen Eindrücke zu verarbeiten, um sich das Leben durch Wiederholung mit eigenen Mitteln zu Eigen zu machen« (Baer, 2008: 155). Dies nicht zu reflektieren, wäre unter forschungsethischen Ge- sichtspunkten und im Hinblick auf die UN-Kinderrechte unzulässig und unproduktiv gewesen. Daraus schlussfolgernd stellte sich für uns die Frage, was Spielen für das empirische Vorgehen bedeutet und wie es währenddessen dafür sorgen kann, dass der Forschungsprozess vorangeht. Unsere Blickrichtung auf genau dieses Vorankommen demonstrierte uns zeitgleich, wie sehr wir eine selbst-initiierte Forschung der Kinder untergraben würden, wenn wir ihre Frage »Was spielen wir jetzt?« nicht reflektieren, sogar negieren würden. Daher realisierten wir mit dieser Frage, dass die intrinsische Motivation der co-forschenden Kinder möglicherweise durch zu voraussetzungsvolle Forschungsabsichten seitens der Erwachsenen gelegentlich an ihre Grenze kam. Sorge dafür zu tragen, dass Kinder entlang der höchsten Stufe der Partizipation «themsel- ves are empowered to take action, and are not merely responding to an adult-defined agenda« (Lansdown, 2005: 15); das hieß demnach, diese Grenze anzuerkennen und gemeinsam mit den Kindern nach Möglichkeiten zu suchen, entweder ihre Motivation zurückzuholen oder Alterna- tiven zu finden. Ein entscheidendes Kriterium in solchen Momenten war also erstens, die Frage 55 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern der Kinder wertzuschätzen und sie als wesentlichen Bestandteil ihres spielerischen Interesses anzuerkennen, welches ihnen schließlich die Möglichkeit bietet, mit spielerischer Freude ander- weitige Ideen selbst zu initiieren und sich dabei für Forschungselemente zu motivieren oder sich von diesen legitim zu entfernen. Dies hieß zweitens, mit den Kindern darüber ins Gespräch zu kommen, was sie aus welchen Gründen heraus präferieren oder nicht. Räume der Selbst-Initiierung zu beachten hieß ergänzend, einen Blick zurückzuwerfen auf jene Momente, die diese Räume der Kinder ungewiss machten: Schließlich konnte daraus für uns und für die unmittelbare Forschungssituation geschlussfolgert werden, dass pädagogische Ereignisangebote mit einem »Trend zum Event« (Kemper, 2001) nicht unwesentlich sind, damit Kinder Forschungsprozesse übernehmen und kontrollieren können. Erwachsene Forscher*innen geraten hierbei notgedrungen in die zusätzliche Rolle einer*s Pädagog*in, die*der mit viel Phantasie und Kreativität für genau diese Bereitstellung zu sorgen hat. Besonders dann, wenn Räume der Selbst-Initiierung realisiert werden sollen, ist es eine nahezu nötige Verpflichtung, Forschung unter dem Aspekt von Eventisierung und Spiel(en) zu betrachten und zu betreiben. Im INKA-Forschungsprozess setzen wir Spielideen in mehreren Momenten um: So begannen wir etwa die Forschungseinheiten an unserem Institut nicht gleich mit dem Forschen, sondern erst einmal mit spielerischen, gemeinschafts- und bewegungsfördernden Elementen, wie zum Beispiel dem Einsatz eines Schwungtuches oder erzählgenerierender Stimmungskärtchen. Wir schrieben ebenfalls regelmäßig kindgerecht aufbereitete Einladungen, um neue gemeinsame Ter- mine anzubahnen sowie vorzubereiten, und unterbrachen das Forschungssetting regelmäßig, um entweder Verstecken spielende Kinder einzufangen oder die präparierten Flipchart-Papiere vor Übermalungen zu retten. Auch der so selbstverständlich von uns Erwachsenen zubereitete Tisch mit warmen und kalten Getränken, ein wenig Obst und Süßigkeiten, wenn die Co-Forscher*innen zu uns ans Institut kamen, war eine große Freude für die Kinder und unterstrich für sie den spielerischen Charakter der Forschung. 4.2 Zugehörigkeit: Was für sie vor, hinter, für und mit der Kamera ist Zweifelsfrei waren spielerische Elemente auch bei der Auswahl der Forschungsmethoden zen- tral. Wunderbarerweise zeigte sich hierbei sogar, wie bedeutsam das spielerische Ausprobieren letztendlich für die Beantwortung der Forschungsfrage war, die sich für die Kinder eingangs als recht unzugänglich erwies. Die Begeisterung der Kinder an der Videografie evozierte folglich nicht nur neue und nützliche Erkenntnisse hinsichtlich der Forschungsfrage, sondern eröffnete ebenfalls Momente der Selbst-Initiierung im Sinne einer eigenständigen Kontrolle empirischer Momente und eines Rückzugs der akademischen Forscher*innen. Die Kamera erwies sich folglich nicht nur als ein bloßes Aufzeichnungsinstrument, sondern sie bot den Kindern in autonomie- und damit selbst-initiierender Weise eine spielerische »Bühne«, auf und mit der sich Forschung für sie inszenieren ließ. Sobald die Kamera angeschaltet war und ein Kind freiwillig die Rolle des »Kameramanns« oder der »Kamerafrau« begannen, zeigte sich, wie andere Kinder vor der Kamera entweder eine Art Moderation übernahmen oder etwas darzustellen versuchten. Auch das Aufnahmegerät nahmen die Kinder mit großer Begeisterung an sich; zumal sie damit in die Rolle einer*s Reporter*in schlüpfen konnten, die – mit einem Aufnahmegerät vor dem Mund und in der Hand – wichtige Fragen stellt. Relativ häufig hatten diese Aktivitäten der Kinder ganz und gar nichts mit der thematischen Ergründung der Forschungsfrage zu tun. Daher trugen wir mit unseren »erwach- senen« und pädagogisch paternalistisch (vgl. Giesinger, 2006) anmutenden Ideen hinsichtlich des »Wieder-Einfangens der Forschungsfrage« gelegentlich dazu bei, eher »Spaßbremsen« einzuführen und selbst-initiierende Momente der Kinder hinsichtlich »neuer« Forschungsfragen 56 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern zu untergraben. Denn die pädagogischen Unterweisungen, gar Eingriffe wie »Halte die Kamera besser so«, »Schau doch bitte mal hier hin« oder »Nein, das geht jetzt leider nicht« unterwanderten schließlich regelmäßig die eigenständige und subjektive intrinsische Motivation des filmischen Bühnen-Spiels der Kinder und damit ihre selbst-initiierten und eigenständig kontrollierten Prak- tiken. Insbesondere für diese Forschungsphase zeigte sich, wie bedeutsam es daher war und ist, diese kindlichen Aktivitäten und Motivationen »auszuhalten« und durch unsere Voraussetzungen für ein vermeintlich relevantes, valides Forschen nicht vorschnell und durch allzu (vor-)sorgende Sichtweisen und Bevormundungen zu unterbinden. Genau hier ist ein Rückzug der Erwachsenen von enormer Bedeutung, weil er Kindern ermöglicht, sich auszuprobieren und dabei Erfahrungen zu machen, die zu einer – zumindest zeitweisen – Kontrolle des Forschungssettings beitragen. Hätten wir die Wichtigkeit dieses Rückzugs nicht bemerkt, so wären einerseits ihre Kamerain- teressen nicht anerkannt worden und ebenso ihre darin eingelagerte Entscheidung, Empirie mit einer videografischen Inszenierung zu verbinden. Anderseits wäre uns damit die basale Erkenntnis entgangen, dass sich Zugehörigkeit als eine bereits in den Kamera-Interaktionen der Kinder hergestellte betrachten lässt. So erwies sich die Kamera zum einen als ein Forschungsmedium und zum anderen als das mediale und spielerische Produkt schlechthin, mit dem Kinder in der Regel unbewusst Zugehörigkeit herstellten; weil sie sich entweder um das Medium stritten oder weil dieses – als ein technisch interessantes Gerät mit audiovisuell vermittelnden Inhalten – dazu beitrug, dass sich Kinder gerne davor exponierten; und dies nicht selten zum Nachteil anderer. Diese Erkenntnis stützte letztlich die Praxis, während des Filmens der Kinder und für die Analysen um Zugehörigkeit stets im Auge zu behalten, was – im Sinne von Christine Moritz (2014) – vor, hinter, für und mit der Kamera geschieht. 4.2.1 »Tausch mit wem. Komm. Kannst du lesen? Komm her.« Sich dieser Perspektive zu widmen zeigte (erst) im Nachhinein, wie hiermit Empowerment för- derliche und somit Selbst-Initiierung eröffnende Situationen erzielt wurden. Unsere diesbezüglich reflektierte Haltung ermöglichte es, uns in den Kamera-Interaktionen der Kinder weitestgehend zurückzuhalten, um die eigensinnigen Praktiken und Foki der Kinder zuzulassen. Genau damit haben wir als erwachsene Forscher*innen im Sinne der Selbst-Initiierung lediglich als »facilita- tors rather than leaders« (Lansdown, 2005: 16) fungiert. Den Kindern wurde somit ermöglicht, etwas über den zentralen Gegenstand des Forschungsprojektes herauszufinden, nämlich über die Herstellung von Zugehörigkeit. Wie bedeutsam die Sprachkompetenz der co-forschenden Kin- der bei der Herstellung von Zugehörigkeit ist, um Empowerment förderliche Selbst-Initiierung wiederum zu untergraben und aus Forschungssettings nicht ausgeschlossen zu werden, zeigte sich im INKA-Projekt wie folgt: Indem eine Gruppe der Kinder mehrere Fragen zur Zugehörigkeit einer anderen Gruppe von Kindern vor der Kamera zu stellen beabsichtigte, zeigte sich, wie ein zehn-jähriger Junge recht schnell den Ausschluss eines Mädchens aus dem Interviewgeschehen präferierte, um einen reibungslosen Forschungsablauf zu gewähren. Recht voraussetzungsvoll und wenig Selbst-Initiierung bietend gingen wir im Vorfeld als akademische Forscher*innen erst einmal davon aus, dass die Fragekärt- chen, die von uns vorbereitet, eingebracht und von den Kindern ergänzt wurden, dazu beitragen (können), Antworten auf die Forschungsfrage zu finden. Interessanterweise zeigte sich nun gleich zu Beginn, wie zweitrangig die Fragekärtchen für diesen Erkenntnisgewinn waren. Denn viel wesentlicher trug das »Genervt-sein« eines zehn-jährigen Co-Forschers über die Si- tuation, dass eine sieben-jährige Co-Forscherin nicht lesen konnte, zu einem Moment der Nicht- mehr-Zugehörigkeit bei. Der Junge saß neben einem weiteren sieben-jährigen Co-Forscher vor der Kamera, und beide sollten als Interviewpartner die Fragen der sieben-jährigen Interviewerin beantworten. Nur konnte diese die Fragen nicht vorlesen, sodass sich im Kreis aller co-forschenden 57 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern Kinder viel Unruhe und ein lautes Durcheinander einstellte. Freundinnen der sieben-jährigen Interviewerin machten ihr Vorschläge, was sie fragen könnte, wie z.B. »Was isst du so? Sowas«. Als der zehn-jährige Co-Forscher dies hörte, blickte er stirnrunzelnd zu ihnen und in die Kamera, um unmittelbar darauf einen recht ungeduldig wirkenden, nahezu auffordernden Lösungsvorschlag sowohl der Interviewerin als auch einer weiteren Co-Forscherin anzubieten: »Tausch mit wem. Komm. Kannst du lesen? Komm her«. Damit nahm er zügig und eigenständig die Organisation der schwierig zu gestaltenden Interviewszene in die Hand und versuchte, die Aufgaben ohne eine Abstimmung mit den anderen Co-Forschenden neu zu verteilen, sodass ein flüssiger Interviewablauf möglich wird. Gleichzeitig schloss er jedoch das Mädchen, welches nicht lesen konnte, mit dieser auffordernden Lösung vom Forschungsprozess und besonders von der Interviewszene aus. Zugehörigkeit wird unter den Kindern daher offensichtlich nicht erteilt, wenn man vor der Kamera nicht lesen kann. Die Kamera als ein technisches Objekt nahm insofern zusätzlichen Einfluss auf die Nicht-Zugehörig- keitsherstellung, als sie dazu beitrug, dass Kinder vor ihr und für sie eine ernsthafte Situation, nämlich einen reibungslosen Ablauf des Interviews – durchaus mitgetragen durch den »Social Desirability Response Effekt« (Moritz, 2014: 41) – zu inszenieren versuchten. Dies konnte in den Augen einiger Kinder aber nur schwer mit einer Interviewerin gelingen, die nicht lesen kann. Die Zugehörigkeit vor der Kamera wird daher einer Person (vorlesende Interviewerin) versagt, wenn ihre erwartete Kompetenz mit den sozial erwünschten und erwarteten Inszenierungspraktiken für die Kamera konfligiert. Auch in der Kameraführung und -bewegung selbst und insofern hinter und mit der Kamera wird das Nichtgelingen der Interview-Inszenierung deutlich. So ist die Kameraführung grundsätzlich unruhig und es werden von der Kamerafrau erst einmal andere Dinge wie zwei Finger, Regie-Klappe, andere Co-Forscher etc. gefilmt, die scheinbar interessanter sind als die nicht vorankommende Interviewszene. Spuren der Nicht-Zugehörigkeit werden insofern auch hinter und mit der unkontrollierten Kameraführung einsehbar und in gewisser Weise verfestigt. Nun konnte auch die zweite Interviewerin, die nach dem dirigierenden Lösungsvorschlag des Co-Forschers als co-forschende Interviewerin aushelfen sollte, nur sehr langsam die Fragen vor- lesen. Als erwachsene Forscher*innen übernahmen wir in einer derartigen Situation schließlich unaufgefordert unsere Sorgebeziehung, indem wir die Fragen für sie soufflierten. Hier zeigt sich, wie selbst-initiierte Forschungsmomente der Kinder durch Erwachsene teilweise abgelöst und unterbrochen werden können. Das Stellen der Interviewfragen dauerte folglich wesentlich länger. Denn es mussten zuerst die Fragen für die helfende Interviewerin flüsternd vorgespro- chen werden, damit diese die Fragen laut für die nicht lesende Interviewerin vorlesen konnte. Sobald sie eine Frage vorlas und die erste Interviewerin diese hörte, gab Letztere die Frage – in ein Aufnahmegerät sprechend – an die zwei co-forschenden Jungen weiter. Hierbei wurde der Geduldsfaden des zehn-jährigen Co-Forschers erneut herausgefordert. Auf die Frage der jungen Co-Forscherin, »Gibt es Menschen, die dich richtig nerven?«, antwortete er ihr zunickend und mit einem Lächeln im Gesicht schließlich: »Das bist du«. 4.2.2 »Aber Experten bestimmen.« An der obigen Szene wird deutlich, zu welcher Besonnenheit alle Beteiligten in einer kolla- borativen Forschung herausgefordert werden können. Eine partizipative Forschung, die genü- gend selbst-initiierte Forschung für Kinder bereitstellen möchte, muss daher anerkennen, dass derartige Situationen langwierig sein und zu keinem – zumindest in erkenntnisgenerierender Hinsicht – ertragreichen Ergebnis führen können. In genau solchen Momenten steht die Frage aus, wie viel Eigenregie Kindern überlassen werden sollte, um Forschungssettings wie das obige zu übernehmen und zu entscheiden. Denn schließlich führen forschungstechnische und nicht 58 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern zuletzt altersbezogene Aspekte und Differenzen dazu, dass Forschung umständlich wird und einige Kinder infolgedessen Ausschlüsse aus einem Forschungssetting erfahren (müssen). Neben solchen Momenten, in denen Selbst-Initiierung ungewiss werden kann, ist zweifelsfrei die Analyse der Daten ein ebenfalls Selbst-Initiierung gefährdendes Moment. Morrow (2008: 52) gibt diesbezüglich im Rahmen ihrer Betrachtung von ethischen Dilemmata in Forschungen mit Kindern zu verstehen: »[T]he differential power relationships between adult researcher and child participant may become problematic at the point of interpretation and presentation of research findings«. Im INKA-Projekt ergab sich diese Problematik besonders aufgrund der Tatsache, dass Kinder eben Forschung nicht mit einem Ziel verfolgen, wie es erwachsene Forscher*innen tun. Auch bei der Analyse von Daten stehen folglich für Kinder der Spaß, die Freude und das Spiel im Vordergrund. Wie lassen sich demnach das Ziel und die Bedeutung von Analysen so für Kin- der vermitteln, dass sie selbst-initiierend eine sozialwissenschaftliche Analysetechnik einsetzen, die sie zu einer selbstbemächtigenden und gleichberechtigten Interpretation der Daten führt? Selbstverständlich mussten wir als akademische Forscher*innen hierbei unseren Wissensvor- sprung nutzen, um Kindern zu zeigen, was Analysieren bedeutet. Dieser Wissensvorsprung bestand darin, zunächst einmal eine grundlegende methodologische Rahmung und Vorstellung darüber zu haben, wie die vielfältigen Aufzeichnungen der Kinder zu analysieren sind. Die interpretative Videoanalyse mit ethnomethodologischen und konversationsanalytischen Grundlagen zu ver- binden, bot den Vorteil »in situ stattfindende[] soziale[] Handlungen und Aktivitäten« (Tuma/ Schnettler/Knoblauch, 2013: 58) sowohl der filmenden als auch der gefilmten Kinder in den Blick zu nehmen, und somit visuelle, materielle und sprachliche Elemente der kindlichen Interaktio- nen gleichzeitig zu untersuchen. Es musste deshalb bedacht werden, wie diese metaanalytischen Vorüberlegungen so aufbereitet werden konnten, dass sie für die Kinder umzusetzen waren. Da die Co-Forscher*innen Spaß an der Videografie hatten, schussfolgerten wir im Sinne von Eventisierung und Spiel, dass auch das Betrachten der Videofilme für die Kinder passend sein könnte. Insofern schlugen wir vor, gewisse Videoszenen, die für uns Momente der (Nicht-)Zu- gehörigkeit zeigten, anzuschauen und die Vorgänge darin zu interpretieren. Wir orientierten uns hierbei an der »Voice Over«-Methode, wie es in journalistischen- und Dokumentarberichten zu sehen ist: Das Gesehene im Film wird dort sprachlich untermalt. Zu Beginn erhielt diese Analy- seform von einer Co-Forscherin und einem Co-Forscher viel Aufmerksamkeit. Sie freuten sich über das, was sie sahen, stellten Fragen und lachten gelegentlich über das Geschehen im Video. Insgesamt erwies sich diese Technik für die Kinder jedoch als langweilig. Als schließlich uner- wartet eine dritte Co-Forscherin hereinkam, arrangierte sich das Forschungssetting so um, dass die erste Co-Forscherin ihre interpretierende Rolle gerne wechseln wollte. Demgemäß fragte sie uns: »Darf ich filmen?« In der präferierten Absicht, Kinder analysieren zu lassen, antworteten wir als akademische Forscher*innen, dass das heute doch besser von dem erwachsenen Forscher auszuführen sei. »Oh, warum?«, fragte sie darauf. Unsere Antwort war: »Na ja, weil ihr heute die Experten seid, was den Film anbetrifft«. Daraufhin gab die Co-Forscherin zu verstehen: »Aber Experten bestimmen«. Auf wundervolle Weise hat uns die junge Co-Forscherin mit dieser Aussage daran erinnert, uns wieder einmal auf das Verständnis von Selbst-Initiierung zu besinnen, das neben der eigenstän- digen kindlichen Identifizierung von Forschungsanliegen und -fragen immer auch berücksichtigt, dass Erwachsene bloß als Vermittler dienen und Kinder den Forschungsprozess – soweit es geht – kontrollieren sollten. Denn wir hatten mit unserer Auswahl für »ihre« Analysemethode einen pädagogischen Paternalismus im Sinne eines erzieherischen Handelns (vgl. Giesinger, 2006: 12 ff.) walten lassen, der Zuständigkeiten, Expertise und Verantwortlichkeiten vorab definierte und (ihnen) zuwies. Damit geriet abermals das selbst-initiierte Moment der co-forschenden Kinder ins Wanken, weil wir mit unserer Vorauswahl eigene empirische Identifizierungsmomente der Kinder außer Acht ließen. 59 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern Ausreichend Selbst-Initiierungsmomente zuzulassen und zu praktizieren heißt daher, diese unmittelbaren Gefahrenquellen für die Einlösung von Empowerment erstens wahr- und anzu- nehmen, um mit den Kindern in einem zweiten Schritt gemeinsam zu überlegen, wie Analysen in ihrem Sinne und unter vermehrtem Rückzug unserer erwachsenen Kenntnisse gestaltet werden können. 5 Ausblick: Empowerment als selbstreflexive Haltung für eine partizipative Forschung mit Kindern Empowerment sollte daher nicht als die recht übliche »Methode oder Steuerungsstrategie« (Bakic, 2013: 181) verstanden werden, mit der sich auch innerhalb der partizipativen Forschung der »Machbarkeitsanspruch« (ebd.: 179) durchsetzt, Kinder könnten und sollten durch partizipa- tive Forschung für alles und jedes empowert werden. Im Grunde stellt sich damit abschließend auch die Frage, ob der Empowerment-Begriff in der partizipativen Forschung mit Kindern überhaupt benötigt wird – oder ob seine positiv konnotierte Verwendung nicht lediglich dazu beiträgt, etwas zu untermauern, was partizipatives Forschen mit Kindern ohnehin schon leis- tet. Schließlich werden Kinder doch befähigt, an partizipativer Forschung teilzunehmen und vermittels kindgerechter Methoden wird ihnen ermöglicht, Einfluss auf Forschungsfragen und das empirische Setting auszuüben. Wie sich in den obigen Schilderungen nun aber zeigte, sind derartige Momente oftmals dann ungewiss, wenn akademisch Forschende nicht ausreichend reflektieren, mit welchen die Selbst-Initiierung untergrabenden Effekten und Konsequenzen ihre vorschnellen Entscheidungen sowie Vorannahmen verbunden sein können. Auch kindge- rechte Methoden allein reichen daher nicht aus, um zu verstehen und wahrzunehmen, wo auch partizipatives Forschen an seine Grenzen gerät. Aus diesem Grund bietet es sich an, abschließend ein eindeutiges Plädoyer für Empowerment zu entfalten; allerdings nur dann, wenn es als eine selbstreflexive Haltung verstanden wird, die sich immer unter dem Vorzeichen einer »dialogischen Verständigungsarbeit« (Herriger, 2014: 217; Herv.i.O.) mit Kindern bewegt. Mit dieser Haltung stünde Empowerment folglich für eine Reflexion von Situationen, in denen generationale Machtverhältnisse dazu beitragen, die potenziellen Selbst-Initiierungsmomente der Kinder zu übersehen. Entscheidungen und Ver- antwortungen aber auch Strittiges sowie Unklares etc. sollten daher stets im Sinne der obigen dialogischen Verständigungsarbeit erfolgen, die das generationale Machtverhältnis niemals als konstitutiv und demgemäß als wegweisend für finale Entscheidungen und Einflussnahmen begreift. Eine flankierende Vorstellung für diese Verständigungsarbeit wäre meines Erachtens eine Forschungshaltung, die (Un-)Möglichkeitsspielräume für ausreichend Selbst-Initiierung der Kinder bewusst aus der sozialen Situation heraus erklärt und diese in einer kollaborativen und egalitären Beziehung austrägt und diskutiert. Empowerment bedeutet daher innerhalb der partizipativen Forschung mit Kindern durchaus die »Einübung eines Beziehungsmodus partnerschaftlicher Verständigung« (ebd.: 215), der die »Herstellung einer demokratischen, das Selbstbestimmungsrecht und die Autonomie [der co-forschenden Kinder, M. S.] achtenden« (ebd.: 217) Empirie bedenkt. Selbst-initiierte For- schungsprozesse dürfen daher in gewissen Momenten durchaus, und nicht zuletzt aufgrund der oben erwähnten Forschungsverpflichtungen sowie -verantwortungen seitens der Erwachsenen, ungewiss sein; aber immer nur in dem Maße und so lange, wie es Kindern zyklisch reflektierend ermöglicht wird, Einfluss auf die Gestaltung des Forschungsprozesses zu nehmen und ihre An- sprüche autonom und anderweitig geltend zu machen. Empowerment als eine selbstreflexive Haltung im Kontext von partizipativer Forschung mit Kindern muss daher kontinuierlich – wie es auch die letzte Situation und Aussage der Co- 60 Sonderheft 16 np Sitter, Empowerment in der partizipativen Forschung mit Kindern Forscherin zeigte – in Verbindung mit der Reflexion von Situationen und dem Rückbezug auf die darin eingelagerten Handlungen aller Beteiligten stehen. Insofern haben sich akademische Forscher*innen stets zu vergewissern, ob sich ihre nur allzu gut gemeinten Ideen und Vorschläge als paternalistische »Macht-Fallen« (Weik, 1982, zit n. Herriger, ebd.: 216) erweisen könn(t)en. Gleichermaßen sind sie aber auch dazu herausgefordert, sich nicht einer überzogenen Beküm- mertheit aufgrund genau dieser paternalistischen Fallen unterzuordnen. Denn erwachsene Entscheidungen, die selbst-initiierte Momente der Kinder teilweise eingrenzen, sind durchaus manchmal nützlich und geboten; insbesondere dann, wenn Konflikte unter den Kindern zu Be- schimpfungen, Raufereien und Benachteiligungen führen. Als eine selbstreflexive Haltung könnte es sich daher anbieten, sogar noch einen Schritt weiter zu gehen und sich vorzustellen, wie sehr Erwachsene mit der so selbstverständlichen Auswahl an Forschungsräumen eine machtvolle Kontrolle, gar räumliche Überlegenheit darüber ausüben, wo sich Kinder wie und mit welchen vorzufindenden Methoden forschend zu arrangieren haben. Em- powerment als reflexive Haltung macht uns schließlich darauf aufmerksam, dass es nicht ausreicht, nur an den bekannten und auf Kinder zugeschnittenen Orten oder in den uns vertrauten Räumen der Universität zu forschen. Partizipative Forschung mit Kindern als selbst-initiierte Forschung der Kinder muss daher ebenfalls auch den Forschungsraum als ihren Erlebnisort beachten, der ihnen Forschungskreativität und -interesse bspw. durch eine »bleibende Forschungswerkstatt« mit entsprechenden Materialien ermöglicht. Der Einsatz von Forschungsmethoden und -analysen könnte dadurch sicherlich noch wesentlich eigensinniger und von Kindern selbst-initiierter – auch im Hinblick auf die (Re-)Konstruktion neuen und unerforschten Wissens – entwickelt und umgesetzt werden, wenn dies in Räumen geschieht, die Kinder frei auswählen können und die ihnen vertraut sind. Empowerment würde daher als reflexive Haltung den Gedanken eröffnen, dass auch die sorgfältigste Auswahl von Child-friendly methods allein nicht ausreicht, sondern dass die Förderung von Selbst-Initiierung immer auch einer Berücksichtigung von räumlichen und lebensweltlichen Dimensionen bedarf. Literatur Baer, U., 2008: Spiel. In: Coelen, T./Otto, H.–U. (Hg.): setz. Hintergrundmeldung vom 13.02.2019 (online Grundbegriffe Ganztagsbildung. Das Handbuch. unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/ Wiesbaden: 155-163 kinder-und-jugend/kinderrechte/kinderrechte-ins- Bakic, J., 2013: Resilienz und Empowerment. 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Vier- gliedriger Video-Analyserahmen in der Quaitativen 62 Sonderheft 16 np Richter, Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen Elisabeth Richter Handlungspausenforschung im Prozess Partizipative Forschung am Beispiel des Forschungsprojekts »Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen« 1 Einleitung In einer demokratisch verfassten und sich demokratisch verstehenden Gesellschaft über De- mokratiebildung nachzudenken bedarf grundsätzlich keiner Rechtfertigung – außer vielleicht durch den Verweis auf Oskar Negts Erkenntnis, dass Demokratie die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung ist, die gelernt werden muss (Negt, 2011). Damit die Demokratie nicht nur ein normatives Denkmodell bleibt, das durch universelle und daher nur sehr unbestimmt definierte Bürger- und Menschenrechte konstituiert wird, muss sie in »Prozesse der individuellen Bildung und Erziehung der Menschen übersetzt werden« (ebd.: 8). Ein individueller Demokratiebildungsprozess hat allerdings das Recht auf demokratische Partizipation immer schon, d. h. von Geburt an, zu berücksichtigen, zum einen um der quasi anthropologisch-universellen Dimension des Anspruchs auf Verständigung Rechnung zu tragen (Habermas, 1976, 1981). Zum anderen aber auch, weil unter den Bedingungen eines demokrati- schen und sozialen Rechtsstaats einzig die Betroffenheit von möglichen und tatsächlichen Ent- scheidungen als Voraussetzung für demokratische Partizipation gilt. Sie darf deshalb strukturell nicht hintenangestellt werden, auch nicht im Verbund mit einem Versprechen auf eine bessere Zukunft. So gesehen rückt insbesondere die Didaktik einer Demokratiebildung ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die das Prinzip der Einheit von Bildungsziel und Bildungsmethode berück- sichtigt und insofern das Demokrat*in-Sein und das Demokrat*in-Werden im Hier und Jetzt jedem Menschen, auch den Jüngsten, ermöglicht. Einem entsprechenden didaktischen Prinzip der Einheit von Demokratie lernen und leben in der Frühpädagogik ist das vom Institut für Partizipation und Bildung (Kiel) entwickelte Handlungskonzept »Die Kinderstube der Demokratie« (Hansen/Knauer/Sturzenhecker, 2011) verpflichtet, das die Institutionalisierung demokratischer Partizipation in Kindertagesstätten zum Ausgangspunkt und Ziel hat. Einem solchen Prinzip ist aber auch die partizipative Forschungsmethode verpflichtet, die im Rahmen des Projekts »Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen« (DeiKi) Anwendung gefunden hat: die Methode der »Handlungspausenforschung« (H. Richter et al., 2003).1 Sie folgt dem Ziel, Bildungsprozesse zum Gegenstand der Forschung zu machen und dabei durch die Me- thode selbst wiederum Bildungsprozesse zu motivieren, die als Grundlage von demokratischen Entscheidungen durch gemeinsam Betroffene dienen können. 1 Die Handlungspausenforschung ist im Rahmen des Forschungsprojekts »Lebens(t)räume in St. Georg. Interkulturelle Gemeinwesenarbeit zwischen Integration und Segregation« entwickelt und praktiziert worden (H. Richter et al., 1989). Sie war darüber hinaus methodische Grundlage des zwischen 1994 und 1998 an der Universität Hamburg unter der Leitung von Helmut Richter durchgeführten Forschungsprojekts »Nix los in Horn!? Pädagogik und kommunale Öffentlichkeit. Eine Feldstudie zur gemeinwesenbezogenen Bildungsarbeit« (Peters/Mohr (Richter)/Coelen, 1998). Sie fand darüber hinaus Anwendung in mehreren empirisch angelegten Dissertationsprojekten (Coelen, 2002; Riekmann, 2011; Ahlrichs, 2019). 63 Sonderheft 16 np Richter, Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen Im Folgenden werden die konzeptionellen, theoretischen und forschungsmethodischen Grund- lagen sowie der partizipative Forschungsprozess des Projekts erläutert.2 2 Konzeption Aufgabe des in den Jahren 2013 bis 2016 durchgeführten Forschungsprojekts »Demokratiebil- dung in Kindertageseinrichtungen« (DeiKi) der Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungs- wissenschaft (FB 2), Arbeitsbereich Sozialpädagogik, war es, den Zusammenhang zwischen der Implementation demokratischer Strukturen in Kindertageseinrichtungen und den daraus resultierenden Formen demokratischer Praxis umfassend zu untersuchen. Als konzeptioneller Bezugspunkt diente der Handlungsansatz des Instituts für Partizipation und Bildung (Kiel): »Die Kinderstube der Demokratie« (Hansen/Knauer/Sturzenhecker, 2011). Das frühpädagogische Bildungskonzept sieht eine durch pädagogische Fachkräfte initiierte strukturelle Verankerung demokratischer Partizipation für Kinder durch Einführung einer satzungsähnlichen Verfassung in Kindertageseinrichtungen vor. Neben der Festlegung von Partizipationsrechten, zu denen Bereiche der Mitbestimmung, der Selbstbestimmung und auch Grenzen der Beteiligung ge- hören, basiert das Konzept auf der Implementation von methodisch angemessen realisierten Beteiligungsgremien und -verfahren sowie einem respektvoll-dialogischen Umgang mit Kindern. 3 Theorie Demokratie- und bildungstheoretisch stützt sich der Ansatz »Die Kinderstube der Demokra- tie« auf die von John Dewey (1916/2000) entwickelten Vorstellungen, Demokratie nicht nur als Regierungs-, sondern auch als Lebensform zu verstehen. Danach muss es gesellschaftlich und vor allem auch pädagogisch darum gehen, die nicht staatlichen Institutionen als »embryonic community life« (Dewey, 1900/1925: 29) aufzufassen und im Sinne von Teil-Gesellschaften de- mokratisch zu realisieren. Das Forschungsprojekt knüpfte an diese demokratie- und bildungstheoretischen Bezugspunkte des Konzeptes an, erweiterte den Blickwinkel aber sowohl in gesellschaftstheoretischer als auch in sozialpädagogischer Perspektive: So orientierte sich die Untersuchung an den Überlegungen von Jürgen Habermas zu einer deliberativen Demokratie, wonach demokratische Partizipation auf alle nicht staatlichen, d. h. lebensweltlich integrierten Bereiche so angewendet wird, dass sich die Adressat*innen von Rechtsnormen zugleich als ihre vernünftigen Urheber*innen verstehen dürfen (Habermas, 1992: 52; 1981). Unter sozialpädagogischem Blickwinkel stellte darüber hinaus die Theorie der Kommunalpä- dagogik von Helmut Richter die Grundlage der Forschung dar (H. Richter, 2016, 2019). Gemäß dieser Theorie müssen sich (Bildungs-)Einrichtungen, um deliberative Demokratie realisieren zu können, an den sog. Vereinsprinzipien orientieren, nämlich Freiwilligkeit, Mitgliedschaft, Ehrenamt, lokale Organisationsstruktur, Öffentlichkeit sowie egalitäre Interaktionsformen, Diskussionsfreiheit und Majoritätsentscheidungen. Im Zentrum der Forschung stand die Frage, wie in Kindertageseinrichtungen, die nach dem Konzept »Die Kinderstube der Demokratie« arbeiten und damit im Verbund eine Kita-Verfassung eingeführt haben, demokratische Partizipation durch die Beteiligten empirisch hergestellt wird. Parallel wurde analytisch betrachtet, inwieweit dabei die oben formulierten (Vereins-)Prinzipien 2 Für die folgenden Ausführungen sind die methodischen Darlegungen im Abschlussbericht zum DeiKi-Projekt (E. Richter/Lehmann/Sturzenhecker, 2017: 63-86) gekürzt, inhaltlich überarbeitet und um ein Reflexionskapitel erweitert worden. 64 Sonderheft 16 np Richter, Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen angewendet werden, um deliberative Demokratie als beteiligungszentrierte Lebensform um- zusetzen. Entsprechend ging es darum, die institutionellen Bedingungen, Beteiligungsstrukturen und Interaktionsformen für deliberative Demokratie in ausgewählten Kindertageseinrichtungen herauszuarbeiten.3 Es wurden insgesamt sechs Kindertageseinrichtungen in verschiedenen Bundesländern be- forscht. Die ausgewählten Einrichtungen wiesen prinzipiell mindestens drei Kindergartengruppen (also insgesamt ca. 60 Kinder) auf und arbeiteten seit mindestens zwei Jahren auf der Basis einer Verfassung nach dem Konzept »Die Kinderstube der Demokratie«. 4 Forschungsmethode Die methodische Konzeptionierung des Forschungsprojekts folgte dem Anspruch, demokratische Partizipation nicht nur als Forschungsgegenstand zu behandeln, sondern in den Forschungspro- zess selbst so zu integrieren, dass die Forschungspraxis als dialogisch-partizipativ gelten kann. Methodisches Ziel war es vor diesem Hintergrund, die Reflexions- und Dialogfähigkeit beider Beteiligtengruppen – der Beforschten wie der Forschenden – zum Ausgangspunkt der Unter- suchung zu nehmen, wechselseitige Bildungsprozesse zu ermöglichen und dafür den gesamten Forschungsprozess, also Datenerhebung, Datenauswertung und Datenverwendung, partizipativ auszugestalten (zum Begriff der partizipativen Forschung vgl. Bergold, 2013; zum Begriff der Partizipation vgl. Schnurr, 2018). Aus diesem Grund wurde die Handlungspausenforschung (H. Richter et al., 2003) als metho- discher Bezugsrahmen der qualitativen Studie gewählt. Diese Forschungsmethode ist explizit als pädagogische Forschungsmethode konzipiert, die nicht allein der beschreibenden Sozialfor- schung dient, sondern darauf ausgerichtet ist, dialogisch-diskursive Prozesse zu motivieren und dadurch Bildungsprozesse zu initiieren. Ziel ist es außerdem, dass die im handlungsentlasteten Forschungsprozess partizipativ generierten Erkenntnisse in der unter Handlungszwang stehen- den pädagogischen Praxis der Forschungsbeteiligten praktische Relevanz erhalten können. Der Gang der Forschung hat daher über den gesamten Forschungsprozess hinweg – also von der Erhebung über die Auswertung bis zur Verwendung – die Verbindung von Theorie und Praxis zu berücksichtigen. Zentrales Anliegen der Handlungspausenforschung ist es insofern, durch eine gemeinsame Fragestellung und ein reflexives Verfahren den wechselseitigen Austausch von Argumenten im gesamten Forschungsprozess zu gewährleisten. Der Begriff der Handlungspause bezeichnet in diesem Kontext ein von alltäglichen Handlungszwängen entlastetes freiwilliges Gespräch, in dem der pädagogische Prozess überdacht und im Sinne eines intensiven gemeinsamen Nach- denkens über die gegebenen Verhältnisse und das eigene Verhalten angeregt werden kann. Im Rahmen eines solchen Reflexionsprozesses gelten die Beforschten als Expert*innen ihrer Lebenswelt und behalten insofern – wie die Forschenden – ihren Subjektstatus. Das Gespräch dient in der Form eines Diskurses dem gleichberechtigten Austausch von Argumenten und der Diskussion strittig gewordener Geltungsansprüche. In der Phase der Datenverwendung zielt die Handlungspausenforschung dann darauf ab, die Forschungsergebnisse an die Befragten zu übermitteln und auf diese Weise zur Herstellung von Öffentlichkeit zu motivieren, damit in den 3 Unter der Frage, ob bzw. wie die Kinder Demokratie praktizieren können und wie zufrieden sie mit der demokrati- schen Praxis sind, erfolgte außerdem eine Untersuchung der Performanz der Kinder hinsichtlich demokratischer Kompetenz und des demokratischen Engagements. Als Grundlage der Datenauswertung fungierte das partizipativ erhobene Datenmaterial (inklusive teilnehmender Beobachtungen und Dokumentanalyse). Datenerhebungs-, Datenauswertungs- und Datenverwend ungs prozess werden daher im vorliegenden Text keiner gesonderten Un- tersuchung unterzogen. 65 Sonderheft 16 np Richter, Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen betroffenen Institutionen selbstständig und mündig über die Verwendung der Forschungsresul- tate diskutiert werden kann. Die Forschung beabsichtigt entsprechend, die Beteiligten auf der Basis »diskursiver Interview[s]« (H. Richter et al., 2003: 53) gemeinsam in einen dynamischen, kommunikativen Reflexionsprozess einzubinden, der wechselseitige Bildungsprozesse anstößt und im Anschluss an einen gemeinsamen kommunikativen und argumentativen Validierungs- prozess veröffentlicht wird. Die in diesem Vorgehen zum Ausdruck kommenden Prinzipien des Forschungsansatzes – wechselseitiger Subjektstatus (Diskursivität), dialogische Auswertung (kommunikative und argumentative Validierung) und Verbindung von Theorie und Praxis durch die gemeinsame Herstellung von Öffentlichkeit – vermögen den Bedingungen einer dialogischen Partizipation im Forschungsprozess Rechnung zu tragen. Denn der einer demokratischen Entscheidung vorausgehende Bildungsprozess kann durch die Handlungspausenforschung im Rahmen des Forschungsprozesses dialogisch motiviert und mit allen Forschungsbeteiligten umgesetzt werden. Die Rückbindung der Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit ermöglicht es dann, den in der Handlungspause initiierten Bildungsprozess in einen unter Handlungszwang stehenden demo- kratischen Entscheidungsprozess zu überführen. Er ist jedoch nicht mehr Teil der Forschung, sondern Teil einer gemeinsam geteilten Praxis von Betroffenen.4 Im Folgenden wird näher erläutert, wie die Forschungsphasen im Rahmen des DeiKi-Projekts gestaltet wurden und in welcher Weise dabei dem dialogisch-partizipativen Anspruch Rechnung getragen wurde (vgl. dazu die Übersicht über den Forschungsablauf des DeiKi-Projekts). Übersicht über den Forschungsablauf des DeiKi-Projekts Vorbereitung Telefonische Vorabanfrage Selbstdarstellung des Forschungsprojekts für Fachkräfte DIN A3-Plakat für Eltern Kinderbrief Experteninterview mit Kita-Leitung Walking Interview mit Kindern Datenerhebung Diskursive Interviews mit Fachkräften und Eltern Mediengestützte diskursive Interviews mit Kindern Teilnehmende Beobachtungen Dokumentenanalysen 4 Anders als im DeiKi-Abschlussbericht (E. Richter/Lehmann/Sturzenhecker, 2017) wird die Handlungspausen- forschung daher hier als partizipativ, nicht jedoch als demokratisch begriffen, da der Forschungsprozess wohl gemeinsame Reflexions- und Bildungsprozesse aller Beteiligten beinhaltet und diese auch als Vorbereitung von unter Handlungszwang zu treffenden demokratischen Entscheidungen aufzufassen sind. Der eigentliche, unter Handlungszwang zu vollziehende Abstimmungsprozess durch die gemeinsam von den Ergebnissen Betroffenen ist jedoch nicht Bestandteil der Forschung, sondern gelingender Praxis. 66 Sonderheft 16 np Richter, Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen Daten- Transkription und kommunikative Validierung der diskursiven Interviews auswertung Verschriftlichung der teilnehmenden Beobachtungen Verschriftlichung der Dokumentenanalysen Datentriangulation: Erstellung eines Teilberichts und einer Zusammenfassung pro Kita Argumentative Validierung der Teilberichte sowie gezeichneter Fallvignetten für Kinder Verschriftlichung des Abschlussberichts Daten- Rücklauf der Kita-internen Ergebnisse in die Öffentlichkeit der Kitas selbst: Teilberichte, verwendung Fallvignetten für Kinder Rücklauf der Gesamtergebnisse in die Öffentlichkeit der Kitas, der interessierten Fachöffent- lichkeit und der Wissenschaft: Abschlusstagung, Veröffentlichung des Abschlussberichts 5 Datenerhebung Für die Datenerhebung wurden sechs Kindertageseinrichtungen ausgewählt. Die Forschungs- phasen wurden nicht in allen Einrichtungen parallel durchgeführt, sondern in jährlichem Ab- stand nacheinander in Zweiergruppen. So konnten bereits gewonnene Erkenntnisse direkt in den Forschungsprozess mit den nächsten Einrichtungen einfließen und der Ablauf modifiziert werden, um die bisher erzielten Forschungsresultate diskursiv einzubinden. Durch eine telefonische Vorabanfrage klärten die beteiligten Forscherinnen mit der jeweili- gen Kita-Leitung zunächst die gemeinsame Fragestellung und die Bereitschaft zur Teilnahme am Forschungsprozess unter den Bedingungen der Handlungspausenforschung: Diskursivität, Validierung und Herstellung von Öffentlichkeit. Den Kita-Teams wurde darüber hinaus eine schriftliche Selbstdarstellung des Forschungsprojekts (Hintergründe, Ziele, Methoden sowie beteiligte Mitarbeiterinnen) übersandt. Im Vorfeld der Datenerhebung verbrachte das Forschungsteam außerdem in vier Kindertages- einrichtungen jeweils einen Hospitationstag. Im Sinne einer Integration der beteiligten Forsche- rinnen in das Forschungsfeld diente er dem wechselseitigen Kennenlernen und dem persönlichen Austausch. Um in der Einrichtung eine Öffentlichkeit über den anstehenden Erhebungsprozess herzustellen, wurde der Leitungskraft jeder Kindertageseinrichtung ein DIN A3-Plakat mit Informationen rund um das Forschungsprojekt übergeben. Außerdem übermittelten die Pro- jektmitarbeiterinnen einen sog. Kinderbrief, der es den pädagogischen Fachkräften ermöglichen sollte, den Kindern der Einrichtung von der bevorstehenden Erhebung zu berichten. Während des Hospitationstages führten die Forscherinnen darüber hinaus ein Experteninterview (Meuser/Nagel, 2009) mit der Einrichtungsleitung, um Informationen über die Einrichtung zu sammeln, den Ablauf der Forschung und speziell der Erhebung zu klären und gemeinsam über die Auswahl der Dokumente für die Analyse zu entscheiden. Insofern im Rahmen der Hand- lungspausenforschung alle beteiligten Personen als Expert*innen ihrer Lebenswelt aufgefasst werden, richtete sich das Augenmerk im Rahmen des Leitungsinterviews auf das Sonderwissen, das die Leitungskraft einer Kindertageseinrichtung aufgrund ihres privilegierten Zugangs zu Informationen hat. Das Gespräch wurde auf der Basis eines vorab zur Verfügung gestellten Leitfadens geführt und mit einem Diktiergerät aufgezeichnet. Über das Experteninterview hinaus dienten Walking Interviews (Einarsdottir, 2005) der Integ- ration der Forscherinnen in das Forschungsfeld. Das Walking Interview ist eine gängige Methode der Forschung in Kindertageseinrichtungen, weil sie stark kindzentriert ist. Die Kinder zeigen in einer von ihnen geleiteten Führung durch die Einrichtung die für sie bedeutsamen Orte und 67 Sonderheft 16 np Richter, Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen machen Fotografien davon. In einem nächsten Schritt werden die Fotos Gegenstand einer Grup- pendiskussion mit den Kindern. Durch das Walking Interview konnten die Forscherinnen die Kindertageseinrichtung und ihre Räumlichkeiten aus Sicht der Kinder kennenlernen. Außerdem wurden Anregungen für den gemeinsamen diskursiv gestalteten Forschungsprozess in der Einrichtung gesammelt. Daher wurde die Methode des Walking Interviews für das Forschungsprojekt modifiziert. Die Kinder der beforschten Einrichtungen (in unterschiedlicher Anzahl, vorgesehen waren ein bis drei Kin- der) zeigten den Forscherinnen im Rahmen des Walking Interviews ihre individuellen Orte der Kindertageseinrichtung. Sofern es die Umstände zuließen, wurde das Gespräch mit einem Dik- tiergerät aufgenommen, um die übermittelten Informationen nachträglich noch einmal anhören zu können. Auf das Anfertigen von Fotos ebenso wie auf die Transkription und Auswertung des Walking Interviews wurde jedoch verzichtet, weil nicht der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn, sondern die praktisch relevante Integration der Forscherinnen in die Kindertageseinrichtung bezweckt wurde. Ausgerichtet an den mit der Leitungskraft getroffenen Absprachen, wurde einige Zeit nach dem Hospitationstag mit dem Erhebungsprozess begonnen, der – individuell auf die Kinderta- geseinrichtung abgestimmt – an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen oder über einige Wochen verteilt stattfand. In jeder Kindertageseinrichtung wurden Gruppeninterviews mit pädagogischen Fachkräften, Eltern und Kindern, teilnehmende Beobachtungen von Gremiensitzungen und Krippengruppen sowie Dokumentenanalysen durchgeführt. Dabei variierte die Anzahl der In- terviews, Beobachtungen und Analysen je nach Gruppenstruktur und demokratischem Aufbau der Kindertageseinrichtung sowie Anzahl und Zeitbudget der freiwillig Beteiligten. Die Untersuchungsgruppen der pädagogischen Fachkräfte, Eltern und Kinder wurden getrennt voneinander im Rahmen von diskursiven Gruppengesprächen befragt, die sich an dem für die Handlungspausenforschung entwickelten diskursiven Interview orientierten. Die Gruppengespräche mit den pädagogischen Fachkräften und mit den Eltern basierten auf der Methode des leitfadengestützten Gruppeninterviews (Friebertshäuser/Langer, 2010). Dafür sollten innerhalb der Gruppe nicht nur Informationen an die Forscherinnen weitergegeben, sondern Argumente formuliert, dialogisch ausgetauscht und ggf. auftretende Widersprüche und Gewissheiten diskursiv hinterfragt werden, um bei allen Beteiligten – auch den Forscherinnen – Reflexions- und Bildungsprozesse anzuregen. Die Interviewpartner*innen wurden vorher dar- über informiert, dass das Gruppeninterview nur auf die Dokumentation öffentlich verwendbarer Argumente und nicht, wie beispielsweise in Gruppendiskussionen nach der dokumentarischen Methode üblich, auf die Ausdeutung der im Interview entstehenden Meinungsbildungs- oder Problemlösungsprozesse fokussiert (Bohnsack, 2013; Flick, 2012). Die zentrale Aufgabe der Gruppengespräche mit den Fachkräften und Eltern bestand darin, auf der Basis der gemeinsamen Fragestellung: »Worüber muss man reden, wenn man von Partizipation in dieser Kita spricht?«, in einen Dialog und ggf. Diskurs einzutreten. Um eine grundsätzliche Dialogbereitschaft zu fördern, wurde der entwickelte offene Leitfaden den Beteiligten vorab über- mittelt. Die offen formulierte Eingangsfrage inklusive der beigefügten Themenliste verdeutlichte das zentrale Forschungsinteresse. Das auf ihrer Basis entwickelte Gespräch richtete sich jedoch nicht auf eine reihende Abarbeitung oder vollständige Behandlung aller im Leitfaden vorgeschla- genen Aspekte, sondern diente der Erörterung der für die beteiligten Gesprächspartner*innen wichtigen Themen, die auch vom Leitfaden abweichen konnten. So wurde sichergestellt, dass die Gesprächspartner*innen selbst über die Relevanz der Gesprächsthemen entscheiden konnten (Schütz, 1971). Die Forscherinnen beteiligten sich dabei ganz im Sinne der Handlungspausenfor- schung während des Gesprächs an den dialogischen Prozessen, brachten eigenes Wissen ein und stellten ggf. kritische Nachfragen. Die Reflexionsprozesse der Gruppe während des Gesprächs 68 Sonderheft 16 np Richter, Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen waren ausdrücklich erwünscht. Die Beforschten wurden als aktive, produktive und reflexive Subjekte in den Datenerhebungsprozess eingebunden. Sie hatten wie die Forscherinnen die Möglichkeit, den Verlauf des Gesprächs dialogisch und argumentativ zu gestalten. Die Kinder der Kindertageseinrichtungen sind zentral an der Herstellung der demokratischen Praxis beteiligt und standen daher auch im Zentrum der Erhebung des Forschungsprojekts. Die diskursiven Kinderinterviews erfolgten in der Form mediengestützter Gruppeninterviews (Fuhs, 2010; Heinzel, 2010). Der Gesprächsleitfaden für die rund eine halbe Stunde dauernden Gespräche orientierte sich an der Methode des Fotointerviews, wie sie von Mitarbeiter*innen eines schul- bezogenen Forschungsprojekts der Universität Hamburg erprobt (Willems/Feltz, 2008) und im Rahmen einer Vorstudie zur »Partizipation in der Kita« (E. Richter/Knauer/Sturzenhecker, 2011) bereits erfolgreich angewendet wurde. Ziel war, durch Fotos, die die Kinder und pädagogischen Fachkräfte vom Partizipationsalltag der Kindertageseinrichtung erstellten, Erzählanreize für die Kinder zu schaffen und gemeinsam mit ihnen über ihre eigenen Ansichten zur Partizipation in der Einrichtung zu sprechen und diese zu reflektieren. Die eigentlichen Gruppengespräche, vorbereitet durch einen den Kindern im Vorwege zugegan- genen Kinderbrief, begannen mit einer Vorstellung der Projektmitarbeiterinnen und der Kinder, gefolgt von einer Einführung in Anlass und Ziel des Forschungsprojekts und einem gemeinsamen Test des Aufnahmegeräts. Anschließend wurden die entwickelten Fotos offen in die Mitte eines Sitzkreises gelegt und die Kinder wählten in einem ersten Schritt diejenigen zwei bis drei Fotos aus, über die sie sprechen wollten. Im Anschluss folgte ein mit einem Sprechstein organisiertes Gespräch, in dem jedes Kind seine Fotos erklärte. In einem zweiten Schritt – teilweise aber auch in Schritt 1 integriert – ergänzten die Kinder einander gegenseitig, stellten Fragen oder fingen an, miteinander zu diskutieren. In Fällen, in denen das Gespräch stockte, wurden situations- und alltagsbezogene Themen und Fragen in Bezug auf die Partizipation vonseiten der Forschenden eingebracht. Die diskursiven Gruppengespräche wurden durch mehrere teilnehmende Beobachtungen der Gremiensitzungen und des Alltags in der Krippe ergänzt. Sie sollten zum einen Hintergrundinfor- mationen liefern, zum anderen eine andere Perspektive auf die Herstellung von demokratischer Partizipation in der Kita eröffnen. Darüber hinaus umfasste der Datenerhebungsprozess eine Analyse von Dokumenten, um die demokratischen Strukturen und Organisationsorgane der einzelnen Kindertageseinrichtungen zu beschreiben und diese mit den vorhandenen struktu- rellen und situativen Interaktionsformen, erhoben durch Gruppengespräche und teilnehmende Beobachtungen, im Spiegel von Anspruch und Wirklichkeit zu vergleichen. Für die Dokumen- tenanalyse wurden die Konzepte der Träger und Einrichtungen herangezogen. Außerdem wurde eine themenzentrierte Auswertung der Verfassungen und der Gremienprotokolle über den Zeitraum von einem Jahr vorgenommen. Zentraler Anspruch des Forschungsprojekts war es, den Forschungsprozess selbst partizipativ zu gestalten. Explizit sollten im Rahmen der Kooperation mit den Kindertageseinrichtungen entstandene wechselseitige Lernprozesse Auswirkungen auf den Fortgang der Untersuchung haben können und Forschungsergebnisse in die Entwicklung des Arbeitsprogramms eingebun- den werden. Diese Haltung hat, wie eingangs bereits angemerkt, zum einen zu einer Ausweitung der Datenerhebungsschritte geführt, d. h., es wurden zusätzliche diskursive Interviews in den Kindertageseinrichtungen geführt. Zum anderen ist es auf dieser Basis zu einer Abwandlung des Erhebungsablaufs gekommen. In den ersten vier untersuchten Kindertageseinrichtungen fanden prozessorientiert zusätzliche Gespräche, Interviews oder Beobachtungen statt, da die Beteiligten dies wünschten bzw. die demokratische oder institutionelle Struktur der Einrichtung dieses Vorgehen als sinnvoll erschei- nen ließ. Diese Möglichkeit zu einer Erweiterung und Modulierung des Forschungsprozesses 69 Sonderheft 16 np Richter, Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen ist offensiv und umfänglich in Anspruch genommen worden, indem zusätzlich zum eingangs geschilderten Forschungsplan diskursive Gruppeninterviews und teilnehmende Beobachtungen durchgeführt wurden. Während die beschriebene Prozessorientierung in vier Kindertageseinrichtungen zu einer Ausdehnung der Datenerhebungsphase geführt hat, bewirkte dieses Vorgehen in den zwei zu- letzt beforschten Einrichtungen eine Reduzierung und Fokussierung des Forschungsprozesses. Beide Entwicklungen sollen im Rahmen der vorliegenden Darstellung nicht im Detail erläutert werden. Es ist aber wichtig festzuhalten, dass die partizipative und pädagogische Ausrichtung der Datenerhebung einen offenen Ausgang des gemeinsamen Bildungsprozesses und damit auch eine Offenheit des Forschungsdesigns möglich macht. 6 Datenauswertung Die Datenauswertung diente der Aufbereitung der verschiedenen Daten, also der diskursiven Interviews, der teilnehmenden Beobachtungen sowie der vorliegenden Dokumente, um sie ab- schließend im Rahmen eines triangulierenden Prozesses vergleichend auswerten zu können. Die folgenden Erläuterungen beschreiben den auf die Verdichtung von Argumenten ausgerichteten Auswertungsprozess. Sie verdeutlichen darüber hinaus, wie dem Anspruch der Handlungspau- senforschung auf wechselseitige Subjektorientierung auch in dieser Elemente der Objektivierung enthaltenden Forschungsphase Rechnung getragen wurde. Im Weiteren wird das Verfahren der Transkription diskursiver Interviews inklusive ihrer kommu- nikativen Validierung genauer erläutert. Die Auswertung der teilnehmenden Beobachtungen und die Analyse der Dokumente werden nur insoweit beschrieben, als sie Bestandteil des partizipati- ven Prozesses waren. Abschließend wird der Vorgang der Datentriangulation (Schrüder-Lenzen, 2010) dargestellt, in dessen Rahmen für jede Kita spezifische Teilberichte sowie ein den gesamten Forschungsprozess reflektierender Abschlussbericht erstellt worden sind. Die Auswertung der diskursiven Gruppengespräche mit pädagogischen Fachkräften, Eltern und Kindern unterteilte sich entsprechend der Methode der Handlungspausenforschung (H. Richter et al., 2003) in verschiedene Phasen: die Transkriptions-, die kommunikative Validierungs-, die Interpretations- und die argumentative Validierungsphase. In einem ersten Schritt wurden die Audioaufnahmen aller Gruppengespräche möglichst wort- getreu transkribiert, um der besseren Verständlichkeit willen aber sprachlich so geglättet, dass die anzufertigenden Texte ausschließlich nachvollziehbare Aussagen enthielten. Dieses Vorgehen rechtfertigte sich, weil es Ziel des Forschungsprojekts war, mithilfe der Maximen der Handlungs- pausenforschung nicht repräsentative Daten oder subjektive Erzählungen zu erheben, sondern diskursiv ermittelte Argumente der Forschungspartner*innen zu verschriften. Es war daher nicht notwendig, in den Transkripten der Art und Weise, wie etwas gesagt wurde, gesondert Rechnung zu tragen. Stattdessen zählte einzig der Inhalt, der in der Form von Anschauungen über die Wirklichkeit und als Ausdruck bestimmter Geltungsansprüche zusammengetragen wurde und anschließend in eine entsprechende Öffentlichkeit zurückvermittelt werden sollte. Der so vollzogene Auswertungsprozess enthält jedoch immer Elemente des Objektivierens. Um diese Objektivierungen partizipativ zurückzunehmen und nicht als Definitionen über objektives Verhalten stehen zu lassen, erhielten alle Gesprächsteilnehmer*innen die Gelegenheit, die Trans- kriptionen Korrektur zu lesen, Streichungen vorzunehmen sowie Kommentare oder inhaltliche Änderungen einzufügen. Eine solche schriftliche Form der »kommunikativen Validierung« (Lechler, 1982; Terhart, 2000) ist mit Kindern, die nicht lesen und schreiben können, allerdings nicht möglich. Deshalb wurden ihnen die Transkripte von den Forscherinnen selbst oder von pädagogischen Fachkräften vorgelesen und ihre Anmerkungen notiert und in den Text eingearbeitet. 70 Sonderheft 16 np Richter, Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen Nach Abschluss der kommunikativen Validierung wurde eine Sequenzierung des Textes nach thematischen Einheiten innerhalb des Gesprächs vorgenommen, und zwar in Auseinanderset- zung mit den Forschungsfragen. Analog den sog. »Memos« im computergestützten qualitativen Daten- und Textanalyseprogramm MAXQDA werden dabei gerahmte Textfelder am Rande des Transkripts eingefügt. Diese sog. »Kästchen« dienen dazu, das in einem Textabschnitt hervortre- tende Argument in vollständigen Sätzen zusammenzufassen und seine Stelle durch Angabe der Zeilennummern im Transkript zu kennzeichnen. Die Sequenzen spiegeln so den Gesprächsverlauf anhand der thematischen Abfolge wider. Darauf aufbauend erfolgte die Paraphrasierung der Sequenzen zur Verdichtung der vorgefundenen Argumente bzw. des Sinngehalts. Dafür wurden die thematischen Einheiten in eigenen Worten zusammengefasst und ggf. durch Zitate verdeutlicht. Anschließend bzw. parallel wurden die Paraphrasen verschlagwortet, d. h. mit Überschriften versehen. Als Schlagworte dienten an der Operationalisierung der Forschungsfragen orien- tierte und insofern deduktiv ermittelte Auswertungskategorien, die in Auseinandersetzung mit den theoretischen Annahmen und konzeptionellen Grundlagen entwickelt worden waren. Sie wurden ergänzt um solche Schlagworte, die aus den Argumentationslinien im Gespräch induktiv abgeleitet werden konnten. Anschließend erfolgte eine thematische Bündelung der Paraphrasen entlang der Schlagworte, die als Überschriften der Entwicklung eines Ganges der Argumentation dienten. Dieser Prozess zur Verdichtung von Argumenten, die in der Öffentlichkeit diskutierbar sind, bildete das zentrale Moment des Auswertungsprozesses. Die Vergleichbarkeit der Gruppengespräche mit Fachkräften und Eltern wurde durch den ge- teilten institutionell-organisatorischen Kontext sowie den gemeinsamen Leitfaden gewährleistet. Die Perspektiven der verschiedenen Forschungspartner*innen wurden anschließend komparativ analysiert. Gemeinsamkeiten und Unterschiede wurden hervorgehoben und, soweit möglich, in ihrer Genese beschrieben. Nachdem über die Validierung der Transkripte hinaus die teilnehmenden Beobachtungen ausgewertet und die Dokumente analysiert worden waren, wurden die Forschungsergebnisse gemeinsam mit den Daten des Hospitationstages entlang der gebildeten Auswertungskate- gorien und in Bezug auf die Forschungsfrage gebündelt und trianguliert. Daneben wurden im Auswertungsvorgang die durch den diskursiven Forschungsvorgang initiierten Bildungs- und Reflexionsprozesse der Beteiligten in besonderer Weise evaluiert. Die so erarbeiteten Resultate zur Forschungsfrage wurden für jede Kindertageseinrichtung in einem eigenen Teilbericht zu- sammengefasst. Der Fokus der umfänglichen Teilberichte (jeweils rund 100 Seiten) lag auf den individuellen Aspekten der jeweiligen Einrichtung und auf der gemeinsam entwickelten Frage- stellung. Die Teilberichte – und damit alle relevanten Deutungen im Forschungsprozess – wurden den Beteiligten anschließend zur »argumentativen Validierung« (H. Richter et al., 2003: 56) zur Verfügung gestellt. Eltern und pädagogische Fachkräfte erhielten den Teilbericht in digitaler und Druckversion übersandt und konnten Ergänzungen und Kommentierungen vornehmen oder auch neuerlichen Gesprächsbedarf anmelden.5 Die Ergebnisse der argumentativen Validierung wurden den Teilberichten in Form von eingearbeiteten Kommentaren – hervorgehoben durch ein besonderes Layout – oder als Stellungnahmen im Anhang beigefügt. Sie wurden darüber hinaus im Endbericht inhaltlich berücksichtigt. Damit auch die Kinder eine Möglichkeit der argumentativen Validierung erhielten, wurde für jede Kindertageseinrichtung ein zentrales Beispiel formeller demokratischer Mitbestimmung zu einer Fallgeschichte verdichtet. Anhand dieser sog. Vignette entwickelte eine Illustratorin in Zusammenarbeit mit den Mitarbeiterinnen 5 Durch die argumentative Validierung konnte auch die im Rahmen der Triangulierung einseitig durch die Forscher*innen vorgenommene Gewichtung der einzelnen Datengrundlagen dialogisch-partizipativ an die betrof- fenen Forschungsbeteiligten rückgebunden werden. 71 Sonderheft 16 np Richter, Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen des Forschungsprojekts einen einseitigen, ohne Text erstellten Comic, der – auf DIN A1 vergrö- ßert – in den Kindertageseinrichtungen ausgehängt und mit den Kindern besprochen werden konnte.6 Auf diesem Wege sollten auch die noch nicht lesefähigen Vorschulkinder am diskursiv- pädagogischen Forschungsprozess teilhaben. Die argumentative Validierung ist im Rahmen der Handlungspausenforschung methodischer Bestandteil der Datenauswertung. Sie stellt jedoch zugleich bereits eine Verwendung der Daten dar, insofern die Forschungsresultate den Befragten zur Verfügung gestellt werden und weitere dialogisch-partizipative Prozesse motivieren können. Der folgende Abschnitt erläutert, in welcher Weise die Kindertageseinrichtungen diese Möglichkeit wahrgenommen haben. 7 Datenverwendung Das Forschungsprojekt »Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen« hat mit seiner Orientierung an der Handlungspausenforschung einen Forschungsprozess umsetzen wollen, der zwei zentrale demokratische Prinzipien berücksichtigt: die Ermöglichung wechselseitiger Bildungsprozesse und die Herstellung von Öffentlichkeit im Rahmen der Forschung und über sie hinaus. Aus diesem Grunde sollte das durch die Forschung angesammelte Wissen neben seiner wissenschaftlichen Verwendung auch und gerade den Gesprächspartner*innen im Forschungs- feld zugutekommen, indem gewährleistet wird, dass der Rücklauf der zusammengetragenen Ergebnisse in dieselbe Öffentlichkeit erfolgt, aus der sie stammen und insofern eine Einheit von Datenerhebung und Datenverwendung gesichert ist (H. Richter et al., 2003). Mit der argumentativen Validierung ist in dieser Hinsicht ein erster Schritt bereits im Rahmen der Datenauswertung getan worden. Denn im Rahmen dieses Prozesses sind die Forschungs- ergebnisse an die segmentierten Öffentlichkeiten der Kindertageseinrichtungen rückgebunden worden, d. h., pädagogische Fachkräfte, Eltern und Kinder hatten die Möglichkeit, Foren für weitere rationale Diskurse mit oder ohne die Forschungsmitarbeiterinnen zu entwickeln. Davon hat u. a. das Team einer Kita Gebrauch gemacht, das die argumentative Validierung nicht nur in der Form eines umfangreichen schriftlichen Kommentars, sondern auch im Rahmen eines zusätzlichen Gesprächs durchführte. In einer anderen Kindertageseinrichtung wiederum hat der Validierungsprozess den Prozess zur Weiterentwicklung der konzeptionellen Praxis neu entfacht und Überlegungen und Diskussionen im Team motiviert. Darüber hinaus dienten auch die nach Abschluss der argumentativen Validierung für jeden Teilbericht erstellten Zusammenfassungen dem Ziel, die Herstellung von Öffentlichkeit zu motivieren. Sie wurden daher den Beteiligten der anderen Einrichtungen oder weiteren Interessierten zur Verfügung gestellt. Um einen wechselseitigen Bildungsprozess aller Beteiligten zu gewährleisten, erfolgte dar- über hinaus die Veröffentlichung der Ergebnisse im Rahmen einer in Hamburg abgehaltenen Abschlusstagung, die sich an interessierte pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtun- gen, an Fachberatungen, Träger und Verbände, Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, die interessierte Öffentlichkeit sowie gerade auch an die im Rahmen der Forschung beteiligten Gesprächspartner*innen richtete. Ziel war es, mit den Vertreter*innen aus Wissenschaft, Politik und Praxis in einen öffentlichen Reflexionsprozess über die erarbeiteten Ergebnisse zu treten. Grundlage für diesen Diskurs waren verschiedene, bereits im Forschungsprozess verfasste Arti- kel (E. Richter et al., 2016; E. Richter/Lehmann, 2016a; E. Richter/Lehmann, 2016b) sowie der inzwischen als Buch vorliegende Abschlussbericht (E. Richter/Lehmann/Sturzenhecker, 2017). 6 Die Fallgeschichten sind in Text- und Bildform als Druckvorlagen kostenlos erhältlich unter https://www.ew.uni- hamburg.de/einrichtungen/ew2/sozialpaedagogik/forschung/deiki/posterdeiki.html 72 Sonderheft 16 np Richter, Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen Dem Anspruch wechselseitiger Bildungsprozesse verpflichtet, ist der gesamte Forschungsprozess darüber hinaus auch in wissenschaftlich relevante Verständigungsprozesse eingebunden worden. So wurde der Gang der Forschung durch einen multiprofessionellen Beirat wissenschaftlich begleitet (bestehend aus Vertreter*innen der freien und öffentlichen Wohlfahrtsverbände, der Fachhochschulen und der ministeriellen Ebene), sind seine Zwischenergebnisse in einem univer- sitären Kolloquium diskutiert und die Forschungsresultate auf nationalen und internationalen Fachtagungen sowie im Rahmen weiterer Veröffentlichungen (E. Richter/Lehmann/Sturzenhe- cker, 2018; E. Richter/Lehmann, 2019) präsentiert worden. 8 Reflexion und Ausblick Der Gang der partizipativen Untersuchung hat sowohl technische als auch inhaltliche Heraus- forderungen hervortreten lassen, die eine methodische Reflexion erfordern. Diese sollen im Folgenden skizziert werden, damit Prozesse der Rollen- und Aufgabenklärung in zukünftigen partizipativen Handlungspausenforschungsprojekten unterstützt und gemeinsam mit den Be- teiligten abgeklärt werden können. Auf der Ebene der organisatorischen Umsetzung hat sich gezeigt, dass besondere Vorgehens- weisen erforderlich sind, um eine gemeinsame Fragestellung und ein reflexives Verfahren zum Austausch von Argumenten im Forschungsprozess und über ihn hinaus für alle Beteiligten zu garantieren. Zwei Aspekte sind in dieser Hinsicht besonders hervorzuheben: Den Forscher*innen kommt im Rahmen der Handlungspausenforschung die Aufgabe zu, den dialogisch-partizipativen Forschungsprozess bezüglich aller beteiligten Gruppen pädagogisch anzuleiten. Insofern müssen sich die Wissenschaftler*innen selbst in allen Forschungsphasen in konkrete wechselseitige Bildungsprozesse mit den pädagogischen Fachkräften, Eltern und Kindern begeben (Interviews, kommunikative und argumentative Validierung, Herstellung von Öffentlichkeit). Für ein Forschungsprojekt sind daher ausreichend zeitliche Ressourcen einzu- planen, um nicht nur das im Kern wissenschaftliche, sondern auch das pädagogische Handeln der Wissenschaftler*innen abzusichern. Außerdem ist im Rahmen der Forschung die Frage zu beantworten, wie die im Forschungspro- zess angestoßenen Bildungsprozesse unter den beteiligten pädagogischen Fachkräften, Eltern und Kindern fortgesetzt werden können, wenn die Forscher*innen das Forschungsfeld wieder verlassen haben, d. h. wie die gemeinsame Fragestellung in die praktischen Reflexions- und demokratischen Entscheidungsprozesse der Kindertageseinrichtung überführt werden kann, nachdem die Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit der Institution zurückgeflossen sind. Neben den organisatorischen existieren auch interaktive Umsetzungsfragen im Falle von Kon- flikten. So ist entsprechend den Erfahrungen im DeiKi-Projekt eine hohe Bereitschaft aller Beteiligten erforderlich, konfligierende Meinungen im Forschungsprozess kommunikativ so zu vermitteln, dass der Anspruch der Partizipation für alle vom gemeinsamen Reflexionspro- zess Betroffenen erhalten bleibt. Dafür sollte der Kommunikationsprozess auch und gerade im Falle von Widersprüchen und Konflikten aufrechterhalten werden. Zudem sollten sich die Forscher*innen – über weitere Gesprächsangebote und die Möglichkeit der Kommentierung von Auswertungstexten im Rahmen der argumentativen Validierung hinaus – die Zeit nehmen, auch den Abschlussbericht mit den am Konflikt Beteiligten gesondert zu diskutieren. Die damit verbundene mögliche Ausweitung des Datenerhebungs- und Datenverwendungsprozesses macht ein flexibles Forschungsdesign erforderlich. Unabhängig von diesen methodischen Fragen kann der beschriebene Gang der Untersuchung im Rahmen des DeiKi-Projekts belegen, dass die Handlungspausenforschung als Form der partizipa- tiven Forschung (Bergold, 2013) aufzufassen ist. Dafür sind drei methodische Merkmale zentral: 73 Sonderheft 16 np Richter, Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen Die diskursiven Erhebungs- und validierenden Auswertungsverfahren garantieren die Mitbe- stimmung der Forschungsbeteiligten am gesamten bildungsbezogenen Forschungsprozess. Wi- derstreitende Meinungen der Forschungsbeteiligten werden als Gegenstand der Untersuchung explizit in den Forschungsprozess integriert. Die Einheit von Datenerhebung und Datenverwendung realisiert Mitbestimmung in der Form einer Verknüpfung von Theorie und Praxis, weil die Forschungsergebnisse nicht nur in wissen- schaftliche Arenen, sondern insbesondere in die Öffentlichkeit der beforschten Praxis zurück- fließen, aus der sie gewonnen wurden. Durch den im Kern pädagogischen Forschungsansatz werden gemeinsame Reflexions- und Bil- dungsprozesse aller Beteiligten ins Zentrum der Untersuchung gerückt, d. h. partizipative, in der Perspektive auf demokratische Entscheidungen hin notwendige (Meinungs-)Bildungsprozesse werden nicht nur abgebildet, sondern zugleich auch initiiert. In Bezug auf die in der pädagogischen Praxis zu treffenden Entscheidungen ist damit zugleich in einem deliberativ-demokratischen Verständnis gewährleistet, dass die Adressat*innen ihre Urheber*innen und insofern betroffene Subjekte und nicht Objekte sind. Mit diesen Grundlegungen erscheint die Handlungspausenforschung geeignet, gerade auch als sozialpädagogische Forschungsmethode zu fungieren, weil sie durch den partizipativ strukturier- ten Forschungsprozess selbst Bildungsprozesse in der Perspektive gelingender (demokratischer) Partizipation und damit sozialer Integration motiviert. 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München geseinrichtungen – erste Evaluationsergebnisse, in: und Wien: 161-169 neue praxis 41, H. 1: 61-72 Willems, K./Feltz, N., 2008: »Überall steckt alles voller Richter, E./Lehmann, T./Sturzenhecker, B., 2017: So Physik« – Aussagen und »Fach-Images« von Schüle- machen Kitas Demokratiebildung. Empirische Ergeb- rinnen und Schülern zu Physik. Genus – geschlech- nisse zur Umsetzung des Konzepts »Die Kinderstube terbezogener naturwissenschaftlicher Unterricht in der Demokratie«. Weinheim und Basel der Sekundarstufe I. Bad Heilbrunn: 71-92 75 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht Angela Rein/Katharina Mangold »Was macht Macht in partizipativer Forschung?« Reflexionen zur Bedeutung von Macht in einem Forschungsprojekt mit Care Leaver*innen 1 Einleitung Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich damit, welche Fragen sich aus einer macht- und ungleich- heitstheoretischen Perspektive für partizipative Forschungen mit Care Leaver*innen stellen. Diese Fragen werden sowohl theoretisch diskutiert als auch empirisch bearbeitet. Grundlage sind Daten (Beobachtungsprotokolle) aus dem Forschungsprojekt »Care Leaver erforschen Leaving Care«, das derzeit an der Hochschule für Soziale Arbeit Fachhochschule Nordwestschweiz durchgeführt wird (Februar 2017 – Januar 2020, gefördert durch die Stiftung Mercator Schweiz; Forschungsteam: Sarina Ahmed, Dorothee Schaffner und Angela Rein). In diesem partizipativ angelegten Projekt forschen Care Leaver*innen, sozialarbeiterische Fachpersonen und Wissenschaftler*innen zusam- men mit dem Ziel, auf der Grundlage der Forschungsergebnisse Ansatzpunkte zur Verbesserung der Situation von Care Leaver*innen in der Region Basel zu erarbeiten. In den letzten Jahren findet im deutschsprachigen Raum eine zunehmende Beschäftigung mit dem Thema Leaving Care statt und es sind einige Forschungsprojekte und Fachartikel dazu ent- standen (bspw. Gabriel/Stohler, 2008; Köngeter/Schröer/Zeller, 2012; Schaffner/Rein, 2015; Kön- geter/Mangold/Strahl, 2016; Rein, 2018a; Rein, 2018b). Care Leaver*innen müssen mit Erreichen der Volljährigkeit die Jugendhilfe i.d.R. verlassen. Dies führt zur Benachteiligung im Vergleich zu ihren Peers, die aufgrund der veränderten Bedingungen im Übergang ins Erwachsenenalter bei ihren Eltern wohnen bis sie durchschnittlich 25 Jahre alt sind (vgl. Gabriel/Stohler, 2008; Schaff- ner/Rein, 2015). In Bezug auf Bildungschancen werden ebenfalls Benachteiligungen sichtbar (vgl. Mangold, 2014; Mangold/Schröer, 2014; Köngeter/Mangold/Strahl, 2016; Zeller/Gharabaghi, 2016). In der Folge ist für die jungen Menschen eine selbstverständliche gesellschaftliche Teilha- be nicht ohne weiteres möglich. So wird in den Forschungen bspw. darauf verwiesen, dass Care Leaver*innen Bildungsbenachteiligung erfahren, dass sie einem höheren Obdachlosigkeits- und Armutsrisiko oder auch stärkeren gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt sind (vgl. Dixon et al., 2004; Mendes/Snow, 2016). International wird der Begriff »Care Leaver*in« nicht nur in fachlichen Diskursen, sondern auch emanzipatorisch als Identitätskategorie und zur Selbstorganisation oder in der Lobbyar- beit für die Belange der jungen Menschen genutzt (bspw. Care Leaver e.V., 2019; Care Leavers Australasia Network, 2019). Die Selbstorganisationen werden auch in politischen Prozessen und Forschungen einbezogen und befragt (vgl. Arns/Mangold/Strunk, 2018). Somit spielt also die Perspektive der Adressat*innen im Bereich der Care-Leaver*innen-Forschung eine bedeu- tende Rolle. Mit einem relationalen Verständnis von Adressat*innen (Bitzan/Bolay, 2017) gibt es Care Leaver*innen immer nur in relationalen Bezügen zu den Institutionen der stationären Kinder- und Jugendhilfe. Um die Perspektive von Care Leaver*innen als Adressat*innen untersuchen zu können, bieten partizipative Forschungszugänge die Möglichkeit, sie zu Akteur*innen der Untersuchung der eigenen Lebenslage zu machen (vgl. Mangold/Rein, 2018). Dieser partizipative Ansatz kam auch 76 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht im Forschungsprojekt »Care Leaver erforschen Leaving Care« zum Tragen und die jungen Er- wachsenen waren als Co-Forschende im gesamten Forschungsprozess an der Untersuchung der Frage, welchen Herausforderungen sich Care Leaver*innen im Übergang aus der stationären Jugendhilfe ins Erwachsenenalter stellen, mitbeteiligt. Im vorliegenden Artikel wird aus einer machttheoretischen Perspektive auf den Forschungsprozess eingegangen und reflektiert, welche Fragen sich vor diesem Hintergrund ergeben. Zunächst wird kurz beleuchtet, was unter partizipativer Forschung verstanden werden kann und wie diese in die Care-Leaver*innen-Forschung Eingang findet. Danach wird auf die Frage eingegangen, welche Bedeutung Macht in den Diskursen über partizipative Forschung hat. Hierzu wird mit Bezug zu subjektivierungstheoretischen Überlegungen von Judith Butler (Butler, 2001) ein Verständnis von Macht entfaltet, das in sozialen Interaktionen eine Rolle spielt, in deren Folge Subjekte erst handlungsfähig werden. Dies wird noch mit konzeptionellen Überlegungen des Intersektionalitätsansatzes (Riegel, 2013) verbunden. Davon ausgehend werden anschlie- ßend empirische Beispiele aus ethnografischen Protokollen des Forschungsprojektes diskutiert und aufgezeigt, welche Bedeutungen Macht und Ungleichheit haben. Zuletzt werden mögliche Ansatzpunkte und Empfehlungen für eine machtsensible partizipative Forschung dargelegt. 2 Partizipative Forschung mit Care Leaver*innen In der qualitativen Adressat*innenforschung haben partizipative Ansätze in den letzten Jahren an Relevanz gewonnen. »Nicht Forschung über Menschen und auch nicht für Menschen, sondern Forschung mit Menschen – dies ist der Anspruch und die grundlegende erkenntnistheoretische Position von partizipativer Forschung« (Bergold/Thomas, 2012: 333, Herv. i. O.). Damit verbun- den ist eine Kritik an bestehenden Forschungen, die rein auf Erkenntnisgewinnung abzielen. So wird auch im hier vorgestellten Projekt das Ziel verfolgt, einen Beitrag zur Verbesserung der gesellschaftlichen Situation von Care Leaver*innen und zu deren Empowerment zu leis- ten. Entsprechend der Ansätze der Peer-Forschung wurden dazu Care Leaver*innen selbst als Forschende – nicht nur als Informant*innen – einbezogen. Damit verbunden stellen sich neue Anforderungen an die Forschung. Grundsätzlich ist mit partizipativer Forschung der Anspruch verbunden, alle Akteur*innengruppen von der Planung der konkreten Untersuchungsschritte bis zur Durchführung der Studie zu be- teiligen (Bergold/Thomas, 2012: Abs. 1). In verschiedenen Kontexten wurden Peer-Research- Ansätze und partizipative Forschungszugänge mit Care Leaver*innen bereits umgesetzt (Dixon, 2014; Lushey/Munro, 2015). In den Begründungen für die partizipativen Zugänge wird auf den Gewinn verwiesen, der mit der Beteiligung von jungen Menschen mit Jugendhilfeerfahrungen erzielt werden könne. Dass Care Leaver*innen als Forschende über Erfahrungen mit dem For- schungsgegenstand verfügen und damit verbunden auch eine erhöhte Sensibilität für die Thematik aufweisen, wird dabei positiv bewertet. Diese Perspektive und Sensibilität kann in allen Phasen von Forschungsprojekten Eingang finden (vgl. Stein, 2019: 402). Gleichzeitig werden auch Diskus- sionen darüber geführt, welche Herausforderungen mit der Forschung von Care Leaver*innen verbunden sind. Grenzen werden insbesondere im hohen zeitlichen Aufwand gesehen, der mit der Beteiligung von Care Leaver*innen an Forschungen verbunden ist, darüber hinaus werden einzelnen Care Leaver*innen (aufgrund ihrer biografischen Verflechtungen) bestimmte For- schungskompetenzen abgesprochen (vgl. ebd.). Weiterhin wird bei Peer-Ansätzen insgesamt kritisch bewertet, dass der Prozess stärker im Zentrum stehe und hier viel Aufmerksamkeit der Forschenden liege. Inwiefern über die Beteiligung tatsächlich andere oder bessere Ergebnisse erzielt werden können, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen (vgl. Holland et al., 2010: 361). Kritisch angemerkt werden kann auch, dass im Rahmen der Care-Leaver*innen-Forschung eine 77 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht Beteiligung von Care Leaver*innen bislang vorwiegend bei der Datenerhebung stattgefunden hat, wobei in der Regel einzelne Care Leaver*innen zu Forscher*innen ausgebildet wurden, die ihre Peers in der Jugendhilfe interviewten (Dixon, 2014). Das Motiv war, dass in dieser Peer-to- Peer-Situation durch die Nähe der Lebenssituationen eine größere Offenheit und Vertrautheit hergestellt werden kann. Im vorliegenden Projekt wurde der Anspruch verfolgt, dass alle beteiligten Akteur*innen Teil dieses Forschungs- und Entwicklungsprozesses sind. Eine Rollenverteilung, in der die einen (die Forscher*innen) Daten generieren und auswerten und die anderen (als »Forschungsgegen- stand«) von sich und ihrer Lebenssituation (als Care Leaver*innen) oder ihrem professionellen Handeln (als sozialarbeiterische Fachkräfte) erzählen, wurde abgelehnt. Insbesondere in den verschiedenen Wissensbeständen (Bergold/Thomas, 2012: Abs. 42) – im vorliegenden Projekt bestehen Unterschiede zwischen akademischer, lebensweltlicher sowie fachlicher Perspektive – liegt großes Potenzial für die Forschung. Die folgende Tabelle visualisiert das Konzept, wie Wissenschaftler*innen, Care Leaver*innen und sozialarbeiterische Fachpersonen in den ver- schiedenen Phasen des Projektes beteiligt werden sollten. Tab. 1: Beteiligung Akteur*innen in den Projektphasen von »Care Leaver erforschen Leaving Care« Antragstellung Entwicklung Interview- Auswer- Ergebnisbe- Dissemination und Entwick- Erhebungs- führung tung richt (Workshops, lung Fragestel- instrumente Präsentationen) lung Wissenschaft- ler*innen Care Leaver*innen sozialarbeit. Fachpersonen Wie hier deutlich wird, ist auf einer konzeptionellen Ebene eine breite Beteiligung aller drei Akteur*innengruppe im Projekt fest verankert. Gleichzeitig muss aber auch betont werden, dass die Formen der Beteiligung in den verschiedenen Phasen unterschiedlich ausgestaltet waren. Es stellt sich die Frage, wie die Akteur*innengruppen die Aufgaben und Rollen jeweils füllen und wie ihre unterschiedlichen Wissensbestände überhaupt Eingang finden konnten (zu einer differenzierteren Ausführung dazu vgl. auch 4. Empirische Reflexionen). Da zum Zeitpunkt der Antragsstellung insbesondere zu Care Leaver*innen noch kein Kontakt bestand, wurde der An- trag von den Wissenschaftler*innen vorab ausgearbeitet. Erst nach erfolgreicher Antragsstellung wurde Kontakt zu Care Leaver*innen gesucht, um diese für eine Mitarbeit zu gewinnen. Damit ist auch der Spielraum der Partizipation in den folgenden Projektphasen durch den Antrag vorstrukturiert. Ein weiterer Aspekt, der sich im Forschungsprozess als relevant zeigte, ist die Frage, mit welchen Ressourcen die Mitarbeit im Projekt in den unterschiedlichen Rollen verbunden war. So war für die Wissenschaftler*innen die Tätigkeit im Projekt mit der Anstellung an der Hochschule verbunden. Die Care Leaver*innen haben für ihre Beteiligung am Projekt eine Aufwandsent- schädigung und die sozialarbeiterischen Fachpersonen ein Honorar erhalten. Damit gehen auch verschiedene zeitliche Horizonte einher und folglich dokumentiert sich auf der Ressourcenebene eine Hierarchie. 78 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht Wie in Bezug auf die Frage der Rolle der verschiedenen beteiligten Akteur*innen sichtbar wird, spielt in partizipativer Forschung die soziale Dimension eine bedeutsame Rolle. Zum einen während des Forschungsprozesses im Projektteam, hier bestehend aus Wissenschaftler*innen, Care Leaver*innen als Co-Forschende sowie sozialarbeiterischen Fachpersonen. Zum anderen in Bezug auf die angestrebten Veränderungsprozesse in gesellschaftlichen Zusammenhängen und den Anspruch, durch partizipative Projekte nützliches Wissen zu produzieren, das gesellschaftliche Veränderungsprozesse mit sich bringt. Welche Rolle hier Macht- und Ungleichheitsverhältnisse spielen, wird im Folgenden diskutiert. 3 Perspektiven auf Macht und Ungleichheit: Theoretischer Reflexionsrahmen In den Diskursen über partizipative Forschung wird die Thematik der Macht insbesondere auf zwei Arten diskutiert. Auf der einen Seite wird partizipative Forschung als Form der Bemächti- gung der beteiligten Co-Forschenden betrachtet. Auf der anderen Seite wird auf die Bedeutung der Reflexion von Machtbeziehungen zwischen Wissenschaftler*innen und Co-Forschenden in den Projektteams hingewiesen (z.B. von Unger, 2014; Bergold/Thomas, 2012; Gallagher, 2008). Diese beiden Aspekte der Thematisierung von Macht werden im Folgenden skizziert (vgl. 3.1 und 3.2). Ergänzend dazu werden noch subjektivierungstheoretische Überlegungen herangezogen (vgl. 3.3), die sich mit der Frage beschäftigen, welche Bedeutung Macht in sozialen Prozessen hat und wie Subjekte durch machtvolle Adressierungen überhaupt erst hervorgebracht werden. 3.1 Wer bemächtigt wen? In Bezug auf die Zielrichtungen von partizipativer Forschung wird sehr stark argumentiert, dass Co-Forschende von einer Teilnahme an den Forschungen profitieren können: »Ziel ist es, soziale Wirklichkeit zu verstehen und zu verändern. Diese doppelte Zielsetzung, die Beteiligung von gesellschaftlichen Akteuren als Co-Forscher/innen sowie Maßnahmen zur indivi- duellen und kollektiven Selbstbefähigung und Ermächtigung der Partner/innen (Empowerment) zeichnen partizipative Forschungsansätze aus.« (von Unger, 2014: 1). Mit der Selbstbefähigung und Ermächtigung als Konsequenz partizipativer Forschung soll den Co-Forschenden gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden. Damit verbunden ist auch eine Abgrenzung von einem Verständnis von Wissenschaft, das ausschließlich auf Wissensgenerierung abzielt und nicht auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Die Veränderungsprozesse partizi- pativer Forschung sind auf soziale und gesellschaftliche Praxen fokussiert und gleichzeitig auf den Alltag der Co-Forschenden. In der Folge der forschenden Beschäftigung mit den Alltagspraxen und Routinen soll ihnen eine »kognitive Distanzierung gegenüber eingespielten Routinen, In- teraktionsformen und Machtbeziehungen« (Bergold/Thomas, 2012: Abs. 1) ermöglicht werden. Dies wird dann als Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten von Co-Forschenden verstanden. Diese Überlegungen um Fragen der Macht stellen das Wissenschaftssystem ins Zentrum. Parti- zipative Forschungssettings sollen benachteiligte Gruppen oder Communities ermächtigen. Darin dokumentiert sich bereits ein Machtgefälle, da Wissenschaftler*innen aufgrund ihrer Verankerung im Wissenschaftssystem die Rolle einnehmen, den Zugang zu Forschungen zu gewähren. Damit sind sie in der Lage, gewissen Gruppierungen über die Teilnahme an partizipativer Forschung Chancen zur Selbstbefähigung zu eröffnen. Themen und Gruppierungen, die aus wissenschaftli- cher Perspektive nicht relevant oder passend erscheinen, bleibt dieser Zugang verwehrt. Vor diesem Hintergrund scheint es insbesondere relevant, jene forschungsethische Diskussion intensiver zu führen, die mit der Frage verbunden ist, welche Themen aufgegriffen und damit 79 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht auch welche Adressat*innengruppen und Communitys überhaupt erst eingeladen werden, an partizipativen Forschungen teilzunehmen. Das Wissenschaftssystem hat hier eine Gate-Keeper- Funktion in der Auswahl der Themen und Gruppen. In der starken Thematisierung der Chancen zur Bemächtigung bei den Co-Forschenden geraten gleichzeitig die Prozesse partizipativer Forschung aus dem Blick, die mit einem Gewinn für das Wissenschaftssystem und die Wissenschaftler*innen verbunden sind. Hier scheint es notwendig, das Bildungspotenzial für das Wissenschaftssystem gleichermaßen zu thematisieren, um zu ver- meiden, dass partizipative Forschung paternalistisch wird, indem sie Teilhabe, Empowerment oder einen Kompetenzgewinn einseitig für eine benachteiligte Gruppe »ermöglicht«. 3.2 Macht in partizipativen Forschungsteams Der zweite Diskursstrang in Bezug auf die Thematisierung von Macht in partizipativen Forschun- gen ist die Thematisierung der Notwendigkeit der Reflexion von Machtbeziehungen in Projekt- teams in der Folge gesellschaftlich bedingter Machtverhältnisse. Hier wird insbesondere auf die Machtverhältnisse zwischen akademischen Forscher*innen und Community-Partner*innen bzw. Peer-Forscher*innen hingewiesen, die es auszugleichen gelte (vgl. von Unger, 2014: 87). Gallagher (2008: 402 ff.) plädiert dafür, die Frage der Macht in partizipativen Forschungspro- jekten nicht eindimensional zu konzeptualisieren. So sieht er bspw. in Bezug auf das Generatio- nenverhältnis nicht eindeutig bei den erwachsenen Forschenden die Macht lokalisiert, die diese dann linear nutzen, um die Spielräume von Kindern oder Jugendlichen zu determinieren. Viel- mehr plädiert Gallagher für einen multidimensionalen Blick auf Macht, die nicht nur zwischen Forschenden und Co-Forschenden besteht, sondern das gesamte Untersuchungsfeld strukturiert. Er betont dabei auch grundsätzlich die Chancen, die mit der Ausübung von Macht durch das System der Wissenschaft verbunden sind, um gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. In Bezug auf die Notwendigkeit, ein mehrdimensionales Verständnis von Macht zu entfalten, ist auch der Ansatz der Intersektionalität weiterführend. Partizipative Forschung ist mit dieser Perspektive eingebunden in verschiedene, sich überlagernde (intersektionale) Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse (Crenshaw, 1991; Klinger, 2003). Der Ansatz der Intersektionalität ist im Kontext von Emanzipations- und Widerstandsbewegungen entstanden und hat seine Ursprünge in den Kontroversen der feministischen Debatten in den 1970er und 1980er Jahren. Von Schwar- zen1 Frauen wurde eine Kritik am Ethnozentrismus des Feminismus formuliert, der insbesondere Fragen von Rassismus und Klassenverhältnissen systematisch ignorierte (vgl. Combahee River Collective, 1981; Crenshaw, 1989)2. Daraus folgt eine macht- und dominanzkritische Haltung, die die Bedeutung von verschiedenen sozialen Differenzlinien für Subjektpositionierungen, soziale Praxen, Diskurse oder Identitätspolitiken anerkennt. Im Kern geht es darum, auf verschiedene Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnisse wie bspw. Rassismus, Klassismus oder Gender in ihrem Zusammenspiel und ihren Überlagerungen zu fokussieren (Riegel, 2014: 179). Diese Überlagerungen zeigen auf, dass weder die Forschenden noch die Co-Forschenden als eine ein- heitliche Gruppe zu verstehen sind, sondern vielmehr diese Gruppen und die Subjekte, die ihnen zugeordnet werden, jeweils ihrerseits in Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnisse einge- bunden sind. Insbesondere in der Konstruktion von Akteur*innengruppen, die zur Mitwirkung 1 Wir schreiben hier Schwarz groß, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein sozial konstruiertes Zuordnungsmuster handelt, das auf rassistischen Ordnungen basiert. Im hier zitierten Beispiel aus dem Kontext des Black Feminism dient »Black« oder »Schwarz« zur Selbstbezeichnung im politisch emanzipatorischen Sinne. 2 Die vielfältigen und kontroversen Debatten darüber, was Intersektionalität bedeuten kann und inwiefern es sich dabei um eine Theorie, ein Konzept oder eine Analyseperspektive handelt, können hier nicht geführt werden. Vielmehr wird kurz dargestellt, welche Überlegungen für partizipative Forschungen folgen können. 80 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht in partizipativer Forschung eingeladen werden, scheint diese Perspektive der Intersektionalität relevant, damit die Möglichkeitsräume für die Herausbildung von Verschiedenem innerhalb scheinbar gleicher Lebenslagen nicht aus dem Blick geraten. In Bezug auf die Machtverhältnisse in Forschungsteams wird die Frage der Macht auch oft in Verbindung mit der Frage verhandelt, inwiefern in den Forschungen überhaupt Partizipation stattfindet. So formulieren Bergold und Thomas, dass es entscheidend sei, »wer die Forschung in welcher Phase des Projektverlaufes kontrolliert« (Bergold/Thomas, 2012: Abs. 30). Aus ihrer Sicht ist Partizipation nur dann möglich, wenn eine tatsächliche Beteiligung aller Akteur*innen an Entscheidungen im Verlaufe des Projekts konzeptionell vorgesehen ist. Sie heben hervor, dass es in partizipativen Forschungen um die gemeinsame Planung und Durchführung einer Untersuchung zusammen mit den Menschen gehe, die als Co-Forschende beteiligt sind (Bergold/ Thomas, 2012: Abs. 1). Zur Bestimmung unterschiedlicher Dimensionen von Partizipation wird häufig auf das Stufen- modell verwiesen, das von Arnstein für die Differenzierung von Modellen der Bürgerbeteiligung in den USA erarbeitet wurde (vgl. Arnstein, 1969). Das Modell wurde für die Reflexion und Gestaltung partizipativer Forschungen im Bereich der Gesundheitsförderung herangezogen. Es fokussiert sehr stark auf die Frage der Entscheidungsmacht im Projektverlauf als Indikator für Partizipation und entwickelt ein lineares Verständnis unterschiedlicher Grade von Partizipation. In Bezug auf Macht wird hier also insbesondere die Frage, inwiefern Entscheidungsmacht an Co-Forschende abgegeben wird, fokussiert (von Unger, 2014: 39 f.). Inwiefern aber in diesem eher statisch wirkenden Modell komplexe Verläufe von partizipativen Forschungsprozessen abgebildet werden können, bleibt zu bezweifeln. Mit einer intersektionalen Perspektive stellt sich weiterhin die Frage, inwiefern die Co-Forschenden überhaupt als eine homogene Gruppe verstanden werden können und ob sich nicht in den Entscheidungsprozessen immer auch gesellschaftliche Verhältnisse reproduzieren. Damit erscheint es relevant, danach zu fragen, wie auch in der Gruppe der Co-Forschenden Entscheidungen zustande kommen und inwiefern unter Umständen hier bspw. Ableismus3, Rassismus, Adultismus oder Heterosexismus dazu führen, dass sich nur gewisse Personen in der Gruppe der Co-Forschenden in diesen Pro- zessen äußern und andere schweigen. Weiterhin stellt sich auch die Frage, wie sich Merkmale der Forschungspraxis (Arbeitszeiten, Dauer, Treffpunkte) auf den Zugang zur Mitwirkung und damit auf die Zusammensetzung der Gruppe der Co-Forschenden auswirken. So zeigte sich beim Forschungsprojekt »Care Leaver erforschen Leaving Care«, dass in Bezug auf den zeitlichen Aufwand und die Zusammenarbeit in Gruppen für manche Personen die Zugangsschwellen recht hoch waren. So sind bspw. weder junge Geflüchtete im Forschungsteam repräsentiert noch Personen, die ohne festen Wohnsitz leben. Beide Themen sind aber im Fachdiskurs um Leaving Care bedeutsam. Hier scheint es relevant, differenziert danach zu fragen, welche Personen in den partizipativen Prozessen mit- wirken und Entscheidungsmacht ausüben, und nicht pauschalisierend und verallgemeinernd die Co-Forschenden als Repräsentant*innen der Gruppe der Care Leaver*innen zu betrachten. 3 Mit »Ismen« werden gesellschaftliche Ordnungen beschrieben, die Benachteiligung aufgrund sozialer Differenzen legitimieren und so Machtverhältnisse reproduzieren. So wird bspw. mit dem Begriff »Ableismus« auf Ordnungen verwiesen, die soziale Differenzen hinsichtlich geistiger und körperlicher Fähigkeiten naturalisieren. Auf der einen Seite wird eine Norm definiert, auf der anderen Seite werden Behinderungen zugeschrieben und mit der Nicht- Erfüllung einer gesellschaftlich konstruierten Normerwartung begründet (vgl. Köbsell, 2015: 25). 81 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht 3.3 Subjektivierungstheoretische Perspektiven auf Macht Wichtige Beiträge zur Reflexion von Macht in partizipativer Forschung können auch die Über- legungen von Judith Butler zu Subjektivierungsprozessen leisten. Butler setzt Subjektivierungs- prozesse in den Kontext von Machtverhältnissen und Normalitätsannahmen (vgl. Butler, 2001). Diese umfassen immer gleichzeitig Aspekte des Unterworfenseins und der Subjektwerdung. Subjekte werden erst durch machtvolle Diskurse hervorgebracht (vgl. Butler, 1997). So markiert Butler in ihren Arbeiten zu Geschlecht Gender als Folge von Sprechakten und Adressierungen. Auf diese Art dekonstruiert sie die vermeintlich zugrunde gelegte Natürlichkeit der bipolaren Geschlechterordnungen (vgl. Butler, 1991). In Bezug auf die Thematik der Care Leaver*innen stellt sich die Frage, mit welchen Anrufun- gen die jungen Erwachsenen konfrontiert sind und welche gesellschaftlichen Positionen damit verbunden sind. Beispiele für Anrufungen können sein: Kategorisierungen durch Diagnosen, geschlechterbezogene Anrufungen oder auch Anrufungen als »Migrationsandere« (Mecheril, 2010: 17). In einer Untersuchung der Biografien von Care Leaver*innen wurde sichtbar, dass mit dem Aufwachsen in der stationären Jugendhilfe zahlreiche ent-normalisierende Adres- sierungen verbunden sind, die mit Diagnosen und Problemkonstruktionen des Hilfesystems einhergehen (vgl. Rein, 2018a). In der Jugendhilfe werden also Subjekte auf eine gewisse Art und Weise hervorgebracht. Die dort aufgerufenen Normalitätsordnungen sind eng verbunden mit individualisierenden Problemkonstruktionen der Adressat*innen von Jugendhilfe. Es ist anzunehmen, dass diese ent-normalisierenden Diskurse auch in dem partizipativen Forschungs- projekt aufgerufen werden. Spies beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern Subjekte vor dem Hintergrund von Anrufungen durch Diskurse und den damit verbundenen Subjektpositionen Handlungsfähigkeit haben. Sie zeigt am Beispiel von biografischen Studien auf, dass Subjekte widerständig und eigensinnig mit Anrufungen und Adressierungen umgehen (vgl. Spies, 2017: 71). Widerständige Formen der Aneignung von Adressierungen sind auch in Butlers Verständnis von Subjektivierung fest verankert, da Subjekte bei ihr als in einem Atemzug unterworfen und handlungsfähig konzep- tualisiert sind (vgl. Butler, 2001: 8). Spies argumentiert zusätzlich mit Bezug zu Stuart Hall (bspw. 2004), dass Subjekte immer in vielfältigen diskursiven Kontexten verortet sind und es hier auch Widerstreit geben kann: »Die*der Einzelne ist nicht auf eine Position festgelegt, sondern sie*er kann innerhalb unterschiedlicher diskursiver Kontexte verschiedene Positionen einnehmen« (Spies, 2017: 75). Damit wird auf die Bedeutung der diskursiven Kontexte für die Möglichkeiten von Subjekten verwiesen, sich zu positionieren. Subjekte sind – wie auch in den Überlegungen der Intersektionalität ausgearbeitet wurde – immer im Schnittfeld von verschiedenen Differenz- ordnungen und damit verbundenen Diskursen verortet. Aus diesen Ausführungen können Fragen und Perspektiven für die Beschäftigung mit der Empirie des Prozesses der Forschung mit Care Leaver*innen abgeleitet werden. Zunächst stellt sich die Frage, ob und wie die jungen Menschen die Subjektposition als Care Leaver*innen einnehmen. Gleichzeitig muss danach gefragt werden, welche anderen Differenzordnungen für die Co-Forscher*innen relevant sind und inwiefern diese in das partizipative Forschungssetting auch Eingang finden. Anzunehmen ist unter einer subjektivierungstheoretischen Perspektive, dass Adressierungen in partizipativen Forschungsprojekten Diskursordnungen aufrufen. Damit verbunden ist einer- seits eine starke Aufforderung an Subjekte, sich hierzu zu verhalten. In der vorliegenden parti- zipativen Forschung zu Übergangsprozessen aus dem Heim werden sehr stark Adressierungen vorgenommen, in denen die jungen Menschen als Care Leaver*innen angesprochen und diese Subjektpositionen ins Zentrum gerückt und andere de-thematisiert werden (vgl. 4.1). Damit wird 82 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht die Offenheit, die partizipative Forschungssettings für sich beanspruchen, stark eingeschränkt, weil durch die Rahmungen Normalitätsordnungen aufgerufen und andere de-thematisiert werden. Im vorliegenden Beispiel werden Logiken und Diskurse des Systems der stationären Kinder- und Jugendhilfe in den Fokus genommen (vgl. 4.2). Andererseits bieten poststrukturalistische Perspektiven ein Verständnis von Macht, das im sozialen Geschehen reproduziert wird. Dabei ist nicht davon auszugehen, dass auf der einen Seite Wissenschaftler*innen Macht haben und auf der anderen Seite die Co-Forschenden keine Macht haben. Vielmehr spielen Machtordnungen in den Interaktionen eine Rolle und die Subjekte können sich hierzu auch widerständig verhalten. In diesem Sinne gilt es also für die nun folgenden empirischen Reflexionen, in Bezug auf das Forschungsprojekt einsichtlich der Brüche, Zwischenräume und auch Uneindeutigkeiten von Diskursen und Machtordnungen sensibilisiert zu sein. 4 Empirische Reflexionen: Was macht Macht? Im Folgenden werden vor dem Hintergrund der oben entfalteten macht- und ungleichheitsthe- oretischen Überlegungen, Reflexionen zur Bedeutung von Macht im partizipativen Forschungs- projekt »Care Leaver erforschen Leaving Care« vorgestellt. Grundlage sind ethnografische Protokolle und Forschungstagebücher. Die Daten wurden erhoben, um den partizipativen Forschungsprozess zu reflektieren und auszuwerten. Hiermit verbunden ist auch die Reflexion der Grenzen von partizipativer Forschung und eine Untersuchung der Frage, was unter der Überschrift der Partizipation in den Prozessen gemeinsam im Team aus Wissenschaftler*innen, sozialarbeiterischen Fachpersonen und den jungen Erwachsenen mit Jugendhilfeerfahrungen hergestellt wird. Die Ergebnisse des Projektes werden hierbei nicht näher beleuchtet (vgl. hierzu Ahmed/Rein/Schaffner, 2019). 4.1 Adressierungen und Positionierungen: »Ich bin eine Care Leaverin« Vor dem Hintergrund der Frage nach Macht- und Ungleichheitsverhältnissen in partizipativen Forschungen und mit Bezug zu den Überlegungen der Subjektivierungstheorie stellt sich die Frage nach Adressierungsprozessen im Rahmen des Forschungsprojektes. Dies wird im Folgenden an einer Beobachtungssequenz diskutiert. Diese Beobachtungssequenz wurde beim ersten Treffen mit einer Kleingruppe von potenziell am Projekt interessierten jungen Erwachsenen erstellt. Der Kontakt zu den jungen Erwachsenen kam über Sozialarbeitende zustande, die mit ihnen aktuell oder noch von der stationären Jugend- hilfe aus in Kontakt sind oder waren. Vor dem Termin haben bereits bilaterale Treffen zwischen den wissenschaftlichen Mitarbeitenden im Projekt und den jungen Erwachsenen stattgefunden. In diesen Vorkontakten hat sich gezeigt, dass der Titel des Projektes »Care Leaver erforschen Leaving Care« Erklärungen bedarf, da er so im Alltag der jungen Menschen bislang keine Rolle spielte. Im Gespräch haben sie erklärt, dass sie als Selbstbezeichnung eher »Heimkinder« nutzen würden. Care Leaver*in ist also kein lebensweltlicher Begriff, aber mit der Erklärung, dass es um Heimerfahrungen gehe, wurde eine für sie relevante Erfahrung thematisiert. So ist es in einem ersten Schritt gelungen, 15 Jugendliche und junge Erwachsene für eine Teilnahme am Projekt zu motivieren. Die im Folgenden beobachtete Szene spielt sich vor einem Auftakttreffen in den Räumen der Hochschule ab: Ich komme um 19.10 h in den Raum, vor dem ein Flipchart mit der Aufschrift »Herzlich will- kommen zum Care Leaver-Projekt«, steht. CL steht gerade an der Tür und wird von W1 begrüßt. W1 wirkt auf mich sehr interessiert an CL, lächelt freundlich, fragt interessiert nach, lacht mit ihr. 83 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht Ich begrüße sie ebenfalls – wir stellen uns mit Vornamen vor und sie sagt »Ich bin eine Care Lea- verin« – und ich erfahre, dass sie zum ersten Mal hier ist, ebenso wie ich. In der Sequenz wird der Treffpunkt für den Workshop beschrieben. Das Treffen findet in ei- nem Raum an der Hochschule statt, an dessen Schwelle ein Flipchart mit der Aufschrift »Care Leaver-Projekt« den Kontext des Treffens bezeichnet und zugleich den Raum als Projektraum markiert. In der Projektbezeichnung wird die Zielgruppe der »Care Leaver*innen« aufgerufen. Mit dem »Herzlich Willkommen« wird sichtbar, dass die Autor*innen des Flipcharts in der Rolle sind, andere zu begrüßen und in das Projekt aufzunehmen. Der Flipchart kann als Ausdruck von Bildungs- oder Hochschulpraxis gelesen werden und wird bspw. oftmals auch in Weiterbildungen oder formalisierten Treffen im sozialarbeiterischen Kontext genutzt. Darin drückt sich also eine gewisse Form der Hochschulpraxis aus, und es wird darüber auch eine Formalität des Treffens hervorgebracht. Neben der räumlichen Anordnung und der Beschreibung des Flipcharts soll hier auch eine soziale Interaktion beschrieben werden, die an der Schwelle zum Raum stattfindet. Eine Wissenschaftlerin begrüßt eine junge Erwachsene. Die Wissenschaftlerin nimmt die Rolle der Gastgeberin ein, die, wie auch auf dem Flipchart zum Ausdruck gebracht, die ankommenden Personen willkommen heißt. Sie führt an der Schwelle ein informell wirkendes Gespräch und fragt interessiert nach. Hier wird in der räumlichen Anordnung sichtbar, dass die Wissenschaft- lerin den Zugang zu den Räumen verwaltet und potenziell auch reguliert. Die Beobachterin selbst wird in diese Ankommensszene involviert und die junge Erwachsene stellt sich ihr vor. Mit den Worten »Ich bin eine Care Leaverin« greift sie die Adressierungen des Forschungsprojektes auf. Die Formulierung »ich bin« wirkt wie eine Identifizierung und Verkörperung der Adressierung, die das Forschungsprojekt vorgenommen hat. An dieser Sequenz dokumentiert sich, wie die jungen Erwachsenen über das Projekt zu »Care Leaver*innen« gemacht werden. In der Art, wie sich die junge Frau dazu ins Verhältnis setzt und die Positionierung verbal verkörpert, zeigt sich eine Bestätigung der Adressierung. Auch in weiteren Interaktionen mit jungen Menschen, die noch zum Treffen kommen, bleibt das Thema »Aufwachsen in der Heimerziehung« Zentrum des Gespräches. Andere Lebensbereiche, die thematisiert werden, wie bspw. alleinerziehend zu sein, werden dabei in Verbindung mit dem Thema der Übergänge aus der Heimerziehung gebracht. Die Transkripte der Interviews, aber auch die Diskussionen in den Auswertungssitzungen zeigen ferner, dass die Erfahrungen und Themen im Zusammenhang mit der stationären Jugendhilfe von den co-forschenden Care Leaver*innen geteilt wurden. Allerdings zeigte sich auch, dass gewisse Themen, die in anderen Forschungsprojekten mit Care Leaver*innen thematisiert werden, hier kaum aufgegriffen wurden. Dies sind bspw. Erfahrungen von Rassismus oder von Ausgrenzung als LGBTIQ*-JJugendliche, Erfahrungen der Abwertung geistiger und körperlicher Fähigkeiten oder Ausgrenzungen in anderer Hinsicht (vgl. Rein 2016; 2018a). Die geteilten Lebenswelten im Heim ermöglichen es offensichtlich, mit den Peers offen über die Heimerfahrungen zu reden und sich gegenseitig zu bestärken. Andere Erfahrungen von Ausgrenzung und das Gefühl, nicht der Norm zu entsprechen, scheinen aber mit diesem Zugang nicht selbstläufig thematisierbar zu sein. 4.2 Erfahrungen berichten vs. Expert*in sein Der Gewinn partizipativer Forschungsprojekte mit Care Leaver*innen wird darin gesehen, dass durch ihre Beteiligung auch ihre lebensweltlichen Erfahrungen mit in die Forschungen einfließen. Hier wird auf die Verschränkung von Wissen zwischen Wissenschaftler*innen und Co- oder auch Peer-Forschenden hingewiesen. 84 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht In der Betrachtung der ethnografischen Protokolle und der Forschungstagebücher fällt auf, dass mit den verschiedenen Rollen Spannungsfelder einhergehen. In den Workshops mit den Care Leaver*innen im Rahmen des Projektes spielen informelle Gespräche eine große Rolle. So findet zum Beispiel in der gemeinsamen Auswertung von Datenmaterial eine unterschiedliche Art der Verbindungssetzung mit Themen statt, die in den Daten erscheinen. Hier zeigt sich eine Differenz zwischen Wissenschaftler*innen und den Care Leaver*innen in der Rolle als Co- Forschende. So bringen die Care Leaver*innen häufig sehr persönliche biografische Erfahrungen ein und tauschen sich auch untereinander erzählend über ihre verschiedenen Erfahrungen aus. Die Rolle der Forschenden wirkt im Vergleich distanzierter und sie stellen eher Vergleiche mit anderen Interviewstellen her. Die folgende Sequenz aus einem Beobachtungsprotokoll zeigt, wie diese unterschiedlichen Wissensformen aufeinandertreffen und welche Spannungsfelder damit verbunden sind. Hier berichtet eine Care Leaverin von der Praxis der Urinproben im Heim. Diese Praxis verfolgt das Ziel der Kontrolle des Drogenkonsums. Die junge Frau bewertet dies rückblickend als eine disziplinierende Praxis, die wenig wirkungsvoll ist: »CL berichtet auch von Urinproben und W1 fragt nach und erzählt, was sie darüber weiß. W1 wirkt empört über diese Praxis, von der sie schon oft gehört habe und W2 stimmt ihr zu, während CL von ihren Erfahrungen damit berichtet. W1 klingt dabei wie eine Expertin, die schon viel über das Thema gehört hat und eine feste Meinung dazu hat. Im Vergleich zur Gesprächsatmosphäre bei den Themen davor nehme ich eine Kluft zwischen CL als Betroffener von Urinproben und W1 als Bewertender ›dieser Praxis‹ wahr, wobei ich W1 und W2 immer noch als sehr interessierte Zuhörerinnen wahrnehme, aber W1 bei ihren Ausführungen zu Urinproben auf mich anders wirkt als beim Plaudern [ein wenig zugespitzt formuliert wie eine ›dozierende Expertin‹]« Im Beobachtungsprotokoll wird auf den Bruch der Art der Gesprächsatmosphäre aufmerk- sam gemacht. Vorab wurde die Gesprächsatmosphäre, in der auch die Care Leaver*innen von Erfahrungen im Heim berichten und die Wissenschaftler*innen interessiert zuhören und dazu Statements im Stil von Alltagsgesprächen abgeben, eher als informell beschrieben. So bekräftigen die Wissenschaftler*innen bspw. die Aversion, die die junge Frau gegenüber einer Professionellen der Sozialen Arbeit hat, die »penetrant« sei, und sagen, dass sie das auch nicht mögen würden, wenn Personen so aufdringlich seien. Auch in Bezug auf andere Themen, über die hier gesprochen wird, wie Piercings oder Kinder, wirken die Wissenschaftler*innen interessiert. Sie hören aktiv bei den Erzählungen der Care Leaver*innen zu und geben zum Teil noch aufmunternd wirkende Kommentare ab. In den Gesprächen geben hin und wieder auch die Wissenschaftler*innen Ein- blicke in ihren Lebensalltag, vergleichsweise stehen sie damit aber sehr viel weniger im Fokus. An dieser Stelle hingegen scheint die Wissenschaftlerin in der Wahrnehmung der Beobachterin die Rolle einer Expertin einzunehmen, die sich mit der Praxis von Urinproben in der stationären Jugendhilfe beschäftigt hat und vor diesem Hintergrund eine kritische Bewertung dieser Praxis vornimmt. Dies wirkt dabei distanziert zu den Erfahrungen, von denen die Care Leaverin hier berichtet. So beansprucht die Wissenschaftlerin als Expertin die Rolle, die Erfahrung der Care Leaverin zu verorten und eine übergeordnete Aussage dazu treffen zu können. Im weiteren Verlauf des Workshops wird deutlich, dass die Care Leaver*innen viel von ihren Erfahrungen berichten und diese mit Verletzungen, Emotionen und Ungerechtigkeiten verbunden sind. Die Wissenschaftler*innen sind hierbei zum größten Teil eher in einer zuhörenden Rolle, sie fragen nach oder geben auch kürzere, unterstützend wirkende Kommentare zu den Erzählungen. Die Expert*innenrolle wird dabei eher selten eingenommen. Dennoch zeigt sich an der Stelle deut- lich, wie distanzierend und auch machtvoll es wirkt, aus der Rolle der Expert*in zu sprechen. In Bezug auf die theoretischen Überlegungen, dass in partizipativen Projekten unterschiedliche Wissensformen zusammen kommen und lebensweltliche Perspektiven mit wissenschaftlichen 85 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht oder auch fachlichen Perspektiven in Verbindung treten, zeigt sich als Gefahr, dass Erfahrun- gen der Care Leaver*innen durch die Wissenschaftler*innen überformt und enteignet werden. Durch die Verbindung von wissenschaftlichem Wissen mit den beschriebenen Erfahrungen von Co-Forschenden kann immer eine Form der Bewertung entstehen und oft wirkt es so, als ob Expert*innen zu einer Einschätzung kommen, die eine höhere Bedeutung hat. Die Verletz- barkeit ist hier bei den Care Leaver*innen sehr viel höher, da ihre konkreten Erfahrungen im Mittelpunkt der Diskussionen stehen. Gleichzeitig wird deutlich, dass in den Workshops aber teilweise auch die Wissenschaftler*innen von ihrem Alltag berichten. So gibt es Sequenzen, in denen es um die Themen Kinder, Geburten oder Beziehungen geht. Hier haben sich je nach Erfahrungen verschiedene Rollen ergeben und auch die Care Leaver*innen nehmen Expertisen für sich in Anspruch, vor deren Hintergrund sie den Wissenschaftler*innen Tipps geben. Allerdings stehen vor dem Hintergrund des For- schungsgegenstandes die Care Leaver*innen insgesamt sehr viel stärker als Personen im Fokus als die Wissenschaftler*innen. An anderen Punkten wird sichtbar, dass methodologische Prinzipien im Forschungsprozess stark infrage gestellt wurden. So haben die Care Leaver*innen im Prozess der Leitfadenentwicklung und beim Verfassen von Ergebnistexten sehr stark an der Sprache der Wissenschaftler*innen Kritik geäußert. Diese Kritik betrifft zum Teil Begriffe wie »Peers« oder »Ambivalenzen«. Ebenfalls haben die Care Leaver*innen auch Prinzipien des aktiven Zuhörens bei Interviews hinterfragt, weil sie diese Praxis »unnatürlich« finden und dies aus ihrer Sicht auch zu einer Distanz zu den befragten Care Leaver*innen führen würde. Entsprechend haben die Care Leaver*innen Bestandteile der Schulung für die Interviewführung nicht umgesetzt. Ebenso wurde das Insistie- ren der Wissenschaftler*innen, dass es mit Nachteilen verbunden ist, wenn gute Freund*innen interviewt werden, umgangen. Mit einer subjektivierungstheoretischen Perspektive wird deutlich, dass die Subjektpositionen von Wissenschaftler*innen und Care Leaver*innen mit ungleichem Verletzungspotenzial einher- gehen. Das Aufwachsen in der stationären Jugendhilfe ist immer auch mit ent-normalisierenden Erfahrungen verbunden (vgl. Rein, 2018a). Es besteht die Gefahr, diese über Forschungsarrange- ments aufzurufen und die jungen Menschen in Subjektpositionen hineinzurufen, die mit diesen verletzenden Adressierungen verbunden sind. Vor diesem Hintergrund ist es bedeutsam, mit den Erwartungen an die Co-Forschenden, lebensweltliche Erfahrungen in den Forschungsprozess einzubringen, sensibel umzugehen. Denn hier besteht für die Co-Forschenden ein sehr viel hö- heres Risiko im Forschungsprozess als für die Wissenschaftler*innen. Zwar bieten die anderen Care Leaver*innen eine Ressource, um sichtbar zu machen, dass die Erfahrungen nicht nur individuelle Probleme sind, sondern auch andere Jugendliche mit Heimerfahrungen mit verlet- zenden Adressierungen konfrontiert waren. Dennoch bleibt die Rolle von Wissenschaftler*innen als Expert*innen vor dem Hintergrund ihrer theoretischen und empirischen Beschäftigung mit dem Thema weitaus weniger riskant. Vielmehr bringt diese Rolle die Gefahr einer selektiven Auf- oder Abwertung von lebensweltlichem Wissen mit sich, wenn durch das Sprechen in der Rolle der Expert*in manche Aspekte und Themen verstärkt und andere in den Hintergrund gerückt werden. 5 Mögliche Ansatzpunkte für einen machtsensiblen Umgang in partizipativer Forschung Mit einer macht- und ungleichheitssensiblen Perspektive haben wir deutlich gemacht, dass die Frage nach Machtprozessen in partizipativen Forschungsprojekten nicht eindeutig und schon gar nicht einseitig zu beantworten ist. Vielmehr zeigen die Überlegungen und die empirischen 86 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht Beispiele, dass Macht auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlicher Akteur*innenverteilung eine Rolle spielt. Mit unseren Überlegungen wollen wir uns für einen reflektierten und sensiblen Umgang mit Macht in partizipativen Forschungsprozessen stark machen. Denn Macht – so konnten wir zeigen – ist nicht wegzudenken aus sozialen Interaktionen und somit schon gar nicht aus For- schungsprozessen, die strukturell mit verschiedenen Akteur*innengruppen zu tun haben. Dabei besteht eine Gefahr darin, die unterschiedlichen Akteur*innengruppe (Care Leaver*innen als Co-Forschende, Wissenschaftler*innen und Fachpraxis) zu homogenisieren. Gleichzeitig besteht die Gefahr, Machtordnungen ausschließlich aufgrund ihrer Statusposition der zugehörigen Gruppe anzulegen. Zwar wirken diese in die Interaktion hinein, sind jedoch viel differenzierter und anhand der jeweiligen Brüche und Widersprüchlichkeiten, welche wir aufzeigen konnten, nicht eindeutig und eindimensional zu verstehen. Das Thema der Macht klingt in den Diskussionen zu partizipativer Forschung oft an. Insgesamt wird aber meist ein sehr positives Bild gezeichnet und mit großem Optimismus in Aussicht ge- stellt, was in der Folge partizipativer Forschung an neuen Erkenntnissen über die Beteiligung von Community-Partner*innen oder Peer-Forschenden erzielt werden könne. Zentral scheint es uns vor dem Hintergrund der Überlegungen jedoch, die einseitige Thematisierung der Chancen zur Bemächtigung oder des Empowerments der Co-Forschenden durch partizipative Forschung zu hinterfragen. Die Beschäftigung mit der Frage »Was macht Macht in partizipativer Forschung?« verdeutlicht, dass Macht durchaus in unterschiedlicher Hinsicht produktiv sein kann. Im vorliegenden Artikel wurde mit Bezug zu den Überlegungen von Judith Butler ein Ver- ständnis von Macht entwickelt, das Subjekte und damit Adressat*innen Sozialer Arbeit immer als handlungsfähig durch Unterwerfung unter Anrufungen, die im Zusammenhang mit Diffe- renz- und Machtverhältnissen stehen, versteht. Macht ist in diesem Sinne produktiv und eng mit den Handlungen von Subjekten verbunden. In der Folge zeigt sich, dass alle beteiligten Subjekte im Forschungsprozess nicht ohne Diskurse und Machtordnungen denkbar sind, also weder die Care Leaver*innen noch die Wissenschaftler*innen oder die sozialarbeiterischen Fachpersonen. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass Untersuchungen von marginalisierten Gruppen, die am Rande von hegemonialen Normen positioniert sind, auch mit einer »ungleiche(n) Verteilung von Gefährdetheit« (Butler, 2016: 48) einhergehen. Diese ungleiche Verteilung von Verletzbarkeit kann potenziell in partizipativer Forschung aufgedeckt werden. In ihren Überlegungen über soziale Bewegungen schreibt Butler: »In der individuellen Vulnerabilität gegenüber einer sozial erzeugten Prekarität kann jedes ›Ich‹ potenziell erkennen, dass sein ganz eigenes Gefühl der Angst und des Scheiterns immer schon in eine größere soziale Welt eingebunden ist. Das schafft die Möglichkeit, jene individualisierende und unerträgliche Form der Verantwortung zu demontieren und an ihre Stelle ein Ethos der Solidarität zu setzen […].« (Butler, 2016: 33) Um in partizipativer Forschung Veränderungen von Machtverhältnissen anzustoßen und Momente der Solidarisierung zu eröffnen, scheint uns die Reflexion des Forschungsprozesses zentral. Hierbei wird deutlich, dass es seitens der Wissenschaftler*innen eine hohe Sensibilität für die verletzenden Erfahrungen braucht, die seitens der Co-Forschenden vorhanden sein können und die durch die Forschung aufgerufen werden. Hierzu gehört auch, die Rolle der Wissenschaftler*innen als Expert*innen und das Interesse an der Datengenerierung zurückzu- stellen. Vielmehr sollte immer wieder kritisch hinterfragt werden, was das Forschungssetting mit den Co-Forschenden macht. So kann es auch sinnvoll sein, den co-forschenden Care Leaver*innen Raum zum Austausch über verletzende Erfahrungen zu lassen, ohne dass Wissenschaftler*innen oder sozialpädagogische Fachpersonen anwesend sind. 87 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht Abschließend wollen wir nicht mit diesem eher allgemeinen Plädoyer für die Relevanz von Reflexion enden, sondern noch auf zentrale Punkte hinweisen, welche aus unserer Sicht als Schlussfolgerungen aus der Beschäftigung mit der Frage »Was macht Macht in partizipativer Forschung?« gezogen werden können: 5.1 Ansatzpunkte für Reflexion von Machtverhältnissen auf verschiedenen Ebenen Das lebensweltliche Wissen wird häufig als das »andere« Wissen im Unterschied zu institutio- nellen Perspektiven oder theoretischen Diskursen gedacht. Dabei zeigt sich aber, dass die Co- Forschenden durch Adressierungen aufgefordert werden bspw. als Care Leaver*in zu sprechen. Die Lebenswelt von Menschen, die im Heim aufgewachsen sind, ist dabei abhängig von den Perspektiven, die im Hilfesystem hervorgebracht werden. Somit ist das lebensweltliche Wissen immer durchzogen von gesellschaftlichen Normalitätsordnungen. Lebensweltliche Erfahrungen von sogenannten Care Leaver*innen sind geprägt von Machtordnungen, die auch bedingen, was ausgesprochen und zum Thema gemacht werden kann. Eine Gegenüberstellung von lebenswelt- lichen Erfahrungen und institutionellen Perspektiven scheint daher verkürzt. Darüber hinaus ergeben sich Machtprozesse auf den konkreten Interaktionsebenen im Projekt und den damit verbundenen Fragen: Wer darf was entscheiden, wer weiß was, usw. In der Folge scheint es notwendig, die Adressierungen, die in Forschungsprojekten vorgenommen werden, zu hinterfragen und sich des Umstands gewahr zu sein, dass durch die Bearbeitung von bestimmten Themen immer auch gesellschaftliche Diskurse und Machtordnungen aufgerufen werden, aus denen die Akteur*innen nicht ohne Weiteres hinaustreten können. Hierbei hat die soziale Dimension in partizipativer Forschung in zweierlei Hinsicht eine Bedeu- tung: zum einen auf der Interaktionsebene im Forschungsprozess und zum anderen in Bezug auf die soziale Wirklichkeit, die durch partizipative Forschung verändert werden soll. Was sich in der Folge partizipativer Forschung an Ansätzen zur Veränderung sozialer Wirklichkeit herausbildet, bleibt immer stark davon abhängig, welche Aspekte im Rahmen von partizipativer Forschung überhaupt erst herausgearbeitet werden konnten. Ohne eine Reflexion der Grenzen partizi- pativer Forschung besteht die Gefahr, Macht- und Ungleichheitsverhältnisse gerade dadurch zu verschleiern, dass Community-Partner*innen oder Peers an der Forschung beteiligt waren. 5.2 Von der Ermächtigung der Co-Forschenden zu einem gemeinsamen Bildungsprozess Die Haltung, die daraus hervorgeht, dass die Wissenschaft andere bemächtigt, indem sie eine Teilhabe an Forschungsprojekten ermöglicht, bringt bereits ein Ungleichgewicht in der Bezie- hung zwischen Wissenschaftler*innen und Co-Forscher*innen mit sich. Es besteht die Gefahr der De-Thematisierung der Aspekte, die das bestehende wissenschaftliche Wissen irritieren und bereichern können und in denen Wissenschaft durch partizipative Forschung bemächtigt wird. So wurde in den empirischen Beispielen deutlich, wie fremd die Sprache der Wissenschaftler*innen für die Co-Forschenden ist. Dieses Feedback kann als eine Ermöglichung von Bildungsprozes- sen auf der Seite der Wissenschaftler*innen verstanden werden. Dies sollte stärker thematisiert werden, um dem Bild der einseitigen Bemächtigung von benachteiligten Gruppen durch das Wissenschaftssystem entgegenzutreten, das immer auch mit einer Hierarchie verbunden ist. 5.3 Hinterfragung einer Homogenisierung der Co-Forscher*innengruppe Es wird deutlich, dass es zu kurz greift, in der partizipativen Forschung ausschließlich auf die Machtverteilung zwischen den Wissenschaftler*innen und den Co-Forscher*innen zu schauen und andere Machtbeziehungen auszublenden. Mit Blick auf das vorliegende Projekt zeigte sich die Gefahr, Care Leaver*innen in partizipativen Projekten erst als eine Gruppe hervorzubringen 88 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht und andere gesellschaftliche Differenzverhältnisse zu de-thematisieren. Weiter wurde deutlich, dass durch die Anordnung eines Projekts die Artikulation von widerstreitenden Erfahrungen von Care Leaver*innen in partizipativen Settings begrenzt werden kann. Hier scheint es relevant, die Projektsettings zu reflektieren und insbesondere auch die Kategorisierung als »die Care Leaver*innen« nicht durchweg zu nutzen, sondern aufzulösen und zu hinterfragen, inwiefern es diese Gruppe überhaupt gibt und wann es Sinn macht, von ihr zu sprechen. 5.4 Reflexion der Reproduktion von Macht bei Entscheidungsprozessen In Bezug auf die Frage der Partizipation bei Entscheidungsprozessen sollte nicht nur danach gefragt werden, inwiefern Wissenschaftler*innen die Co-Forschenden an Entscheidungsprozessen beteiligen; darüber hinaus sind die Unterschiede innerhalb der Gruppe der Co-Forscher*innen ebenfalls relevant. Die Reflexion solcher Prozesse sollte sich nicht nur am Indikator festmachen, ob eine Beteiligung der Co-Forscher*innen an Entscheidungen stattfindet. Vielmehr sollten zugleich die vielfältigen Interaktionen, Adressierungen und die damit verbundenen Machtord- nungen in den Blick genommen werden, die mit Ein- und Ausschlüssen verbunden sind. Letztlich bleibt immer auch kritisch zu fragen, wer als Co-Forschende in partizipativer Forschung erreicht wird, wer dabei also zum*r Forschenden wird und wer nicht. Und dann gilt es sensibel dafür zu sein, wer sich in Entscheidungssituationen artikulieren kann und welche der Co-Forscher*innen hier vielleicht eher unsichtbar und im Hintergrund bleiben. 5.5 Finanzielle Rahmenbedingungen schaffen, die Beteiligung ermöglichen Mit Blick auf die Rahmenbedingungen scheint es zuletzt überlegenswert, Co-Forschende mit einer festen Entlohnung im Projekt anzustellen, um die unterschiedlichen Zeithorizonte, die sich auch durch das Ungleichgewicht zwischen abgesicherter Festanstellung von Wissenschaftler*innen und einer Aufwandsentschädigung für Co-Forschende ergeben, auszugleichen. Dies könnte auch noch stärker eine andere Verteilung der Aufgaben mit sich bringen, die auch die Entscheidungsmacht der Co-Forschenden weiter erhöhen könnte. Gleichzeitig ist deutlich, dass eine Festanstellung nur für gewisse Co-Forschende eine Option wäre und dieses Format hochschwellig ist. Hier wäre dann weiterführend darüber nachzudenken, wie Bezahlmodelle für eine Beteiligung an partizi- pativer Forschung aussehen könnten, die ein gewisses Spektrum zwischen Festanstellungen und Honoraren, die möglichst unbürokratisch ausgezahlt werden können, ermöglichen. So könnten dann in Bezug auf die Forschung mit Care Leaver*innen potenziell auch Personen erreicht werden, die kein Konto oder keinen festen Wohnsitz haben. Abschließend soll nochmals das Zitat von Butler aufgegriffen und auf das Potenzial partizipativer Forschungen verwiesen werden. Dieses liegt in der Möglichkeit, mit partizipativer Forschung die »sozial erzeugte[…] Prekarität« (Butler, 2016: 33) aufzudecken und dies nicht nur als erkenntnis- theoretisches Moment zu betrachten. Durch unser Plädoyer einer machttheoretischen Reflexion partizipativer Forschungen wird das System der Wissenschaft ebenfalls zum Gegenstand gemacht und die Frage aufgeworfen, inwiefern mit und durch Forschungen Machtverhältnisse reproduziert werden. So liegt in partizipativer Forschung ein hohes Bildungspotenzial für die Wissenschaft, die eigene Eingebundenheit in Machtverhältnisse kritisch zu hinterfragen und Ansatzpunkte für Veränderungen zu erhalten. 89 Sonderheft 16 np Rein/Mangold, Reflexionen zur Bedeutung von Macht Literatur Ahmed, S./Rein, A./Schaffner, D., 2019: »Care Leaver exploration of young people’s engagement in par- erforschen Leaving Care« – Möglichkeiten und Gren- ticipative qualitative research. In: Childhood 17, H. zen partizipativer Forschung. 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Bei der Umsetzung von Projekten ist deshalb ein Weg zu finden, der für alle beteiligten Forschenden nachvollziehbar ist und aktiv mitgetragen werden kann. Um dies zu er- reichen, bedient sich die partizipative Forschung zahlreicher Instrumente und Methoden, die u.a. durch Kriterien der International Collaboration for Participatory (Health) Research (ICPHR) definiert sind und anhand dieser überprüft werden können. Postuliert wird, dass es sich bei par- tizipativer Forschung an sich nicht um eine Methode handelt, vielmehr stellt sie ein Paradigma dar (vgl. u.a. Bergold/Thomas, 2012; ICPHR, 2013; Gebert, 2014; von Unger, 2014; Bergold, 2017), nach dem die an einem Forschungsprojekt teilnehmenden Personengruppen bei der Planung und den damit verbundenen Entscheidungspunkten im Forschungsverlauf einzubeziehen sind (vgl. Bergold/Thomas, 2010: 333 ff.). Diese Sichtweise erfordert von den akademisch1 Forschenden eine in diesem Sinne veränderte Grundhaltung, welche neben Respekt, Machtkritik und Reflexivität (vgl. Flieger, 2003; Bergold, 2017), die Subjektorientierung als geltendes Merkmal in den Vordergrund stellt. Basierend auf Gaventas und Cornwells (2001) interaktionaler Konzeption definiert Bergold drei Eckpunkte für eine Orientierung am Subjekt bei partizipativer Forschung: 1. »Diejenigen, welche von der Forschung betroffen sind, sollen auch bei ihrer Produktion be- teiligt sein. Es geht um eine Demokratisierung und die Rückgewinnung der Macht von den Experten. 2. Wissen ist sozial konstruiert [...] daher sind Forschungsansätze angemessen, die soziale Grup- pen und Kollektive in die Analyse einbeziehen. 3. Es gibt verschiedene Formen des Wissens. Fühlen und Handeln sind eben so [sic!] wichtig wie Kognitionen und Rationalität« (Bergold, 2017: 4). Im Kontext bestimmter Personengruppen weisen die Hauptkriterien der von Chapell (2000) und Walmsley/Johnson (2003) entwickelten Prinzipien für das gemeinsame (inklusive) Forschen mit Menschen mit Lernschwierigkeiten ebenfalls auf eine veränderte und subjektorientierte Grundhaltung hin: 1. Die Forscher*innen bilden respektvolle Partnerschaften und forschen kollaborativ anhand einer Forschungsfrage. 2. Die Forschungsfrage hat im Interesse der Menschen mit Lernschwierigkeiten zu stehen. Sie kann von Menschen mit Lernschwierigkeiten aufgeworfen oder aber auch gemeinsam mit akademisch Forschenden entwickelt werden. Eine Kontrolle des Projekts (Verlauf und Prä- sentation der Ergebnisse) durch Menschen mit Lernschwierigkeiten ist ebenfalls anzustreben. 1 Gemeint sind Forschende mit Hochschul-/Universitätsabschluss. 92 Sonderheft 16 np Schmidt, Menschen mit Lernschwierigkeiten 3. Die Kommunikation und Dokumentation muss in einer Sprache erfolgen, die Menschen mit Lernschwierigkeiten verstehen, Veröffentlichungen müssen Menschen mit Lernschwierigkei- ten zugänglich gemacht werden (vgl. Chapell, 2000: 38 ff.; Walmsley/Johnson, 2003: 64 ff.). Im ersten Teil des Artikels wird ein partizipatives Forschungsprojekt mit Menschen mit Lern- schwierigkeiten vorgestellt, wonach die Darstellung methodischer Vorgehensweisen als ein cha- rakterisierendes Merkmal partizipativer Forschung erfolgt. Unterschieden wird dabei zwischen Methoden, die den allgemeinen Forschungsprozess auf interaktionaler/kommunikativer Ebene rahmen und Methoden, die für die konkrete Forschung, also für die Datenerhebung bzw. -aus- wertung, angewendet werden. Für die Veranschaulichung dieser methodischen Differenzierung werden zwei Phasen des laufenden Forschungsprojekts analysiert: die Phase der Entwicklung der Forschungsfrage sowie die Phase der Datenerhebung. Ein weiteres charakterisierendes Merkmal partizipativer Forschung ist die Nähe der Personen- gruppe (hier Menschen mit Lernschwierigkeiten) zum Forschungsanlass. Die spezifische Vertraut- heit bzw. Subjektorientierung zum Forschungsgegenstand steht jedoch in ihrer Bewertung auf dem wissenschaftlichen Prüfstand. So konstatiert Wagner-Willi (2016), dass diese Verbundenheit nicht per se als Vor- bzw. Nachteil für partizipative Forschungsprojekte angesehen werden kann. Für die weitere Differenzierung verwendet Wagner-Willi den Begriff der Standortverbundenheit, mit der nicht nur eine mögliche Standortgebundenheit2 zum Forschungsgegenstand und den Forschungssubjekten gemeint ist, sondern auch eine mögliche Fremdheit ihnen gegenüber, »und zwar in jenen Aspekten der sozialen Erfahrung, die Forschende und Forschungssubjekte eben nicht teilen« (Wagner-Willi 2011: 66; 2016: 216). Im zweiten Teil dieses Beitrags wird daher der Versuch unternommen, auf Grundlage des kritischen Diskurses der praxeologischen Wissensso- ziologie nach Wagner-Willi (2016) eine reflexive Verortung des vorliegenden Forschungsprojekts zu vollziehen. 2 Ein partizipatives Forschungsprojekt mit Menschen mit Lernschwierigkeiten Das gemeinsame Forschen mit Menschen mit Lernschwierigkeiten wird im sonderpädagogi- schen Fachdiskurs als Inklusive Forschung bezeichnet (vgl. Buchner/Koenig/Schuppener, 2016; Schuppener/Hauser, 2014; Walmsley/Johnson, 2003). Als Grundverständnis dieser Forschung gilt, dass im Sinne der Inklusion und Emanzipation die jeweiligen Lebensverhältnisse der zu beteiligenden Personengruppe verbessert werden (vgl. Schuppener/Hauser, 2014: 234). Die ge- meinsame Forschung soll der beteiligten Zielgruppe also unmittelbar nutzen (vgl. Flieger, 2009). Partizipative Forschung verfolgt zwar dieselben Ziele (vgl. von Unger, 2014), verständigt sich jedoch nicht auf eine spezifisch zu beteiligende Personengruppe. »Das Denkmodell der Inklusion/ Exklusion bezieht sich auf alle Heterogenitätsdimensionen und sollte eine Engführung auf [...] [spezifische Gruppenzugehörigkeiten, wie beispielsweise Menschen mit Lernschwierigkeiten: K.S.] vermeiden« (Goeke, 2016: 38). Mit der Fokussierung auf eine Personengruppe – Menschen mit Lernschwierigkeiten – zählt sich das vorliegende Projekt zur partizipativen Forschung. 2 Wagner-Willi bezieht sich in dem Kontext auf die Theorie der Seinsverbundenheit des Wissens nach Mannheim (1952: 70 ff.). Er geht davon aus, dass Menschen im Laufe ihres Lebens ein Relevanz- und Deutungssystem entwickeln, welches auf sozialen Erfahrungen und sozialisationsbedingtem Alltagshandeln basiert (vgl. Wagner-Willi 2011: 66). 93 Sonderheft 16 np Schmidt, Menschen mit Lernschwierigkeiten Das Forschungsprojektteam3, besteht aus einer akademisch und vier lebensweltlich4 Forschen- den. Die lebensweltlich bzw. Co-Forschenden5 sind Menschen mit Lernschwierigkeiten6, welche in verschiedenen Einrichtungen der Behindertenhilfe leben und im Rahmen der Sozialgesetzbü- cher IX Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung und XII Sozialhilfe betreut werden. Menschen, die diese Betreuungsformen in Anspruch nehmen, benötigen Unterstützung und Assistenz in verschiedenen Lebensbereichen, wie Wohnalltag, Arbeit und Freizeit. Um die Autonomie der Co-Forschenden und der Beforschten nicht in Frage zu stellen, wurde für die Teilnahme an dem hier vorgestellten Forschungsprojekt keine Zustimmung der gesetzlich Betreuenden eingeholt. Diese Entscheidung haben die Teilnehmenden des partizipativen For- schungsprojekts in einem Abwägungsprozess gemeinsam getroffen. Dies wird aus forschungsethi- scher Perspektive mit dem Prinzip des informierten Einverständnisses/der informierten Ein- willigung (vgl. Buchner, 2008: 516; Nind, 2008: 6; Hauser, 2016: 88 f.) als »Befähigungsprozess«7 (Schäper, 2018: 134 ff.) begründet. Inhaltlich beschäftigt sich das Forschungsteam mit der Frage nach der intersubjektiven Bewer- tung von Betreuungs- und Abhängigkeitsbeziehungen durch Menschen mit Lernschwierigkeiten. Es zeigte sich, dass die Co-Forschenden über unterschiedliche Erfahrungen verfügen und teilweise auch unterschiedliche Meinungen vertreten. Diese interessante Erkenntnis machte deutlich, dass hier ein potenzielles Forschungsfeld gegeben ist, welches für Menschen mit Lernschwierigkeiten unmittelbar von Nutzen sein kann. Großes Interesse bestand deshalb bei der Fragestellung, wie Menschen mit Lernschwierigkeiten ihre Betreuungsbeziehungen wahrnehmen, und wie sie die möglicherweise daraus entstehenden Konflikte erleben und damit umgehen. Hierfür erfolgte zunächst eine Einteilung in die Kategorien Fürsorge (im Sinne von Falkenstörfer, 2018: 167 ff.), Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, um dann herauszuarbeiten, inwieweit die gemachten Erfahrungen von Menschen mit Lernschwierigkeiten in der begrifflichen Einteilung zugeordnet werden können oder ob es zu koexistierenden Wechselwirkungen im Beziehungsgeflecht der Betreuung kommt. Die asymmetrischen Beziehungskonstrukte und die damit einhergehenden Machtverhältnisse (Conradi, 2001) werden ebenfalls untersucht. 3 Methoden und Ziele beim partizipativen Forschungsprojekt Um eine differenzierte Darstellung methodischer Vorgehensweisen vornehmen zu können, wird im Folgenden auf die Konzeption der jeweiligen Methode an sich und die jeweils mit ihr verbundenen Ziele eingegangen: Die Methode (altgriechisch: etwas nachgehen oder verfolgen) 3 Das Projekt läuft seit August 2017 und befindet sich mit dem Erscheinen dieses Artikels in der Auswertungsphase. 4 Schütz und Luckmann (2017) beschreiben die Lebenswelt als den Bereich, in dem ein Mensch denkt, handelt und mit anderen in Interaktion tritt. Dabei beruht jede »Auslegung der Welt jeweils auf einem Vorrat früherer Erfahrungen« (ebd.: 33). Sie wird demnach von milieu- und sozialisationsspezifischen Gegebenheiten beeinflusst. 5 Im Folgenden werden die Bezeichnungen Co-Forschende und lebensweltlich Forschende synonym verwendet. Davon zu unterscheiden sind die akademisch Forschenden, die i.d.R. an einer Universität oder Hochschule wissenschaftlich tätig sind. 6 Die Bezeichnung »Lernschwierigkeiten« wurde bewusst gewählt, um eine Abgrenzung zur gängigen Bezeichnung »Geistige Behinderung« vorzunehmen, welche von der Selbsthilfevereinigung Mensch zuerst Deutschland e.V. als Label wahrgenommen und abgelehnt wird (vgl. Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V., 2019: o.S.). 7 Einwilligung als Befähigungsprozess meint, Menschen mit Lernschwierigkeiten als handlungsfähige Rechtssubjekte anzuerkennen. Eine Entscheidungsübernahme durch gesetzliche Betreuungspersonen geht immer auch mit einem Autonomieverlust der Menschen mit Lernschwierigkeiten einher. Demnach sollte kritisch reflektiert werden, welche Entscheidungen durch die gesetzlichen Betreuungen getroffen werden und welche Voraussetzungen vielleicht geschaffen werden müssen, damit Menschen mit Lernschwierigkeiten eine größtmögliche Autonomie über ihre Entscheidung erhalten (vgl. Schäper, 2018: 143). 94 Sonderheft 16 np Schmidt, Menschen mit Lernschwierigkeiten wird allgemeingültig als planmäßiges Verfahren zum Erreichen eines Ziels beschrieben. Sie stellt ein Regelwerk dar, um eine systematische Nachvollziehbarkeit von Handlungen innerhalb der Wissenschaft zu erreichen (vgl. Duden, 2019: o.S.). Aufgrund der Beteiligungsverfahren in partizipativen Forschungsprojekten kann zwischen zwei verschiedenen methodologischen Ebenen unterschieden werden: Erstens die interaktionale/ kommunikative Ebene, auf der Partizipation, Transparenz und Offenheit als wesentliche Ziele (vgl. Bergold/Thomas, 2010: 337 f.; 2012: 12; Bergold, 2017: 4) durch planmäßige Verfahrenswei- sen angestrebt werden. Auf dieser Ebene wird beispielsweise die gemeinsame Entwicklung der Forschungsfrage realisiert. Die zweite Ebene greift die methodische Verfahrensweise für die Datenerhebung und -auswertung auf. Hierbei handelt es sich bei Methoden um »die Instrumente, mit deren Hilfe der Gegenstand abgetastet wird« (Bergold, 2017: 6). Bei einer partizipativen Da- tenerhebung und -auswertung kann auf kreative und für die traditionelle Forschungsgemeinde eher untypische Methoden zurückgegriffen werden. Beispielhaft dafür stehen Forschungsprojekte, die mit Methoden wie Photovoice (vgl. Wang/Burris, 1997; Zehle, 2016; Burtscher, 2017) oder Sozialraumbegehungen (vgl.: Buchner et al., 2016) bzw. Community Mapping (vgl. von Unger/ Gangarova, 2011; van der Vaart/van Hoven/Huigen, 2018) gearbeitet haben. Sie erhalten in der partizipativen Forschungscommunity eine breite Zustimmung. Aber auch die Anwendung von qualitativen und quantitativen Methoden, wie Interviewverfahren oder Fragebögen (vgl. Köbler et al., 2003; Bergold, 2017; Burtscher, 2017; Gibbs et al., 2018), sind gängige Verfahren in partizi- pativen Forschungsprojekten. Sie werden der jeweiligen Gruppe (z.B. Menschen mit Lernschwie- rigkeiten) mit der Intention angepasst, deren Zugang zur Forschungsmethode zu erleichtern. 3.1 Das methodische Vorgehen auf interaktionaler/kommunikativer Ebene Im Verlauf des Forschungsprojekts wurden verschiedene Methoden mit dem Ziel angewendet, Informationen über die Lebenswelten der Forschenden zu gewinnen und eine Subjektorien- tierung zu erreichen. Für eine bessere Übersichtlichkeit werden die angewendeten Methoden zunächst tabellarisch dargestellt, um in den weiteren Ausführungen konkret auf die einzelnen Verfahren einzugehen. Tab. 1: Das methodische Vorgehen auf interaktionaler/kommunikativer Ebene. Methode Verfahren Ziel Einfache Sprache (orientiert an Das Forschungsteam verwendet Sprachbarrieren reduzieren und Bredel/Maaß, 2016), einfache Sätze und Wörter. Wenn Informationen zugänglich machen, fortlaufend verwendet. Personen etwas nicht verstehen, Verstehen erleichtern und das Erlernen erfolgt eine nochmalige Erklärung, neuer Wörter fördern. bis alle verstanden haben, worum es geht. Gruppengespräche/ Die akademisch Forschende Meinungen, Orientierungs- und Diskussionen (orientiert an Person übernimmt die Deutungsmuster konstituieren sowie Bohnsack, 2014), fortlaufend Moderationsrolle und regt eine Priorisierung und Reflexion von verwendet. Gespräche und Diskussionen an. Themen vornehmen. Wiederholungen, fortlaufend Jedes Treffen beginnt mit der Erinnerung an Absprachen und Auf- verwendet. Wiederholung von Ergebnissen rufen von Ergebnissen, um an den der vorherigen Sitzung, über die fortlaufenden Prozess anzuknüpfen. Aufzeichnungen gemacht wurden. 95 Sonderheft 16 np Schmidt, Menschen mit Lernschwierigkeiten Egozentrische Netzwerkkarte Handout mit dem Titel: »Bezie- Beziehungsstrukturen offenlegen und (orientiert an Rehrl/Gruber, hungen sichtbar machen – wie über die verschiedenen Lebenswelten 2007), als Einstiegsmethode nah ist Dir wer?« Als Antwortmög- und die gemeinsamen Erfahrungsräu- verwendet. lichkeit wurde »Partner / Partnerin me ins Gespräch kommen. (rot), Freunde (grün), Betreuerin / Betreuer (blau)« vorgegeben. Unterschieden wurde bei der Häu- figkeit des Kontakts in »täglich / wöchentlich / monatlich«. Für die Gestaltung und Rahmung methodischer Verfahrensweisen in partizipativen Forschungs- projekten wird nach Bergold und Thomas (2010) die Annahme vertreten, die akademisch For- schenden damit zu beauftragen. Sie nehmen die Rolle der »Expert*innen für Methoden« ein. Demgegenüber steht die Rolle der »Expert*innen der Lebenswelt«, die durch Co-Forschende eingenommen wird (vgl. ebd., 2010: 340). Für die Steuerung des methodischen Vorgehens übernahm im vorliegenden Projekt die akademisch Forschende (vorerst) die Verantwortung. Sie nahm die Rolle der Expertin für Methodenfragen (vgl. Bergold/Thomas, 2010) und die der Moderation (vgl. Hogan, 2000) ein. In Anlehnung an diese Aufteilung erfolgte im herangezo- genen Forschungsprojekt die Initiierung durch die akademisch Forschende, die lebensweltlich Forschenden stimmten dem zu. Im Forschungsverlauf kann sich diese Rollenübernahme aber verschieben, wenn das Forschungsteam die Rollenfunktion und Zielsetzung gemeinsam überprüft. Die Kommunikation und das Finden einer gemeinsamen Sprache stellt die Basis der Zusammen- arbeit dar. Beides wirkt sich im Forschungsprojekt wesentlich auf die Schaffung eines sicheren Raums (vgl. Bergold/Thomas, 2012: 12-16) aus. Der sichere Raum ist von Vertrautheit und Respekt geprägt und ermöglicht allen Mitgliedern eines partizipativen Forschungsprojekts, sich im vollen Umfang zu entfalten und dabei Äußerungen zu tätigen, die nicht gegen sie verwendet werden bzw. durch die ihnen keine Nachteile erwachsen (vgl. Wicks/Reason, 2009; Bergold/Thomas, 2012). Um diesen sicheren Raum für die lebensweltlich Forschenden zu schaffen, bedient sich die akademisch Forschende der Einfachen Sprache. Die Kommunikation erfolgt hierbei nach keinen festen Regeln. Sie wird von Bredel und Maaß (2016) als »Varietätenspektrum zwischen Leichter Sprache und Standardsprache« (ebd.: 527) beschrieben und grenzt sich somit von Leichter Sprache ab, welche einem festen Regelwerk folgt und im Gegensatz zu Einfacher Sprache durchgehend eingehalten werden muss. Durch die Anwendung von Einfacher Sprache im Forschungsprojekt konnte nach Regeln kommuniziert werden, die von den lebensweltlich Forschenden vorgegeben und durch das Lernen neuer Begriffe ihrerseits auch verändert werden konnten. Aus den Gruppengesprächen und -diskussionen ergab sich, dass die Co-Forschenden über ein breites sozialisationsbedingtes Erfahrungswissen bezüglich verschiedener Wohnformen verfügen, was sie zu Expert*innen ihrer Lebenswelt macht. Eine inhaltliche Auseinandersetzung zu dem Thema wurde von der akademisch Forschenden angeregt und mit Hilfe dieser Gespräche und Diskussionen die subjektive Wahrnehmung von Betreuungs- und Abhängigkeitsbeziehungen thematisiert. Die Gruppentreffen dienten aber auch der Auseinandersetzung über die metho- dische Vorgehensweise bei der Datenerhebung, wie Auswahl und Ausprobieren der Methoden. Bei den kontinuierlich abgehaltenen Treffen wurden mit Hilfe von Moderationstechniken, wie Kartenabfrage, Flipchart-Dokumentation und Bilddarstellungen, verschiedene Themen (z.B. Forschungsfrage oder methodische Vorgehensweise) immer wieder besprochen, diskutiert und dokumentiert. Die Treffen dienten auch dazu, Themen aus vergangenen Besprechungen aufzugreifen und daran anzuknüpfen. Wiederholungen als methodisches Vorgehen zu bezeichnen ist zwar ungewöhnlich, jedoch stellt es in dem Kontext ein planmäßiges Verfahren dar, um auf interaktionaler/kommunikativer Ebene gemeinsam mit den Co-Forschenden rekonstruktiv und reflexiv zu arbeiten. 96 Sonderheft 16 np Schmidt, Menschen mit Lernschwierigkeiten Die Anwendung der egozentrischen Netzwerkanalyse ermöglichte es, die Beziehungsstrukturen von jedem Mitglied der Forschungsgruppe im individuellen Umfeld zu ermitteln. Es zeigte sich zum einen eine Einteilung in verschiedene Beziehungsformen (Betreuer*in/Familie/Freunde) und zum anderen, dass Betreuungspersonen von den lebensweltlich Forschenden häufig in ei- nem engen Verhältnis zur eigenen Person gesehen werden, wodurch sie eine wichtige Rolle in deren Leben einnehmen. Das konstatierten die Personen erstmals selbst durch die Anwendung dieser Methode. 3.2 Das methodische Vorgehen bei der Datengenerierung und -auswertung Da die Co-Forschenden zu Beginn des Projekts noch keine Erfahrungen mit Forschungstätigkei- ten besaßen – und somit auch keine Kenntnisse zu Möglichkeiten der Datengewinnung –, wurde diese Frage zunächst seitens der akademisch Forschenden vorgetragen. Entsprechend der Rolle als Expertin für Methoden (vgl. Bergold/Thomas, 2010: 340) stellte die akademisch Forschende den Co-Forschenden verschiedene qualitative und kreative Methoden der Datengewinnung vor, die dann gemeinsam besprochen und je nach materieller Möglichkeit angenommen oder verworfen wurden. Das Forschungsteam entschied sich zunächst für das Interview und nachfol- gend noch für den Fragebogen. Assoziationen der Co-Forschenden, wie »Forschung hat was mit Fragen stellen zu tun«, beeinflussten den Entscheidungsprozess, weshalb es zur Auswahl dieser Forschungsmethoden kam. Im Folgenden werden die verschiedenen Befragungsformen sowie die damit verbundenen Zielstellungen tabellarisch dargestellt: Tab. 2: Das methodische Vorgehen bei der Datengenerierung Methode Verfahren Ziele Fragebogen Standardisiert in Umlauf gebracht durch Informationen vergleichen, Teilnahme das gesamte Forschungsteam, ohne nähere Details. Lesekompetenz notwendig. Peer-Interview, Interview auf Augenhöhe, Co-Forschende Dem gesamten Forschungsteam eine schwach strukturierter (Menschen mit Lernschwierigkeiten) freie Formulierung und Priorisierung der Interviewleitfaden befragen Menschen mit Lernschwierig Fragen und Antworten ermöglichen, aber (vgl. Kruse, 2014). keiten, Lesekompetenz teilweise auch (unbewusste) thematische Lenkung notwendig. akademischer Forscher*innen vermeiden. Tandem-Interview, o.g. Fragebogen mit Interviewoption Die akademisch und je ein*e lebenswelt- stark strukturierter durch Hybridfragen (eingrenzend und lich Forschende*r bilden ein Tandem und Interviewleitfaden offen zugleich) entwickeln (Faulbaum/ befragen Menschen mit (vgl. Kruse, 2014). Prüfer/Rexroth, 2009: 20), Lesekompe- Lernschwierigkeiten. tenz nicht erforderlich. Bildung von Erarbeitung charakteristischer Merkmale Abgleich mit theoretischem Diskurs und Kategorien zu den Leitideen: Fürsorge, Selbstbestim- empirischem Material. mung, Fremdbestimmung. Für die konkrete Planung der methodischen Verfahrensweisen lieferten vor allem Hagen (2002), Buchner (2008) und Mayrhofer/Schachner (2013) den forschungspraktischen Ori- entierungsrahmen. Nachfolgend wird auf die von ihnen herausgearbeiteten Aspekte hin- sichtlich der Interviewführung mit Menschen mit Lernschwierigkeiten näher eingegangen: 97 Sonderheft 16 np Schmidt, Menschen mit Lernschwierigkeiten Im wissenschaftlichen Diskurs und aus der sonderpädagogischen Community heraus wird die Befragtenrolle von Menschen mit Lernschwierigkeiten teilweise kritisch betrachtet. Als Begrün- dung werden in erster Linie ungenügende kommunikative Kompetenzen, die das Verstehen und Beantworten von Fragen beeinträchtigen würden, angeführt (vgl. Buchner, 2008: 520). Besonders das »JA-Antwortverhalten« (vgl. Heal/Sigelman, 1995), welches aufgrund der institutionellen Sozialisation und Fremdbestimmung zu einer »sozialen Erwünschtheit« führen kann, wird problematisiert. Dennoch gibt es im Diskurs eine Vielzahl von Auffassungen und Erfahrungen, nach denen sich Befragungsergebnisse von befragten Personen mit Lernschwierigkeiten nicht von der Antwortzuverlässigkeit nichtbehinderter Befragter unterscheidet (vgl. Hagen, 2002: 293 ff.; Dworschak, 2004: 32 ff.; Mayrhofer/Schachner, 2013: 12 f). Die Frage nach der »Machbarkeit« sollte also in den Hintergrund gerückt werden, um sich im partizipativen Paradigma der Frage- stellung zuzuwenden, welche Besonderheiten bei der Befragung dieser Zielgruppe bestehen (vgl. Nind, 2008; Buchner/Koenig, 2011; Goeke/Kubanski, 2012; Mayrhofer/Schachner, 2013; Buchner/ Koenig/Schuppener, 2016). Die methodische Rahmung und Umsetzung von Interviews mit Menschen mit Lernschwierig- keiten durch Menschen mit Lernschwierigkeiten (Peer-Interview) stellt aber nach wie vor ein Nischendasein dar, auch wenn insbesondere bei der Evaluation von Angeboten für Menschen mit Behinderung verschiedene Arten der Befragung durch Menschen mit Lernschwierigkeiten erprobt werden (vgl. NUEVA, 2019; People first Cumbria UK, 2019). Die methodisch zu lösen- de Herausforderung im vorliegenden Projekt bestand darin, in der Befragungssituation eine Verknüpfung zwischen spezifischer Lebenswelt und dem Sinn der Frage herzustellen. Diese Verbindung war von dem*r Co-Forscher*in erklärend in der jeweiligen Situation herbeizufüh- ren. Die künstliche Befragungssituation und die damit verbundenen abzuarbeitenden Fragen wurden aber als schwer umsetzbar empfunden, da eine große Abweichung zu den gewohnten Kommunikationsformen zu verzeichnen war. In Gruppentreffen wurden die gemachten Erfahrungen und die weitere Vorgehensweise dis- kutiert. Es zeigte sich, dass von den Co-Forschenden die Erarbeitung eines stark strukturierten Interviewleitfadens sowie eines standardisierten Fragebogens gewünscht wurde. Um die Gefahr der Abstraktheit sowie eine thematische Lenkung seitens der akademisch Forschenden so mi- nimal wie möglich zu halten, legten die Co-Forschenden selbst die inhaltliche Gestaltung des Fragebogens hinsichtlich Sprache und Relevanz fest. Um die Umsetzung der genannten komplexen Anforderungen zu gewährleisten, wurden die Interviews im Tandem durchgeführt, wobei jedes aus einem*r lebensweltlich Forschenden und der akademisch Forschenden bestand. Der standardisierte Fragebogen wurde auf Basis von Hy- bridfragen, eine Kombination von offenen und geschlossenen Antwortvorgaben (vgl. Faulbaum/ Prüfer/Rexroth, 2009: 20), erstellt. Mittels dieses Fragebogens konnte ein Interviewleitfaden mit einem eher narrativen Zugang entwickelt werden. Dieser Wechsel von Fragebogen zu Interview verfolgte das Ziel, unvorhergesehene Antworten zu ermöglichen sowie auf die verschiedenen Gegebenheiten und Kompetenzen der Befragten während der Erhebung zu reagieren. Es wur- den zwei Dokumentationsformen (Tonaufnahme und Fragebogen) herangezogen, damit das Forschungsteam im Auswertungsprozess auf zwei Datenquellen zurückgreifen kann. Diese Fle- xibilität hinsichtlich der Wahl, Fragebogen oder Interviewleitfaden, bietet den Co-Forschenden im Auswertungsprozess die Möglichkeit, ihren Zugang zum Material selbst zu wählen. 98 Sonderheft 16 np Schmidt, Menschen mit Lernschwierigkeiten Der für das Projekt erarbeitete Frage- und Interviewbogen beinhaltete neun Fragen, die Durch- führung dauerte ca. 15 Minuten bei den Fragebögen und ca. 35 Minuten im narrativen Format. Im Vorfeld wurden die Peer-Interviews geübt, die Tandem-Interviews wurden ohne vorherige Übung durchgeführt. Für die Datenauswertung wurden im Vorfeld aus den Biografien der Co-Forschenden die sub- jektiven Perspektiven verschiedener Betreuungskonstrukte herausgearbeitet und dann mithilfe des Kategoriensystems den relevanten Schlüsselbegriffen (wie im Kapitel »Ein partizipatives Forschungsprojekt mit Menschen mit Lernschwierigkeiten« beschrieben) zugeordnet. Die Vor- gehensweise stellte sich als gut geeignet heraus, da die Co-Forschenden so ihre Erfahrungsräume8 (Wagner-Willi, 2011: 66) abgleichen konnten. Die Ergebnisse werden im weiteren Verlauf mit dem Datenmaterial abgeglichen. Das Offenlegen gemeinsamer Erfahrungsräume stellt zudem ein großes Potenzial dar, um eine Verbundenheit der Co-Forschenden mit dem Forschungsgegenstand sowie ihren lebensweltlichen Gegebenheiten in einen unmittelbaren Zusammenhang zu bringen und zu analysieren. An dieser Stelle spielt besonders subjektorientiertes Handeln eine wesentliche Rolle. Eine kritische Refle- xion der Herausforderungen hinsichtlich der Nähe der lebensweltlich Forschenden zu dem For- schungsgegenstand im herangezogenen partizipativen Forschungsprojekt ist daher unabdingbar. 4 Reflexion der Standortgebundenheit und des Fremdverstehens Wie bei den Ausführungen zur Befragtenrolle bereits dargelegt, kommen »Einwände und Gegenargumente aus dem akademischen Raum« (Goeke/Kubanski, 2012: 23-28), welche Men- schen mit Lernschwierigkeiten in einer Forscher*innenrolle kritisch betrachten. Insbesondere die Öffnung des Wissenschaftsfeldes und damit einhergehend der Verlust eines Mindestmaßes an kognitiver Leistungsfähigkeit der Co-Forschenden wird als Kritik formuliert. Goeke und Kubanski teilen diese Auffassung nicht und betonen, dass insbesondere die Komplexität und Leistungsfähigkeit durch eine heterogene Betrachtungsweise und Analyse von Datenmaterial erhalten bleibt, wenn nicht sogar gestärkt wird (vgl. ebd.: 23-25 und 40; auch Buchner/König, 2011: 2ff.). Weitere Vertreter*innen dieses Forschungsgebiets argumentieren ähnlich und sehen in der Subjektorientierung das Potenzial von partizipativer Forschung, womit sie sich so von der »objektivierende[n] Forschung im Sinne einer nomothetischen Forschung« (Bergold, 2017: 3) abgrenzen. Gleichzeitig kritisieren sie die mit dieser Forschung verbundenen »Formen der Ver- dinglichung von Menschen mit Lernschwierigkeiten in der empirischen Forschung und einer [reinen] akademischen Wissensproduktion« (Wagner-Willi, 2011: 66; 2016: 216). Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, durch partizipative Forschung vollziehe sich eine neue Verteilung von Deutungs- und Definitionsmacht im positiven Sinne, die allerdings methodisch kontrolliert werden sollte (vgl. Wagner-Willi, 2011: 66; 2016: 216). Wagner-Willi konstatiert, dass in partizipativer Forschung die Relevanzsysteme der Forschen- den als Erkenntnisquelle durch die eigene Betroffenheit mit den zu beforschenden Subjekten generell konstruiert werden. Eigene Erfahrungen, kulturelle Gewohnheiten und Normen werden an das Material herangetragen, was dazu führt, dass aus der Gruppe der Betroffenen konstru- ierte Deutungsspielräume in der Interpretationsphase kaum überschritten werden können. Aus wissenssoziologischer Sicht ist dies bei Forschung »in jedem Fall« (Wagner-Willi, 2016: 219) eine 8 Die Bezeichnung »Erfahrungsräume« im Sinne von Wagner-Willi meint die sozialisationsbedingten und milieuspe- zifischen Zugehörigkeiten, die jeder Mensch mitbringt, wie ein städtisches/ländliches Milieu, Familienverhältnisse, Geschlechtszugehörigkeit oder ethnische Herkunft. 99 Sonderheft 16 np Schmidt, Menschen mit Lernschwierigkeiten grundlegende und soziale Gegebenheit. Die Seinsverbundenheit und eine (mögliche) Fremdheit zu den Forschungssubjekten muss aber reflektiert und transparent gemacht werden, auch um sich von dem Gedanken der Identifikation, welcher die Grenzen zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis verwässert, zu distanzieren (vgl. ebd.: 220). Das bedeutet, ein milieuspezifisches Relevanz- und Deutungssystem der Forscherinnen und Forscher eines partizipativen Projekts kann nicht ohne Weiteres aus einem Vorhaben herausgelöst werden. Bergold führt den Gedanken noch weiter und postuliert, es sei ein Trugschluss, Forschung per se als objektiv zu bewerten. Er bezieht sich hierbei auf den Diskurs der Erkenntnistheorie und schlussfolgert, dass »Erkenntnis [.] an die spezielle Beziehung zwischen erkennendem Subjekt und Gegenstand gebunden« ist (Bergold, 2017: 2). In dem hier dargestellten Forschungsprojekt mit Menschen mit Lernschwierigkeiten zeigte sich ein breites implizites Erfahrungswissen über gemeinsame Erfahrungsräume hinsichtlich der Betreuungs- und Wohnangebote der Behindertenhilfe. Die damit einhergehende Betroffenheit bzw. Subjektivität sollte aber nicht als »Qualitätskriterium einer dem Forschungsgegenstand angemessenen Erkenntnisgewinnung dienen« (Wagner-Willi, 2011: 67). Vielmehr muss das bei der methodischen Planung berücksichtigt werden. Mittels kritischer Reflexion wurde dem Anspruch auf Fremdverstehen nachgekommen und das Projekt in den von Wagner-Willi (2016) beschriebenen drei Formen der Fremdheit verortet: – Fremdheit als methodisches Prinzip – Fremdheit als Zuschreibungskategorie – Fremdheit als Differenzerfahrung. Ihre Arbeit bezieht sich auf Eberweins (1985) Paradigma des Fremdverstehens. – Fremdheit als methodisches Prinzip meint den Wechsel der Analyseeinstellung vom »Was« zum »Wie« und »entspricht dem konstruktivistischen Wechsel von der Beobachtung erster Ordnung hin zu derjenigen zweiter Ordnung« (vgl. Luhmann, 1990: 86f. zit. n. Wagner-Willi, 2011: 67; Wagner-Willi, 2016: 221). Im Forschungsprojekt wurde thematisch dieser Wechsel vollzogen, indem gemeinsam erörtert wurde, was Selbstbestimmung für jeden von uns individuell bedeutet. Die Antworten darauf resultierten aus gemachten Erfahrungen, der Alltagspraxis sowie vorhandenen kulturellen Gewohnheiten und Normen. Hingegen lie- ferte die Frage, wie wird Selbstbestimmung (z.B. im institutionellen Kontext) erlangt, eher rekonstruktive Beiträge für die Forschung. Um nicht auf der Ebene des »Was« verhaftet zu bleiben, musste das Konstrukt »Selbstbestimmung« in den Hintergrund gerückt und die Frage geklärt werden, wie Selbstbestimmung (z.B. in sozialen Institutionen der lebensweltlich Forschenden) interaktional zu erreichen ist. Das Einnehmen einer Beobachter*innenrolle, insbesondere aber die Bewusstwerdung dessen, sollte zur Einnahme der Beobachtung zweiter Ordnung führen. Mit Hilfe von Gruppendiskussionen konnte das erreicht werden. Für die lebensweltlich Forschenden wurde dadurch beispielsweise erkennbar, dass Selbstbestimmung zu einem Spannungsverhältnis zwischen dem handelnden Subjekt und den institutionellen und strukturellen Gegebenheiten führt. – Die Gruppendiskussionen zeigten, gleich den Beobachtungen von Wagner-Willi (2016: 222), dass Fremdheit als Zuschreibungskategorie zu einer gemeinsamen sozialen Erfahrung gehört. Fremdheit meint hier demnach die von außen an die Personengruppe herangetragenen Erwar- tungen und Fremdidentifizierungen. Diese werden meist von der betroffenen Gruppe, so auch von den Co-Forschenden selbst, abgelehnt, wie beispielsweise die Betitelung Geistige Behin- derung für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Andererseits werden Fremdzuschreibungen aber auch angenommen und führen dann konsequenterweise zu spezifischen Verhaltensweisen, wie das Zurückhalten von Partizipationsbestrebungen. Vor allem Menschen, die sich in insti- tutionellen Betreuungsbeziehungen befinden und allgemein als hilfebedürftig gelten, treten 100 Sonderheft 16 np Schmidt, Menschen mit Lernschwierigkeiten mit einer »erlernten Hilflosigkeit« (Seligman, 2016)9 hervor. In den moderierten Gruppen- diskussionen konnten die subjektiv wahrgenommenen Fremdzuschreibungen rekonstruiert und verglichen werden. Diese Vorgehensweise zielte erstens darauf ab, Entscheidungsmacht transparent zu machen (Was und insbesondere darauffolgend warum entscheiden die Co- Forschenden, die gesetzlichen Betreuungspersonen/Eltern, die Betreuungspersonen in den Wohneinrichtungen?), und zweitens, sich der vorhandenen lebensweltlichen Aneignungen (etwas wird akzeptiert) und Abgrenzungen (etwas wird nicht akzeptiert) bewusst zu werden. – Auch gemachte Erfahrungen mit Fremdheit können als Differenzerfahrung wahrgenommen werden. Es handelt sich hierbei um die »Erfahrung von Fremdheit gegenüber einem sozialen und kulturellen Milieu« (Wagner-Willi, 2016: 223). Diese entstehen im Kontext von Behinde- rung, wenn Akteure aus Sondersystemen10 kommunikativ so aufeinander eingestimmt sind, dass Außenstehende den Inhalt ihrer Unterhaltung nicht nachvollziehen können. Dieses Phänomen der voraussetzungsvollen Kommunikation tritt auch in informell geschlossenen Systemen wie Familien und Peer-Groups auf. Da, wo sich aber Systeme überschneiden, und sich Menschen fremd sind, entsteht kommunikative Interaktion. Wagner-Willi (2016) konsta- tiert, dass diese kommunikativen Beziehungen dort beobachtbar sind, wo milieuspezifisches Wissen fehlt (vgl. ebd.: 223). Das bedeutet, im Austausch auf der Peer-Ebene mit Personen, die dieselben Erfahrungsräume miteinander teilen, werden Informationen und Assoziatio- nen soweit vorausgesetzt, dass relevante Informationen im Verborgenen bleiben können. Im Hinblick auf die Datengenerierung ist eine Vertrautheit zwischen Co-Forschenden und interviewten Personen möglicherweise förderlich, beispielsweise um Narrationen zu erzeugen, sie darf jedoch nicht zum Hindernis werden, indem »Selbstverständliches« oder generelles Alltagswissen im Peer-Interview nicht zur Sprache kommt. Methodisch kann dem vorgebeugt werden, wenn akademisch und lebensweltlich Forschende ihre Standortverbundenheit re- flektieren, gekoppelt an das Ziel, eine Forscher*innenhaltung einzunehmen und die eigenen Erfahrungen und Wertvorstellungen bei der Datenerhebung nicht zum empirischen Material werden zu lassen. Wie bereits weiter oben beschrieben, stellte sich ein souverän geführtes Peer-Interview als Herausforderung und nicht durchführbar dar, was das Team letztendlich dazu bewegte, Tandem-Interviews zu konzipieren. Die Tandem-Interviews ermöglichten es, akademisches und lebensweltliches Know-how (gemeint sind lebensweltliche und metho- dische Expertise) für die Datenerhebung miteinander zu verknüpfen sowie Fremdheit als Differenzerfahrung durch die Anwesenheit der akademisch Forschenden zu gewährleisten. Für die konzeptionelle Arbeit am Projekt ist beabsichtigt, bei der kollaborativen Interpre- tation von Daten wieder auf die klassische Sozialforschung zurückzugreifen. Hierfür werden Auswertungsmethoden, wie das hermeneutische Verfahren oder die qualitative Inhaltsanalyse, als Leitmodelle herangezogen, allerdings in adaptierten Versionen (vgl. Bergold/Thomas, 2010: 341). Diese Phase befindet sich noch im Prozess. 5 Schluss Der Diskurs zur partizipativen Forschung macht deutlich, wie sehr sich einzelne Projekte in ihrer methodischen Verfahrensweise und Zielrichtung unterscheiden. In dem vorliegenden Artikel wurden anhand des vorgestellten, laufenden Forschungsprojekts die differenzierten methodischen Ansätze erläutert und die in dieser Forschung favorisierte Subjektorientierung hervorgehoben. 9 Siehe hierzu den Diskurs zu den Konzepten der »erlernten Hilflosigkeit« bzw. der »erlernten Bedürfnislosigkeit« (Theunissen, 2000). 10 Gemeint sind Sondereinrichtungen wie Wohnheime, Werkstätten und Förderschulen für Menschen mit Behinderung. 101 Sonderheft 16 np Schmidt, Menschen mit Lernschwierigkeiten Die im Rahmen des Projekts ausgearbeitete trennscharfe Aufteilung der Methodik ist in der praktischen Umsetzung partizipativer Forschungsprojekte nicht gegeben, sie wirkt vielmehr künstlich erzeugt, da beide Ebenen – die interaktionale/kommunikative Ebene und die Ebene der Datengenerierung und -auswertung – ineinandergreifen und sich somit bedingen. Bei der Analyse wurde diese Aufteilung gleichwohl angewendet, um eine transparente Darstel- lung und damit die Nachvollziehbarkeit der subjektorientierten Vorgehensweise in Hinsicht auf Partizipation und Forschungspraxis zu garantieren. Eine besondere Rolle nahm die im Anschluss daran erfolgte reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Standortverbundenheit und dem möglichen Fremdverstehen der lebensweltlich Forschenden ein, welche in bisherigen Diskursen noch weitgehend vernachlässigt wird. Diese Aufarbeitung bot die Möglichkeit, methodische wie auch erkenntnistheoretische Schlussfolgerungen aus den erhobenen Daten zu ziehen. Sie gewährleistete zugleich die kontinuierliche Kontrolle über den Verlauf sowie über die Offenle- gung der Ressourcen und Potenziale der am Projekt beteiligten Forschenden. Die Anwendung dieses Kriteriums führt zu einer mehrdimensionalen und intersubjektiven Perspektive bei der Erschließung eines Forschungsgegenstands und sollte deshalb künftig in der Forschungsarbeit mehr Beachtung finden. Im Hinblick auf weiterführende Recherchen stellt die Darlegung von Veränderungsprozessen bei subjektorientierten Vorgehensweisen in partizipativen Forschungs- projekten ein Desiderat dar, dem im Rahmen eines Dissertationsprojekts nachgegangen wird. Literatur Bergold, J./Thomas, S., 2010: Partizipative Forschung. Buchner, T./Koenig, O., 2011: Von der Ausgrenzung zur In: Mey, G./Mruck, K. (Hg.): Handbuch Qualitative Inklusion: Entwicklung, Stand und Perspektiven Forschung in der Psychologie. Wiesbaden: 333-344 gemeinsamen Forschens. In:: DIFGB: Forschungsfalle Bergold, J./Thomas, S., 2012: Partizipative Forschungs- Methode? Partizipative Forschung im Diskurs. Mate- methoden: Ein methodischer Ansatz in Bewegung. rialien der DIFGB, Band 1. 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Dem partizipativen Forschungsparadigma liegt die normative Annahme zu Grunde, dass die Partizipation derer, deren Lebens- oder Ar- beitswelt von der Forschung betroffen sind, entscheidendes und leitendes Prinzip für alle Bereiche und Schritte im Forschungsprozess sein soll. Die Beteiligung und das Einbeziehen aller Stimmen ist damit ein Ziel in sich selbst. Partizipative Forschung geht davon aus, dass »gute Forschung« auf einem gemeinsamen Verstehen der Welt beruht (vgl. International Collaboration for Participatory Health Research (ICPHR, 2013). In diesem Beitrag möchten wir ein Projekt untersuchen, das in der Lebenswelt des Pflegeheims angesiedelt ist und darauf abzielt, Partizipationsmöglichkeiten von Bewohner*innen, Pflege- und Betreuungskräften, Angehörigen und Ehrenamtlichen zu erforschen und zu verbessern. Es wurde mit dem Anspruch beantragt und durchgeführt, ein partizipatives Action-Research-Projekt zu sein. 2 Fragestellung Allerdings wurden während einer Präsentation erster Forschungsergebnisse im Rahmen eines trinationalen Workshops in Basel 2018 grundsätzliche Zweifel geäußert, ob es sich bei dem Projekt tatsächlich um partizipative Forschung handelt. So wurde kritisch hinterfragt, ob und inwiefern sich das Projekt von einer wissenschaftlich begleiteten sozialpädagogischen Interven- tion unterscheidet. Diese Bedenken zielen auf eine grundlegende Frage, der sich partizipativ angelegte Forschung immer wieder stellen muss: Was macht ein partizipatives Projekt zu einem partizipativen Forschungsprojekt? Zugespitzt geht es dabei um die Suche danach, was partizipative Forschung im Kern ausmacht und woran sie sich messen lassen muss. Die Auseinandersetzung mit solchen Zweifeln am Forschungscharakter von Projekten ist wichtig, da es hier auch um Fragen der Legitimität geht. Können und sollen solche Projekte aus Forschungsmitteln gefördert wer- den? Verdienen sie die Beachtung der scientific community? Wir werden uns im Folgenden mit dieser Kritik auseinandersetzen, indem wir das Projekt PaStA (Partizipation in der stationären Altenhilfe) einer detaillierten Reflexion unterziehen. 3 Action Research – eine Annäherung Partizipative Forschung ist ein Sammelbegriff für eine Reihe verschiedener Strömungen und Traditionen, die durchaus differenzierte Antworten darauf geben, warum sie sich als Forschung begreifen. Wir legen im Folgenden ein Verständnis von partizipativer Forschung zugrunde, das 105 Sonderheft 16 np von Köppen et al., Reflexion eines Action Research Projekts in der Action Research verortet ist. Allerdings ist auch dieser Begriff alles andere als eindeutig. Entsprechend finden sich in der Literatur Definitionen mit unterschiedlichen Akzenten. Eine weitverbreitete Beschreibung ist die von Reason und Bradbury: » […] action research is a partic- ipatory process concerned with developing practical knowing in the pursuit of worthwhile human purposes. It seeks to bring together action and reflection, theory and practice, in participation with others, in the pursuit of practical solutions to issues of pressing concern to people, and more generally the flourishing of individual persons and their communities« (Reason/Bradbury, 2008: 4). Es geht demzufolge in der Action Research darum, praktisches, alltagstaugliches Wissen zu produzieren, um das Leben der Menschen zu verbessern. Dies muss partizipativ und demokratisch geschehen, »ideally involving all stakeholders both in the questioning and sensemaking that informs the research« (Reason/Bradbury, 2008: 4). Kemmis, McTaggart und Nixon betonen zudem die Bedeutung einer kritischen Perspektive im Rahmen der Action Research: »participatory action research expresses a commitment to bring together broad social analysis, the self-reflexive collective self-study of practice, and transforma- tional action to improve things.« Ziel sei es, »to promote decolonization of lifeworlds that have become saturated with bureaucratic discourses, routinised practices and institutionalised forms of social relationships, the characteristic of social systems that see the world only through the prism of organisation, not the human and humane living of social lives« (Kemmis/McTaggart/ Nixon, 2014: 12). Die Reflexion von (Macht-)Beziehungen wird in der Action Research also zu einem wesentlichen Bestandteil. Argyris und Schon schließlich formulieren hinsichtlich von Entwicklungsprozessen in Organi- sationen: »Action Research takes its cues – its questions, puzzles, and problems – from the per- ceptions of practitioners within particular, local practice contexts. It bounds episodes of research according to the boundaries of the local context. It builds descriptions and theories within the practice context itself, and tests them there through intervention experiments […]« (Argyris/Schon, 1991: 86). Damit wird der Charakter von Action Research als lokale Forschung hervorgehoben, die durch Interventionen zu relevanten Erkenntnissen für den praktischen Kontext kommt. Da das hier zu untersuchende Forschungsprojekt im Pflegeheim angesiedelt ist, möchten wir abschließend noch eine Definition zitieren, die in Deutschland durch das Netzwerk Partizipative Gesundheitsforschung (PartNet) in einem partizipativen Prozess entwickelt wurde. Sie bezieht sich nicht explizit auf Action Research, sondern versucht die partizipative Gesundheitsforschung allgemein zu charakterisieren: »Partizipative Gesundheitsforschung ist ein wissenschaftlicher Ansatz, der die Durchführung von Forschung als eine Koproduktion verschiedener Akteur_innen versteht. Der Forschungspro- zess wird zwischen allen Beteiligten partnerschaftlich organisiert und kontinuierlich im Hinblick auf die Machtverhältnisse reflektiert. Am gesamten Forschungsprozess soll dabei eine maximale Mitgestaltung der Menschen erreicht werden, deren Lebensbereiche erforscht werden. Zu den Beteiligten gehören insbesondere die Menschen, deren Lebensbereiche erforscht werden und u.a. Fachkräfte und Entscheidungsträger_innen des Gesundheits-, Sozial- oder Bildungswesens, Vertreter_innen der Zivilgesellschaft und Wissenschaftler_innen. Ziel der PGF ist es, neue Erkenntnisse zu gewinnen und Veränderungen anzustoßen, die zur Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen beitragen und gesundheitliche Chancengleichheit stärken« (Netzwerk Partizipative Gesundheitsforschung [PartNet], 2015). Analysiert man nun diese unterschiedlichen Definitionen, dann werden drei Eckpunkte der partizipativen Action Research deutlich. Action Research will durch eine Koproduktion von akademischen und lebensweltlichen Expert*innen – eine kritische Reflexivität der Beteiligten fördern, insbesondere bezogen auf die Wahrneh- mung von Machtverhältnissen; 106 Sonderheft 16 np von Köppen et al., Reflexion eines Action Research Projekts – neue Erkenntnisse generieren, die für den lokalen Kontext relevant sind; – die Transformation der Lebensumstände erreichen, d.h., neben neuen Erkenntnissen sollen auch Veränderungen angestrebt werden. Kritische Reflexivität1 bedeutet dabei »eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie Macht und Machtlosigkeit den Alltag der Menschen beeinflussen, deren Leben oder Arbeit im Mittelpunkt der Forschung stehen« (Wright, 2013: 126). Es geht darum, ein kritisches Bewusstsein im Sinne Paulo Freires zu schaffen (vgl. Freire, 1996). Wie konkret doing reflexivity dabei gestaltet werden kann, ist eine Frage, die immer wieder neu beantwortet werden muss und von den Beteiligten und dem Kontext abhängt (für Beispiele vgl. Arvay, 2003; Aragón/Macedo, 2015: 686-687; Loi- gnon et al., 2014). Neben Reflexivität will Action Research – so wie jede Forschung – Erkenntnisse generieren. Aber was verstehen wir unter Erkenntnis in der partizipativen Forschung? Das partizipative Paradigma vertritt die Perspektive, dass Wissen nicht nur aus rational-wissenschaftlichen Er- kenntnissen besteht, sondern dass auch situatives, lokales, narratives und/oder emotionales Wissen erkenntnistheoretisch relevant ist (vgl. Behrisch/Wright, 2018). Ein solch weiter Wissensbegriff hat mehrere Konsequenzen: Für den Erkenntnisprozess folgt daraus, dass es nicht reicht, die un- terschiedlichen Fragestellungen, Bearbeitungsweisen und Erkenntnisinteressen von Wissenschaft und Lebenswelt einfach summarisch zu addieren, sondern dass es vielmehr darum geht »einen gemeinsamen Erkenntnisprozess hin zu strukturiertem, empirisch gestütztem, kollektiv erarbei- tetem und neuem Wissen« (Behrisch/Wright, 2018: 313) anzuregen. Das wiederum erfordert eine gleichberechtigte Zusammenarbeit von akademischen und lebensweltlichen Expert*innen, die zumindest teilweise deutlich von den typischen Forschungsbeziehungen im quantitativen oder qualitativen Paradigma abweicht (Herr und Anderson geben einen Überblick über die verschie- denen Verhältnisse, in denen akademisch und lebensweltliche Expert*innen stehen können, vgl. Herr/Anderson, 2015: 40-41). Schließlich ist der erweiterte Wissensbegriff auch Ausdruck der »doppelten Zielsetzung« partizipativer Forschung, in der nicht nur »knowledge for understan- ding«, sondern auch »knowledge for action« (vgl. von Unger, 2014: 46) generiert werden soll, also auch Wissen, das zur Bewältigung in der Lebenswelt vorhandener Probleme beiträgt. Damit ist das letzte Element des Wesenskerns von Action Research angesprochen: Transfor- mation. Bereits diese Begriffswahl zeigt, dass partizipative Forschung normativ stark aufgeladen ist, sie strebt eine bessere Welt an: »Its philosophy is founded on principles of peace, justice and equality, a profound belief in the worth of everyone and the sanctity of the natural world« (Ledwith/Springett, 2010: 13). Idealerweise verläuft die Transformation dabei zirkulär oder spi- ralförmig, wie es das Modell des Action Research Cycle nahelegt (vgl. von Unger, 2014: 59-60). Wichtig ist es, kritische Reflexivität, Erkenntnis und Transformation dabei nicht als unabhän- gig voneinander zu betrachten. Vielmehr sind sie eng miteinander verbunden, erst zusammen spannen sie ein Feld auf, das die Koproduktion kennzeichnet. So ist kritische Reflexivität Teil und Vorbedingung von Veränderung und gleichzeitig ein Instrument zur Erkenntnisgewinnung. Die Transformation von Lebensverhältnissen ihrerseits ermöglicht Erkenntnisse, die wiederum zu einem kritischen Bewusstsein für Machtprozesse führen. »It is the continual cycling of action and reflection through critical questioning that forms the basis of transformation and praxis. This interweaving produces a fabric of critical knowledge and thoughtful action« (Ledwith/Springett, 2010: 151). Reflexivität, Erkenntnis und Transformation sind also nicht nur Ergebnismerkmale, sondern auch Charakteristika des koproduktiven Prozesses von akademischen und lebens- weltlichen Expert*innen. Bradbury und Reason stellen fest: »Since action research starts with 1 Wir verstehen die Begriffe »Reflexion« und »Reflexivität« derart, dass Reflexion den Prozess beschreibt, mit dem das Ziel einer kritischen Bewusstwerdung, Reflexivität erreicht werden soll. 107 Sonderheft 16 np von Köppen et al., Reflexion eines Action Research Projekts everyday experience and is concerned with the development of living knowledge, the process of inquiry can be as important as specific outcomes. Good action research emerges over time in a an evolutionary and developmental process, as individuals develop skills of inquiry and as communities of inquiry develop within communities of practice« (Reason/Bradbury, 2008: 5). Abb. 1: Eckpunkte einer partizipativen Action Research 4 Das Projekt PaStA Im Folgenden möchten wir untersuchen, inwieweit das Projekt PaStA diesen Ansprüchen par- tizipativer Action-Research-Forschung gerecht wird. Dazu werden wir den Forschungsprozess detailliert anhand der einzelnen Forschungsschritte (Zugang finden, ein gemeinsames Problem- verständnis herstellen, Daten erheben, Daten auswerten, Ergebnisse darstellen; vgl. Bergold/ Thomas, 2010: 341) erörtern. Es ist dabei wichtig zu beachten, dass diese Schritte ineinander- greifen, ohne eine strikte zeitliche Abfolge zu behaupten. Sie sind vielmehr eng miteinander verzahnt und verlangen ein iteratives Hin- und Herpendeln. Basis für den Forschungsprozess ist der »sichere Raum«. Damit ist gemeint, dass partizipative Forschung nur denkbar ist, wenn sich die Beteiligten vertrauensvoll und geschützt begegnen können. Seine Herstellung ist eine fortlaufende Aufgabe, die ein immer neues Engagement aller Beteiligten erfordert und von dem alle anderen Schritte abhängen (vgl. Bergold/Thomas, 2012: 12-16). Diese Reflexion des Forschungsprozesses wird es den Leser*innen ermöglichen, die Frage zu beantworten, ob und inwiefern im PaStA-Projekt den Ansprüchen der kritischen Reflexivität gegenüber Machtverhältnissen, der Koproduktion von Wissen und der Transformation bzw. der Veränderung der bestehenden Verhältnisse Rechnung getragen wurde. 4.1 Informationen zum Projekt Das Projekt PaStA (Partizipation in der stationären Altenhilfe) will den Spielraum für Teilhabe im Pflegeheim erforschen. Verlagert sich der Lebensmittelpunkt in ein Pflegeheim, befürchten viele Menschen, ihre Selbstbestimmung aufgeben zu müssen. Die meisten wünschen sich zwar, Möglichkeiten der Teilhabe zu bewahren und ihren Alltag weiterhin mitzubestimmen und 108 Sonderheft 16 np von Köppen et al., Reflexion eines Action Research Projekts mitzugestalten.2 Tatsächlich gibt es aber in der stationären Altenhilfe Faktoren, die genau diese Möglichkeiten beschränken, z.B. institutionelle Strukturen, gesundheitliche Einschränkungen, ökonomische Zwänge und/oder personelle Rahmenbedingungen. PaStA will mit den betroffe- nen Menschen Partizipationsmöglichkeiten ausloten und erweitern. Dazu werden in drei Pfle- geheimen in Fulda ergebnisoffene Gruppenprojekte mit interessierten Bewohner*innen und teilweise mit Pflege- und Betreuungspersonal, Angehörigen sowie Ehrenamtlichen entwickelt und durchgeführt. Da das Projekt noch nicht abgeschlossen ist, können an dieser Stelle noch keine übergreifenden Ergebnisse formuliert werden. Die folgenden Ausführungen beziehen sich allein auf den Forschungsprozess im ersten Pflegeheim. Diese Einrichtung ist ein innerstädtisch gelegenes Haus in privater Trägerschaft. Es umfasst einen stationären Sektor mit 15 Hausge- meinschaften, in denen jeweils zehn bis zwölf Bewohner*innen leben. Ebenfalls sind dort eine Tagespflege sowie ein Aufnahme- und Kurzzeitpflegezentrum untergebracht. Tab. 1: Strukturdaten Projekt PaStA Titel PaStA (Partizipation in der stationären Altenhilfe) Lebensqualität durch soziale Teilhabe an der Alltagsgestaltung in der stationären Pflege. Entwicklung und Erprobung von partizipativen Gruppenprozessen mit Pflegeheimbewohner*innen, Angehörigen und freiwillig Engagierten Akademisches Projektleitung: Prof. Dr. Susanne Kümpers; Prof. Dr. Daphne Hahn. Team Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen: Marilena v. Köppen (M.Sc.), Dr. Yvonne Rubin (bis 12/2017), Elisa Gärtner (B.Sc.; bis 10/2018). Alle Hochschule Fulda. Praxispartner Insgesamt drei Pflegeheime in Fulda mit unterschiedlicher Trägerschaft, Konzeption, Bewohnendenzahl und Stadtlage. Finanzierung Bundesministerium für Bildung und Forschung Förderlinie SILQUA-FH 2016 Dauer 01/2017 – 12/2020 4.2 Zugang Eine wichtige Voraussetzung für partizipative Projekte ist es, Zugang zur Lebenswelt der Menschen, mit denen man forschen will, zu finden. Oftmals stellt sich dies als äußerst schwierig dar. Auch im PaStA-Projekt gestaltete sich der Feldzugang im ersten Pflegeheim herausfor- dernd. Die ursprüngliche Idee, ein bis zwei Hausgemeinschaften als Ganzes für das Projekt zu gewinnen und jeweils mit allen dort Wohnenden und Arbeitenden zu forschen, ließ sich nicht umsetzen. Zwar waren viele Bewohner*innen gerne bereit, mit uns ins Gespräch zu kommen, der Vorschlag aber, bei einem Forschungsvorhaben mitzuwirken, war für die meisten nicht attraktiv. Die Einladung, sich längerfristig aktiv an einem Prozess zu beteiligen, wurde nicht angenommen. Eine Ausnahme bildete die zu diesem Zeitpunkt neu gewählte Vorsitzende des 2 In einer Studie des Instituts für Qualitätskennzeichnung von Dienstleistungen gaben 75 Prozent der Befragten (n=805 plus 20.597 aus einer Sekundäranalyse) als Kriterium für die Auswahl einer Einrichtung das Item an: »Wie sehr man dort Rücksicht auf die Wünsche und Gewohnheiten der Bewohner nimmt« (Institut für Qualitätskennzeichnung von Dienstleistungen, IQD, 2011: 12). Allerdings bestätigten nur 32 Prozent der Befragten, dass diesem Bedürfnis nach Berücksichtigung ihrer Gewohnheiten tatsächlich entsprochen wird (Institut für Qualitätskennzeichnung von Dienstleistungen, IQD, 2011: 19-21). 109 Sonderheft 16 np von Köppen et al., Reflexion eines Action Research Projekts Einrichtungsbeirats3. Sie war persönlich motiviert, im Pflegeheim etwas zu bewegen, und zeigte großes Interesse an dem Projekt. Nach einem ersten Gespräch zwischen ihr und den akademisch Forschenden übernahm sie schnell die Initiative, die anderen Mitglieder des Einrichtungsbeirats für ein erstes Projekttreffen zu gewinnen. Die Einrichtungsbeiratsvorsitzende fungierte hier also als Gatekeeperin. Im weiteren Verlauf konnte schließlich ein hausgemeinschaftsübergreifendes Projektteam gebildet werden, das aus den Mitgliedern des Einrichtungsbeirats, zwei weiteren interessierten Bewohnerinnen, zwei Betreuungsassistentinnen, einer Ehrenamtlichen und den akademisch Forschenden bestand. Analyse – Kritische Reflexivität: Fragen des Zugangs sind in der partizipativen Forschung sehr sensibel, weil sie über Partizipationsmöglichkeiten entscheiden. Die oben beschriebene Art und Weise, wie der Zugang gestaltet wurde, zeigt ein grundsätzliches Problem partizipativer Projekte, das man als Partizipationsdilemma bezeichnen kann: Das Projekt erreichte letztlich vor allem diejenigen, die sowieso in der Lage sind, mitzugestalten (hier verkörpert durch die Mitglied- schaft im Einrichtungsbeirat). Zwar wurde bereits im ersten Treffen des Projektteams von der Beiratsvorsitzenden kritisch die Frage gestellt, ob und wie man z.B. demenzerkrankte Bewohner*innen einbeziehen kann, allerdings geschah dies unter der Devise »die Stärkeren sorgen für die Schwächeren« (z.B. durch Patenschaften). Dieses eher paternalistische Rol- lenverständnis wurde im weiteren Verlauf jedoch nicht reflektiert. – Erkenntnis: Das Wissen, welche der Bewohner*innen sich am dem Projekt beteiligen könnten und wie man sie motivieren könnte, wird eindeutig durch die lebensweltlichen Projektpartner*innen eingebracht. Ihr situatives, lokales und handlungsbezogenes Wissen über die Lebenswelt im Heim verbindet sich mit dem methodischen Wissen der akademisch Forschenden. Ohne diese Verbindung wäre es nicht oder nur sehr schwer gelungen, ein Pro- jektteam zu gründen. – Transformation: Die Einladung der Einrichtungsbeiratsmitglieder und weiterer interessierter Bewohner*innen zu einem Treffen mit den akademisch Forschenden zeigt, dass traditionelle hierarchische Strukturen im Pflegeheim aufgebrochen werden können. Die Einrichtungsbei- ratsvorsitzende ist aus eigenem Antrieb tätig geworden und hat nicht erst eine Zustimmung der Heimleitung eingeholt. Sie hat damit die Rolle des Einrichtungsbeirats als eigenständiger, durch die Wahl demokratisch legitimierter Akteur gestärkt. Die Teilnehmenden sind in diesem Kontext nicht Kund*innen oder »Insass*innen«, sondern Bürger*innen. 4.3 Problemverständnis Ein weiterer wichtiger Schritt im Forschungsprozess ist es, mit allen Beteiligten ein Problem- verständnis der Situation vor Ort zu entwickeln. Seitens der akademisch Forschenden bestand das Interesse darin, mehr über Partizipationsmöglichkeiten und -prozesse im Pflegeheim zu erfahren. Dies bildete den übergeordneten Rahmen für das Projekt. Innerhalb dieses Rahmens wollten wir den Prozess aber so offen wie möglich halten und zusammen erarbeiten, welche Themen für wen und warum relevant sind. Diese Offenheit erzeugte im Projektteam eine ge- 3 Das Mitwirkungsrecht von Bewohnerinnen und Bewohnern ist in § 5 Abs. 1 HGBP (Hessisches Gesetz über Betreuungs- und Pflegeleistungen) geregelt: »Die Betreuungs- und Pflegebedürftigen in Einrichtungen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. d haben das Recht, durch einen zu wählenden Einrichtungsbeirat oder in anderer Form in Angelegenheiten des Einrichtungsbetriebs, wie Qualitätssicherung, Unterkunft, Betreuung, Aufenthaltsbedingungen, Einrichtungs- ordnung, Verpflegung und Freizeitgestaltung, mitzuwirken.« 110 Sonderheft 16 np von Köppen et al., Reflexion eines Action Research Projekts wisse Spannung: Immer wieder stellten die lebensweltlich Forschenden die Frage, was wir (die akademisch Forschenden) denn erwarten würden. Es zeigte sich, dass die Begriffe »Mitgestal- tung« und »Mitbestimmung« an sich zu abstrakt waren, um anschlussfähig zu sein. Es gelang jedoch, mehrere konkrete Situationen von Mitbestimmung zu erarbeiten: So wurde die Frage, wann Bewohner*innen abends ins Bett gehen (müssen) – insbesondere, wenn sie auf Hilfe durch Pflegekräfte angewiesen sind –, bzw. welche Rechte Bewohner*innen gegenüber den Betreuungsassistent*innen haben – z.B. auf individuelle Betreuung – kritisch diskutiert. Als zentrales Anliegen identifizierte das Projektteam jedoch ein drittes Thema, nämlich das Prob- lem nicht ausreichender Kontakte: Das Leben in Hausgemeinschaften kann dazu führen, dass Bewohner*innen einsam werden, z.B. weil sie keinen Anschluss in ihrer eigenen Wohngruppe finden. Obwohl es zentrale Angebote der Betreuungsassistent*innen für alle Bewohner*innen gibt, entstehen wenige (nicht organisierte) Kontakte über die Grenzen einer Hausgemeinschaft hinweg. Wie die lebensweltlichen Expert*innen berichteten, ist es nicht üblich, einfach eine an- dere Hausgemeinschaft zu betreten. In der Folge haben gerade die »Fitten« (damit bezeichnen die lebensweltlichen Expert*innen Bewohner*innen, die kognitiv nicht eingeschränkt sind und körperliche Einschränkungen kompensieren können, z.B. durch einen E-Rolli) Schwierigkeiten, außerhalb von Beschäftigungsangeboten Bekannt- und Freundschaften zu finden. Analyse – Kritische Reflexivität: Sowohl die Frage, wer darüber entscheidet, wann Bewohner*innen abends zu Bett gehen, als auch die, welche Mitbestimmungsrechte gegenüber den Betreuungs- assistent*innen bestehen, rührt an den im Pflegeheim vorhandenen Machtverhältnissen. Sie wurden im Laufe des Projekts auch wiederholt kontrovers diskutiert. Allerdings gingen die Bewohner*innen nicht so weit, dieses Thema als Gegenstand für ein Projekt zu wählen. Sie entschieden sich vielmehr für eine Frage, die aus Machtgesichtspunkten unproblematischer erscheint: der Mangel an Kontakten über die Hausgemeinschaften hinweg. Gründe hierfür lassen sich erkennen, wenn man eine Analyse der Diskussion um das Zubettgehen vornimmt. Es zeigt sich dabei deutlich, dass die Bewohner*innen ihre Interessen und ihre Kritik immer wieder relativieren, indem sie gleichzeitig aus der Perspektive der Institution Pflegeheim die Grenzen der Machbarkeit betrachten. Bei der Formulierung ihrer Mitbestimmungsbedürfnisse und -rechte denken sie institutionelle Hindernisse (z.B. den Mangel an Personal) gleich mit. Bevor es also zu einer expliziten Formulierung eines Anspruchs kommt, werden die eigenen Anliegen eingehegt. Eine Bewusstwerdung solcher »Denkverbote« hat sich im Laufe des Projekts nur langsam und punktuell entwickelt. – Erkenntnis: Im Rahmen der Gruppendiskussionen gelang es, das Verständnis von Partizipation und Mitgestaltung zu schärfen und differenziert zu betrachten. Hierbei kam es insbesondere auch auf Seiten der akademisch Forschenden zu Lernprozessen. Unsere Vorstellung bzw. Erwartung, mit der wir in das Projekt gestartet waren, bestand darin, dass Partizipations- möglichkeiten in Institutionen gefährdet seien und daher gegen jemanden (im Zweifel die Institution) durchgesetzt werden müssten (z.B. das Recht, abends länger aufbleiben zu kön- nen). Die lebensweltlichen Expert*innen brachten hingegen eine andere Perspektive in das Projekt ein. Es ging ihnen mehr darum, Partizipation miteinander zu verwirklichen. Teilhabe geschieht für sie nicht nur durch die Durchsetzung von (An-)Rechten, sondern zentral auch durch die Möglichkeit, persönlich relevante Beziehungen zu leben. »Miteinander in Kontakt kommen« wurde zum Motto des Projekts. – Transformation/Change: Der Wunsch, der in dieser Phase formuliert wurde, etwas an den bestehenden Kontaktbarrieren zu ändern und sie zu überwinden, bewies insofern transfor- mativen Charakter, als dass diese Projektidee die nötige Attraktivität besaß, um zu einem 111 Sonderheft 16 np von Köppen et al., Reflexion eines Action Research Projekts fast einjährigen Projektverlauf zu motivieren. Das Projektteam wuchs durch die Entwicklung eines gemeinsamen Problemverständnisses als Team zusammen. Ein Miteinander wurde auf dieser Ebene erreicht, insbesondere zusammen mit den beiden beteiligten Betreuungskräften und der Ehrenamtlichen. 4.4 Datenerhebung und Datenauswertung Die Datenerhebung und -auswertung sind zentrale Elemente des Forschungsprozesses. Sie setzen die Wahl und Anpassung einer geeigneten Methode voraus. Im PaStA-Projekt entschied sich das Projektteam weder für eine klassische qualitative oder quantitative Forschungsmethode, (z.B. Befragung oder Interview) noch für eine typische partizipative (z.B. Photovoice oder Storytelling). Vielmehr wurde als Projektidee entwickelt, »Reisen« innerhalb der Einrichtung anzubieten, deren Ziel es sein sollte, die Grenzen zwischen den Hausgemeinschaften zu überwinden. Dazu lud der Einrichtungsbeirat Bewohner*innen ein, gemeinsam als Gruppe jeweils zwei Hausgemeinschaften zu besuchen (zu »bereisen«), um dabei Neues kennenzulernen und miteinander in Kontakt zu kommen. Dabei wurden auch Betreuungsassistent*innen einbezogen, die bei der Organisation und Durchführung halfen. Die Reisen wurden von der akademisch Forschenden dokumentiert, die im Anschluss jeweils ausführliche Beobachtungsprotokolle verfasste. In den begleitenden Projekttreffen wurden sowohl praktische Fragen in Zusammenhang mit den Reisen diskutiert als auch das eigene Erleben der Aktivität und ihre Wirkungen thematisiert. Analyse – Erkenntnis: Bei der Frage, welches Wissen durch die Reisen produziert wurde, spiegelt sich die Unterschiedlichkeit der Ziele von akademischen und lebensweltlichen Expert*innen wider: Die akademisch Forschenden sammelten Daten darüber, wie die Mitglieder des Einrichtungsbeirats ihre Teilhabemöglichkeiten ergreifen und nutzen, welche Unterstützung sie dabei brauchen und auf welche Widerstände sie stoßen. Diese Erkenntnisse wurden zusammen mit dem Beirat und abschließend auch mit allen anderen Projektbeteiligten (Heimleitung, Betreuungskräfte, akade- misches Team) kommunikativ validiert. Die lebensweltlichen Expert*innen interessierten sich vor allem für Daten, die ihnen Hinweise für die Handlungsebene geben, z.B. Einschätzungen, wie die Reisen bei den Heimbewohner*innen ankamen, wie die Abläufe funktioniert haben oder wie viele Bewohner*innen teilgenommen haben. Dabei wurde die Durchführung der Reisen immer mehr zu einem Ziel an sich. Eine gemeinsame Auswertung fand in Form einer teilstrukturierten Reflexion statt. Die akademisch Forschende hatte dazu für jedes Mitglied des Projektteams ein kleines Album erstellt, in dem in Wort und Bild die Geschichte des Rei- seprojekts dargestellt wurde. Dies ermöglichte es, den Prozess Revue passieren zu lassen und zusammen zu kommentieren. Zwei Mitglieder des Einrichtungsbeirats verfassten zudem kurze Texte aus ihrer persönlichen Perspektive. – Kritische Reflexivität und Transformation: Der oben geschilderte Prozess der Planung und Durchführung der Reisen bewirkte insgesamt eine deutliche Stärkung der Rolle des Einrichtungsbeirats. Am deutlichsten lassen sich die Veränderungen in dem Verhältnis von Betreuungsassistent*innen und Einrichtungsbeirat beobachten. Es kam hier zu einem Rollentausch, denn üblicherweise werden Veranstaltungen von den Betreuungskräften allein organisiert. Eine Beteiligung der Bewohner*innen auf der Planungsebene ist nicht vorgesehen. Diese haben nur insofern eine Entscheidungsmöglichkeit, als ihnen freigestellt ist, an der Aktivität teilzunehmen oder nicht. Bei den Reisen hingegen waren nicht die Be- treuungskräfte die Veranstalter*innen, sondern der Einrichtungsbeirat. Die Betreuungskräfte assistierten nur (z.B. beim Rollstuhlschieben). Dieser Rollentausch führte zu einem starken 112 Sonderheft 16 np von Köppen et al., Reflexion eines Action Research Projekts Selbstwirksamkeitserleben seitens der Beiratsmitglieder. Bemerkenswert war dabei, dass die dritte Reise (die Betreuungsassistent*innen waren erkrankt, die akademisch Forschende falsch informiert) vom Einrichtungsbeirat vollständig allein durchgeführt wurde. 4.5 Darstellung der Ergebnisse Bei der Darstellung der Ergebnisse zeigen sich einmal mehr Unterschiede in der Zielsetzung von lebensweltlichen und akademischen Expert*innen. Das Projekt endete mit einem Reise-Café: einem Nachmittag, zu dem alle mitreisenden Bewohner*innen noch einmal eingeladen wurden. Er stand außerdem unter dem Motto, weitere Kontakte zu ermöglichen und ggf. zu vertiefen. Ein Ergebnis dieses Treffens war, dass sich die Bewohner*innen auch zukünftig Reisen wünsch- ten. Außerdem wurde eine Abschlussveranstaltung mit allen Projektteamteilnehmenden, der Heimleitung und dem akademischen Forscherteam veranstaltet. Hier wurde der Projektverlauf im Rahmen einer kurzen Präsentation dargestellt, durch persönliche Statements von allen An- wesenden kommentiert und in einem moderierten Erfahrungsaustausch reflektiert. Vonseiten der akademisch Forschenden war darüber hinaus ursprünglich noch geplant, mit dem Projektteam eine Handreichung zu entwickeln, wie Partizipation und Teilhabe im Pflegeheim gestärkt werden können. Die lebensweltlichen Expert*innen zeigten daran jedoch kein Interesse und auch wir hatten Zweifel, inwiefern die gemachten Erfahrungen sinnvoll generalisiert werden könnten. Dennoch lässt sich das Datenmaterial unter den verschiedensten Gesichtspunkten mit großem Erkenntnisgewinn auswerten. Neben der Sichtbarmachung des Projekts im Pflegeheim selbst wird daher auch eine Veröffentlichung der Ergebnisse innerhalb der scientific community stattfinden. Analyse – Erkenntnis und kritische Reflexivität: Die unterschiedlichen Formate, in denen die Ergebnisse des Projekts dargestellt werden, versuchen den diversen Erkenntnisinteressen der akademi- schen und lebensweltlichen Expert*innen gerecht zu werden. Dies muss jedoch auch unter Machtgesichtspunkten analysiert werden. Es stellt sich die Frage, wem das Projekt gehört (ownership) und wer über die Erkenntnisse verfügen kann. Die akademisch Forschenden haben und werden auch in Zukunft Erkenntnisse im wissenschaftlichen Kontext veröffent- lichen. Nur zum Teil sind diese Erkenntnisse mit den lebensweltlichen Expert*innen rück- gekoppelt. Eine Vertreterin des Einrichtungsbeirats fragte bei der Abschlussveranstaltung sehr genau nach, wie die akademisch Forschenden die Erkenntnisse verwenden würden. Es besteht also ein Bewusstsein dafür, dass auch über den eigenen lokalen Kontext hinaus Erkenntnisse verwendet werden. Die damit verbundene Infragestellung des partizipativen Prinzips macht ein Dilemma deutlich: In dieser konkreten Situation in der Forschung mit Menschen im Pflegeheim war eine gemeinsame Publikation nicht zu realisieren. Wir hätten also entweder auf wissenschaftliche Publikationen verzichten müssen oder wir konnten die lebensweltlichen Expert*innen um ihr Vertrauen bitten, dass wir bei der Veröffentlichung ihre Interessen und ihre Integrität nicht verletzten würden. Damit wird die Frage, ob akademisch Forschende Erkenntnisse aus Forschungsprozessen eigenständig publizieren dürfen, zu einer ethischen. Eine einfache pauschale Antwort gibt es hierauf nicht. – Transformation und kritische Reflexivität: Im Rahmen des Projekts kam es zu Verände- rungen auf unterschiedlichen Ebenen. Der Anlass für das Projektteam, die Reisen durch- zuführen, nämlich den Kontakt zwischen Bewohner*innen hausgemeinschaftsübergreifend zu verbessern, trat gegen Ende des Projekts eher in den Hintergrund. Der Prozess an sich wurde viel wichtiger als sein eigentliches Ergebnis. Damit wird auch die Reichweite deutlich: 113 Sonderheft 16 np von Köppen et al., Reflexion eines Action Research Projekts PaStA war für die Menschen innerhalb des Projektteams eine eindrückliche Erfahrung. Ihre Partizipationsmöglichkeiten wurden gestärkt. Darüber, ob und inwieweit die mitgereisten Bewohner*innen profitiert haben, haben wir jedoch nur vereinzelte Daten. Dies verschärft sicherlich die oben unter dem Stichwort Partizipationsdilemma geübte Kritik. Aus Sicht der Projektteilnehmenden bestand ein sehr wichtiges Ergebnis darin, dass sowohl die Heimleitung als auch die Betreuungskräfte den Einrichtungsbeirat durch das Projekt mit neuen Augen sehen. Die Beiratsmitglieder wurden beim Abschlusstreffen explizit als Partner*innen und als Ressource bezeichnet. Das macht deutlich, dass das Bild, das die Betreuungskräfte und die Leitung von den Bewohner*innen hatten, zumindest ein wenig in Bewegung gebracht wer- den konnte. Ausdruck dafür ist auch, dass alle (Projektteilnehmende, Heimleitung, akademisch Forschende) bei der Abschlussrunde gleichberechtigt an einem Tisch saßen und gerade die Heimleitung sehr bewusst die Rolle der Zuhörenden eingenommen hat. Über den langfristigen Impact des Projekts können wir nur spekulieren. Nach Ende unserer aktiven Anwesenheit haben die Betreuungskräfte zusammen mit dem Heimbeirat eine Olym- piade mit Spielen im Pflegeheim durchgeführt. Das zeigt, dass der Konsens, dass diese Form der Kooperation aufrechterhalten werden sollte und ausbaufähig ist, auch zu konkreten Projekten führt. Andererseits ist ein Mitglied des Einrichtungsbeirats inzwischen verstorben, bei anderen hat sich der gesundheitliche Zustand verschlechtert. Das zeigt, dass für das Gelingen von Projekten wie PaStA eine günstige Konstellation aus mehreren förderlichen Faktoren Voraussetzung ist: Es braucht insbesondere Menschen, deren körperliche und kognitive Gesundheit eine Beteiligung möglich macht, die das Interesse haben, sich auf einen längeren Prozess einzulassen und die ein gewisses »utopisches Potenzial« mitbringen, also die Fähigkeit, jenseits der üblichen Wege Ideen zu entwickeln. Aber auch die institutionellen Rahmenbedingungen müssen stimmen: Unter- schiedliche Leitungsstile, hierarchische Strukturen sowie bestehende Konflikte im Haus spielen eine wichtige Rolle. So entstehen oder fehlen windows of opportunity, die über den Erfolg des partizipativen Projekts mitbestimmen. 5 Fazit: Ist das partizipative Forschung? Wir haben eingangs formuliert, dass partizipative Forschung und insbesondere Action Research durch die Koproduktion von lebensweltlichen und akademischen Expert*innen im Spannungsfeld von kritischer Reflexivität, Erkenntnis und Transformation gekennzeichnet ist. Ist es im Projekt PaStA nun zu einer solchen reflexiven, erkenntnisreichen und transformativen Koproduktion gekommen? Die vorgenommene Reflexion des Forschungsprozesses legt ein differenziertes Bild nahe. Bezogen auf den Aspekt der kritischen Reflexivität zeigt sich, dass Anlässe für Reflexionen nicht immer konsequent aufgegriffen wurden. Das Verhältnis der »Fitten« (s.o.) zu den »Demenzkran- ken« (hiermit bezeichnen die lebensweltlichen Expert*innen andere Bewohner*innen, denen sie kognitive Einschränkungen unterstellen) und damit verbundene Exklusivität und Exklusion sind nur ansatzweise ausgeleuchtet worden. Eventuell hätten die akademisch Forschenden, die hierin durchaus einen Reflexionsbedarf sahen, auf eine gemeinsame Reflexion drängen sollen. Allerdings bestand eine gewisse Angst davor, dass eine solche Thematisierung als moralischer Zeigefinger missverstanden würde. Rückblickend ist hier aber eine Chance zum Austausch un- genutzt gelassen worden. Das berührt im Übrigen nicht nur die Reflexivität der lebensweltlichen Expert*innen, sondern auch der akademisch Forschenden: Eine gemeinsame Erörterung hätte vielleicht vorschnell idealisierende Vorstellungen von einer möglichst weitreichenden Inklusion im Pflegeheim aufbrechen und Widersprüche sichtbar machen können. 114 Sonderheft 16 np von Köppen et al., Reflexion eines Action Research Projekts Andere Themen von Partizipation und Selbstbestimmung (z.B. das Thema des Zubettgehens oder das Verhältnis und die Rechte gegenüber Betreuungskräften) sind hingegen immer wieder Gegenstand gemeinsamer Diskussion geworden. Dabei ließ sich auch beobachten, dass Refle- xionsprozesse nicht nur im Rahmen der Teamtreffen und in der Gruppe stattfanden, sondern dass es auch zu Reflexion »zwischen Tür und Angel« kam, zum Beispiel, wenn nach Ende einer Sitzung die Diskussion noch fortgeführt wurde oder es zu Zweiergesprächen mit der akademisch Forschenden kam. Diese Entwicklungen, die sich nicht in aufgezeichnetem Datenmaterial wider- spiegeln, sind dennoch Ausdruck dafür, dass das Projektteam das Projekt mit einem kritischen Bewusstsein gestaltet hat. Hinsichtlich der Koproduktion von Wissen ist es sicherlich problematisch, dass die Projektpartner*innen, nachdem sie sich für das Thema Kontakte entschieden haben, keine explizite Forschungsfrage formuliert haben (z.B. »Warum besteht dieser Kontaktmangel? Wie wirkt er sich auf das Wohlbefinden aus? Was bedeutet Einsamkeit in Gemeinschaftseinrichtun- gen?«). Vielmehr haben sie ein Handlungsinteresse bekundet: »Wir sehen hier einen Missstand und wollen diesen überwinden: Was können wir tun?« An dieser Stelle setzt die Kritik an, die im Rahmen des trinationalen Workshops geäußert wurde. Handelt es sich bei PaStA nach der Entscheidung der lebensweltlichen Expert*innen für das Thema der Kontakte noch um partizi- pative Forschung? Oder handelt es sich nicht vielmehr um ein sozialpädagogisches Projekt, das von akademischen Forschenden wissenschaftlich begleitet wird? Eine Antwort sollte folgende Überlegungen berücksichtigen: Eine zentrale methodologische Entscheidung im PaStA-Projekt besteht darin, nach Offenheit im Forschungsprozess zu stre- ben. Um eine möglichst hohe Beteiligung aller zu ermöglichen und damit dem partizipativen Forschungsparadigma gerecht zu werden, ist das Projekt so angelegt, dass die Aushandlung der relevanten Themen und Ziele einen gemeinsamen Prozess darstellt. Die Stichworte Partizipa- tionsmöglichkeiten und Mitbestimmung waren immer nur als Rahmen gedacht, aber nicht als Vorab-Definition von Forschungsfragen und Forschungsdesign. Die Entscheidung der lebenswelt- lichen Projektpartner*innen dafür, das Erleben von relevanten Beziehungen und Kontakten in den Mittelpunkt zu rücken, ist somit nur eine konsequente Umsetzung dieses Gedankens. Man kann aber noch weitergehen: Nimmt man das Streben nach Offenheit ernst, dann muss damit auch die Akzeptanz einhergehen, dass sich die lebensweltlichen Projektpartner*innen nicht als Forschende begreifen und auch nicht primär die Beantwortung einer Fragestellung ins Zentrum ihrer Projektarbeit rücken, sondern sie sich vielmehr als aktiv Handelnde, die eine Verbesserung erreichen wollen, sehen. Der Begriff des Forschenden und des Forschens war für die lebenswelt- lichen Expert*innen als solcher nicht anschlussfähig, es bestand auch kein Interesse, etwas über einen strukturierten Forschungsprozess mit Problemdefinition, Datenerhebung und -auswertung zu lernen. Aber auch, wenn sie sich nicht als Forschungsteam bezeichnet haben, haben die le- bensweltlichen und akademischen Projektteilnehmenden gemeinsam Wissen produziert. Versteht man unter Wissen vor allem wissenschaftliches Wissen, dann ist das Fehlen einer gemeinsamen Fragestellung (es gab durchaus Fragestellungen der akademisch Forschenden) schwierig. Begreift man aber als Wissen, das bei partizipativen Projekten produziert wird, auch situatives, lokales, emotionales oder praktisches Wissen, dann hat das Projekt viele Erkenntnisse gebracht. Kann man also forschen, ohne explizit in die Rolle des Forschers zu schlüpfen? Wir möchten diese Frage mit Ja beantworten, ohne allerdings zuzudecken, dass sich hier ein Zielkonflikt zwischen Wissensproduktion, die von den akademisch Forschenden angestrebt wird, einerseits und dem Anschieben von Veränderungsprozessen, die für die lebensweltlichen Expert*innen zentral sind, andererseits abzeichnet. Das dritte Kernelement partizipativer Forschung ist das Ziel, eine Transformation der Le- benswelt zu bewirken. Die Reflexion hat gezeigt, dass durch das Projekt Veränderungen an- 115 Sonderheft 16 np von Köppen et al., Reflexion eines Action Research Projekts gestoßen wurden, insbesondere was das Verhältnis der Einrichtungsbeiratsmitglieder und der Betreuungsassistent*innen anbelangt. Der Wunsch hingegen, Partizipation durch lebendige, relevante Kontakte zwischen Bewohner*innen zu realisieren, hat sich zwar innerhalb des Projekt- teams verwirklicht, ob über die Begegnungen während der Reisen auch langfristige Beziehungen zwischen Bewohner*innen entstanden sind, bleibt hingegen unklar. Zieht man nun Bilanz, so lässt sich über den Prozess des PaStA-Projekts sagen, dass er durch- aus reflexiv, erkenntnisreich und transformativ war, allerdings in den Grenzen, die sich aus der Lebenswelt Pflegeheim ergeben haben. Dass es damit nur zu einer inkrementellen Verwirk- lichung der Ziele von Action Research kam, erscheint uns jedoch nicht als ein Manko: Wenn man die Forschung mit den und nicht über die Menschen ernst nimmt, dann muss man auch die Grenzen ernst nehmen, die sich aus und in der Lebenswelt dieser Menschen ergeben: Grenzen, die entstehen, weil Menschen mit ganz unterschiedlichen Biografien und damit auch ganz unter- schiedlichen Vorerfahrungen mit Partizipation beteiligt sind; weil die Situation des Am-Ende- des-Lebens-Seins eine besondere ist; weil institutionelle Zwänge und Zeitmangel freiwillige oder notgedrungene Anpassungsprozesse verlangen, und zwar von den Bewohner*innen und dem Personal gleichermaßen, usw. Wir können aber sagen: Innerhalb dieser Grenzen hat eine partnerschaftliche Forschung stattgefunden. Nur durch Koproduktion konnte die geschilderte Reflexivität, Erkenntnis und Transformation erreicht werden. Die Anteile der verschiedenen Projektpartner*innen im Verlauf des Projekts waren dabei zwar durchaus fluide, ambivalent und mannigfaltig – aber ist partizipative Forschung nicht immer »messy«? Literatur Aragón, A. O./Macedo, J. C. G., 2015: Radical Epistemo- Freire, P., 1970/1996: Pedagogy of the oppressed. London logy as Caffeine for Social Change. In: Bradbury, H. Herr, K./Anderson, G.-L., 2015: The action research dis- (Hg.): The Sage Handbook of action research. 3. Aufl., sertation. A guide for students and faculty. 2. Aufl., Los Angeles: 681-690 Los Angeles u.a. Argyris, C./Schon, D., 1991: Participatory action research Institut für Qualitätskennzeichnung von Dienstleistungen, and action science compared: A commentary. In: IQD (Hg.), 2011: Lebensqualität im Pflegeheim. Pfle- Whyte, W. F. (Hg.): Participatory action research. gen wir an der Biographie vorbei? Ergebnisse einer Newbury Park: 85-96 Repräsentativbefragung und einer Konsumanalyse, Arvay, M. 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Projektteilnehmer*innen – in weiterer Folge auch Co- Forscher*innen genannt – können durch Reflexion und Forschung ihre Ressourcen und Hand- lungsspielräume besser erkennen, die eigene Praxis verändern (Rahman, 2008: 51) und mit allen Projektpartner*innen für eine bessere und inklusive (Um-)Welt (»liberation«) eintreten (Reason/ Bradbury, 2008: 5). Gleichzeitig erlaubt das partizipative Handeln das gemeinsame Generieren von neuem Wissen. Es ist gerade diese Doppelrolle, die Aktionsforschung ausmacht: Aktions- forschung ist eine bestimmte Weise »of co-construction of knowledge and of transformation« (Hearne/Murphy, 2019: 16). In diesem Sinne versuchte das Aktionsforschungsprojekt PAGES (»Partizipation und Gesundheitskompetenz von AsylwerberInnen und anerkannten Flüchtlingen in Salzburg«1) zu agieren. Von März 2017 bis Februar 2019 lag das Ziel des interdisziplinären, fünfköpfigen Forschungsteams der Fachhochschule Salzburg (Studiengang Soziale Arbeit) und der ca. 20 Teilnehmer*innen des PAGES Projektes darin, die Teilhabechancen für Geflüchtete in Stadt und Land Salzburg gemeinsam zu erforschen und zu verbessern und damit einen Beitrag zu einem besseren subjektiven Gesundheits- und Wohlbefinden zu leisten. Auf Forschungsseite versuchten wir zu erklären, wie Partizipation und Wohlbefinden in Bezug auf die Zielgruppe zusammenwirken. Dabei dienten uns Antonovskys Salutogenesemodell (Antonovsky, 1997) und Honneths Anerkennungstheorie (1994) als theoretische Rahmung. Während der Arbeit am Projekt wurde dem Forschungsteam bewusst, dass der hohe moralische Anspruch dieser Art der Forschung auch die Gestaltung von Forschungsbeziehungen betrifft, will man nicht bestehende Machtungleichheiten zwischen den Forschenden als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft und den Co-Forscher*innen, den Geflüchteten – einer potenziell vulne- rablen und exkludierten gesellschaftlichen Gruppe –, reproduzieren. Im vorliegenden Artikel besprechen wir einen methodischen Teilaspekt, nämlich den der machtsensiblen Forschungsbe- ziehung zwischen Forscher*innen und Co-Forscher*innen und das Potenzial für die Generierung neuen Wissens, das in der Gestaltung dieser Beziehungen liegt. Das »Wir« im vorliegenden Artikel bezieht sich auf die drei Autor*innen, die zwei Jahre lang gemeinsam mit anderen Projektteilnehmer*innen Aktivitäten planten, durchführten, reflektierten und die Auswirkung auf die subjektive Gesundheit erforschten. Zwei davon sind Forscher*innen des Projekts: Heiko Berner, ein Bildungswissenschaftler, und Doris Rosenlechner-Urbanek, eine 1 Mehr Informationen zum Projekt und zum Projektteam finden sich auf der Webseite: http://www.pages-salzburg. at/ueber-uns/. Die Website wurde von den Projektteilnehmer*innen gestaltet, sowohl was das Design und die technische Umsetzung als auch die Inhalte (Erfahrungsberichte der Projektaktivitäten) anbelangt. Der Ergebnisbe- richt des Projekts steht hier zum Download bereit: http://www.pages-salzburg.at/wp-content/uploads/2019/03/ PAGES-Ergebnisbericht.pdf [19.09.2019]. 118 Sonderheft 16 np Berner et al., Aktionsforschungsprojekt PAGES Politikwissenschaftlerin. Die dritte ist Co-Forscherin Rita Mouses mit einem Universitätsabschluss in Psychologischer Beratung. Die Erhebung des empirischen Materials, das in den Text einfließt, stammt von ihr. Sie interviewte die Teilnehmerinnen und die Leiterin ihrer Projektgruppe – Heike Rainer –, sammelte Fotografien der gemeinsamen Aktivitäten und stellte ihre eigenen Erfahrun- gen und Beobachtungen aus der Zusammenarbeit im Projekt zur Verfügung. Ausgangspunkt für diesen Artikel waren besondere Momente der Projektzusammenarbeit, in denen ungleiche Machtbeziehungen, mit denen wir in die anfängliche Forschungszusammenar- beit gestartet waren, verändert schienen. Diese Situationen stellten sich für die Beteiligten als besonders gelungen dar. Sie lassen sich als Momente großer Vertrautheit oder des vorbehaltlosen Miteinanders auf Augenhöhe beschreiben. Abb. 1: PAGES-Gruppe auf einem Salzburger Wochenmarkt. Quelle: privat. Auf Abb. 1 ist eine PAGES-Projektgruppe zu sehen, die 2017 und 2018 kunsthandwerkliche Gegenstände herstellte und auf einem Markt in Salzburg verkaufte. Diese Aktivitäten beschrieben die Beteiligten immer wieder als besonders gelungen und bereichernd, aber auch als bedeutsam, was die Beziehung zu ihrer Gruppenleiterin betraf. Dieser eine Ausschnitt aus dem Projektge- schehen steht hier stellvertretend für viele solcher Momente, die während der Aktivitäten oder in Reflexionsrunden auftraten und die von den Co-Forscher*innen ganz ähnlich wahrgenommen wurden. So meinte eine Teilnehmerin aus Heikes Gruppe: »Wir treffen uns zusammen und la- chen [und alles ist] more comfortable«. Diese Momente können auch deshalb als so bedeutsam bezeichnet werden, weil in ihnen die beiden Ansprüche von Aktionsforschung realisiert wurden: Die soziale Wirklichkeit veränderte sich (hier: in Hinblick auf das Miteinander in der Gruppe) und mithilfe von Reflexionen konnten die Veränderungen bewusst gemacht und artikuliert werden. Mit dem vorliegenden Artikel wollen wir solche »besonders gelungenen« Situationen, in denen bestehende Machtungleichheiten aufgeweicht scheinen, retrospektiv theoretisieren und damit der Forschung produktiv zugänglich machen.2 Die übergeordneten Forschungsfragen, die wir im Artikel beantworten, sind: (Wie) Kann ein machtsensibler Raum, der Transformationsprozesse in der Forschungsgruppe zulässt, in partizipativen (Aktions-)Forschungsprojekten hergestellt werden? (Wie) Kann ein solcher Raum genutzt werden, um neues Wissen zu generieren? 2 Wir gestalteten das Design unserer Betrachtung nicht ganz zufällig auf diese Weise, denn die rückblickende Reflexion fügt sich in Homi Bhabhas Konzept des Dritten Raums (Bhabha 2011), das bei der Theoretisierung eine zentrale Rolle spielt (siehe Kap. 4). 119 Sonderheft 16 np Berner et al., Aktionsforschungsprojekt PAGES Um diese Fragen zu beantworten, gehen wir in folgenden Schritten vor: Zunächst wollen wir mit VeneKlasen und Miller (2002) einen Machtbegriff einführen, der uns geeignet erscheint, einen machtsensiblen Umgang im Aktionsforschungsprojekt zu finden (Kapitel 2). Aufbauend darauf gehen wir – etwas konkreter – auf eine bestimmte Rahmung ein, innerhalb derer gleichzeitig auf möglichst sensible Weise mit Machtverhältnissen in den Projektforschungsgruppen umgegangen und produktiv an Projektzielen gearbeitet werden kann. Dies ist das Konzept des sicheren Raums, wie es Bergold und Thomas (2012) beschreiben. Ihr Zugang bleibt etwas ungenau im Hinblick auf Details der Zusammenarbeit. Daher ergänzen wir ihn um in der Literatur beschriebene Merkmale (hauptsächlich: Reason/Bradbury, 2008) (Kapitel 3). Für eine theoretisch geleitete Interpretation der »besonders gelungenen Momente« reicht das bisher entwickelte Instrumentarium aber nicht aus, da es nur das »Input« an Verhaltensmaß- nahmen für die Entstehungsmöglichkeiten solcher Momente zu fassen vermag. Es erklärt aber weder die transformativen Elemente dieser Momente selbst noch die Entstehung von neuem Wissen, die damit einhergeht. Deshalb führen wir im nächsten Kapitel das postkoloniale Kon- zept des Dritten Raumes von Homi Bhabha (2011; 2012) ein, das unseres Erachtens nach das zu beschreiben vermag, was wir als Veränderungspotenzial einer partizipativen Forschungszu- sammenarbeit in besonderen Momenten erkannt haben (Kapitel 4). In einem weiteren Schritt zeigen wir systematisch, wie im Aktionsforschungsprojekt aus dem sicheren Raum ein Dritter Raum entwickelt werden kann und wie in der Folge die Artikulation von neu formulierten Inter- essen in der Öffentlichkeit erfolgen kann. Das Kapitel endet mit der Reformulierung und neuen Deutung des hier vorgestellten Beispiels des Verkaufs von Kunsthandwerk, das dazu dienen soll, die Adaption von Bhabhas Konzept auf den Kontext der Aktionsforschung nachvollziehbar zu machen (Kapitel 4.1). Abschließend fassen wir zusammen, ob und wie Dritte Räume absichtsvoll hergestellt werden können (Kapitel 4.2). Während sichere Räume mit den in Kapitel 3 angeführten Verhaltens- empfehlungen, basierend auf der in Kapitel 2 explizierten Machtkonzeption, aus unserer Sicht absichtsvoll hergestellt werden können, ist das bei Dritten Räumen nicht in gleichem Maße der Fall. Entsprechende Verhaltensregeln begünstigen sie, ebenso wie Offenheit und Veränderungs- bereitschaft aller Beteiligten und die gewollte Strukturlosigkeit von Treffen. 2 Handlungsmacht Bei der Entscheidung für eine machttheoretische Fundierung müssen die unterschiedlichen Dimensionen eines partizipativen Aktionsforschungsprojekts mitbedacht werden. Ein Aktions- forschungsprojekt erfordert unseres Erachtens einen Machtbegriff, anhand dessen sowohl die Strukturen, in denen sich das Projekt bewegt, als auch die Machtverhältnisse zwischen den im Projekt beteiligten Personen und die Handlungsspielräume der Beteiligten thematisiert werden können. Will man mit einem Aktionsforschungsprojekt nicht nur das Wissen über die Lebens- welt, sondern die Lebenswelt an sich verändern, braucht es Platz für individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit. Die in Machttheorien stets auftretende Frage, worin Macht verortet wird, d.h. in Personen, Orten, Diskursen, Institutionen oder Praktiken, haben wir im Kontext unserer Aktionsforschung mit dem Fokus auf handlungsfähige Akteur*innen beantwortet, die sich jedoch in Strukturen oder Diskursen bewegen. Größte Resonanz fanden wir aufgrund dieser Vorüberlegungen im Ansatz von VeneKlasen und Miller (2002), der oft in Zusammenhang mit Empowerment-Strategien genannt wird und in dem sowohl bestehende machtvolle Strukturen als auch individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit konzipiert werden. Die zusätzlich eingeführte Möglichkeit von Solidarität macht das Konzept für den Kontext der partizipativen Aktionsforschung besonders wertvoll, da Forscher*innen in diesem Setting eine solidarische Zusammenarbeit mit Co-Forscher*innen anstreben. 120 Sonderheft 16 np Berner et al., Aktionsforschungsprojekt PAGES Die Autorinnen VeneKlasen und Miller (2002: 45) sprechen von vier Dimensionen von Macht: power over, power with, power to and power within. Während die erste Dimension für eine unterdrückende Kontrollmacht steht (power over), ermöglichen die anderen Dimensionen So- lidarität und Zusammenarbeit (power with), um das Leben gemeinsam zu gestalten (power to). Die handelnden Personen haben eine Überzeugung des eigenen Selbstwerts und der eigenen Handlungsfähigkeit (power within) oder können diese (mit Unterstützung) entwickeln. In die- sem Machtkonzept haben Personen mehr oder weniger Macht inne: Die Annahme, dass Macht personengebunden ist, erleichtert auch die Verknüpfung mit (individueller und kollektiver) Agency und Empowerment. Wendet man diese Machtkonzeption auf unser partizipatives Aktionsforschungsprojekt an, kann man power over in verschiedenen Situationen beobachten. Im Gegensatz zu einem rela- tiv offensichtlichen Machtungleichgewicht zugunsten der Forscher*innen, verfügten auch die Co-Forscher*innen innerhalb des Projektes über Macht im Sinne von power over. Während Forscher*innen anfangs als »Einladende zum Projekt« aufgrund ihrer Forschungskompeten- zen und Führungsaufgaben machtvolle Rollen innehatten, hatten Co-Forscher*innen Macht, auch wenn kein Arbeitsvertrag für die Mitarbeit im Projekt abgeschlossen wurde, da ohne ihre Mitwirkung kein partizipatives Projekt hätte durchgeführt werden können. Als Expert*innen ihrer Lebenswelt verfügten sie über für den Forschungsprozess relevantes Wissen, das ohne ihre Mitarbeit nicht hätte generiert werden können. Dies allein relativierte das Machtungleichgewicht in Bezug auf Forschungskompetenzen und Ressourcen. In VeneKlasens und Millers Konzeption wird Macht zudem nicht zwangsläufig für den*die Eine*n weniger, wenn sie geteilt wird. Im Sinne einer power with können Machtressourcen gebündelt und z.B. für Empowerment genutzt werden. Von Unger (2012) nennt dafür Capacity Building als geeignetes Mittel, das Selbstermächtigungsprozesse der Teilnehmer*innen fördert. In unserem Projekt wurde Capacity Building beispielsweise durch die Möglichkeit des Erwerbs von motorischen Kompetenzen (Radfahren, Schwimmen) oder auch kommunikativ-sprachlichen Kompetenzen (Halten von Vorträgen in öffentlichen Projektveranstaltungen, eigene PAGES Sendereihe im Freien Radio, Website) uvm.3 geboten. Wenn Forscher*innen und Co-Forscher*innen zusammen in und am Projekt arbeiten und ihre Machtressourcen bündeln, wirken power with und power to. Gemeinsam wird an der Veränderung des Zusammenlebens gearbeitet, was in unserem Fall die Verbesserung der Teilhabechancen von Geflüchteten in Stadt und Land Salzburg bedeutete. Die Verbesserung des Gesundheitsempfin- dens und Wohlbefindens war eine angestrebte Folge. Beispiele für verbesserte Teilhabechancen waren die politische Partizipation bei Dialogveranstaltungen mit Politiker*innen oder Netzwerk- treffen mit Vertreter*innen von sozialen Einrichtungen der Flüchtlingsbetreuung oder auch die Realisierung von gemeinnütziger oder ehrenamtlicher Arbeit in unterschiedlichen Bereichen (Kindergarten, Seniorenwohnhaus, Hausaufgabenbetreuung von Volksschulkindern nichtdeut- scher Muttersprache). Anhand dieser Arbeitserfahrungen konnten Asylbewerber*innen soziale Wertschätzung im Sinne von Honneths Anerkennungstheorie (1994) erleben, die ebenfalls stark gesundheitsfördernde Auswirkungen hat, ihnen jedoch sonst durch den rechtlichen Ausschluss von Erwerbsarbeit verwehrt bleibt. Grundlage für alle diese Aktivitäten war die allen Beteiligten innewohnende power within, d.h. die Überzeugung in den eigenen Selbstwert und in die eigene Handlungsfähigkeit. Sollte die power within von Teilnehmer*innen geschwächt sein, kann diese durch die Unterstützung von 3 Diese Capacity-Building-Aktivitäten waren ebenso wie alle anderen Projektaktivitäten (siehe Ergebnisbericht auf www.pages-salzburg.at) selbst gewählt. Sie wurden mit Unterstützung der jeweiligen Forscher*innen als Gruppenleiter*innen realisiert. 121 Sonderheft 16 np Berner et al., Aktionsforschungsprojekt PAGES Selbstermächtigungsprozessen gefördert werden. Die prinzipielle Möglichkeit jedes Menschen, sich als selbstwirksam zu erleben, ist zentraler Aspekt von VeneKlasens und Millers Konzept. An PAGES nahmen Menschen teil, deren Fluchterfahrungen sie nicht daran hinderten, sich einem unbekannten Projekt zu öffnen und durch ihre Mitwirkung an einer Verbesserung ihrer Lebenswelt zu arbeiten. Diese relativ hohe Selbstwirksamkeitserwartung kann natürlich nicht für alle Klient*innen der Sozialen Arbeit angenommen werden. Wir gehen jedoch mit VeneKlasen und Miller (2002) davon aus, dass diese durch positive Lernerfahrungen (wieder) – u.a. durch Angebote der Sozialen Arbeit – gestärkt werden kann. Ein Kennzeichen des Ansatzes von VeneKlasen und Miller liegt in der Wirkung von Macht auf verschiedenen Ebenen (ebd.: 47-49). So kann power over auf sichtbare, versteckte und unsichtbare Weise wirken. Im Gegensatz zur sichtbaren Macht (z.B. Regierungsmacht) wird Einfluss auch versteckt durch politisches Lobbying, informelle Netzwerke o.Ä. ausgeübt. Von unsichtbarer Macht spricht man, wenn Unterdrückungsformen internalisiert sind und dadurch indirekt, aber effektiv wirken. Diese Form der Macht kann nach unserem Verständnis z.B. in sozialen Normen, vermittelt durch dominante Diskurse, wirken. 3 Sicherer und machtsensibler Raum Voraussetzung für das gemeinsame Handeln und Reflektieren im Rahmen von partizipativer (Aktions-)Forschung ist die Ermöglichung eines sicheren Raums (Bergold/Thomas, 2012), in dem sich (Co-)Forscher*innen geschützt mitteilen können. Dieser spezifische Rahmen, der die Zusammenarbeit im Projekt fördern soll, lässt sich umstandslos in VeneKlasens und Millers Kategorisierung von Macht einfügen, denn im sicheren Raum geht es darum, power over sicht- bar zu machen und zu reflektieren. Im Anschluss lässt sich solidarisch im Sinne von power with und power to an der Formulierung von Zielen arbeiten und Aktivitäten können geplant werden. Im sicheren Raum geht es nicht so sehr um Konfliktfreiheit als vielmehr um eine konfliktto- lerante Atmosphäre. Ist er einmal entstanden, so bedeutet dies nicht, dass er selbstverständlich bestehen bleibt. Vielmehr bedarf es beständiger Aushandlungsprozesse. »Ergebnis dieser Aushandlungsprozesse ist ein symbolischer Raum, in dem die Teilnehmer/innen im besten Fall einander vertrauen und in dem sie daher ihre Sicht auf die Forschungsgegenstände mitteilen können« (Bergold/Thomas, 2012: Abs. 15). Wenn partizipative Forschung für eine demokratische Form der Zusammenarbeit steht, dann sollte der Raum nicht nur sicher, sondern auch machtsensibel sein. Es gibt in der Literatur zahlreiche Anregungen, wie ein solch sicherer Raum, der auch sensibel für die innewohnenden Machtverhältnisse ist, entwickelt werden kann. Zunächst gilt es zu berücksichtigen, dass Aktionsforschung eine wertbasierte Forschung ist. Die Werte, die Aktionsforscher*innen mitbringen (sollen), sind »caring, compassion, community, health, self-determination, participation, power-sharing, human diversity, social justice« (Grant/ Nelson/Mitchell (2008: 590). In der Auffassung von Fals Borda ist die Beziehung der Forschenden zu den Co-Forscher*innen eine der empathischen Anteil- und Parteinahme (»sympathetic parti- cipation«, Fals Borda in Swantz, 2008: 42). Beziehung, Zusammenarbeit und Dialog werden als die Basis gesehen, um gemeinsam etwas verändern zu können (Zandee/Cooperrider, 2008: 195). Im Gegensatz zu einem positivistischen Wissenschaftsverständnis einer Subjekt-Objekt- Forschung soll in partizipativer Forschung eine »subject-subject relationship« (Rahman, 2008: 50) etabliert werden. Wie von vielen partizipativen Forscher*innen betont wird, geht es darum, eine vertrauensvolle Beziehung mit den Co-Forscher*innen aufzubauen (Reason/Bradbury, 2008: 9, Gergen/Gergen, 2008: 166), was sehr viel Zeit in Anspruch nimmt (Grant/Nelson/Mitchell, 2008: 597). Dies gilt umso mehr, da die Beziehungen und Rollen sich im Laufe der Projektarbeit verändern (McArdle, 2008: 607). 122 Sonderheft 16 np Berner et al., Aktionsforschungsprojekt PAGES Chambers (2008: 308) nennt einige konkrete Verhaltensrichtlinien (siehe Tab. 1), die sich für die Forschenden empfehlen, um die oben genannten Werte praktisch umzusetzen. Tab. 1: Richtlinien für die partizipative Aktionsforschung. Precepts indicating Introduce yourself … be honest, transparent, relate as a person They can do it … have confidence in people’s abilities Unlearn … critically reflect on how you see things Ask them … ask people their realities, priorities, advice Don’t rush … be patient, take time Sit down, listen and learn … don’t dominate Facilitate … don’t lecture, criticize or teach Embrace error … learn from what goes wrong or does not work Hand over the stick … or chalk or pen, anything that empowers Use your best judgement at all times take responsibility for what you do Shut up! … keep quiet. Welcome and tolerate silence. Quelle: Precepts for PRA (Participatory Rural Appraisal) in Chambers (2008: 308) Bisher wurde nachvollzogen, wie im Projekt mit Machtungleichheiten umgegangen wurde, wie versucht wurde, einen machtsensiblen Umgang zu entwickeln, und welches Verständnis von Macht uns dabei begleitete. An einer Stelle scheinen die herangezogenen Ansätze aber noch nicht ganz hinreichend, denn sie können die Veränderung der Beziehungen, die ein Kennzeichen von »gelungenen Momenten« sind, nicht systematisch nutzbar machen und sie erfassen nicht die Verschiebung oder Neufor- mierung von machtvollen Verhältnissen. Diese sind jedoch die Grundlage für die gemeinsame Erarbeitung von neuem Wissen. Aufbauend auf partizipativen Aktivitäten in einem machtsen- siblen, sicheren Raum können nämlich solche neuen Erkenntnisse entstehen. Im Folgenden wollen wir begründen, warum Homi Bhabhas Konzept des Dritten Raums ge- eignet ist, diese Lücke zu füllen. 4 Der Dritte Raum Anschlussfähig an VeneKlasens und Millers Verständnis von Macht ist Bhabhas Idee des Dritten Raums besonders durch das ihr zugrundeliegende Machtverständnis. Dieses beschreibt er zum einen als Handlungsmacht, d.h., Macht ist für ihn direkt mit dem Handeln und den Handlungs- möglichkeiten von Subjekten verbunden (Bhabha, 2011: 255-294). Zum anderen bleibt Macht zunächst aber relativ unbestimmt von einzelnen Personen und ist daher auf der Ebene angesiedelt, die VeneKlasen und Miller als invisible power bezeichnen (VeneKlasen/Miller, 2002: 48, s.o.). Handeln ist in diesem Sinne beeinflusst von diskursiv gesetzten Begriffen und ihren Bedeutungen. Diese werden, zunächst losgelöst von einzeln bestimmbaren Handlungssubjekten, in kommuni- kativen Situationen verwendet und können unter bestimmten Umständen transformiert werden. Wesentliche Bedingung für solche Umdeutungsprozesse ist die Heterogenität der Gruppe. Bhaba beschreibt solche Momente als »kreative Heterogenität der Äußerungs-›Gegenwart‹, […] wel- che den emanzipatorischen Diskurs von binären Abschließungen befreit« (Bhabha, 2011: 277). 123 Sonderheft 16 np Berner et al., Aktionsforschungsprojekt PAGES Unter »binären Abschließungen« versteht er durch den Diskurs verfestigte Merkmalszuschrei- bungen beliebiger gesellschaftlicher Phänomene, die sich in der Regel in zwei Polen – versehen mit jeweils bestimmten Attributen – manifestieren. Das Handeln von Handlungssubjekten im Sinne Bhabhas setzt erst nach Prozessen ein, bei denen im Kollektiv zunächst wenig zielgerichtet Verschiebungen tradierter Bedeutungen in Diskursen entwickelt wurden. Bei Bhabhas Konzept des Dritten Raums (ebd.: 29-58) geht es also um Symbole und Bedeutun- gen. Wenn von Raum die Rede ist, kann damit zwar ein physischer Raum4 gemeint sein, in erster Linie verweist der Begriff aber auf einen abstrakten Raum, der sich im (auch kommunikativen) Handeln und im Verhandeln von Begriffen äußert. Differenz ist ein wesentliches Charakteristi- kum, das den Dritten Raum bestimmt. Menschen, die unterschiedliche Positionen, Lebenswel- ten, Wertvorstellungen oder Zugehörigkeiten vertreten, kommen zusammen und tauschen ihre Perspektiven aus. Im Dritten Raum, so er sich entfaltet, kommt es schließlich zum Hybrid. Damit sind eine Verbindung unterschiedlicher Perspektiven und eine neue Deutung von symbolischer Aufladung des bisher Vorhandenen gemeint. Mehr noch verändern sich die Beteiligten selbst durch die Integration der differenten Sichtweisen in ihr eigenes Weltverständnis. »Der Dritte Raum ist nicht nur Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen, er eröffnet auch Räume, die zu Veränderungen aller beteiligten AkteurInnen auf allen Seiten führen können. Im Zuge von Kulturkontakten erfolgen Transformationen, die ein Dazwischen oder eben einen Dritten Raum eröffnen« (Babka/Posselt in Bhabha, 2012: 11 f.). Aus der postkolonialen Tradition stammend, nimmt Bhabha im Dritten Raum auf ungleiche Machtverhältnisse Bezug. Postkoloniale Verhältnisse sind durch offene Unterdrückung ge- kennzeichnet; hier kann der Dritte Raum als Instrument des Widerstands gegen eine power over dienen. Die entsprechende Strategie nennt Bhabha Mimikry. Damit ist die Aneignung von Symbolen der machtvollen Gruppe und deren Umdeutung gemeint. Diese ist jedoch nicht dau- erhaft. Bedeutungsverschiebungen, die während einer Äußerungsgegenwart (Bhabha, 2011: 265) generiert werden, sind als prozesshaft zu verstehen und müssen immer weiter neu verhandelt werden. Kennzeichnend ist das Oszillieren zwischen stets wechselnden Perspektiven und einem empathischen Sich-Hineinversetzen in den Blickwinkel des Gegenübers. Mit Bhabhas Worten: »Der interpretatorische Pakt besteht nie einfach in einem Akt der Kommunikation zwischen dem in der Aussage festgelegten Ich und Du. Um Bedeutung zu produzieren, ist es erforder- lich, dass diese beiden Orte in eine Bewegung versetzt werden, bei der sie einen Dritten Raum durchlaufen« (ebd.: 55). Die Äußerungsgegenwart des Dritten Raums ist stets kontingent (ebd.: 267), also ergebnisof- fen und zunächst absichtslos, und sie ist von Liminalität geprägt (ebd.). Mit Liminalität ist ein Schwellenzustand gemeint, wie er beispielsweise durch Initiationsrituale entsteht, in denen sich Menschen zwischen zwei Lebensphasen befinden. Sie sind in solchen kurzen Momenten nicht auf feste Merkmale festgelegt, sondern bewegen sich zwischen den äußeren Erwartungen. Das Geschehen der Äußerungsgegenwart ist den Beteiligten im Moment der Äußerung nicht unbedingt bewusst. Im Gegenteil, das spontane Erleben des Wesens des Gegenübers ist die wahr- scheinlichere Variante für die Entstehung eines Hybrids. Bewusstsein entsteht – wenn überhaupt – erst später, rückblickend, durch die Reflexion einer Situation. Hier kommt der zentrale Begriff der Zeitdifferenz (time-lag) ins Spiel (ebd.: 273). Das im Dritten Raum zum Ausdruck Gebrachte entsteht in der »Äußerungsgegenwart als befreiende diskursive Strategie« (ebd.: 266) und kann im Anschluss einer Analyse zugänglich gemacht werden. 4 Der physische Raum ist freilich immer auch Sozialraum (vgl. stellvertretend Reutlinger, 2009), wenn er von Menschen angeeignet, bestimmt, gedeutet oder umgedeutet wird. 124 Sonderheft 16 np Berner et al., Aktionsforschungsprojekt PAGES Aus unserer Sicht erweitert das Konzept des Dritten Raums die Praxis des sicheren Raums um einige wesentliche Elemente. Der Dritte Raum ist konzeptuell so angelegt, dass Personen in heterogenen Gruppen – sei es im Hinblick auf ihre Erfahrungen oder auf ihre sozialen Rollen – zusammen agieren. Gerade in der Differenz ist die Möglichkeit angelegt, Neues zu schaffen, denn es ist genau der Austausch zwischen verschiedenen Welthorizonten, der es erlaubt, tradierte Denkmuster aufzubrechen und neue zu entwickeln. Einige Bedingungen können aus Bhabhas Herleitung des Dritten Raums formuliert werden: Dies ist die Bereitschaft der Beteiligten, sich auf das ergebnisoffene gemeinsame Handeln und auf das Risiko, sich selbst auf eine Weise zu verändern, die über bekannte Selbstanteile hinausgeht, einzulassen5. Ein sicherer Raum kann als Grundlage für den Dritten Raum gelten. Zentral ist schließlich die Zweiteilung des Geschehens. Zunächst mischen sich Wertvorstellungen, Ideen oder Meinungen in einer Äußerungsgegenwart, erst später erfolgt die Reflexion und die Reformulierung des vorher Geschehenen. Der so verbal gefasste Hybrid kann im Anschluss idealerweise auch öffentlich artikuliert werden. Dieser letzte Schritt ist zugleich der Übergang zu öffentlicher Artikulation, die ein wesentliches Moment der Veränderung sozialer Gegebenheiten darstellt. Da die Projektrealität in Reflexi- onstreffen eher privat, höchstens teil-öffentlich ist, ist dieser Schritt nötig, wenn die öffentliche Artikulation von Interessen oder Bedürfnissen ein Ziel darstellt. Handlungsmacht entsteht im Dritten Raum kollektiv. In der Retrospektive verdichtet sich das Erlebte durch die Reformu- lierung und wird dadurch überhaupt erst kommunizierbar. Durch die Reformulierung können sich gleichzeitig einzelne Handlungssubjekte herausbilden, die dann in der Lage sind, Anliegen als Argumente umzuformulieren und im öffentlichen Raum zur Geltung zu bringen. Überblicksartig lassen sich die Übergänge vom sicheren zum Dritten und zum öffentlichen Raum folgendermaßen darstellen: Tab. 2: Vom sicheren zum Dritten und zum öffentlichen Raum. Sicherer Raum => Dritter Raum => Öffentlicher Raum – Vertrauen – Entstehung von Neuem (Hybrid) – Öffentliche Kommunikation – Konflikttoleranz – Überwindung vorformulierter – Rückgriff auf das Neue – Offenheit binärer Codierungen durch Handlungssubjekte – Solidarität – Entwicklung von – Ausübung von Handlungsmacht Handlungsmacht Im folgenden Abschnitt werden Aspekte von Macht und Merkmale des sicheren und Dritten Raums herangezogen, um die in der Einleitung angeführte Erfahrung neu zu interpretieren. 4.1 Reformulierung des »gelungenen Moments« Nachdem sich die PAGES-Frauengruppe, in der auch Rita Mouses6 aktiv war, im Sommer 2017 formiert hatte, herrschte zunächst eine eher formale Atmosphäre vor. Die Stimmung war mitun- ter ambivalent, denn die Teilnehmerinnen, so erzählten sie rückblickend, changierten zwischen Neugierde und Unsicherheit, zwischen Optimismus und Zweifel, was den Sinn der Treffen betraf. 5 Solche intersubjektiven Veränderungen lassen sich auch als Bildungsprozesse beschreiben (hierzu: Stojanov, 2006). 6 Die folgenden empirischen Beispiele stammen aus Rita Mouses’ Projektgruppe; sie wurden von ihr erhoben und gemeinsam mit den zwei Co-Autor*innen dieses Artikels interpretiert. 125 Sonderheft 16 np Berner et al., Aktionsforschungsprojekt PAGES Sicherheit – sowohl in Bezug auf die anderen Personen in der Projektgruppe als auch auf die Gestaltung der partizipativen Aktivitäten – bekamen die Teilnehmerinnen durch die gemeinsame Konzipierung von Tätigkeiten. War es am Anfang noch die Forscherin und Gruppenleiterin, Heike Rainer, die Vorschläge für gemeinsames Tun vortrug, so entwickelten die Teilnehmerinnen mehr und mehr Ideen selbst. Sie verständigten sich auf handwerkliche Arbeiten und auf gemeinsames Kochen. Beides verbanden sie mit dem Ehrgeiz, die Produkte auch zu verkaufen. Nach einer Zeit des gemeinsamen Planens und Handelns allerdings begannen einige Teilnehmerinnen sich zu streiten. Gemeinhin ließe sich annehmen, dass eine Krise aufkam. Aus Sicht des sicheren Raums dagegen spricht dieser Umstand eher dafür, dass die Teilnehmerinnen nun so viel Vertrauen zueinander entwickelt hatten, dass sie einen Konflikt riskieren konnten. Ein sicherer Raum war demnach – zumindest für den Moment – entstanden. Im Dezember 2017 führte die Projektgruppe einen Weihnachtsverkauf durch. Die Teilneh- merinnen hatten weihnachtliche Dekoration hergestellt und verkauften sie auf einem Markt im Zentrum Salzburgs. Dort errichteten sie einen Stand, der von einem Pavillon gerahmt wurde. Alle gemeinsam hatten sich über die Produkte verständigt, die sie produzieren und verkaufen wollten. Sie bauten den Stand gemeinsam auf und verkauften die Weihnachtsdekoration gemein- sam. Die oben gezeigte Abbildung 1 zeigt die Teilnehmerinnen der Gruppe gemeinsam mit ihrer Dolmetscherin und der Gruppenleiterin vor diesem Pavillon. Nach den ersten Marktterminen herrschte eine pessimistische Stimmung, da das Wetter schlecht war, der Standplatz nicht ideal schien und die Verkäufe schleppend gingen. Dazu kamen ras- sistische Erfahrungen, mit denen die Teilnehmerinnen nicht gerechnet hatten: Beispielsweise beschimpfte ein Passant eine Verkäuferin grundlos. Er machte für diesen Übergriff ihr Kopftuch geltend. Beim dritten Verkaufstermin konnte jedoch eine erste positive Erfahrung gemacht wer- den. Neben den äußeren Umständen – die Sonne schien! – war der Standplatz dieses Mal besser und eine Salzburger Landesrätin war von Heike eingeladen worden, besuchte den Verkauf und erkannte die Arbeit der Kunsthandwerkerinnen an. Im Rückblick erzählten diese, dass es gerade der Wechsel von der negativen zur positiven Erfahrung war, der die Gruppe näher zueinander brachte. Sie verwendeten dafür das arabische Verb »yaiish« (Abb. 2), das mehrere Bedeutungen hat. Es steht für »erleben«, aber auch für »gemeinsam erleben«. Schließlich hat es eine weiter gefasste Bedeutung und meint »leben« überhaupt. Es war gerade diese – im Deutschen nicht mit einem Wort fassbare – Mehrdeutigkeit, die für die Teilnehmerinnen den Wert des Erlebten zum Ausdruck brachte und die eine Neudeutung des gemeinsamen Agierens und des gemeinsam Erlebten zuließ. In dieser Neudeutung liegt das neue Wissen, das aus dieser Handlung, verbun- den mit der retrospektiven Reflexion, entstand: Die partizipative Handlung stellte – dies konnte erwartet werden – ein »gemeinsames Erleben« dar. Mit der weiteren Bedeutung von »yaiish« kommt aber auch die größere Bedeutung (»leben«), die dieses Handeln für die Beteiligten hat, zum Ausdruck. 126 Sonderheft 16 np Berner et al., Aktionsforschungsprojekt PAGES Abb. 2: شيعي (deutsch: leben, erleben, miterleben). Abb. 3: Heike Rainer hält während eines Originaldokument, erstellt im Zuge eines Windstoßes den Marktstand fest. Rückblicks auf die Erlebnisse beim Verkauf auf dem Salzburger Markt. Quelle: privat. Der blaue Pavillon, der den Stand rahmte, nahm eine Bedeutung an, die über den ursprüngli- chen funktionalen Wert hinausging. Die denotative Bedeutung des Pavillons liegt im Schutz vor Regen und in der Begrenzung des Marktstands. Zusätzlich kommt ihm eine zweite Bedeutung zu, die ein Stück weit symbolisch aufgeladen ist: Er umfasst den gemeinsamen Raum, den die Frauen gestaltet hatten. In der Rückschau fiel ihnen besonders ein Augenblick wieder ein, der die Szene symbolisch für sie repräsentierte. Ein Foto (Abb. 3) illustriert diesen Moment. Es bekam in der Reflexion einen beinahe ikonischen Wert: Die Gruppenleiterin, Heike, hält den Pavillon fest, als ein Windstoß aufkommt. Heike kam in dem Moment des Festhaltens dem Bedürfnis der Teilnehmerinnen nach Rückhalt konkret nach (besonders in einer Situation, in der vorher entmutigende Erfahrungen gemacht worden waren). Das Foto erfuhr seinen besonderen Wert durch die Kontexthandlungen von Heike: Sie hatte zwischen den Marktterminen die Presse und die Landesrätin informiert, um Öffentlichkeit und öffentliche Anerkennung zu schaffen. Bemerkenswert ist hier, dass Heikes schnelles Handeln für die Teilnehmerinnen nicht etwa als Zeichen ihrer Position als Gruppenleiterin oder als »prima inter pares« gewertet wurde. Wichtiger war, dass jede Teilnehmerin vor und während der Aktivitäten genau diejenigen individuellen Ressourcen, die ihr zur Verfügung standen, zum Einsatz gebracht hatte. Heike verfügt über andere Ressourcen als die Teilnehmerinnen mit Fluchterfahrung – sie besitzt Ortskenntnisse, Sprachkenntnisse des Deutschen, hat Kontakt zur Landesrätin usw. Gleichzeitig wurde für alle anderen Teilnehmerinnen deutlich, dass Heike bereit war, für die gemeinsame Sache nach Kräf- ten einzutreten – genau wie alle anderen Teilnehmerinnen dies auch getan hatten, indem sie die kunsthandwerklichen Produkte hergestellt hatten, unter Umständen eine Kinderbetreuung für ihre Kinder gesucht hatten oder nun mit den Kund*innen verhandelten. Dazu kam, dass Heike durch ihr Handeln etwas »von sich« gegeben hatte. Dadurch schuf sie ein soziales Band (vgl. Bedorf, 2010: 159 ff.), das wechselseitige Anerkennung aller als Gruppenmitglieder ermöglichte. Die Entfaltung eines sicheren Raums wurde auf diese Weise gefördert, gleichzeitig wurde der Pavillon zum Symbol für einen geteilten Moment, in dem sich ein Dritter Raum entwickeln konn- 127 Sonderheft 16 np Berner et al., Aktionsforschungsprojekt PAGES te. Zentrales Merkmal des Dritten Raums in diesem Beispiel ist die gemeinsame retrospektive Reflexion, die eine Neudeutung des gemeinsamen Handelns, verkörpert im Foto des Pavillons und im Begriff »yaiish«, zulässt: – Im Symbol des Pavillons ist das Konnotat des solidarischen Handelns im Sinne von power with und power to angelegt. – »Yaiish« attribuiert das partizipative Handeln auf eine für alle Beteiligten unerwartete Weise, indem es ein konkretes »gemeinsames Erleben« um den neuen Wert, der in seiner Bedeutung »leben« beinhaltet ist, erweitert. 4.2 Systematisches Arbeiten mit dem Dritten Raum Für partizipative Projekte erscheint der Dritte Raum als geeignetes Konzept, allerdings bietet er einen – zumindest für die Formulierung eines Konzepts – entscheidenden Nachteil: Er kann in der Regel erst im Nachhinein als solcher ausgewiesen werden. Dieser Umstand kann im partizi- pativen Projekt sicherlich als erkenntnisfördernd eingesetzt werden, denn in Reflexionsrunden können gemeinsame Aktivitäten auf ihre Qualität als Dritter Raum hin betrachtet werden. Die Zeitdifferenz, die ein zentrales Merkmal des Dritten Raums darstellt, ist ohnehin ein Bestandteil von Action Research, sodass dieses Merkmal von Bhabhas Idee den Anschluss an Aktionsfor- schung erlaubt. Allerdings ist es schwierig, ihn systematisch herbeizuführen. Abschließend bleibt also die Frage zu klären, wie überhaupt die Offenheit des Dritten Raums im partizipativen Forschungsprojekt herbeigeführt werden kann. Folgende Kriterien fördern die Entstehung eines Dritten Raumes, ohne diese zu garantieren: 1. Ein Dritter Raum kann sich nur in einem sicheren Raum entwickeln. 2. Nötig sind eine offene, neugierige Haltung aller Beteiligten sowie die Bereitschaft sich ein- zulassen bzw. zu verändern. 3. Für Projekttreffen ist eine bewusste Strukturlosigkeit das Mittel der Wahl. Dies kann sich zum Beispiel in Form eines Verzichts auf Tagesordnungspunkte äußern oder indem Orte der Treffen immer wieder neu vereinbart werden. Nur so können Präfigurationen vermieden werden, die machtvolle Strukturen rekonstruieren und die Offenheit von vornherein unterdrücken. 4. Diese Offenheit und Strukturlosigkeit sollte, wenn möglich, auch in Bezug auf die Sprache angewandt werden. Auch sie ist idealerweise offen und unbestimmt und entwickelt sich aus der Situation heraus. Dieses Merkmal bezieht sich ausdrücklich nicht ausschließlich auf die Arbeit zwischen Menschen mit verschiedenen Herkunftssprachen. 5. Reflexionsrunden sind zentral. Erst sie schaffen die Möglichkeit der Reformulierung von Geschehenem aus der zeitlichen Differenz. 5 Fazit und Ausblick In diesem Artikel wurde dargelegt, welcher theoretische Machtbegriff und welche Handlungs- empfehlungen hilfreich sind, um einen sicheren, macht-sensiblen Raum für die partizipative Aktionsforschung mit Menschen mit Fluchterfahrung zu etablieren. Wenn Machtverhältnisse im und ums Projekt offengelegt werden (power over), kann ein solidarisches, gemeinsames Handeln (power with, power to) angestrebt werden. Das Konzept des Dritten Raumes ermöglicht es zu- sätzlich, das Neue in Form des Hybrids, der in der Begegnung von verschiedenen Perspektiven im Dritten Raum entsteht, retrospektiv zu erfassen. Auch wenn sich der Dritte Raum nicht mit Garantie in jedem Projekttreffen herstellen lässt, so schaffen die oben genannten Kriterien zumindest günstige Bedingungen. In der Nachschau kann das in der Äußerungsgegenwart des 128 Sonderheft 16 np Berner et al., Aktionsforschungsprojekt PAGES Dritten Raums Geschehene rationalisiert und beschrieben werden. Der nun begrifflich gefasste Hybrid stellt zugleich ein artikulierbares neues Wissen dar. Ein weiteres Ziel des gemeinsamen Tuns im Dritten Raum kann, wie gesagt, die öffentliche Artikulation von Bedürfnissen oder Interessen sein, die im Dritten Raum emergierten. Wenn Empowerment in partizipativen Projekten nicht nur auf der individuellen Ebene verbleiben soll, sondern auch Veränderung im Gemeinwesen beabsichtigt wird (Sadan, 1997), ist es wichtig, diese öffentliche Artikulation zu fördern. Der Schritt hin zum (teil-)öffentlichen Raum und der Artikulation von Interessen kann dort gegangen werden, wo es zu Bewusstwerdungsprozessen über gemeinsam erlittene Benachteiligungen kommt. Werden Äußerungen aus dem Dritten Raum anschließend im öffentlichen, kommunikativen Raum artikuliert und wäre das ohne die Erfahrung aus dem Dritten Raum nicht möglich gewesen, so kann das als Indikator für die Nachhaltigkeit der Erfahrung im Dritten Raum gelten. Literatur Antonovsky, A., 1997: Salutogenese. Zur Entmystifizie- McArdle, K. L., 2008: Getting in, Getting on, Getting out: rung der Gesundheit. Deutsche erweiterte Heraus- On Working with Second-person Inquiry Groups. In: gabe von A. Franke, Tübingen Reason, P./Bradbury, H. (Hg.): The Sage Handbook of Bedorf, T., 2010: Verkennende Anerkennung. Frankfurt Action Research. Participatory Inquiry and Practice. am Main London: 602-614 Bergold, J./Thomas, S., 2012: Partizipative Forschungs- Rahman, Md. A., 2008: Some Trends in Participatory methoden: Ein methodischer Ansatz in Bewegung. Action Research. In: Reason, P./Bradbury, H. (Hg.): In: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: The Sage Handbook of Action Research. 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Diese Frage steht aber auch in Bezug zu Diskursen über partizipative Forschung, bei denen künstlerische und kreative Ansätze wesentliche Elemente darstellen, um alltagsnahe und niederschwellige methodische Zugänge zu gewährleisten. Zudem werden inter- aktive und partizipative Theaterformen, wie das Forumtheater, immer wieder in Zusammenhang mit Projekten der Participatory Action Research angeführt, so etwa bei Wakefort, Pimbert und Walcon (2015). Auch Liamputtong (2007: 133) verweist darauf, dass Dramamethoden in Projekten der Participatory Action Research (=PAR) häufig eine Rolle spielen. Und Guhathakurta (2015) diskutiert »Theatre in Participatory Action Research«-Projekte in Bangladesch und in Indien, bei denen interaktives Theater eine Rolle spielt(e). Im Gegensatz zu üblichen Entwicklungstheater- Projekten werden dem Publikum nicht Lösungen vorgespielt, sondern die beteiligten Menschen definieren selbst ihre Probleme, Themen und Anliegen, verbunden mit der Möglichkeit der Transformation (vgl. ebd.: 101). Damit ist ein wesentliches Merkmal von Forumtheater angesprochen, mit dem zunächst eine interaktive Theaterform des sogenannten Theaters der Unterdrückten (=TdU) gemeint ist, bei der das Publikum eingeladen wird, sich am Spielgeschehen zu beteiligen, um vielfältige Handlungs- und Veränderungsideen für einen in szenischen Verläufen dargestellten sozialen Konflikt oder ein Problem zu erproben (Staffler, 2009; Boal, 2013; Wrentschur, 2019). Die Folgen des Handelns, das besonders auf die Veränderung diskriminierender, ausgrenzender und unterdrückender In- teraktionen und Strukturen abzielt, werden in diesem dramatischen Labor unmittelbar sichtbar und erlebbar. Untersucht werden Handlungsspielräume verbunden mit der Frage, welche struk- turellen Veränderungen notwendig sind, um vor allem sozial ausgegrenzten und benachteiligten Gruppen umfassende Möglichkeiten zur gesellschaftlichen (und politischen) Partizipation zu eröffnen. Mit Forumtheater wird zudem ein partizipativer und szenischer Forschungsprozess in Gruppen verbunden, bei dem sich die Teilnehmenden unter Anwendung szenisch-theatralischer Methoden mit einschränkenden, diskriminierenden oder unterdrückenden Situationen und/ oder Strukturen in ihrem Alltagsleben und ihren Lebenswelten auseinandersetzen. Die Theat- ralisierung und Reflexion von individuellen, subjektiven Erfahrungen führen zu Verdichtungen in Form von Szenen und Bildern. Erkenntnis- und Bewusstwerdungsprozesse werden mit der Suche nach Veränderung der persönlichen, sozialen und politischen Wirklichkeit verbunden (vgl. Wrentschur, 2012; 2019). Forumtheater kann als eine theaterpädagogische Konzeption und Methodik mit großer Nähe zu sozialen und gesellschaftspolitischen Themen und Fragen verstanden und realisiert werden, 130 Sonderheft 16 np Wrentschur, Forumtheater als methodisches Verfahren womit es zu einem relevanten methodischen Werkzeug in Themen- und Handlungsfeldern So- zialer Arbeit wird. Unter bestimmten methodischen Voraussetzungen kann Forumtheater selbst als eine szenische und in vielen Aspekten partizipative Forschungskonzeption realisiert werden. Dies soll in meinem Beitrag deutlich werden, in welchem ich den Fokus auf Konzeption und Verfahrensweisen von szenisch-partizipativen Forschungsprozessen mit dem Forumtheater lege. Ausgehend von einführenden Bemerkungen zum szenischen Forschen und zu einigen Bezügen von Forumtheater zum Diskurs zur Aktionsforschung und zur partizipativen Forschung, stelle ich methodische Verfahrensweisen vor, illustriere diese mit Beispielen aus der Projektpraxis und zeige dabei auch, wie sich die Erkenntnis- und Wissensproduktion mit dem Anschieben gesell- schaftlicher Veränderungsprozesse und dem Fördern von Bildungsprozessen verbinden lassen. 1 Szenisches Forschen mit dem Forumtheater und Bezüge zu partizipativer Forschung Beginnen will ich mit einigen Bemerkungen zum szenischen Forschen, zumal mittlerweile vielfältige szenische, performative und theaterpädagogische Verfahren dokumentiert sind (vgl. Wrentschur 2019: 383 ff.), die das Medium »Theaterspiel« explizit als Grundlage oder Vertiefung für sozialwissenschaftliche Forschungsprozesse nutzbar machen. So widmet sich etwa das Heft 9/2008 vom Forum Qualitative Sozialforschung vielfältigen Ansätzen und Beispielen performa- tiver Sozialforschung. Dabei erscheint interessant, dass Theaterschaffende selbst oft in einem qualitativen Sinn forschen, da es ihnen um ein Verstehen und Interpretieren der sozialen Welt geht. Für Theaterschaffende ist es selbstverständliche Praxis, Daten zu sammeln, zu recherchie- ren, ein Stück zu produzieren und aufzuführen, das aus persönlichen Geschichten entwickelt wird (vgl. Kramer, 2007: 174). Allerdings folgen sie dabei keiner wissenschaftlichen Methodik. Interessant erscheint aber auch, dass im Kontext einer performativ-ethnografischen Forschung vielfältige szenische Verfahren angewendet werden, um verschiedene Stimmen und Perspektiven der jeweils Betroffenen zu präsentieren. Diese Berücksichtigung verschiedener Perspektiven bildet die Voraussetzung für einen Text, »der die differenzierten Verschränkungen persönlicher, interpersonaler und politischer Ebenen erfassen kann« (Winter, 2009: [18]). In der Interaktion zwischen den Welten der Forschenden und »denen der Erforschten spielt sich der auf Kooperation aufbauende Forschungsprozess ab« (ebd.). Im Zuge der Aufführungen szenischer Forschungen können Zuschauer*innen Verbindungen zu ihren eigenen Erfahrungen herstellen und die Forschungsergebnisse können so für mehr Menschen zugänglich werden als allein für jene, die akademische Textproduktion gewohnt sind und diese studiert haben: »Theatre, I would argue, has the potential of reaching a much wider audience, and also offers a possibility of giving back to a community that one has conducted research in. It further offers multiple ways of communication, through different genres and setting up of spaces, which allow for audience accessibility and even participation, if that is a desired feature« (Kramer, 2007: 178). Auch für Liamputtong (2007: 172 ff.) sind Theaterstücke und Performances Ort und Mittel, um sozialen, politischen und kulturellen Dialog zu verhandeln – Performances können gerade über die Darstellung von Gefühlen die Herzen von Menschen und nicht nur deren Verstand erreichen. Die szenisch-performative Dar- stellung von Phänomenen und Problemen kann alternative Sicht- und Denkweisen eröffnen als eine Voraussetzung dafür, Veränderungen im Alltagsleben von Menschen zu inspirieren. Szenisches Forschen, wie es im vorliegenden Beitrag verwendet wird, ist vor allem an szenisch- theatralischen Vorgehensweisen und Vorgängen im engeren Sinn orientiert (vgl. Wrentschur, 2019: 381 ff.). Dies bedeutet, dass alle Elemente des Theaterspiels dabei eine Rolle spielen (können), wie Raum, Bewegung, Rhythmus, Gestik, Mimik, Körperhaltungen, Emotionen, Sprache, Stim- me, Rollen, Figuren, Handlungsabläufe und Interaktionen. Zudem erweist sich der ästhetische 131 Sonderheft 16 np Wrentschur, Forumtheater als methodisches Verfahren Raum des Theaterspiels nach Boal (vgl. 1999: 31 ff.) als plastisch und gestaltbar, Vergangenes kann gegenwärtig, Fiktives real und Reales fiktiv werden. Darsteller*innen wie Zuschauer*innen sind dabei in einem bestimmten Raum bzw. an einem bestimmten Ort und gleichzeitig in der Welt der jeweiligen Szene(n) anwesend. Und auch die telemikroskopische Dimension des äs- thetischen Raumes bekommt für Forschungsprozesse insofern Bedeutung, als Vorgänge und Prozesse vor- und zurückgespult oder auf andere Weise verfremdet werden, damit sich Fremdes im Alltäglichen offenbaren kann (vgl. Boal, 1999: 27-39; Koch, 1997: 81-85). Zentral sind die in szenischen Settings und Räumen mitwirkenden Akteur*innen, deren Hand- lungen, Haltungen und Verhaltensweisen sowie deren Zusammenspiel und Zusammenwirken im theatralischen Raum: »Auf diese Weise näher herangeholt und vergrößert, können menschliche Handlungen besser beobachtet werden« (Boal, 1999: 38). Zumeist stehen Inhalte und Themen szenischer Verfahren in Bezug zu Alltags- und Lebenswelterfahrungen, die in szenisch-theatrali- sche Bilder und Handlungsabläufe transformiert und zu einer eigenen ästhetischen wie sozialen Wirklichkeit werden. Weitzel bindet szenisches Forschen an die Praxeologie (vgl. Weitzel, 2012a: 111 ff.), deren zentrale Frage es ist, auf welche Weise Menschen handeln (können). Insofern steht eine erkenntnisleitende Handlungsperspektive im Vordergrund. Dabei gestaltet sich szenisches Forschen aus Weitzels Sicht »während der Herstellung und der assoziativen Interpretation not- wendigerweise als partizipatorischer Prozess« (Weitzel, 2012b: 269). Damit sind Verbindungen von partizipativem und szenischem Forschen (mit dem Forumtheater) angesprochen: So verweisen Streck und Holliday (2015) in Zusammenhang mit der PAR und deren lateinamerikanischen Wurzeln (vgl. ebd.: 477 ff.) u.a. auf das Forumtheater und die Trans- formation der Zuschauer*innen in die Protagonist*innen der Aktion. Partizipative Aktion und Forschung in ihren verschiedenen Ausprägungen stehen in Lateinamerika in enger Verbindung zu sozialen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit. Dies bestätigt auch Fritz (2013: 205 ff.), die sich mit der PAR und der creación colectiva in Südamerika auseinandersetzt und Parallelen zum TdU (und zum Forumtheater) herstellt (vgl. ebd.: 219): Die PAR wird von impulsgebenden Akteur*innen und der Gemeinschaft durchgeführt, die ihre Realität verändern wollen, wobei die zu bearbeitenden Probleme gemeinsam definiert werden. Praktisch bedeutet dies etwa, dass eine Community eine Einladung an Forschende ausspricht, der*die sich in der Folge mit dem geschichtlichen, kulturellen und sozioökonomischen Kontext des Ortes und der Menschen, mit denen er*sie arbeitet, auseinandersetzt. Die Auswahl der Anliegen und Forschungsmethoden wird gemeinsam entschieden und im Laufe der Forschung gibt es einen Methoden- und Ergebnis- transfer in die einladende Community (vgl. ebd.: 260). Aus der Sicht von Fritz (ebd.: 260 f.) wird dieser Anspruch der lateinamerikanischen PAR etwa von der indischen Forumtheatergruppe Jana Sanskriti realisiert: Ausgangspunkte sind Forderungen und Notwendigkeiten der Betroffe- nen, mit denen, ausgehend von der Analyse der Situation, gemeinsam über die Vorgangsweise entschieden wird. Die Ergebnisse der szenisch-partizipativen Forschungsprozesse werden in die größere Community zurückgeführt, woraus weitere Aktionen entwickelt werden. »Der Prozess besteht aus Aktion und Reflexion. Die Beteiligten ›erobern‹ sich quasi die Situation, sie eignen sich durch den Prozess die Welt als ›Ding für uns‹ anstelle eines ›Dings an sich‹ an« (ebd.: 261). Für Ganguly, den Leiter von Jana Sanskriti, ist Forumtheater in diesem Sinn ein Ort, an dem »Sozialwissenschaft betrieben wird. Das Resultat ist, dass sich der Prozess der Stückerarbeitung zu einem Prozess entwickelt, in dem Macht in die SchauspielerInnen eingeschrieben wird. Sie fühlen sich der Veränderung ihrer Realität verpflichtet« (Interview mit Ganguly in Fritz, 2011: 171). Im deutschsprachigen Raum stellt das Forschungsprojekt zum »Brüchigen Habitus« ein Bei- spiel dar, wie das Forumtheater als Methode einer handlungsbezogenen und emanzipatorischen Forschung angewendet wurde. Über mehrere Jahre widmete sich das Projekt der empirischen Er- forschung kooperativer Handlungsmöglichkeiten von Studierenden und Hochschullehrer*innen 132 Sonderheft 16 np Wrentschur, Forumtheater als methodisches Verfahren (vgl. Bülow-Schramm/Gipser 1997; 2007 und Gipser 1996; 2007). Mithilfe von Forumtheater wurden Machtbeziehungen und Herrschaftsstrukturen im Hochschulalltag analysiert und über das dramatische Probehandeln wurden Handlungsalternativen gesucht, die in der Folge in den universitären Alltag übertragen wurden. Gipser (vgl. 1996: 28 ff.; 2007) zufolge geht es dabei um »handlungs- und subjektorientierte Sozialforschungsprozesse« (ebd.), deren Fragestellungen sich vorrangig aus den Erkenntnisinteressen, Anliegen und Fragen der Mitwirkenden und weniger aus rein akademischen Fragestellungen speisen. Forumtheater als emanzipatorischer Forschungs- und Bewusstwerdungsprozess basiert auf der Verknüpfung von Forschung und Aktion, Erkennt- nisprozesse sind von praktischen und politischen Interessen geleitet und mit der Lebenspraxis verknüpft. Gipser (1996: 30) sieht darin Möglichkeiten, »Postulate einer emanzipatorischen Handlungsforschung praktisch umzusetzen«, zumal sich deren paradigmatische Elemente wie der dialogische Zugang zur Realität, die Erkenntnisproduktion über die kritische Argumentation im Diskurs sowie das zyklische Modell von Datensammlung, Diskussion und Handeln im Feld gut mit szenischer Forschung vereinbaren ließen (vgl. Gipser 1996: 29 ff.). Ich selbst habe an anderer Stelle weitere Bezüge vom Forumtheater zu Ansätzen partizipativer Forschung analysiert (vgl. Wrentschur, 2019: 421 ff.), auf die ich in der methodologischen und methodischen Reflexion am Ende des Beitrages eingehe. Zunächst stehen Verfahrensweisen und Methoden im Vordergrund, die bei Forumtheaterprojekten in Handlungs- und Problemfeldern der Sozialen Arbeit Anwendung finden. 2 Forumtheater in der Sozialen Arbeit: Verfahrensweisen, Methoden und Projektbeispiele Grundlage für die Beschreibung von methodischen Verfahrensweisen bilden Forumtheaterpro- jekte, die ich in den letzten Jahren in Handlungs- und Problemfeldern Sozialer Arbeit realisiert habe und in denen sich vielfältige Merkmale und Dimensionen von szenischen und partizipativen Forschungsprozessen zeigen. Die Projekte folgten einem methodischen Grundkonzept, dass ich im Folgenden im Überblick vorstelle.1 In die Darstellung der Verfahrensweisen werden Beispiele aus Forumtheaterprojekten miteinbezogen (und in kursiv hervorgehoben) und methodologische Bezüge hergestellt. Wesentlich für szenische Forschungsprozesse mit Forumtheater in Handlungs- und Problemfel- dern der Sozialen Arbeit sind die subjektiven, individuellen Wahrnehmungen und Erfahrungen der Mitwirkenden zu den grundlegenden Themen und Fragen eines Projektes. Zudem können theoretische und fachliche Bezüge (etwa in empirischen Studien zu einer bestimmten Problem- lage) in ebenjener grundlegenden Frage, die sich ein Projekt stellt, und in der damit verbundenen Gesamtkonzeption eine Rolle spielen und zudem in weiteren Phasen der Stückentwicklung einbezogen werden. In der Regel richten sich Zielsetzungen – wie von Unger (2014: 53) in Bezug auf partizipative Forschung schreibt – »in erster Linie nach den Relevanzsetzungen der Betrof- fenen und dem praktischen Handlungsbedarf«, wobei sich das Thema und dessen Fokussierung je nach Relevanz auch ändern können. So bilden thematische Interessen und Anliegen von be- stimmten Communitys oder Gruppen, die mit dem Wunsch nach Veränderung verbunden sind, den Rahmen für ein Projekt. Oder es werden Menschen, die bestimmte Erfahrungen (z.B. mit Diskriminierung, Ausgrenzung, finanziellen Notlagen) teilen, eingeladen, an einem szenischen Forschungsprojekt mitzuwirken. In jedem Fall ist wesentlich, dass ein thematisches Interesse der Mitwirkenden besteht, das für diese in ihren Lebenswelten und in ihrer Praxis bedeutsam 1 Eingehend beschrieben und diskutiert werden diese Verfahrensweisen in Abschnitt I, II und V meiner Habilitations- schrift, in der auch auf weitere Projekte Bezug genommen wird (Wrentschur, 2019). 133 Sonderheft 16 np Wrentschur, Forumtheater als methodisches Verfahren ist. Ganz im Sinne partizipativer Forschung wird Forumtheater mit unmittelbar betroffenen Menschen realisiert, um deren Wissen und Können »in einem Prozess der Selbstverständigung und des Empowerments« (Bergold/Thomas 2012: [19]) zu rekonstruieren. Dies betrifft vor allem Gruppen, deren Stimme und Perspektiven nur selten einbezogen werden »und die selbst kaum Möglichkeiten haben, ihre Interessen begründet einzubringen und durchzusetzen« (ebd.). Dar- über hinaus werden Kooperationen mit sozialen Bewegungen und Organisationen, aber auch mit Fachkräften gesucht, die thematische Interessen und Anliegen nach Veränderung teilen. Und aus projektstrategischen Gründen wird überlegt, welche Gruppen und Einrichtungen (z.B. aus Behörden, Politik) eingebunden werden, die für die Umsetzung von Veränderungsanliegen und -vorschlägen relevant sind. Phase 1: Stückentwicklung als emanzipatorischer und partizipativer Gestaltungs-, Recherche- und Erkenntnisprozess Szenisches Forschen mit dem Forumtheater wird in Gruppen praktiziert, was in der Regel mit einer hohen Präsenzzeit aller Mitwirkenden verbunden ist. Damit die Teilnahme an den oft mehrere Tage, Monate, manchmal sogar Jahre währenden Forumtheaterprojekten möglich ist, müssen die zeitlichen Rahmenbedingungen für die Mitwirkenden lebensweltlich angepasst und mit finanziellen Abgeltungen verbunden werden. So steht am Beginn eines Projekts oft ein mehrtägiger Workshop, bei dem zunächst versucht wird, eine vertrauens- und respektvolle, wert- schätzende und kooperative Atmosphäre in der jeweiligen Projektgruppe herzustellen. Dabei kommen angeleitete Körper-, Bewegungs- und Improvisationsübungen zur Anwendung, über die auch Spiellust und Kreativität angeregt werden. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Teilnehmer*innen in der Folge Mut fassen, sich den für sie oft belastenden Themen und Problemfeldern zu stellen und diese zur Artikulation zu bringen. Ähnlich den Prämissen einer kritischen Adressat*innenforschung (Anhorn/Stehr, 2012; Hanses, 2005; Graßhoff, 2013) und der partizipativen Forschung (von Unger, 2014; Bergold/Thomas, 2012) ist bedeutsam, dass sich die Mitwirkenden als Subjekte mit ihren Erfahrungen ernst nehmen und sich individuell und kollektiv Stimme und Ausdruck verschaffen. Die Mitwirkenden erforschen unter Zuhilfenahme von Theatermethoden ihre eigenen Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten, sowie ihre sozialen und politischen Lebenswelten und Strukturen, mit denen ihr Leben verbunden ist. Dabei wird vorrangig mit den lebensweltlichen und alltäglichen Erfahrungen gearbeitet. Das Nachemp- finden, Verstehen und das Einnehmen einer emotionalen, lebensweltorientierten Perspektive sind dabei sehr bedeutsam und zentral. In szenischen Forschungsprozessen wird der Körper als wesentliche Quelle von Wissen und Er- kenntnis betrachtet, d.h., körperliche Wahrnehmungen, Bedeutungen, Haltungen und Wertungen eines Themas werden in den Forschungsprozess miteinbezogen. Das kann sich auf das Anregen der Körpererinnerung, auf das Bewusstmachen von routinierten, einverleibten Körperhaltun- gen oder auf das Aufspüren von gesellschaftlich mitproduzierten Bewegungsmustern sowie auf die nonverbalen und symbolhaften Ausdrucksmöglichkeiten und Dimensionen eines Themas beziehen. Die subjektiven Erfahrungen und Perspektiven der Mitwirkenden werden besonders über nonverbale, körperbezogene Ausdrucksformen wie in den vielfältigen Bildertheater-Tech- niken artikuliert, bei denen soziale Situationen, Erfahrungen, Geschichten und Probleme der Teilnehmer*innen mithilfe von (eingefrorenen) Körperhaltungen, Gestik und Mimik dargestellt werden (vgl. Wrentschur, 2008: 103). »Image and imagination thus become an interplay of structure and de-structure, the image providing a form of closure to play with; the imagination providing a way of opening up the form to possibility« (Linds/Vetraino, 2008: [7]). Diese methodische Vor- gangsweise unterstützt die Teilnehmenden dabei, Momente und Erfahrungen aus ihrem Alltag und ihrer Lebenswelt zum Ausdruck zu bringen, ästhetisch zu verdichten, zu verfremden, zu betrachten und kreativ zu bearbeiten. Oft erkennen Projektmitwirkende Aspekte ihrer eigenen 134 Sonderheft 16 np Wrentschur, Forumtheater als methodisches Verfahren lebensweltlichen Erfahrungen in theatralischen Bildern, Szenen und Geschichten, die von an- deren Teilnehmer*innen herrühren, wieder. Zudem werden die symbolisch verdichteten Bilder und deren gemeinsame Analyse zu einem bedeutsamen Impuls für Austausch und Diskussionen unter den Mitwirkenden über die gezeigten und erlebten Situationen und Problemlagen. Dazu ein kurzes Beispiel aus dem sich über fünf Jahre erstreckenden Projekt »Kein Kies zum Kurven Kratzen« (Wrentschur, 2010; 2019) zum Thema Armut, an dessen Beginn ein mehrtägiger, par- tizipativer Theaterworkshop mit armutserfahrenen Menschen stand: Im Zuge des Workshops stellen alle Teilnehmer*innen unter Zuhilfenahme ihrer Körper non- verbale theatrale Bilder zu ihren alltäglichen Armutserfahrungen. In einer Serie von 28 Bildern – alle Mitwirkenden bringen einen mit finanziellen Notlagen verbundenen Moment aus ihrem Leben zum Ausdruck – werden Themen wie erfahrene Ausgrenzung, Angst, Ignoranz, Ausweg- losigkeit, Hilflosigkeit, Druck, Überforderung, Hoffnungslosigkeit, Scham, soziale Kälte, Not und Demütigung, Machtunterschiede zwischen System/Gesellschaft und dem Einzelnen, Überleben statt Leben zum Ausdruck gebracht und unmittelbar erlebbar. Die dargestellten theatralen Bilder wirken zunächst einschränkend, unterdrückend und hoffnungslos, ohne Handlungsspielraum. Erst bei dem Versuch, Gemeinsamkeiten in den verschiedenen Bildern zu suchen, bricht die Enge auf und es werden erste Bewegungen und Auswege deutlich. Ein Teilnehmer teilt seine Wahrnehmung mit den anderen: Immer wieder seien die Protagonist*innen in den Bildern als Opfer dargestellt, fühlen sich ohnmächtig, hilflos und ausgegrenzt. Und er fragt: »Wieso gibt es nicht einmal ein Bild des Aufbegehrens, des Aufstehens, des für sich selbst und seine Rechte Eintretens?« Dieser Mo- ment wird zu einem wichtigen Wendepunkt im Workshop: Wie ist es möglich, aus der Opferrolle auszusteigen und sich seiner Möglichkeiten, Fähigkeiten, Widerständigkeit und Wirkungs-Macht bewusst zu sein? (vgl. Wrentschur, 2019: 757). Auf diese Weise werden kommunikative Prozesse in Gang gesetzt: Die Mitwirkenden bringen ihre persönlichen Ansichten und Erfahrungen in die gemeinsame Auseinandersetzung ein, geben Impulse für Verständigungs-, Interpretations- und Assoziationsprozesse, was Erkenntniszuwächse und Bildungsprozesse bei allen Mitwirkenden anregen kann. Dokumentiert wird dies schriftlich in Form von Protokollen mit Beschreibungen und Assoziationen zu den einzelnen Bildern, oft auch in Stichworten auf Plakaten in Kombination mit Fotos. Dies gilt vor allem als Erinnerungs- stütze und in weiterer Folge als Grundlage für darauf folgende Entscheidungen der thematischen Vertiefung und szenischen Gestaltung. Im Sinne von »Daten« sind jedoch die entwickelten Bilder und Szenen vorrangig. Davon ausgehend wird verstärkt nach den verbindenden, gemeinsamen Problem- und Konfliktlagen gesucht, es wird auf intersubjektive Themen und auf die damit verbundenen (gemeinsamen) Anliegen nach Veränderung fokussiert. Schließlich werden aus dem gemeinsam entwickelten, szenischen Rohmaterial eine oder meh- rere ästhetisch-theatralische Szenen gestaltet. Über diesen ästhetischen und szenischen Verdich- tungsprozess soll deutlich werden, welches Problem im Fokus steht und welche Fragen in den jeweiligen Szenen bzw. mit dem Stück aufgeworfen werden. Methodisch kommen dabei zumeist Formen der Improvisation mit anschließenden Reflexionen sowie spezielle Probetechniken zur Fokussierung und Gestaltung der szenischen Abläufe zur Anwendung. Folgende Fragen spielen dabei eine Rolle: Was braucht es an Handlungen, an Gefühlen und räumlichen Arrangements, an Gesten und Haltungen, damit die Szene stimmiger und realer wird? Wie können damit die in den Situationen wirkenden Macht- und Statusbeziehungen deutlich und den von der Gruppe intendierten Problemen und Anliegen gerecht werden? Sind die sozialen Rollen und deren Habitus bzw. Haltungen entsprechend dargestellt? Sind die Szenen entsprechend vielschichtig und komplex? In welcher Weise berühren die Szenen die gemeinsamen Erfahrungen und/oder Anliegen der Mitwirkenden? 135 Sonderheft 16 np Wrentschur, Forumtheater als methodisches Verfahren Neben dem ästhetischen Entwicklungs- und Gestaltungsprozess ist in dieser Phase vor allem die Rollenarbeit sehr bedeutsam, um die Darsteller*innen gut auf die interaktive Forumphase vorzubereiten, bei der diese aus dem Wissen und Habitus einer Rolle heraus auf Veränderungs- ideen der Zuschauer*innen reagieren. Unterstützt wird dies mit Recherchen zu Fakten, Gesetzen, Abläufen und Handlungsspielräumen der beteiligten Rollen. Ein weiteres methodisches Element in dieser Phase bildet eine Form der dialogischen Rück- koppelung und Validierung, indem Menschen, die aufgrund ihrer Betroffenheit eine persönliche oder eine professionelle Expertise zu den erarbeiteten Themen aufweisen, zu offenen Proben eingeladen werden. Dabei werden szenische Entwürfe präsentiert, um gemeinsam zu reflektieren und zu diskutieren, inwieweit sie den Erfahrungen und Realitäten der Eingeladenen entsprechen. Im Sinne eines Wissens- und Informationstransfers werden zudem szenische Improvisationen zum Kontext und Inhalt der Szene durchgeführt, an denen die eingeladenen Expert*innen unmittelbar mitwirken. Diese offenen Proben dienen dem Austausch relevanter Informationen zum Thema, die einen wichtigen Hintergrund für die Szenen bilden. Dies kann zu weiteren Recherchen zu fachlichen, gesetzlichen oder politischen Hintergründen anregen, die für die jeweiligen Szenen relevant sind. So wurden beim Projekt »Legislatives Theater mit wohnungslosen Menschen« Rückkoppe- lungsschleifen zur Community wohnungsloser Menschen in Graz gebildet (vgl. Wrentschur, 2008: 102 f.). Die Gruppenmitglieder betätigten sich als Sozialforscher*innen und führten kurze Fragebogeninterviews mit wohnungslosen Menschen durch, um zu erfahren, welche Probleme und Anliegen von diesen als besonders dringend angesehen werden. Als selbst Betroffene konnten die Gruppenmitglieder das Vertrauen ihrer »Kolleg*innen« gewinnen; die Vorarbeiten innerhalb der Projektgruppe kamen ihnen dabei zugute. Die Ergebnisse dieser Befragung bestärkten die Grup- pe in ihrer Themenwahl, sie wurden zu einer wertvollen Stütze und Rückbindung für die weitere Entwicklung der Szenen und Bilder. Die Themen, Problemlagen und Anliegen wurden schließlich nach ihrer Dringlichkeit gereiht, wobei Schwierigkeiten und Diskriminierungen bei der Arbeits- und Wohnungssuche, bürokratische Barrieren und mangelnder Zugang zu relevanten Informationen (das »Herumgeschickt-Werden«) sowie die Verschuldensdynamik zu den wichtigsten zählten. Dieser szenische Forschungsprozess führt in ein von Text und Ablauf fixiertes Forumthea- terstück, das ästhetisch gestaltet und verdichtet Erkenntnisse und Phänomene des bisherigen Gestaltungs- und Reflexionsprozesses enthält. Die Mitwirkenden eines Forumtheaterprojektes sind in allen bisherigen Phasen des szenischen Forschens mit dem Forumtheater aktive Sub- jekte und Akteur*innen der Forschung, die ihre individuellen Erfahrungen und Sichtweisen zu gemeinsam gestalteten, kollektiven theatralischen Bildern und Szenen verbinden. In den szeni- schen Verläufen werden individuelle, alltägliche biografische Verläufe und Handlungsverläufe in ihrem dialektischen Wechsel- und Spannungsverhältnis zu gesellschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen und Kontexten dargestellt. Diese szenisch verdichteten Erkenntnisse werden anschließend einem Publikum vermittelt, verbunden mit einer oder mehreren Frage(n), die bei den interaktiven Aufführungen bearbeitet werden. Wie in verschiedenen partizipativen Forschungsansätzen geht es auch bei der Arbeit mit dem Forumtheater um das Schaffen von Räumen für öffentliche Diskurse zu gesellschaftlichen und politischen Konflikten und Problemen. Da die Veröffentlichung der Ergebnisse für Forschungsteilnehmer*innen negative Konsequenzen haben kann, muss gemeinsam reflektiert werden, was an die Öffentlichkeit übermittelt wird: Geht es um die öffentliche Aufführung eines Forumtheaterstückes oder um die Veröffentlichung eines Textes mit politischen Vorschlägen, benötigt dies immer die Zustimmung der gesamten Gruppe nach entsprechenden Klärungsprozessen, was die Projektmitwirkenden öffentlich zeigen wollen. 136 Sonderheft 16 np Wrentschur, Forumtheater als methodisches Verfahren Phase 2: Interaktive Aufführungen als kollektive und partizipative Forschungsforen Mit den interaktiven Aufführungen wird die in offenen Proben realisierte dialogische Rück- koppelung intensiviert, indem vor allem betroffene Communitys, einschlägige Organisationen und Initiativen sowie gesellschaftliche Öffentlichkeiten angesprochen und einbezogen werden. Über eine Aufführungsserie hinweg kann sich auf diese Weise zeigen, inwieweit die dargestellten Szenen als Ergebnisse der szenischen Forschungsprozesse kontextualisierbar und über die Erfah- rungen und Erkenntnisse der Projektmitwirkenden hinaus generalisierbar sind, zumal es dabei nicht um eine Reproduktion sozialer Wirklichkeit, sondern um deren szenische und ästhetische Verdichtung geht. Forumtheateraufführungen erweisen sich als eine Form einer intervenierenden und kommunikativen Feldforschung, bei der regionale Eindrücke, Befunde und Erkenntnisse zur Wahrnehmung und zum Umgang mit den gezeigten sozialen Problemen aufgenommen und analysiert werden können. Dieser Erkenntnisprozess kann in der Folge unter Anwendung anderer Methoden (regional) vertieft werden (vgl. Wrentschur, 2008a: 717 f.). Szenisches Forschen mit dem Forumtheater ist in der interaktiven Forumphase von einem spielerisch-experimentellen Charakter geprägt. In dieser Phase wird gemeinsam mit dem Pu- blikum nach Ideen zur Veränderung bzw. zu Lösungsansätzen für die gezeigten Probleme und Konflikte gesucht, die auch hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit reflektiert werden: Szenen werden unterbrochen und in neuen Varianten gespielt, es wird zwischen der unmittelbaren Beteiligung im Spiel, der Beobachtung und der Reflexion gewechselt. Die Forumphase gleicht einem sozio- logischen Experimentieren mit Haltungen, Verhaltensweisen und Handlungen (vgl. Koch, 1988: 45), indem versucht wird, dem Geschehen auf der Bühne eine Wendung zu geben, während die Darsteller*innen aus der habituellen Perspektive der jeweiligen Rolle darauf reagieren. Dadurch werden mögliche Folgen des Handelns unmittelbar sichtbar und erlebbar gemacht, genauso wie jene habituellen, soziokulturellen und strukturellen Barrieren bzw. Grenzen, auf die individuelles Handeln stoßen kann (Wrentschur, 2019: 416 f.). In zahlreichen interaktiven Forumtheateraufführungen wurde beim bereits erwähnten Projekt »Legislatives Theater mit wohnungslosen Menschen« (Wrentschur, 2008) das Publikum, das sich aus wohnungslosen Menschen, in sozialen Einrichtungen Tätigen und Interessierten zusammen- setzte, dazu eingeladen, sich im Sinne des Forumtheaters am Spielgeschehen zu beteiligen, die Rolle des oder der Wohnungslosen zu ersetzen und Veränderungsideen auszuprobieren. Das Erkennt- nisinteresse galt vor allem der Frage, wie es möglich ist, aus dem nach unten führenden Kreislauf auszusteigen und auf diskriminierende und ausgrenzende Praktiken zu reagieren. Die »Einstiege« in die Forumtheaterszenen loteten Handlungsspielräume der Rollen in den jeweiligen Szenen aus und ließen erkennen, welche institutionellen oder gesetzlichen Veränderungen notwendig wären, um die Reintegration und Partizipation von wohnungslosen Menschen zu erleichtern. Als große Hürde stellten sich dabei die eklatanten Macht- und Statusunterschiede heraus, mit denen wohnungslose Menschen konfrontiert sind. Vor dem Hintergrund des zumeist geringen sozialen, ökonomischen, kulturellen und symbolischen Kapitals, auf das wohnungslose Menschen zurückgreifen können, wurde die Suche nach Möglichkeiten angeregt, den dargestellten Machtungleichgewichten zumindest insofern zu begegnen, als dass wohnungslose Menschen in den für sie existenziell bedeutsamen Situationen als Dialogpartner*innen ernst genommen werden. Dieser Prozess machte beschrän- kende oder beherrschende habituelle Praktiken bewusst, denen wohnungslose Menschen selbst unterliegen bzw. mit denen sie konfrontiert sind. Es zeigte sich das für die individuelle Hand- lungsebene interessante und zugleich widersprüchliche Ergebnis, dass es durchaus Wege gab, um aus der Sicht wohnungsloser Menschen schwierige Situationen zu bewältigen oder zu wichtigen Auskünften und Unterstützungsleistungen zu gelangen. Dafür schienen etwa selbstbewusstes oder hartnäckiges Auftreten, Freundlichkeit und Humor, das Deutlichmachen von Notsituationen, das Aushandeln von Lösungen sowie das Umdeuten von Situationen notwendig. Die meisten dieser 137 Sonderheft 16 np Wrentschur, Forumtheater als methodisches Verfahren Eigenschaften und Verhaltensweisen stehen aber im Widerspruch dazu, dass akut wohnungslose Menschen in der Regel zumeist über Scham- und Versagensgefühle und über wenig Selbstwert und Selbstbewusstsein verfügen, was oftmals destruktive oder aggressive Verhaltensweisen befördert. Insofern bestand eine wesentliche Erkenntnis darin, dass die Forderung nach Veränderung der individuellen Haltungen der Betroffenen zu kurz greift, wenn soziale Unterstützungssysteme und Behörden ihrerseits Barrieren aufbauen und damit Ausgrenzungspraktiken vollziehen, welche die rechtlichen Ansprüche wohnungsloser Menschen auf Information und Hilfestellungen konterka- rieren (vgl. Wrentschur, 2008: 106). Der Erprobung von Handlungsalternativen bei den Einstiegen folgt eine gemeinsame Re- flexion, indem Einsteiger*innen, Zuschauer*innen und manchmal auch Darsteller*innen ihre Wahrnehmungen und Ansichten artikulieren. Dadurch kann es zu vielfältigen Erkenntnissen kommen, die mit dem unmittelbaren und oft auch körperlichen Erleben der Aufführungen in Zusammenhang stehen. Die spielerisch-experimentelle Auseinandersetzung mit theatralisch verdichteten Lebens- und Alltagswelten kann so zu einem besseren Verstehen der Handlungen der einzelnen Akteur*innen, der gezeigten sozialen Probleme und ihrer Auswirkungen beitra- gen: Durch Einstiege können bislang verborgene, auch tabuisierte oder zunächst unbewusste Facetten eines Thema zutage treten und dessen Komplexität und Vielschichtigkeit deutlich werden. Entlang der zentralen Frage, ob eher individuelle, handlungsbezogene und/oder eben eher strukturbezogene, politische Herangehensweisen notwendig sind, um Veränderungen zu initiieren und zu realisieren, verstehen sich Forumtheateraufführungen als handlungs- und di- alogorientierte Forschungsprozesse. Bei Projekten, die stärker auf die Veränderung politischer Rahmenbedingungen abzielen, wird das Publikum auch dazu eingeladen, aus den Erfahrungen der interaktiven Aufführungsprozesse heraus strukturell-politische Anliegen und Vorschläge zu formulieren, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Stück ergeben und die Suche nach eher individuellen Handlungsmöglichkeiten ergänzen. Alle Einstiege, Diskussionsbeiträge und Vorschläge, die im Verlauf einer Aufführung entstehen, werden jedenfalls schriftlich, manches Mal auch audiovisuell über Filmmitschnitte dokumentiert. Phase 3: Auswertung und Transfer Nach den Forumtheateraufführungen setzt sich im Projektteam die Erkenntnisarbeit fort und regt zur Frage an, wie die gewonnenen Erkenntnisse in die jeweiligen Lebensrealitäten übertragen werden können bzw. welche Lösungsvorschläge und Handlungsansätze auf persönlicher, gesell- schaftlicher und politischer Ebene damit verbunden sind. Grundlage dafür ist die zunächst von den akademisch Forschenden vorgenommene inhaltsanalytische Auswertung und Strukturierung der in den Protokollen dokumentierten Einstiege, Lösungsvorschläge und Diskussionsbeiträge des Publikums, die in der Folge von der Gruppe der Projektmitwirkenden hinsichtlich zweier grundlegender Perspektiven reflektiert und diskutiert werden. Zum einen wird untersucht, ob sich in den über die Einstiege des Publikums zum Ausdruck gebrachten Lösungsideen und Handlungsalternativen Ansätze zeigen, die für die Mitwirkenden am Projekt als sinnvoll, bedeutsam und in ihren Lebensrealitäten als realisierbar erscheinen. Dazu werden in der Gruppe der Projektmitwirkenden die Einstiege und ihre Wirkungen gemeinsam besprochen und reflektiert, und es wird überlegt, wie Haltungen und Handlungsweisen, die im szenischen Spiel als wirksam und stimmig erlebt werden, in der Folge im Alltag bzw. in der gesellschaftlichen Praxis auf die Probe gestellt werden. Handlungsmöglichkeiten beziehen sich dabei zumeist auf Situationen und Dynamiken von Ausgrenzung, Unterdrückung und Ohnmacht; sie können persönliche, soziale, berufliche und politische Kontexte betreffen. Über individuelle Handlungsansätze hinaus können zudem gemeinsame, kollektive Handlungs- und Aktionsformen angedacht und realisiert werden. 138 Sonderheft 16 np Wrentschur, Forumtheater als methodisches Verfahren Zum anderen geht es um die Frage, ob in den Einstiegen und formulierten Lösungsvorschlägen generelle, verbindende Vorschläge und Lösungsansätze gefunden werden können und ob daraus ein gesellschaftlicher, politischer oder behördlicher Handlungs- bzw. Veränderungsbedarf arti- kuliert werden kann. Auf dieser Grundlage werden Vorschläge, Lösungsansätze, Anliegen und Forderungen von der Gruppe der Projektmitwirkenden formuliert, die zur Verbesserung bzw. Veränderung einer bestimmten sozialen oder politischen Problematik beitragen können. Diese Vorschläge, Lösungsideen und Forderungen können anschließend mit weiteren betroffenen und professionellen Expert*innen hinsichtlich ihrer Sinnhaftigkeit, ihres Beitrags zur Lösung der thematisierten Probleme reflektiert und diskutiert werden. Dabei wesentlich ist die Frage, ob die Vorschläge und Lösungsansätze Betroffene in einer ähnlichen Lage unterstützen können, ihre Situation besser zu bewältigen. In einem weiteren Schritt können die Vorschläge und Ideen gemeinsam mit professionellen Expert*innen dahingehend überprüft werden, welche politischen, behördlichen oder rechtlichen Kontexte davon berührt werden. Nach einer nochmaligen Überar- beitung der Vorschläge und Texte – wieder unter Miteinbeziehung von betroffenen und fachlichen Expert*innen – werden diese für den Transfer an unterschiedliche Entscheidungsträger*innen aufbereitet. Diese partizipative Produktion eines Berichts mit Vorschlägen und Forderungen ist Ergebnis eines kollektiven Reflexions- und Klärungsprozesses, der die Erfahrungen und Sicht- weisen von Menschen ernst nimmt, die eine Problematik aus der eigenen Lebenswelt kennen und die sich in einem länger währenden Forschungs- und Bewusstseinsprozess über ihre Anliegen und Veränderungsvorschläge klar geworden sind. Unter Zuhilfenahme der jeweiligen Forumtheaterstücke kann in der Folge in unterschiedliche behördliche und politische Kontexte interveniert werden, um die Vorschläge, Anliegen und Lösungsideen mit Entscheidungs- und Verantwortungsträger*innen in Bezirken, Kommunen, Ländern oder im Parlament zu diskutieren (vgl. etwa Wrentschur, 2008; Wrentschur, 2008a; Wrentschur, 2010; Wrentschur, 2011; Wrentschur, 2012; Wrentschur, 2019; Wrentschur/Moser, 2014). Die Forumtheaterstücke haben dabei nicht nur die Funktion, ästhetisch verdichtete Ergeb- nisse des szenischen Forschungsprozesses an Entscheidungs- und Verantwortungsträger*innen zu vermitteln, sondern dadurch die bei den bisherigen Aufführungs- und Reflexionsprozessen entwickelten Lösungs- und Veränderungsideen verständlich und nachvollziehbar zu machen als eine Grundlage für deren Umsetzung und Realisierung. 3 Methodische Reflexionen und Perspektiven Durch meine Ausführungen sollte deutlich werden, wie sich Forumtheater in unterschiedlicher Akzentuierung als partizipativer Forschungsprozess gestalten lässt, wobei die partizipativen Gestaltungs-, Recherche- und Erkenntnisprozesse bei der Stückentwicklung, die interaktiven Aufführungen als kollektive und partizipative Forschungsforen und schließlich die Auswertung und der Transfer in soziale und politische Räume als wesentliche Phasen beschrieben werden können. Neben den erfahrungs- und handlungsbezogenen Erkenntnissen im szenischen For- schungsprozess sind die Forumtheaterszenen und -stücke, die in ästhetisch verdichteter Weise Erkenntnisse über das Zusammenspiel von sozialen Handlungen, Dynamiken und Strukturen beinhalten, ein zentrales Ergebnis dieses Prozesses. Die Theatralisierung von Erfahrungen aus dem sozialen Alltag und von sozialer Wirklichkeit generiert Wissen und Erkenntnisse, ebenso wie die gemeinsame Stückentwicklung, die damit verbundene Rollenarbeit und die interaktiven Aufführungen. Zudem werden Berichte zum Projektprozess und zu inhaltlichen Ergebnissen auf Basis der dokumentierten, ausgewerteten und rückgekoppelten Lösungs- und Veränderungs- vorschläge verfasst. 139 Sonderheft 16 np Wrentschur, Forumtheater als methodisches Verfahren Die Arbeit mit dem Forumtheater kann als transformierende und eingreifende Forschung ver- standen werden. Zunächst geht es um die Transformation von Alltagserfahrungen in theatralische Bilder und Szenen, in der Folge können diese theatralischen Bilder und Szenen analysiert, kreativ bearbeitet und verändert bzw. transformiert werden. Diese Reflexions- und Transformationspro- zesse im ästhetischen Raum eröffnen einen experimentellen Probe- und Reflexionsraum für neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten in der sozialen Realität. Mit dem Forumtheater wird zudem in soziale und politische Räume eingegriffen und Forumtheater stellt selbst ein Medium dar, in das »eingegriffen« werden kann, wenn Zuschauer*innen alternative Handlungsweisen erproben. Damit versteht sich szenisches Forschen mit dem Forumtheater wie partizipative Forschung insgesamt als Auslöser für sozialen Wandel sowie als eine in soziale und politische Räume eingrei- fende Forschungsstrategie. Die Reflexions- und Erkenntnisprozesse beim Forumtheater sind vom Wunsch und von der Suche nach Veränderungsmöglichkeiten hinsichtlich der Überwindung von Unterdrückung, Ausgrenzung und Diskriminierung in Richtung von mehr sozialer Gerechtigkeit, Teilhabe, Partizipation und Empowerment geleitet. Insofern ist es ein Ziel, in starkem Maße Veränderungswissen zu produzieren, das an die lebensweltlichen Bedingungen und Lebensla- gen der Projektmitwirkenden rückgebunden ist. Die Ergebnisse können in mehreren Schleifen in die jeweilige Community zurückgeführt werden, sodass auf dieser Grundlage neue Schritte zur Verbesserung der Situation geplant werden können. Es geht um das Kennenlernen neuer Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten auf persönlicher, sozialer und politischer Ebene. Je nach Thema und Veränderungsanliegen werden die verschiedenen Ebenen und damit zusam- menhängenden Strategien erst erschlossen. Dabei stehen die Forschungsprozesse in unmittel- barem Zusammenhang mit alltäglichen Erfahrungen in der Lebenswelt der Teilnehmer*innen, die mit theatralen Werkzeugen artikuliert, verdichtet, verfremdet und transformiert werden, um damit Problemlagen und generative Themen spezifischer Gruppen und Communitys bewusst zu machen. Wesentlich dabei ist, welchen Nutzen und welchen Gebrauchswert die Mitwirkenden aus den Erkenntnissen für ihr Handeln und ihre Handlungsspielräume schöpfen – im Sinne der Erweiterung des Wissens und der gemeinsamen Handlungsfähigkeit aller Beteiligten. Im Unterschied zu partizipativen Forschungsverfahren, bei denen die Mitwirkenden auch über den Einsatz von Methoden (mit-)bestimmen oder entscheiden können, stehen Methoden der Theaterarbeit beim Forschen mit dem Forumtheater im Vordergrund. Über vielschichtige und vielstimmige Aufführungstexte werden soziale Probleme und deren Komplexität in der Verbin- dung von Alltagshandeln und gesellschaftlich-politischer Struktur in einer Weise zum Ausdruck gebracht, die viele Menschen weit über akademische Kontexte hinaus erreichen und beteiligen kann. Die Emotionalität und Vielschichtigkeit in den dargestellten Forumtheaterszenen regen dazu an, Verbindungen zu eigenen lebensweltlichen Erfahrungen herzustellen; die Wissens- und Erkenntnisproduktion realisiert sich nicht nur über Texte, sondern auch über Handlungen, Haltungen, Gestik und emotionales Erleben. Eine derart verstandene aufführungsorientierte Sozialwissenschaft wird durch eine kritische soziologische Imagination geprägt, die eine radikale Demokratisierung der Lebensverhältnisse anstrebt. »Dabei ist es Aufgabe einer kritisch orien- tierten Sozialwissenschaft, Erfahrung, Politik, Performativität und Ermächtigung miteinander zu verknüpfen« (Winter, 2009: [40]). Dies alles erweist sich insgesamt als voraussetzungsvoll und ist mit speziellen Herausforde- rungen und Spannungsfeldern verbunden. So liegt in der Stärke dieses Ansatzes zugleich eine Schwierigkeit: Erst die notwendige, hohe Präsenzzeit der Projektmitwirkenden eröffnet vielfäl- tige Reflexions- und Erkenntnismöglichkeiten und macht die Entwicklung von qualitätsvollen Forumtheaterstücken möglich. Die mit der Teilnahme einhergehende Involviertheit und intensive Auseinandersetzung mit belastenden, oft auch schmerzhaften Themen kann als sehr herausfor- 140 Sonderheft 16 np Wrentschur, Forumtheater als methodisches Verfahren dernd und anstrengend erlebt werden. Umso wichtiger sind transparente und unterstützende Rahmenbedingungen, eine auf Wertschätzung und Respekt basierende Zusammenarbeit und die mit der Theaterarbeit verbundenen Räume für Kreativität, Ausdruck und gemeinsames Handeln. Herausfordernd ist zudem, dass inhaltlich und ästhetisch überzeugende Forumtheaterstücke notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für deren soziale und politische Wirkung sind. Vielmehr ist bei den jeweiligen Projekten eine große Menge an Vernetzungs- und Öffent- lichkeitsarbeit zu leisten, die von Projektbeginn an mitgedacht werden muss. Nur so können über die Aufführungen viele Menschen aus gesellschaftlichen, professionellen, behördlichen oder poli- tischen Kontexten angesprochen, erreicht und am Dialog über Lösungsansätze beteiligt werden. Abgesehen davon müssen in Bezug auf die Veränderungsanliegen und -vorschläge wiederholt Rückkoppelungen zum Projektteam, zu relevanten Communitys, Initiativen und Menschen mit einschlägiger Expertise erfolgen. Dies alles ist eine Grundlage für politische Folgehandlungen, die aber außerhalb der Gestaltungsmöglichkeiten und des Machtbereiches eines Projektes liegen. So hat sich im Zuge von Forumtheaterprojekten immer wieder herausgestellt, dass die »Stim- men der Adressat*innen« zwar beim unmittelbaren Erleben der Aufführungen Gehör finden und bei politischen Entscheidungsträger*innen Verständnis und Umsetzungsbereitschaft für die Veränderungsvorschläge geweckt werden, dass diese aber aufgrund der Dynamiken innerhalb der jeweiligen politischen Gremien nicht realisiert werden (vgl. Wrentschur, 2014). Fragen nach dem Grad, der Art und Weise der Partizipation der Mitwirkenden, auch beim Verfassen von fachlichen Publikationen im Sinne vielstimmiger Darstellungsformen, sowie die Weiterentwicklung und Anwendung ethischer Kriterien und Regeln werden dabei eine beson- dere Rolle spielen, wenn sich Forumtheater als szenischer und partizipativer Forschungsansatz in der sozialwissenschaftlichen und damit auch sozialpädagogischen Forschungslandschaft wei- ter etablieren will. Die spezifischen Beiträge und Leistungen von Forumtheater als szenischem Forschungsansatz in Handlungs- und Forschungsfeldern der Sozialen Arbeit bestehen meines Erachtens in der unmittelbaren Beteiligung der Adressat*innen, der Untersuchung von Hand- lungsspielräumen bei gleichzeitiger Bewusstheit der strukturellen Rahmungen sowie in der vielschichtigen, interaktiven Vermittlung von Erkenntnissen an gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit(en). Dies entspricht einem von Schneider (2014) formuliertem Verständnis von Forschung in der Sozialen Arbeit, das von »der Sozialen Arbeit als Handlungswissenschaft in der Sorge um die soziale Existenz des Menschen ausgeh[t]« (Schneider, 2014: 396). Dabei ist sie dem Handeln auf einer individuellen, institutionellen und politischen Ebene verpflichtet. Ebenso wichtig ist aber auch, dass sich Forschung stärker als bisher um Dissemination aktiv bemühen sollte. Denn eine Soziale Arbeit, so Schneider (2012: 165 f.), die gesellschaftlichen Wandel be- treiben will, muss proaktiv und professionell agieren. Und dazu kann szenisches Forschen mit dem Forumtheater in jedem Fall beitragen. Literatur Anhorn, R./Stehr, J., 2012: Grundmodelle von Gesellschaft litative Social Research 13, H. 1 (onliner unter: http:// und sozialer Ausschließung: Zum Gegenstand einer nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1201302, kritischen Forschungsperspektive in der Sozialen Datum des Zugriffs: 18.03.2019) Arbeit. In: Schimpf, E./Stehr, J. (Hg.): Kritisches For- Boal, A., 1999: Der Regenbogen der Wünsche: Methoden schen in der Sozialen Arbeit. Gegenstandbereiche aus Theater und Therapie. Seelze (Velber) – Kontextbedingungen – Positionierungen – Pers- Boal, A., 2013: Übungen und Spiele für Schauspieler und pektiven. Wiesbaden: 57-76 Nicht-Schauspieler. Aktualisierte und erweiterte Aus- Bergold, J./Thomas, S., 2012: Partizipative Forschungs- gabe. 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In: Inter- Wrentschur, M., 2014: Die Stimmen der AdressatInnen national Social Work 57, H. 4: 398-410 – werden sie gehört? Situative Blitzlichter auf das 143 Sonderheft 16 np Reutlinger, Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung Christian Reutlinger Authentizität und Passung: Den Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung auf der Spur Ihr könnt uns gar nicht verstehen: Eine große Irritation als Ausgangspunkt Instituto Cultural Oaxaca, Mexiko, Freitagmorgen, Ende August 2018. Der Moderator der »Mesa«, des runden Tisches zum Thema »Comunidad, Espacio Social, Territorio«1 (Gemein- schaft, Sozialraum, Territorium), ein Professor einer mexikanischen Universität, begrüßt die Anwesenden und redet sich in Fahrt. Über 500 Jahre Dominanz westlichen Denkens, ein sys- tematisches Übergehen autochthonen Wissens und indigener Standpunkte, unpassende, die hiesigen Gemeinschaften zerstörende Konzepte, Theorien, Methoden. Angesichts seines Eifers vergisst er, das internationale Feld der Teilnehmenden am Tisch vorzustellen und die fachlichen Inputs anzumoderieren. Vielmehr skizziert er das Bild eines alternativen, in seinen Augen einzig »richtigen« Forschungszugangs: Ansetzend am Wissen und in der Sprache der Bevölkerung soll ein Paradigmenwechsel stattfinden, bei dem die Beforschten (Objekte) zu den Protagonisten (Subjekte) des Forschungs- und Veränderungsprozesses werden. Gemeinsames Verstehen und Lernen führe zur Bewusstseinsbildung und Vergemeinschaftung der Wissensbestände sowie zur Sensibilisierung, politischen Mobilisierung und Organisation der beteiligten Personen und münde in wirkliche Demokratisierungs- und Beteiligungsprozesse. Alles kulminiere schließlich in einer positiven Veränderung einer bestimmten Realität, eine gerechtere Welt – möglich sei dies alles nur endogen, also unter komplettem Ausschluss der negativen Einflüsse des Westens. Seine Ausführungen endet er mit der Aussage: »Ihr könnt uns gar nicht verstehen« – gedacht im allgemeinen Sinne: »ihr«, der Westen oder besser der Norden, und »wir«, der Süden; bezogen auf die Veranstaltung jedoch in der Gegenüberstellung der als Norden und Süden personifizierten Wissenschaftler*innen am Tisch. Dann erteilt er mir, als ersten Inputgebenden, das Wort. Völlig perplex angesichts der Situation entgegne ich, dass ich vor dem Hintergrund dieses mächtigen bipolaren Bildes nicht in der Lage wäre, wie geplant im Rahmen meines Inputs von partizipativen Sozialraumforschungsprojekten aus der Schweiz zu berichten. In die Ecke des Nicht-Verstehen-Könnens gestellt wäre ich dazu zu westlich, zu universitär, zu »gewalttätig« und deshalb zu mächtig geprägt. Ein Dialog zwischen dem Süden und dem Norden an einem Tisch wäre vor diesem Hintergrund immer zum Scheitern verurteilt. »Am besten gehe ich gleich wieder nach Hause«. Auf die darauf folgende, lebhafte Diskussion zwischen auf Unverständnis stoßenden lateinamerikanischen Kolleg*innen auf der einen Seite und mich zu unterstützen versuchenden Kolleg*innen aus Nordamerika und Europa auf der anderen Seite soll nicht weiter eingegangen werden, da sie Stoff für eine eigene Geschichte liefern würde. Vielmehr möchte ich einigen Gedanken nachgehen, die mich seit der Begebenheit beschäftigen. 1 Die Veranstaltung fand im Rahmen des vom CIIE Oaxaca, dem »Centro Internacional Interdisciplinario de Investi- gación y Enseñanza Aplicada«, organisierten Symposiums 2018 »Komplexe Wirklichkeiten: Ansätze aus den Sozi- alwissenschaften« statt. Das CIIE wiederum ist aus dem Projekt »Reletran« (Kniffki/Reutlinger, 2016) entstanden, bei welchem unterschiedliche Ansätze gemeinwesenorientierter Sozialer Arbeit aus Lateinamerika und Europa partizipativ weiterentwickelt wurden (www.reletran.org). 144 Sonderheft 16 np Reutlinger, Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung Worüber reden wir überhaupt? Vergewissernder Blick ins »Hier« und »Jetzt« und ins »Damals« und »Dort« Derzeit werden in der Sozialen Arbeit partizipative Forschungsansätze sowohl »Hier«, im Nor- den, (wieder neu) entdeckt und als innovativ propagiert (Alisch/May, 2017) als auch »Dort«, im Süden, erlebt der (tradierte) Forschungszugang der investigación-acción participativa (IAP)2 im Rahmen postkolonialer, wissenschafts- und gesellschaftskritischer Strömungen eine Renaissance. Betrachtet man nun lediglich die begrifflich-konzeptionelle Ebene, so scheinen die konstitutiven Elemente fast identisch zu sein: Forschen mit Praktiker*innen (und Adressat*innen) Sozialer Arbeit wird als Gegenposition zu einer zweckrationalen, technologischen und positivistischen Forschungslogik beschrieben, als wissenschaftspolitische Position, als komplexer Lernprozess sowie als Möglichkeit sozialer Veränderungen bzw. Entwicklung passender Angebote. Und doch scheint man nicht vom Selben zu reden bzw. führt das Reden darüber zu Missverständnissen – zumindest, wenn die Begebenheit in Mexiko ernst genommen wird. Sind die jeweils verhandelten Konzepte und Begriffe nicht miteinander vergleichbar, obwohl »Jetzt«, d.h. im Frühjahr 2018, ein trinationaler Workshop über partizipative Forschung mit fast identischen Begründungen in Basel stattfand (siehe Einleitung i.d. Heft) und ein paar Monate später das eingangs erwähnte Symposium in Oaxaca? Oder ist der Kontext dermaßen unterschiedlich? Der transnationale Vergleich unterschiedlicher Aspekte von Aktionsforschung gestaltete sich bereits in den 1970er Jahren schwierig. »Damals« trafen sich vom 18. bis 22. April 1977 Sozialwissenschaftler*innen aus der ganzen Welt in Cartagena de la India (Kolumbien) zu einem »internationalen Symposium über Aktionsforschung und wissenschaftliche Analyse« (Moser/Ornauer, 1978: 7). Dabei wur- den auch Unterschiede in den Beweggründen der partizipativen Ansätze deutlich. Während die partizipativen Ansätze in der sogenannten »Ersten Welt« auf die gesellschaftlichen Umbrüche und sozialen Bewegungen der späten 1960er Jahre zurückgeführt wurden (bspw. Jugend- oder Studentenbewegung), war es in der »Dritten Welt« »der dauernde Kampf der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung ums Überleben, der Impulse für eine Neuorientierung der Sozialwis- senschaften« gab (Ornauer, 1978: 14). Auch die Meinungen, was der Zweck dieser Forschungs- perspektive sein sollte, gingen weit auseinander. »Selbst über den Begriff ›Handlungsforschung‹ besteht keine Einigkeit oder gar Klarheit bei den Autoren (…). Es gibt daher auch nicht die Aktionsforschung oder die Handlungsforschung, sondern es gibt lediglich eine ständig wachsende Anzahl von Autoren, die zu dem Modethema ›Handlungsforschung‹ auffallend viele Unklarhei- ten, widersprüchliche Auffassungen und Trivialitäten produzieren« (Lukesch/Zecha, 1978: 28 f.). Bestimmung einer Reflexionsbasis Mit diesem vergewissernden Abstecher nach Übersee und in die Vergangenheit ist die Unsicher- heit, was partizipative Forschung konkret bedeutet, nicht kleiner geworden. Doch ist zumindest eines klar geworden: Wer über partizipative Forschung spricht, muss viel transparent(er) machen, worüber er oder sie überhaupt redet und aus welchen Motiven er oder sie auf partizipative For- schungsansätze setzt. Deshalb werde ich in der Folge vom Bedürfnis, auch im transnationalen Verstehen weiterzukommen, einen Schritt zurücktreten und mich auf einen sichereren Materi- alkorpus eigener Forschungsprojekte stützen. Jedes der drei ausgewählten Forschungsprojekte, welche derzeit alle am Institut für Soziale Arbeit und Räume an der FHS, Hochschule für Ange- wandte Wissenschaften St.Gallen (IFSAR-FHS) parallel laufen, ist in einem unterschiedlichen Handlungsfeld der Sozialen Arbeit verortet. Für jedes Projekt ist ein anderes Team zuständig und 2 Unter dem Kürzel IAP werden die verschiedensten partizipativen Forschungsansätze lateinamerikanischer Tradition zusammengefasst, die insbesondere auf den brasilianischen Befreiungspädagogen Paolo Freire (bspw. 1979), den argentinischen Philosophen Ezequiel Ander-Egg (2003) oder den kolumbianischen Soziologen Orlando Fals Borda (1987) zurückgehen. 145 Sonderheft 16 np Reutlinger, Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung keines der jeweiligen Teammitglieder arbeitet in einem der anderen Projekte mit3. Verbindend ist einzig, dass die Projekte neben Professionsentwicklungsfragen der Sozialen Arbeit auch so- zialräumliche Fragestellungen bearbeiten und alle einen – zumindest teilweisen – partizipativen Ansatz verfolgen. In den nachfolgenden Ausführungen soll ein erstes Nachdenken über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Herangehensweise in den Projekten geschehen, indem der Frage nach- gegangen wird, was uns Sozialraumforschende bewegt, auf partizipative Forschungsansätze zu setzen. Dieses Nachdenken über die Motivlagen partizipativer Sozialraumforschung soll entlang zweier konzeptioneller Perspektiven geschehen, bei denen ich davon ausgehe, dass sie für par- tizipative Forschung in der Sozialen Arbeit besonders relevant sind: der Anspruch nach einer Forschung, welche Authentizität generieren soll, sowie der Anspruch nach (besserer) Passung des durch diese Forschung entwickelten (sozial-)pädagogischen Settings. In der Konkretisierung von Authentizitäts- und Passungsanspruch werden, so die Hypothese, unterschiedliche Motivlagen schnell sicht- und diskutierbar. Beide konzeptionellen Perspektiven können im Sinne einer heuristischen Brille folgendermaßen geschärft werden: – Partizipative Forschung, »als eine ›eigentliche‹ (authentische) Auffassung von Wissenschaft« (Moser, 1978: 176), grenzt sich von traditioneller Forschung ab, indem das Objekt zum Subjekt der Forschung wird. Damit verbunden ist der Anspruch, die eigentliche (problematische) Situation, die »Realität der Betroffenen«, zum Ausgangspunkt jeglicher Aktion – vom For- schungsprozess bis zur gesellschaftlichen Veränderung – zu machen. In der Konsequenz führt dies zur Suche nach nicht verfälschten, den Tatsachen entsprechenden Daten. Den methodi- schen Grundsätzen folgend wären diese Daten durch die Betroffenen selbst zu generieren, damit sie echter, unverfälschter, glaubwürdiger, authentischer sind, als wenn sie mit klassi- schen Methoden der Sozialforschung generiert würden (vgl. Fals Borda, 1978). Zu beachten ist jedoch, dass weder Gegenstände noch die vorgefundenen Ereignisse, die aufgedeckten Praktiken, die Menschen oder ihre Aussagen aus sich heraus authentisch sein können. Viel- mehr wird Authentizität erst durch die Betrachtenden erzeugt – bezogen auf die partizipative Forschung durch die jeweilige Inszenierung der Forschenden (dem Forschungssetting). Bei der Analyse der drei Projekte ist ein Fokus darauf zu richten, wie die involvierten Personen im Forschungsprozess versuchen, Authentizität zu erzeugen. Dabei ist auch zu klären, was im jeweiligen Projekt unter Authentizität verstanden wird. – Das generierte Wissen soll dazu beitragen, dass die entwickelten Angebote der Sozialen Arbeit passgenauer werden. Bei der Frage nach der Passung geht es in der Sozialen Arbeit immer »um das Verhältnis von Subjekt mit Struktur, von Adressat und Organisation, vom Erbringungsverhältnis und Erbringungskontext, jeweils unterschiedlich sind jedoch die theo- retischen und forscherischen Zugänge zum Themenfeld« (Graßhoff, 2012: 141). Entsprechend gilt es für partizipativ erforschte Passungsfragen, dieses Verhältnis erst noch zu bestimmen. Die kritische Passungsdiskussion in der Sozialen Arbeit zeigt jedoch, dass der Frage nach der Passung meist »Eindeutigkeit, Linearität und Plausibilität« unterstellt werden, egal ob sie sich über biografische (biografische Passung) oder organisationale Forschungszugänge nähern. Damit würde die komplexe Wechselwirkung von Institution und Adressat*innen lahmgelegt (ebd.: 142). Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, muss eine Vorstellung eines 3 Namentlich sind das im Projekt »Berufsfeld Community« Caroline Haag, Nicola Hilti, Christina Vellacott und Made- leine Vetterli; im Projekt »Partispace« Gianluca Cavelti, Patricia Roth, Annegret Wigger und Dominic Zimmermann; sowie im Projekt »Hiergeblieben« Mandy Falkenreck, Tobias Kindler und Stephan Schlenker. Bei der Ausarbeitung dieses Beitrags unterstützten mich insbesondere Christina Vellacott, Gianluca Cavelti, Stephan Schlenker sowie Eleni Rutz-Spiroudis (redaktionelle Arbeit), allen ein großes Dankeschön an dieser Stelle! 146 Sonderheft 16 np Reutlinger, Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung »pädagogischen Passungsverhältnisses« entwickelt werden, welches nicht linear und eindeutig ist, sondern »das dynamische Wechselverhältnis von AdressatInnen und organisierter Hilfen in besonderer Weise beschreibt« (ebd.: 140). 1 Praktiker*innen erforschen Praktiker*innen – Grundhaltung(en) mitagierender Sozialraumforschung Seit einigen Jahren bearbeiten, entwickeln und bewirken Praktiker*innen mit ganz unterschied- lichen professionellen Hintergründen und unter vielschichtigen strukturellen Rahmenbedin- gungen in Schweizer Städten und Gemeinden »Community«4 in Verbindung mit Alters- und Generationenfragen. Bisher wurden die gemachten Erfahrungen kaum beschrieben und selten systematisch reflektiert. Ein von der Schweizer AGE-Stiftung Wohnen und Älterwerden finan- ziertes Forschungsprojekt mit dem Titel »Berufsfeld Community – Lernen durch Erfahrung und Vernetzung« setzt an dieser Lücke an. Das im Projekt produzierte Wissen soll einen Schritt zur Professionalisierung und damit zur Etablierung dieses Berufsfeldes beitragen, also den Praktiker*innen zugutekommen. Deshalb bietet sich ein partizipatives Vorgehen an, bei dem sich das Forschungsteam des IFSAR-FHS gemeinsam mit den Professionellen auf einen Pfad des Explorierens begibt. Als Orientierungspunkte bei der konkreten Umsetzung dienen die bisher nur lose existierenden Gedanken zu einer mitforschenden Praxis bzw. einer »mitagierenden Sozialraumforschung« (Reutlinger, 2003)5. Entsprechend soll das Berufsfeld gemeinsam mit den Praktiker*innen entdeckt, Überraschendes und Widersprüchliches reflektiert, aus den ge- machten Erfahrungen gelernt und schließlich dazu beigetragen werden, die professionelle Praxis Community-orientierter Arbeit zu verändern wie auch das Berufsfeld national mitzugestalten (vgl. Reutlinger, 2017). Gelingende strukturelle Bedingungen, passgenaue Handlungsansätze und die Ausgestaltung zukünftiger Angebote sollen nicht durch eine theoriegeleitete Expertise von außen, sondern durch eine partizipative Forschung mit den betroffenen Praktiker*innen erarbei- tet werden – damit wird das Motiv der Passung deutlich. Praktiker*innen sollen zusammen mit Forscher*innen Momente und Möglichkeiten finden, vermeintliche Gewissheiten abzustreifen, um über einen fremden Blick zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Mit diesen Grundhaltungen besuchen Praktiker*innen gemeinsam mit Forscher*innen vor Ort ausgewählte professionelle Praktiken im Berufsfeld Community und lernen durch die Einnahme unterschiedlicher Perspek- tiven die jeweilige Praxis zu verstehen, um über authentische Einblicke eine Basis passgenauer Konzepte zu schaffen. Wir verstehen erstmal gar nichts, oder zumindest versuchen wir es – Authentizität als Suche nach dem Alltäglichen, nicht Künstlichen Als Forschungszugang zu den professionellen Praktiken wurde gemeinsam mit den Betei- ligten das partizipative Element gegenseitiger Besuche entwickelt. Bei diesen Besuchen sollten unterschiedliche Perspektiven eingenommen werden, die alle »Fremdsein« und damit »Wieso, 4 Im Projekt wurde bewusst der Begriff »Community« gewählt, nicht weil er einen modernen Anglizismus darstellt, sondern vielmehr auf die Ursprünge sozialräumlicher Ansätze der Sozialen Arbeit verweist (siehe Köngeter/Reut- linger, 2020). 5 Der Begriff Mitagieren geht zurück auf die partizipativen Forschungsprojekte über »unsichtbare Jugendliche in spanischen Städten« (Reutlinger, 2003) und entspricht der Idee, »dass hinter den Bewältigungsformen von Ju- gendlichen [...] eine Leistung steckt, die mit den herkömmlichen Forschungsmethoden in der Unsichtbarkeit liegt. [...] Durch das Mitagieren findet [der Sozialforscher, C. R.] überhaupt einen Zugang zu den Jugendlichen und […] beginnt damit wieder, die sozialräumlichen Probleme der Heranwachsenden zu sehen« (ebd.: 158). 147 Sonderheft 16 np Reutlinger, Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung Weshalb, Warum«-Fragen, also einen reflektierenden Zugang zur Welt, provozieren. Hintergrund ist die Überlegung, dass die Praktiker*innen durch ihre eigene professionelle Praxis bei der Hospitation von anderen Praktiken ganz viel sehen, das sie problemlos selbst erklären könnten. Dies geschieht vielfach in einer abgleichenden Frage – gefolgt von einer Erklärungslogik: »Wie macht ihr dieses oder jenes? Wir machen es so und so.« Diese vergleichende oder abgleichende Befragung des »Fremden« mit dem »Eigenen« sollte in dem Projekt aber systematisch durchbro- chen werden, da sie meistens in einer Stärkung bzw. Vergewisserung der eigenen Praxis, kaum jedoch in der Generierung von neuem Wissen mündet (vgl. Kniffki/Reutlinger, 2016). Daher formulierten wir im Projekt die Figur des*der Nicht-Wissenden: Sowohl die Praktiker*innen wie auch die Forscher*innen mussten von Beginn an akzeptieren, aushalten, aber auch darum ringen, dass sie erstmal gar nichts verstehen (sollen). Konkretisiert wurde diese Figur anhand von vier Perspektiven, die in vorbereitenden Workshops gemeinsam erarbeitetet wurden und bei jedem Besuch von den Besucher*innen eingenommen werden sollten: – »Der*die Entdecker*in«: ist offen für Neues und Überraschendes und generiert vor diesem Hintergrund Fragen an die jeweilige besuchte Praxis. – »Das Kind«: hinterfragt Dinge, die scheinbar klar sind, und stellt Warum-Fragen. – »Der*die Zweifler*in«: glaubt das Gesagte nicht sofort, sucht Widersprüchlichkeiten und hinterfragt kritisch die Aussagen der Besuchten. – »Der*die Heiratsvermittler*in«: möchte alles genauer wissen, um eine Person mit einer anderen verkuppeln zu können, sodass Anschluss- und Kooperationsmöglichkeiten der professionellen Praktiken mit anderen Akteur*innen vor Ort entdeckt werden. Diese Technik der Befremdung des eigenen (Vor- bzw. Praxis-)Wissens ist also ein Versuch, Authentizität zu erzeugen, indem erst durch die Brille des Fremdseins tiefere Einblicke und damit ein tieferes Verständnis der realen Alltagswelt der Besuchten möglich wird. Du darfst keine vorgefasste Erwartung haben, was rauskommen soll, sondern musst offen sein für alles, was entsteht Als zentraler Grundsatz des partizipativen Ansatzes galt in diesem Projekt, sich auf die Be- dürfnisse der Praktiker*innen einzulassen und die Rahmenbedingungen für den neunmonatigen Forschungsprozess von Beginn an mit dem Ziel, zu verhandeln, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Schon früh wurden deshalb in der Besucher*innen-Gruppe, bestehend aus sieben Praktiker*innen von den insgesamt 15 involvierten Community-orientierten Projekten aus der Deutschschweiz, und den Forscher*innen aus dem IFSAR-Team, Grundhaltungen erarbeitet und ein Commitment über das Vorgehen verabschiedet. Konzeptionell orientierten wir uns an den Überlegungen von Bergold/Thomas, die partizipative Forschungsansätze als »sehr anspruchsvolles Vorgehen« be- schreiben, »welches sich erst im Forschungsprozess sukzessive über die Begegnung, Interaktion und Verständigung von zwei Handlungssphären, Wissenschaft und Praxis, entwickelt« (Bergold/ Thomas, 2012: o. S.). In einer vorbereitenden Sitzung wurden die vier oben beschriebenen Perspektiven jeweils unter allen Beteiligten (Praktiker*innen und IFSAR-Team) verteilt. Die gemeinsam erarbeitete relativ klare Strukturierung der Besuche (Vorgehen, Zeitplan etc.) ermöglichte es, dass in den unterschiedlichen personellen Konstellationen ähnliche Aspekte (wie bspw. die vier fremden Perspektiven) betrachtet werden konnten. Das Geschehen während der Besuche wurde von den jeweiligen Besuchenden in einem für die eingenommene Perspektive vorgesehenen Tagebuch festgehalten, um so den Transfer über alle Besuche hinweg zu sichern. All diese Unterlagen und die darin enthaltenen Aussagen wurden von Anfang an anonymisiert. Damit schufen wir einen geschützten Raum, »in dem die Teilnehmer/innen das Vertrauen haben können, dass ihre Äuße- rungen nicht gegen sie verwendet werden und ihnen keine Nachteile erwachsen, wenn sie auch kritische und abweichende Meinungen äußern« (Bergold/Thomas, 2012: o.S.). 148 Sonderheft 16 np Reutlinger, Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung Um möglichst authentische Einblicke in die besuchten Praxisfelder zu ermöglichen und eine Verzerrung des Settings zu verhindern, versuchten wir, die vor Ort herrschenden Hierarchie- stufen abzubauen. So wurden die jeweiligen Leitungspersonen und die Praktiker*innen separat besucht mit dem Ziel, die Praktiker*innen von Abhängigkeiten zu befreien. Weitere Maßnahmen, um Verzerrungen oder Brüche im Projekt zu vermeiden, bestanden darin, das Wissen darüber, was am Ende des Projekts herauskommen soll, abzulegen oder zumindest abzufedern. Dafür lancierten wir zwei weitere Erhebungsinstrumente: Alle Praktiker*innen aus den 15 involvierten Projekten wurden als Expert*innen mit einem leitfadengestützten Interview befragt. Außerdem wurden vor Ort bei den Besuchen jeweils Stimmen von Adressat*innen (Bewohner*innen der besuchten Siedlungen bzw. Quartiere) eingefangen. Dies geschah nicht systematisch, sondern durch spontane und kurze Interviews mit einzelnen Bewohner*innen am Mittagstisch. Authentische Einblicke in den Berufsalltag der Praktiker*innen werden möglich Das im Rahmen des Projekts inszenierte Forschungssetting der Besuche mit den vier unter- schiedlichen fremden Perspektiven schien – zumindest auf der Seite der Besuchten – authentische Einblicke zu gewähren. Sie schienen sich nicht durch die spezielle Konstellation der von den Besucher*innen eingenommenen Perspektiven gestört zu fühlen und ließen viele Einblicke in ihren normalen Arbeitsalltag zu: wie sie mit den Adressat*innen umgingen, wie sie gemeinsam kochten und zu Mittag aßen. Diese Tätigkeiten schienen nicht verstellt oder vorgespielt, sondern im Gegenteil sehr authentisch zu sein. Bei den Besucher*innen hingegen war die Besonderheit, dass sie im Prinzip nicht authentisch sein durften, da sie ja eine bestimmte Perspektive einnehmen, also in eine Rolle schlüpfen muss- ten (Entdecker*in, Kind, Zweifler*in, Heiratsvermittler*in). Einigen (sowohl akademischen wie auch nichtakademischen) Forscher*innen fiel es leichter, eine Rolle einzunehmen und aus dieser Rolle heraus authentisch zu agieren, andere fielen immer wieder zurück in ihre wirkliche Rolle. Die Perspektive der Adressat*innen wurde im Projekt zwar nicht systematisch erforscht, doch wurden einige ihrer Stimmen eingefangen und festgehalten. Das Interesse der Bewohner*innen schien durch die spontanen Gespräche am Mittagstisch geweckt; dadurch konnte sowohl die Atmosphäre als auch die Sicht der Bewohner*innen authentisch eingefangen werden. Vielfach geht es in den partizipativen Projekten darum, den betroffenen Adressat*innen der Sozialen Arbeit eine Stimme zu geben. Wie sich dadurch das Motiv der Authentizität verändern kann, wird im nächsten Projekt deutlich. 2 Jugendliche beforschen Jugendliche – Bezugnahme(n) zu »(Youth) Participatory Action Research« Ansätzen Aufbauend auf ausführlichen Mappingprozessen, Expert*inneninterviews, City Walks, Gruppen- diskussionen und insbesondere auf ethnografischen Fallstudien zu Praktiken junger Menschen im öffentlichen Raum wurden im Rahmen des von der EU finanzierten Horizon – 2020 – Projekts »Partispace – Spaces and Styles of Participation. Formale, nicht-formale und informelle Mög- lichkeiten der Beteiligung junger Menschen in europäischen Städten« (in Bologna, Eski ehir, Frankfurt, Göteborg, Manchester, Plovdiv, Rennes und Zürich) verschiedene Aktionsforschungs- projekte mit jungen Menschen durchgeführt. In der Zusammenarbeit mit zwei bis drei Gruppen junger Menschen pro Stadt sollte ein für sie relevantes Problem oder eine sie beschäftigende Frage identifiziert und im Rahmen eines »Mini-Projekts« forschend durchleuchtet werden. Der gesamte Prozess sollte von den jungen Menschen ohne akademische Begründungen durchgeführt werden. Die Forscher*innen der involvierten Hochschulen sollten von den jungen Menschen lernen, indem sie die Erfahrungen des Beteiligungsprozesses gemeinsam reflektierten. Die Ak- 149 Sonderheft 16 np Reutlinger, Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung tionsforschungsprojekte wurden von den Jugendlichen teilweise per Video, teilweise in anderen Medien dokumentiert, während die Prozesse national und in einem Synthesebericht analysiert und dokumentiert wurden (siehe auch www.PARTISPACE.eu/download). Theoretisch orientierten sich die partizipativen Aktionsforschungsprojekte im Rahmen von Par- tispace insbesondere am angloamerikanischen Diskurs zu Youth Participatory Action Research (YPAR) (siehe insbesondere Cammarota/Fine, 2008; Caraballo et al., 2017). YPAR grenzt sich von herkömmlicher, als positivistisch bezeichneter empirischer Jugendforschung ab, bei der die Forschungsagenda von Wissenschaftler*innen als Experten*innen definiert wird. Ausgangspunkt und Erkenntnisinteresse sind vielmehr die Themen der jungen Menschen, die sie selbst auf der Basis ihrer lebensweltlichen Erfahrungen identifizieren. Wie sie die Situation oder das Problem angehen, hängt ebenfalls von ihrer eigenen Geschichte ab. Die partizipative Forschung zeichnet sich durch Offenheit aus. Konkretisiert wird diese Offenheit, indem die Richtung (und damit das Ergebnis und Produkt), der Weg, aber auch die Art und Weise der Fortbewegung nicht be- stimmt werden oder nur eine beratende Funktion durch Hinweise auf mögliche Stolpersteine eingenommen wird. Der eigentliche Wert der YPAR wird, zumindest im Diskurs, als ein Ansatz zum partizipativen Lernen und zu sozialen Veränderungen mit und durch die Jugendlichen beschrieben (Percy-Smith et al., 2019). In der konkreten Umsetzung von YPAR-Projekten innerhalb von Partispace als groß ange- legtes europäisches Forschungsprojekt war allerdings von Anfang an klar, dass die an diesen Projekten Beteiligten nicht die (völlige) Freiheit hatten, ihre eigene Richtung und ihr eigenes Tempo festzulegen, sondern externe Bedingungen vorgegeben waren. In diesem Sinne können sie vielleicht am ehesten als Hybrid- oder Quasi-YPAR-Projekte verstanden werden (ebd.). In- nerhalb dieser gesetzten Grenzen sollten die jungen Menschen aber die größtmögliche Freiheit haben, ihre eigenen Forschungs- und Handlungsziele zu definieren sowie zu entscheiden, wie sie arbeiten und welche Ergebnisse sie erzielen wollen. Wir hoffen durch die jungen Menschen zu den relevanten Themen vorzustoßen und damit wirklich zu verstehen – Authentizität als Stimme der Betroffenen Eines der in Zürich angesiedelten Aktionsforschungsprojekte wurde von einer Gruppe junger Frauen im Alter zwischen elf und zwölf Jahren durchgeführt. Im Rahmen ihres Aktionsfor- schungsprojekts entschieden sie sich, das Thema Mobbing zu bearbeiten, das eine lebensweltliche Bedeutung für sie hatte. Sie haben das Thema also inhaltlich selbst bestimmt. Gleichzeitig waren von vornherein einige Rahmenbedingungen von den akademischen Forscher*innen gesetzt und Erwartungen for- muliert worden: Das Endprodukt sollte ein Film sein, der als Ergebnis für das Gesamtprojekt geliefert werden sollte, der Zeitrahmen musste eingehalten werden und am Ende musste eine Reflexionssitzung über den Prozess stattfinden. Diese Rahmensetzung verdeutlicht, dass die Bearbeitung des Themas in einem Setting stattfinden würde, welches die jungen Frauen nicht selbst gewählt und kaum selbst gestaltet haben. Die jungen Frauen ließen sich dennoch auf den Prozess ein und erklärten sich bereit, während ihrer Sommerferien beim Projekt mitzumachen und der gewählten Frage nachzugehen. Sie brachten die Idee ein, verschiedene kurze Interviews sowohl mit Jugendlichen als auch mit Erwachsenen auf der Straße zu führen und diese zu filmen. Gemeinsam mit dem zuständigen Jugendarbeiter formulierte die Mädchengruppe die Fragen für die Interviews und führte diese anschließend an mehreren Mittwochnachmittagen selbstständig durch. Schließlich analysierten und bearbeiteten die Mädchen die gefilmten Antworten gemein- sam mit dem Jugendarbeiter und den Forschenden aus dem IFSAR-Team. 150 Sonderheft 16 np Reutlinger, Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung Die wahre Authentizität liegt in der Verweigerung Die Frage nach der Authentizität bzw. dem Authentizitätsproblem in der Jugendforschung unterstellt, dass die Qualität der Ergebnisse, die über partizipative Methoden erzielt werden, im Gegensatz zu den klassischen Methoden besser oder zumindest anders sind. Als Hauptgrund für diese höhere Qualität wird angeführt, dass das resultierende Material nicht eines ist, bei welchem jemand über jemanden redet (also Erwachsene über Kinder und Jugendliche), sondern von jemandem (den Kindern und Jugendlichen) selbst entwickelt wurde, der es direkt erzeugt hat. Authentizität ist damit gleichbedeutend mit natürlich, echt, nicht verstellt und dadurch glaub- würdiger, als wenn Erwachsene die getroffenen Aussagen bearbeitet hätten. Damit werden auch passgenauere Vorschläge für Adressat*innen möglich. Dieser Anspruch an ein authentisches End- produkt war im Projekt mit der Zürcher Mädchengruppe das treibende Motiv. Wie steht es aber mit der Authentizität während des Erzeugungsprozesses eines solchen Endprodukts? Und wie kann sie den Projektverlauf und schließlich auch die Authentizität im Endprodukt beeinflussen? Die jungen Frauen waren in ihrem Interesse am selbst gewählten Thema, an der Form der Wissensproduktion und in ihren Reflexionen authentisch; daher rührte auch ihr Engagement bei der Ausarbeitung der Interviewfragen und der Durchführung der Interviews. In ihrer Rolle als Interviewerinnen sind die Mädchen daher – trotz der fremdgesetzten Rahmenbedingungen – durchaus als authentisch zu beschreiben. Besonders authentisch schienen sie ferner in einer selbst gewählten Aktion während des Prozesses zu sein. Nach den Sommerferien sollte das Reflexionsmeeting als Element des vom Partispace-Projekt vorgegebenen Settings stattfinden. Doch die Mädchen erschienen nicht zum vereinbarten Termin im Jugendtreff, da das Wetter so schön war, dass sie lieber in die »Badi« (ins Freibad) gehen wollten – auch wenn sie vor den Sommerferien mit dem Jugendarbeiter den Auftrag vorgängig definiert hatten. In die Badi zu gehen war etwas, wozu sie Lust hatten. Ebenso ignorierten sie die Telefonanrufe des Jugend- arbeiters, was ebenfalls eine sehr authentische Aktion war, doch störend für den Prozess. Nach Aussagen des forschenden Jugendarbeiters, der mit ihnen zusammengearbeitet hatte, war diese Aktion weniger überraschend, sondern vielmehr erwartbar, da die Reflexionssitzung nicht von der Mädchengruppe initiiert wurde, sondern Teil des von außen gesetzten Projektrahmens war. Damit wird zum einen deutlich, wie herausfordernd es auch sein kann, einen Prozess authen- tisch zu gestalten, wenn das Forschungssetting mit seinen Arbeitsschritten, Machtverhältnissen und Zielrichtungen von Anfang an strikt vorgegeben sind. Zum anderen wird das dynamische Wechselverhältnis zwischen Adressat*innen und Praktiker*innen im Prozess deutlich. Denn der Jugendarbeiter war in diesem Projekt ein entscheidender Akteur, welcher den gesamten Prozess erst ermöglicht hat. In mehreren Phasen hat er alles darangesetzt, um den Film als einzurei- chendes Projekt entstehen zu lassen. In den Reflexionen mit den Mädchen war er die treibende Kraft, indem er immer wieder nachgefragt und die Mädchen motiviert hat. Obwohl diese sich mit dem selbst gewählten Thema wirklich auseinandersetzen wollten und die Kurzinterviews enthusiastisch durchführten, zeigten sie an der Bearbeitung der Filmsequenzen am Computer wenig Begeisterung, weshalb dieser Arbeitsschritt vom Jugendarbeitenden übernommen wurde. Damit kann man überspitzt sagen, dass es ohne die Mithilfe des Jugendarbeiters das erwartete Produkt, den Film, nicht gäbe. Kann unter diesen Umständen das Endprodukt als wahrhaft authentisch bezeichnet werden? Und wie steht es mit der Aussagekraft des entstandenen Endprodukts? Die Mädchen befragten Passant*innen zum Thema Mobbing. Damit ging es ihnen um die Abfrage von Meinungen mit dem Ziel, sich Wissen und Erfahrungen von anderen Personen anzueignen, um sich damit eine eigene Meinung zu bilden und Handlungsvorschläge zu generieren; und zwar nicht in der klassischen Form, indem sie ein Buch darüber lesen oder das Thema in der Schule behandeln, sondern indem sie dieses Thema selbstständig erarbeiten. Doch kann eine Straßenbefragung durch 151 Sonderheft 16 np Reutlinger, Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung Jugendliche das Problem des Mobbings lösen? Wie ein Versuch aussehen kann, Gestaltungskraft auch über Projekte hinaus zu erzeugen, verdeutlicht das nächste Projekt. 3 Praktiker*innen, Studierende und ein Hochschulteam forschen mit Jugendlichen – Anleihen aus kooperativer Wissensbildung 2016 suchten 44.935 junge Menschen unter 18 Jahren ohne Begleitung von Eltern oder Famili- enangehörigen in Deutschland Schutz vor Krieg, Verfolgung oder anderen Repressionen (vgl. Tangermann/Hoffmeyer-Zlotnik, 2018: 18). Dies stellte die regionalen Träger von stationären Einrichtungen für Kinder und Jugendliche und deren Mitarbeiter*innen vor neue und große Herausforderungen. Bisherige Konzepte stationärer Angebote erwiesen sich als unzureichend oder nicht passend für die Jugendlichen mit oft traumatisierenden Flucht- und Kriegserfahrungen. Konzepte und Angebote der Jugendhilfe im stationären Bereich für die betroffenen Jugendlichen müssen neu überdacht und angepasst werden. Dies kann jedoch nicht nur aus den existierenden Ansätzen heraus erfolgen, sondern muss ausgehend von den gemachten Erfahrungen und Res- sourcen der betroffenen Jugendlichen, den Mitarbeiter*innen und den jeweiligen Einrichtungen sowie dem Umfeld geschehen. Angesichts dieser Situation und der dargestellten Grundüberlegungen wurde zwischen zwei stationären Jugendhilfeeinrichtungen im Landkreis Bodensee (gemeinsam als Auftraggeberin) und dem IFSAR-Team (als Auftragnehmer) ein gemeinsames Forschungs- und Konzeptentwick- lungsprojekt mit dem programmatischen Titel »Hiergeblieben« vereinbart. Von Herbst 2017 bis Herbst 2019 sollte prozessorientiert, partizipativ und sozialräumlich ausgerichtet »erforscht« und »entwickelt« werden, was eine gelingende Arbeit im stationären Jugendhilfekontext für und mit den betroffenen Jugendlichen ausmacht. Bei der Entwicklung der Forschungsidee und der Umsetzung erfolgte eine Anlehnung sowohl bei den Grundlagen partizipativer Forschung (vgl. Bergold/Thomas, 2010) wie auch bei Überlegungen einer kooperativen Wissensbildung, bei der Adressat*innen, Professionelle und Forscher*innen ihr Wissen in die Zusammenarbeit einbringen und ein »neues« gemeinsames Wissen entsteht (vgl. Sommerfeld/Hüttemann, 2007). In der Konkretisierung dieses Anspruches lassen sich unterschiedliche partizipativ angelegte Momente identifizieren, formuliert als zirkuläre und dialogische Prozesse mit und zwischen den Jugendlichen, den Mitarbeitenden und dem IFSAR-Team (bestehend aus Studierenden und professionell Forschenden). Aus diesen Überlegungen heraus entstand die Idee einer Parallel- führung der Prozesse auf vier verschiedenen Ebenen: – Ebene der Projektentwicklung und Workshops mit den Mitarbeitenden: In einer Auftaktver- anstaltung für die Mitarbeitenden und die im Begleitkreis involvierten Personen wurden unter Einbezug des IFSAR-Teams die notwendigen gemeinsamen Grundlagen geschaffen. Es folgten zwei Workshops, in denen subjektive Erfahrungen der Mitarbeitenden in ihrer Arbeit mit den Jugendlichen gesammelt und kategorisiert sowie erste konzeptionelle Konsequenzen gemeinsam erarbeitet und formuliert wurden. – Ebene der studentischen Praxisprojekte und (Sozial-)Raumanalyse mit den Jugendlichen: Insgesamt wurden im Projektzeitraum zwei studentische Praxisprojekte mit der Absicht eines »Peer-Charakters« durchgeführt. Mittels Gruppeninterviews gelangten die Studierenden zu wichtigen Einblicken in das Leben der Jugendlichen in den Jugendhilfeeinrichtungen. Mithilfe der Nadelmethode, Stadtteilbegehungen und subjektiven Landkarten wurden Perspektiven aus und auf den Alltag der Jugendlichen sichtbar (vgl. Deinet/Krisch, 2002). – Ebene Begleitkreis: Der über den Projektzeitraum eingerichtete Begleitkreis sollte das Miteinbeziehen und Rückkoppeln der Zwischenergebnisse und die Planung des weiteren 152 Sonderheft 16 np Reutlinger, Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung Vorgehens mit den Auftraggebenden und allen Beteiligten auf einer Vernetzungsebene si- chern. Der Begleitkreis traf sich viertel- bis halbjährlich unter Beteiligung der Leitungsebene der Auftraggeber*innen, des Kommunalverbands Jugend und Soziales des Landes Baden- Württemberg, des Kreisjugendamts und einer Vertreterin der ehrenamtlichen Tätigkeit im Landkreis sowie des IFSAR-Teams. – Ebene der selbst initiierten Projekte der Mitarbeitenden und der Einrichtung: Im bisherigen Projektzeitraum entstanden verschiedene weitere Projekte mit der Zielgruppe oder im direkten Bezug zu ihr, wie bspw. das neue Angebot »Aufsuchende Arbeit mit geflüchteten Menschen im öffentlichen Raum«, das darauf abzielt, nach dem Austritt aus der Jugendhilfe weitere niederschwellige Unterstützung anbieten zu können. Um den Dialog zwischen diesen Ebenen und zwischen allen Beteiligten zu ermöglichen, wurde eine Informations- und Kommunikationsstruktur etabliert, bei der z.B. Protokolle immer an alle Beteiligten versendet und erst nach der Validation durch alle an die Leitung (den Auftrag- geber) und den Begleitkreis weitergegeben wurden. Alle Bilder, Protokolle, Dokumentationen und die weiteren produzierten Materialien wurden durch das IFSAR-Team ausgewertet und in einer entsprechenden Systematik verdichtet. Die daraus entstandenen Themenlinien dienten als Ausgangspunkt der konkreten Konzeptions- und Praxisentwicklung im Rahmen eines Work- shops für die Mitarbeitenden und den Begleitkreis. Gemeinsam sollten nun konkrete Leitlinien, Handlungsziele und fachpraktische Standards sowie strategische bzw. politische Ziele formuliert werden, die mit der Gruppe der Jugendlichen besprochen und gegebenenfalls angepasst werden. Im Herbst 2019 fand die Abschlussveranstaltung mit der Präsentation der Ergebnisse und des neuen, gemeinsam entwickelten Konzeptes statt. Durch die Schaffung neuer Begegnungs- und Kommunikationsmomente werden fachliche Ent- wicklungen möglich – Authentizität in der Begegnung außerhalb des Alltags Nach einer Zwischenreflektion der ersten Teilergebnisse stellt sich heraus, dass sich die Jugend- lichen durch die Zusammenarbeit mit Studierenden einer Hochschule, die nur geringfügig älter sind als sie, ernst genommen und wertgeschätzt fühlen. Eine weitgehend egalitäre Begegnung auf Augenhöhe wird offenbar möglich; dadurch kann die subjektive Realitätswahrnehmung der jungen Menschen quasi »authentisch« und »passend« zum Ausgangspunkt der konzeptionellen Weiterentwicklung werden. Vor dem Projekt »Hiergeblieben« artikulierten sich die Jugendlichen in einer Art und Weise, die die Betreuungspersonen immer wieder überrascht hatte: Sie sind einfach gegangen und nicht hiergeblieben. Nicht hiergeblieben an dem vermeintlich sicheren Zielort ihrer Flucht. Hierdurch haben sie sich sämtlichen Regelungen der stationären Unterbringung verweigert. Diese Verwei- gerung ist als jugendspezifische Sprache zu verstehen, mit der sie ihre Bedürfnisse mitteilen, deut- lich sagen, dass das Angebot so für sie nicht passend ist. Durch das Projekt wird es nun möglich, diese Artikulationen zu verstehen und dadurch das professionelle Setting zu verändern, passend weiterzuentwickeln. Es werden unterschiedliche Kommunikationsgelegenheiten geschaffen, bei denen Leitende, Mitarbeitende, Begleitende wie auch Jugendliche einander zuhören und gehört werden. Im Rahmen der Befragung der Jugendlichen nach den Orten, an denen sie sich nicht so gerne aufhalten, kam beispielsweise heraus, dass die Toiletten und der Putzraum solche Orte darstellen. Diese Orte sind dunkel und verfügen über keine Fenster, der Aufenthalt dort macht Angst und wird hierdurch fast unmöglich. Zimmer, die nicht abgeschlossen werden dürfen, sind für die Jugendlichen keine sicheren Orte. Für die Jugendlichen bedeutet dies, in der Wohngruppe keinen sicheren und eigenen Ort zu haben. Der gemeinsame interaktive Prozess der dialogischen Auseinandersetzung auf den unter- schiedlichen Ebenen half bereits zur Projekthalbzeit, die Bedürfnisse der Jugendlichen nicht nur zu hören, sondern auch zu verstehen und eine gegebene Praxis zu verändern. Authentizität 153 Sonderheft 16 np Reutlinger, Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung bedeutet in diesen Prozessen eine Qualität der Beziehung zwischen den beteiligten Gruppen, welche diesen Austausch ermöglicht. Dies geschieht, wenn Begegnungen außerhalb der Rollen des Heimalltags und »als andere Personen« stattfinden. Der im Projekt verwendete Forschungs- und Entwicklungsbegriff trägt zur Schaffung solcher Verhältnisse bei, indem die Beteiligten in einen anderen Modus kommen, anders agieren können, als sie dies in ihrer Alltagsrolle tun. Man begegnet sich in einem anderen Erleben. So gelingt es, dass die Mitarbeitenden und die Jugendlichen in einen indirekten dialogischen Bezug und somit in einen Austausch kommen – oder zumindest bekommen so die Jugendlichen eine authentische Stimme im Konzept. Diese Stimme gilt es immer wieder zu erneuern und die Alltagsbedingungen permanent und zyklisch zu hinterfragen. Auch dies muss ein elementarer Bestandteil des entstehenden Gesamtkonzepts zu einer neuen, passenderen Praxis für die beiden Einrichtungen werden. 4 Notwendige Rollen- und Perspektivenwechsel immer wieder neu reflektierbar machen – abschließende Überlegungen Anlässe für partizipative Forschungsprojekte in der Sozialen Arbeit gibt es ebenso viele, wie keine oder nicht (mehr) passende konzeptionelle, begriffliche oder methodische Grundlagen für Praktiker*innen bzw. keine oder nicht (mehr) passende Hilfe-Formate und Konzepte der Unter- stützung. Im gemeinsamen Prozess des Forschens scheinen pädagogische Passungsverhältnisse zu entstehen, welche nicht linear und eindeutig, sondern dynamisch aus dem Prozess zwischen Adressat*innen und organisierter Hilfe hervorgehen (Graßhoff 2012: 140). Ein Schlüssel scheint dabei Authentizität resp. genauer die Frage zu sein, wie Authentizität im Forschungsprozess und mit dem Einbezug der Adressat*innen hervorgebracht werden kann. Während im ersten beschriebenen Projekt der Anspruch deutlich wird, mit einem bestimmten Zugang authentische Einblicke in den Berufsalltag von Praktiker*innen zu ermöglichen, zielt das zweite Projekt darauf ab, authentische Aussagen von Jugendlichen einzufangen. Nochmals anders ist es beim dritten Projekt, in dem eine Begegnung zwischen Menschen außerhalb ihrer Rollen und ihres (Heim-)Alltags erreicht werden soll. Es zeigt sich, dass bei Projekten, in denen junge Menschen vorkommen, das Element der Verweigerung einen wichtigen Hinweis auf ein Problem der parti- zipativen Forschung gibt, welches auch in der Sozialen Arbeit bekannt ist. Die jungen Mädchen gehen lieber ins Freibad, als mit den Erwachsenen, dem Jugendarbeiter und den Forscher*innen über die gemachten Erfahrungen zu diskutieren. Eine höchst authentische Handlung der jungen Menschen, für den Prozess (auch in der Forschung) jedoch störend – ohne das Sich-Einlassen auf die Beziehung von beiden Seiten ist Soziale Arbeit machtlos. Damit geht es also doch wieder um Beziehungsverhältnisse, die anders sein sollen und können. Die Grenzen zwischen partizipativer Forschung und sozialpädagogischer Arbeit werden damit fließend. Umso zentraler ist es, die un- terschiedlichen Rollen – akademische und nicht akademische Forschende, Adressat*innen und Professionelle – immer wieder neu im Forschungsprozess zu reflektieren. Dies ermöglicht, die Gefahr der Verwechslung von Lebensauthentizität und pädagogischer Authentizität (Thiersch, 2013: 257) zu vermeiden, zumindest als Professioneller in einem partizipativen Forschungsprojekt. Anfällig für Rollenverwechslungen oder Positionskonflikte sind jedoch auch die akademischen Forscher*innen. Für sie stellt sich das Problem, »wie man die Realität erforscht, um sie zu verän- dern« (Fals Borda, 1978: 78) und welche Anforderungen »an unsere Rolle als Wissenschaftler« sich daraus ergeben (ebd.). Diesem Problem wird in den drei Projekten erstmal bescheiden begegnet, indem ein Prozess des Fragens verbunden mit einer entdeckenden Haltung ermöglicht werden soll. Ein forscherischer Modus liegt damit auf der Hand – nicht nur für die akademischen Forscher*innen, sondern auch für die nicht akademischen, d.h. die involvierten Praktiker*innen und Adressat*innen. Der Antrieb – zumindest aufseiten der akademischen Forscher*innen – ist ein 154 Sonderheft 16 np Reutlinger, Motivlagen mitagierender Sozialraumforschung Bedürfnis, zu verstehen und weniger die Welt zu erklären. Unterstützend ist dabei ein Rollen- und Perspektivenwechsel, welcher im Rahmen eines gemeinsamen Forschungsprozesses immer wieder herbeigeführt und reflektiert werden kann. Deutlich geworden ist jedoch auch, dass das Aufrecht- erhalten eines gemeinsamen Prozesses brüchig und hinsichtlich der Aushandlungsmöglichkeiten in höchstem Grad ambivalent ist: Bestehende gesellschaftliche Positionierungen, Rollenbilder und Denkweisen dominieren die Momente der gemeinsamen Reflexion und des Austausches. Die Frage der Passung der erzielten Ergebnisse stellt sich für akademische Forscher*innen schließlich nochmals ganz anders, indem sie in Form von Forschungsanträgen, Publikationen oder Präsentationen klassischen Denk- und Bewertungskriterien standhalten müssen. Neben all diesen Herausforderungen bleibt übergreifend die eingangs aufgeworfene Frage: Entwickelt sich an unterschiedlichen Stellen diesseits und jenseits des Äquators, um das »Nord- Süd-Bild« aufzugreifen, gerade etwas Neues, oder handelt es sich doch nur um Versatzstücke bekannter Ansätze der Handlungsforschung, Action Research sowie kooperativer Wissensbildung unter dem modern klingenden Deckmantel der »partizipative[n] Forschung in der Sozialen Ar- beit«? Gerne hätte ich über diese Frage mit meinen lateinamerikanischen Kolleg*innen in Oaxaca diskutiert. Jedoch führte die Rahmung des dafür eigentlich gedachten Settings – ein runder Tisch – durch den Diskurs des Moderators dazu, dass eine Verständigung gar nicht mehr möglich war. Literatur Alisch, M./May, M., 2017: Methoden der Praxisforschung Freire, P., 1979: Investigación y metodología del »tema im Sozialraum. Opladen u.a. generador«. Reducción y codificación temáticas. 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In: 156 Sonderheft 16 np Autor*innenverzeichnis Aghamiri, Kathrin, Prof. Dr., FH Münster, Fachbereich Sozialwesen, Friesenring 32, 48147 Münster, E-Mail: k.aghamiri@fh-muenster.de Berner, Heiko, FH-Prof. Mag. (FH), PhD, M.A.; FH Salzburg, BA Soziale Arbeit, MA Soziale Innovation, Urstein Süd 1, 5412 Puch, Österreich, E-Mail: heiko.berner@fh-salzburg.ac.at Eßer, Florian, Prof. Dr., Universität Osnabrück, FB Erziehungs- und Kulturwissenschaften, Institut für Erziehungswissenschaft, Heger-Tor-Wall 9, 49074 Osnabrück, E-Mail: florian. esser@uni-osnabrueck.de Hahn, Daphne, Prof. Dr., Hochschule Fulda, Pflege und Gesundheit, Gesundheitswissenschaften und empirische Sozialforschung, Leipziger Straße 123, 36037 Fulda, E-Mail: daphne.hahn@ pg.hs-fulda.de Heeg, Rahel, Dr., Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Institut Kinder- und Jugendhilfe, Ho- fackerstrasse 30, 4132 Muttenz, E-Mail: rahel.heeg@fhnw.ch von Köppen, Marilena, M.sc. Public Health, Hochschule Fulda, Pflege und Gesundheit, Ge- sundheitswissenschaften mit Schwerpunkt Alter und Partizipation, Leipziger Straße 123, 36037 Fulda, E-Mail: marilena.von-koeppen@pg.hs-fulda.de Kümpers, Susanne, Prof. Dr., Hochschule Fulda, Pflege und Gesundheit, Qualitative Gesund- heitsforschung – Soziale Ungleichheit und Public Health Strategien, Leipziger Straße 123, 36037 Fulda, E-Mail: susanne.kuempers@pg.hs-fulda.de Mangold, Katharina, Dr., Institut für Sozial- und Organisationspädagogik, Universität Hildesheim Universitätsplatz 1, 31141 Hildesheim, E-Mail: mangoldk@uni-hildesheim.de Mouses Rita, BA., FH Salzburg, Projekt PAGES, Urstein Süd 1, 5412 Puch, Österreich, E-Mail: pages@fh-salzburg.ac.at, rita.mouses93@gmail.com Rein, Angela, Dr., Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Institut Kinder- und Jugendhilfe, Ho- fackerstrasse 30, 4132 Muttenz, E-Mail: angela.rein@fhnw.ch Reutlinger, Christian, Prof. Dr. habil., OST – Ostschweizer Fachhochschule, Institut für Soziale Arbeit und Räume, Rosenbergstrasse 59, Postfach, 9001 St.Gallen, E-Mail: christian.reutlin- ger@fhsg.ch Richter, Elisabeth, Prof. Dr., MSH Medical School Hamburg, Department Family, Child and Social Work, E-Mail: elisabeth.richter@medicalschool-hamburg.de Rosenlechner-Urbanek, Doris, Mag. Dr., M.A., FH Salzburg, BA Soziale Arbeit, MA Soziale Innovation, Urstein Süd 1, 5412 Puch, Österreich, E-Mail: doris.urbanek@fh-salzburg.ac.at Schär, Clarissa, MA, Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft, Lehrstuhl für Sozi- alpädagogik, Freiestrasse 36, 8032 Zürich, E-Mail: clarissa.schaer@ife.uzh.ch Schaffner, Dorothee, Prof. Dr., Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Institut Kinder- und Ju- gendhilfe, Hofackerstrasse 30, 4132 Muttenz, E-Mail: dorothee.schaffner@fhnw.ch Schmidt, Kristina, Dipl. Soz.Päd. /Soz.Arb., Universität Hildesheim, Institut für Erziehungswissen- schaft, Abteilung Angewandte Erziehungswissenschaft, E-Mail: schmi010@uni-hildesheim.de Schnurr, Stefan, Prof. Dr., Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Institut Kinder- und Jugendhil- fe, Hofackerstrasse 30, 4132 Muttenz, E-Mail: stefan.schnurr@fhnw.ch Schröer, Wolfgang, Prof. Dr., Institut für Sozial- und Organisationspädagogik, Universität Hil- desheim, Universitätsplatz 1, 31141 Hildesheim, E-Mail: schroeer@uni-hildesheim.de Sitter, Miriam, Dr., Vertretungsprofessorin, FB Erziehungs- und Kulturwissenschaften, Institut für Erziehungswissenschaft, Heger-Tor-Wall 9, 49069 Osnabrück, E-Mail: miriam.sitter@ uni-osnabrueck.de Steiner, Olivier, Prof. Dr., Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Institut Kinder- und Jugendhilfe, Hofackerstrasse 30, 4132 Muttenz Wrentschur, Michael, Priv.-Doz. Mag.rer.soc.oec. Dr.phil, Universität Graz, Institut für Erzie- hungs- und Bildungswissenschaft, 8010 Graz, Merangasse 70/II, E-Mail: michael.wrentschur@ uni-graz.at 157 Sonderheft 16 np – Sonder-Edition Wissen im Schuber »Wie geht’s weiter mit Sozialer Arbeit?« In 7 thematisch strukturierten Heften im lesefreundlichen und praktischen DIN A 6 Format wird von ausgewählten Autor*innen zu Kernthemen der Sozialen Arbeit kompetent, prägnant und kritisch Stellung genommen: Die Hefte (insgesamt 714 S.) werden in einer limitierten Auflage in einem ansprechenden Schuber zum Vorzugspreis von 24,90 € oder direkt über den Verlag ›neue praxis‹. Mit Beiträgen von: Herausgegeben von: 158 Sonderheft 16 np-Sonderheft 14 Die herausgeforderte Profession – Soziale Arbeit in multiprofessionellen Handlungskontexten Hrsg. Nina Thieme/Mirja Silkenbeumer Die rapide Transformation des deutschen Wohlfahrtsstaates hin zu einem Sozialinvestitionsstaat und damit verbundene neoliberale Politiken stellen eine grundlegende Herausforderung Sozialer Arbeit als Profession und mit Blick auf ihre Professionalität dar. Hinzu kommt für Soziale Arbeit im Zuge gegenwärtiger Ausdifferenzierung und Diversifizierung (sozial-)pädagogischer Felder und einer damit einhergehenden institutionellen Notwendigkeit multiprofessioneller Zusammenarbeit eine weitere, ebenso grundlegende Herausforderung: Gerade in der Zusammenarbeit mit anderen professionellen Berufsgruppen stellt ein statuspo- litisch notwendiges und als Fundament einer eigenständigen professionellen Praxis geltendes – vor dem Hintergrund der durch gegenwärtige wohlfahrtsstaatliche Transformationsprozesse bedingten Herausforderung Sozialer Arbeit eher als prekär einzustufendes – Ausweisen eige- ner Zuständigkeit ein wesentliches Erfordernis dar, das jedoch gleichzeitig im Rahmen einer multiprofessionellen Zusammenarbeit auch irritiert wird. Das Sonderheft diskutiert erstmalig diese Herausforderungen Sozialer Arbeit in Form theoreti- scher Vergewisserungen und empirischer Analysen, mit Blick auf verschiedene Handlungskon- texte, und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Fundierung der eigenen Professionalität in der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen multiprofessioneller Kooperation. Mit Beiträgen von: Roland Becker-Lenz, Oliver Böhm-Kasper, Birgit Bütow, Peter Cloos, Christine Demmer, Tobias Franzheld, Johanna Ginter, Lisa Maria Groß, Benedikt Hopmann, Oliver Käch, Marlene Kowal- ski, Katharina Kunze, Svenja Marks, Susanne Maurer, Silke Müller-Hermann, Lukas Neuhaus, Alexandra Retkowski, Julian Sehmer, Mirja Silkenbeumer, Nina Thieme, Werner Thole, Norbert Wohlfahrt, Maren Zeller, Holger Ziegler 126 Seiten, für Abonnent_innen der np und SLR: 18,00 EUR, für nicht Abonnent_innen: 22,00 EUR zzgl. Versandkosten Zu beziehen über Ihre Buchhandlung oder direkt beim Verlag: www.neue-praxis-shop.de ISBN 978-3-9810815-9-6 159 Sonderheft 16 np-Sonderheft 15 Rassismus in der Sozialen Arbeit und Rassismuskritik als Querschnittaufgabe Perspektiven für Wissenschaft und Praxis Christine Hunner-Kreisel/Jana Wetzel Rassismus, Diskriminierungs- und Othering-Prozesse sind keine neuen Phänomene in unserer Ge- sellschaft. Insbesondere im Zusammenhang mit dem europäischen Grenzregime und den Flucht- und Migrationsbewegungen des Jahres 2015 und 2016 lässt sich jedoch eine zunehmende und radikalisieren- de, gleichzeitig auch scheinbar selbstverständliche Orientierung an vermeintlich religiös und kulturell markierten Differenzierungen feststellen. Die zunehmende Akzeptanz von rechten und rassistischen Äußerungen und Praktiken auch jenseits organisierter, alter und neuer Strukturen der Rechten, kann in einen Zusammenhang mit dem Zugewinn an Wähler*stimmen der AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg im März 2016 sowie inzwischen über ihren Einzug als drittstärkste Partei in den deutschen Bundestag im Jahr 2017 gestellt werden. Neben Formen von direktem Rassismus, wie bspw. in Form von körperlichen Angriffen, eindeutigen Bezügen mit rassistischer Sprache oder Symbolik, existieren wesentlich subtilere Formen von Rassismus, die von einem Großteil der Weißen Mehrheitsangehörigen nicht erkannt oder benannt werden. Damit wird Rassismus aus der ›Mitte der Gesellschaft‹ ausgelagert und als Problem von individuellen Ein- stellungen sowie verkürzt als Vorurteile und Stereotypisie-rungen wahrgenommen, gedeutet und bearbeitet. Stattdessen muss Rassismus als Machtproduktion auf der Grundlage von rassistischen Herrschaftsstrukturen unserer Gesellschaftsordnung (an-)erkannt und thematisiert werden, um als Konsequenz die Betroffenheit aller in den Fokus der Analysen zu rücken. Rassismus zeigt sich auch als wahrnehmungs- und handlungsleitend in Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit. Umso wichtiger ist es in Kontexten von Pädagogik und Sozialer Arbeit Räume für dekonstruierende Perspektiven zu fordern und nicht in homogenisierenden und essentialisierenden Unterscheidungslogiken, wie in interkulturellen Konzepten weit verbreitet, zu verbleiben. Es muss darum gehen, kritisch auf die gesellschaftliche und soziale Hervorbringung von Positionierungen zu blicken. Mit Beiträgen von: Kemal Bozay, Markus End, Yasmina Gandouz-Touati, Nissar Gardi, Farid Hafez, Shadi Kooroshy, To- bias Linnemann, Paul Mecheril, Claus Melter, Inga Oberzaucher-Tölke, Bü ra Okcu, Kim Annakathrin Ronacher, Saphira Shure, Asmaa Soliman, Wolfram Stender, Erol Yildiz, Safiye Yıldız. 156 Seiten, für Abonnent*innen der np und SLR: 18,00 EUR Für Nichtabonnent*innen: 22,00 EUR zzgl. Versandkosten Zu beziehen über Ihre Buchhandlung oder direkt beim Verlag: www.neue-praxis-shop.de 160 Sonderheft 16 np Trends . Kommentare . Dokumentation . Information 1/2017 np – Sonder-Edition Wissen im Schuber »Wie geht’s weiter mit Sozialer Arbeit?« In 7 thematisch strukturierten Heften im lesefreundlichen und praktischen DIN A 6 Format wird von ausgewählten Autor*innen zu Kernthemen der Sozialen Arbeit kompetent, prägnant und kritisch Stellung genommen: Die Hefte (insgesamt 714 S.) werden in einer limitierten Auflage in einem ansprechenden Schuber zum Vorzugspreis von 24,90 € oder direkt über den Verlag ›neue praxis‹. Mit Beiträgen von: Herausgegeben von: 589 umschlagaufbau_SD16.indd 2 18.06.20 06:47 Partizipative Forschung in der Sozialen Arbeit Zur Gewährleistung demokratischer Teilhabe an Forschungsprozessen Die Soziale Arbeit in den Englisch und Spanisch sprechenden Ländern praktiziert partizipative Forschung in grosser Selbstverständlichkeit. Für die Soziale Arbeit in den Deutsch sprechenden Ländern spielt partizipative Forschung zurzeit jedoch kaum eine Rolle. Partizipation ist in der akademischen Sozialen Arbeit zwar durch- aus ein Thema – aber als Postulat für die Handlungspraxis, nicht für die Forschungs- praxis. Sozialpädagogik und Soziale Arbeit stehen vor der Herausforderung, Positionierun- gen und Beteiligungsstrukturen in ihrer eignen Forschungspraxis kritisch zu reflek- tieren. Sie stehen vor der Herausforderung, sich der Anliegen und der persönlichen und zivilgesellschaftlichen Rechte jener Personen, die durch eigene Betroffenheiten und ihre gelebte Erfahrung mit dem Gegenstand der Forschung verbunden sind, stärker zu vergewissern und diesen Personen neue Beteiligungsmöglichkeiten zu eröffnen – auch in der Forschung. Das Sonderheft 16 der neuen praxis möchte die deutschsprachige Sozialpädagogik und Soziale Arbeit dazu einladen, sich mehr als bisher mit den Möglichkeiten aus- einanderzusetzen, die partizipative Forschung in der Sozialen Arbeit bietet. Dabei geht es nicht darum, partizipative Forschung als neuen „one-best-way“ auszurufen. Stattdessen will dieses Heft zur Auseinandersetzung mit einem Forschungsstil an- regen, der in besonderer Weise dazu geeignet ist, die Rechte und Positionen nicht- akademisch Forschender im Forschungsprozess zu stärken und transparent auszu- handeln. Partizipative Forschung in der Sozialen Arbeit wird in epistemologischer, methodo- logischer, methodischer, forschungspraktischer und forschungsethischer Perspekti- ve diskutiert und kritisch weiterentwickelt. Zwanzig Autor*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz reflektieren – mit Bezug auf konkrete Forschungspro- jekte aus unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit – Forschungs- konzeptionen, Gütekriterien, Beteiligungsformen, Widersprüche und den Umgang damit. Ein sich durchziehendes Thema ist die Machtstrukturiertheit von Forschung – sowohl auf der Ebene des Wissenschaftssystems als auch auf der Ebene des einzel- nen Forschungsprojekts. Mit Beiträgen von: Kathrin Aghamiri, Heiko Berner, Florian Eßer, Daphne Hahn, Rahel Heeg, Marilena von Köppen, Susanne Kümpers, Katharina Mangold, Rita Mouses, Angela Rein, Christian Reutlinger, Elisabeth Richter, Doris Rosenlechner-Urbanek, Clarissa Schär, Dorothee Schaffner, Kristina Schmidt, Stefan Schnurr, Wolfgang Schröer, Miriam Sitter, Olivier Steiner, Michael Wrentschur Zur Gewährleistung demokratischer Teilhabe an Forschungsprozessen Herausgegeben von: Florian Eßer/Clarissa Schär/Stefan Schnurr/Wolfgang Schröer ISBN 978-3-9819474-2-7 umschlagaufbau_SD16.indd 1 18.06.20 06:46