Schweizerisches Archiv für volkskunde Archives suisses des traditions populaires 2021/1 herausgegeben von / Édité par Sabine eggmann, konrad J. kuhn SchweizeriScheS Archiv für volkSkunde / ArchiveS SuiSSeS deS trAditionS populAireS 117:1 (2021) SAVk ASTP Herausgeberteam / Editeurs / Editors Dr. Sabine Eggmann Ass.-Prof. PD Dr. Konrad J. Kuhn Beirat / Comité scientifique / Scientific Board Prof. Dr. Regina Bendix (Göttingen) Prof. Dr. Simona Boscani Leoni (Bern) Prof. Dr. Ellen Hertz (Neuchâtel) Prof. Dr. Timo Heimerdinger (Freiburg i. Br.) Prof. Dr. Reinhard Johler (Tübingen) Prof. Dr. Walter Leimgruber (Basel) Prof. Dr. Andrea Leonardi (Trient) Prof. Dr. Christine Lötscher (Zürich) Prof. Dr. Johannes Moser (München) Prof. Dr. Dorothy Noyes (Columbus, Ohio) Prof. Dr. Jacques Picard (Basel) Prof. Dr. Johanna Rolshoven (Graz) Prof. Dr. Martine Segalen (Paris Nanterre) Prof. Dr. Brigitta Schmidt-Lauber (Wien) Prof. Dr. Friedemann Schmoll (Jena) Prof. Dr. Bernhard Tschofen (Zürich) Prof. Dr. Ingrid Tomkowiak (Zürich) Prof. Dr. Harm-Peer Zimmermann (Zürich) Redaktionskommission / Comité de rédaction / Editorial Board Lic. phil. Thomas Antonietti (Sion) Dr. Suzanne Chappaz-Wirthner (Sion) Dr. Meret Fehlmann (Zürich) Dr. Mischa Gallati (Zürich) Dr. des. Sibylle Künzler (Basel) Dr. Ulrike Langbein (Basel) Dr. Nikola Langreiter (Lustenau) Grégoire Mayor, MA (Neuchâtel) Dr. Nicole Peduzzi (Basel) Dr. Isabelle Raboud-Schüle (Bulle) Dr. Serge Reubi (Berlin) Dr. Tobias Scheidegger (Zürich) Lic. phil. Denise Tonella (Zürich) Sabine Eggmann, Konrad J. Kuhn (Hg.) Schweizerisches Archiv für Volkskunde Halbjahresschrift im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 117. Jahrgang (2021), Heft 1 Archives suisses des traditions populaires Semestriel de la Société suisse des traditions populaires 117e année (2021), no 1 Die wissenschaftliche Zeitschrift Schweizerisches Archiv für Volkskunde (SAVk) ist indiziert im European Reference Index for the Humanities and Social Sciences (ERIH-PLUS), in Scopus und im Arts & Humanities Citation Index (A&HCI). Sie erscheint unter einer Gold-Open-Access- Policy mit einer Creat ive-Commons-Lizenz CC-BY-NC-ND. Alle Ausgaben des SAVk seit 1897 sind zugänglich unter www.e-periodica.ch. La revue scientifique Archives suisses des traditions populaires (ASTP) est indexée au Europe- an Reference Index for the Humanities and Social Sciences (ERIH-PLUS), dans Scopus et au Arts & Humanities Citation Index (A&HCI). Elle est publiée sous une politique d’accès libre «dorée» avec une licence CC-BY-NC-ND. Tous les numéros des ASTP dès 1897 sont accessibles sur www.e-periodica.ch. © 2021 Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, Basel, www.volkskunde.ch Chronos Verlag, Zürich, www.chronos-verlag.ch Print: ISBN 978-3-0340-1655-1 E-Book (PDF): DOI 10.33057/chronos.1655 ISSN 0036-794X SCHWEIZERISCHES ARCHIV FÜR VOLKSKUNDE / ARCHIVES SUISSES DES TRADITIONS POPULAIRES 117. Jahrgang (2021), Heft 1 Inhaltsverzeichnis NIKOLAUS HEINZER: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» Zukunftsvisionen und Gesellschaftsentwürfe im Kontext der Schweizer Wolfsdebatten 7 KARIN KAUFMANN, TABEA BURI: Wege aus der Unsichtbarkeit Die Sammlerin Annemarie Weis 27 CHRISTOPHE ROULIN, BENEDIKT HASSLER: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» Globis Umgang mit Armut in den 1930er-Jahren 43 MARTINA RÖTHL: Subjektivierungsweisen Über dispositivtheoretische Anleihen und ‹Dringlichkeiten› zu einer kulturanalytischen Lesart 59 DOMINIK WUNDERLIN: Albert Spycher-Gautschi (1932–2020) Kenner alter Handwerke, Gebäckforscher, Regionalkundler 75 Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres 85 AutorInnen 109 5 SAVk | ASTP 117:1 (2021) SCHWEIZERISCHES ARCHIV FÜR VOLKSKUNDE / ARCHIVES SUISSES DES TRADITIONS POPULAIRES 117. JAHRGANG (2021), HEFT 1, S. 7–26, DOI 10.33057/CHRONOS.1655/7-26 «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» Zukunftsvisionen und Gesellschaftsentwürfe im Kontext der Schweizer Wolfsdebatten1 NIKOLAUS HEINZER Abstract Wölfe wurden bis zur zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts in Mitteleuropa ausgerottet, kehren aber seit einigen Jahrzehnten in die Gebiete zurück, in denen sie früher verbrei- tet waren Die Rückkehr und schrittweise Etablierung dieser Wildtiere in der Schweiz seit Mitte der 1990er-Jahre ist ein bemerkenswerter Prozess, nicht nur aus einer öko- logischen Perspektive, sondern auch was die gesellschaftlichen Aushandlungen angeht, die durch diese Entwicklung ausgelöst werden Genau diese kulturellen Prozesse nimmt dieser Aufsatz in den Blick, indem er fragt, auf welche Weise in den Debatten rund um Wölfe in der Schweiz verhandelt wird, wie ein ökologisch und sozial nachhaltiger Umgang mit wölfisch verkörperter Natur auszusehen hat und inwiefern dabei Zukunfts- szenarien und Gesellschaftsentwürfe entworfen werden Der Aufsatz formuliert im An- schluss an verschiedene Arbeiten aus der Empirischen Kulturwissenschaft/Volkskunde die These, dass solche Aushandlungen eines zeitgemässen Umgangs mit Wölfen als Medium der Selbstverständigung einer modernen und fortschrittlichen Gesellschaft begriffen werden können Keywords: Human-environment relations, wolf management, Switzerland, nature ¦ culture, relational anthropology, political anthropology, Alps, 21st century Mensch-Umwelt-Beziehungen, Wolfsmanagement, Schweiz, Natur ¦ Kultur, relationale Anthro- pologie, politische Anthropologie, Alpen, 21. Jahrhundert 1 Dieser Artikel beruht auf Teilen der Kapitel 8 und 12 der Dissertation von Nikolaus Heinzer: Heinzer, Nikolaus: Mensch-Umwelt-Relationen in Bewegung. Eine Ethnografie des Wolfsmanagements in der Schweiz. Zürich 2020. Die Dissertation entstand am ISEK – Populäre Kulturen der Universität Zürich im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekts «Wölfe: Wissen und Praxis. Ethnographien der Wiederkehr der Wölfe in der Schweiz», das von Prof. Dr. Bernhard Tschofen geleitet wurde. 7 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Wölfe wurden bis zur zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts in Mitteleuropa flä- chendeckend ausgerottet Nachdem sie ab den 1970er-Jahren unter internatio- nalen Schutz gestellt worden waren, erholten sich die Bestände und breiten sich seitdem wieder in den Gebieten aus, in denen sie früher anzutreffen waren – so auch in der Schweiz Wurden Mitte der 1990er-Jahre erste vereinzelte Wölfe vor allem im Wallis nachgewiesen, häuften sich nach dem Jahrtausendwechsel die Sichtungen in verschiedenen Bergkantonen Im Herbst 2012 konnte im Calanda- gebiet in Graubünden und St Gallen der erste gesicherte Nachweis einer Wolfs- rudelbildung in der Schweiz seit der Ausrottung der Art erbracht werden 2 Das offizielle staatliche Wolfsmanagement in der Schweiz wird unter der Aufsicht des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) von kantonalen Behörden und vom Bund beauftragten wissenschaftlichen Institutionen durchgeführt Es beruht auf inter- nationalen Artenschutzabkommen (etwa der sogenannten Berner Konvention) und nationaler Gesetzgebung (vor allem dem eidgenössischen Jagdgesetz) und wird in seiner Umsetzung durch das Konzept Wolf Schweiz (die offizielle Vollzugshilfe für das staatliche Wolfsmanagement) geregelt Während die Ausbreitung von Wölfen in der Schweiz aus ökologischer Perspektive als Erfolgsgeschichte gewertet wird, bereiten Wolfsangriffe auf Kleinviehherden Landwirt*innen grosse Probleme, da sie grundlegende strukturelle Veränderungen in Vieh- und Alpwirtschaft nötig machen Entsprechend lösen Wölfe Kritik aus und führen zu teilweise äusserst vehement geführten Debatten und Konflikten Die Auseinandersetzungen in Bezug auf Wölfe gehen dabei weit über die in der öffentlichen Debatte als Kernkonflikt bezeichneten Streitigkeiten zwischen Landwirtschaft und Umweltschutz hinaus und drehen sich vor allem um eine all- gemeinere Einordnung und Bewertung der gesellschaftlichen Konsequenzen und Herausforderungen der Wolfsrückkehr Inhaltlich zwar äusserst heterogen, haben diese unterschiedlich positionierten Einordnungen jedoch bestimmte Logiken ge- meinsam, welche ich im Folgenden herausarbeite Insgesamt, so argumentiere ich am Ende dieses Aufsatzes, geht es in den Wolfsdebatten immer auch um die Aus- handlung dessen, was einen zukunftsorientierten gesellschaftlichen Umgang mit wölfisch verkörperter Natur und damit eine fortschrittliche Gesellschaft ausmacht Ähnliche Prozesse lassen sich in benachbarten Ländern beobachten, in denen Wölfe ebenfalls nach langer Abwesenheit zurückkehren, und so können gewisse Aspekte der folgenden Ausführungen auf andere Kontexte übertragen werden Es wird jedoch deutlich werden, dass die Aushandlungen in der Schweiz sehr spezi- fische Merkmale aufweisen, hängen sie doch eng mit dem schweizerischen politi- schen System und dem historisch sehr präsenten und an nationale Identitätsfragen geknüpften Verhältnis zwischen den alpinen Regionen und urbaneren Zentren in tiefer gelegenen Teilen des Landes zusammen Auch zu gesellschaftlichen Debat- ten um andere Wild- und Grossraubtiere wie Bären, Luchse, Biber oder Kormorane lassen sich hinsichtlich bestimmter Fronten und Konfliktlinien zwischen Umwelt- schutz und verschiedenen Wirtschaftszweigen durchaus Parallelen ziehen Im 2 KORA: Situation CH, www.kora.ch/index.php?id=59&L=0, 4. 2. 2021. 8 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» Falle der symbolisch extrem aufgeladenen, stark polarisierenden und aufgrund ihrer hohen Mobilität und Lernfähigkeit sehr wirkmächtigen Wölfe kristallisieren sich solche Konstellationen jedoch in besonderem Masse heraus Indem Wölfe im- mer wieder physische und imaginierte Grenzen unterwandern, führen sie zudem zu unvergleichlich intensiven und dringlichen Verhandlungen gesellschaftlicher Ordnungen 3 Wolfsszenarien und die Verschränkung von Skalierungsebenen Ein zentrales Element fast aller Perspektiven auf die Ausbreitung von Wölfen in der Schweiz stellt die kognitive und argumentative Verknüpfung von Mikro- und Makroebenen dar Erst durch die Wechselbeziehungen und das Zusammenwirken einzelner Individuen und Spezies etwa werden ökologische Prozesse denkbar, wel- che sich zu ganzen Ökosystemen zusammensetzen lassen Was mit einzelnen Wöl- fen und Wolfsrudeln in Bündner und Walliser Bergtälern passiert, beeinflusst die- ser Sichtweise zufolge die Entwicklung einer gesamtalpinen oder gar europäischen Wolfspopulation Aber auch administrative und wirtschaftliche Zugriffe auf alpine Kulturlandschaften insgesamt werden umgekehrt erst dann wirksam, wenn sie auf der Ebene alltäglicher, individueller Erfahrungen und Lebenswelten ansetzen und diese zu automatisieren und zu systematisieren versuchen Zur Vermeidung von Konflikten zwischen Herdenschutzhunden und Tourist*innen beispielsweise wurde von der für den Herdenschutz in der Schweiz zuständigen landwirtschaft- lichen Beratungszentrale Agridea4 und den beiden Naturschutzorganisationen WWF und Pro Natura ein Video produziert, welches konkrete Hinweise und Tipps gibt, wie sich wandernde oder Sport treibende Personen bei einer physischen Begegnung mit von Herdenschutzhunden geschützten Nutztierherden verhalten sollen: «Bleiben Sie ruhig», «Warten Sie, bis der Hund ruhig ist», «Umgehen Sie die Herde langsam», «Bike schieben», heisst es in dem Video 5 Mit der Zurverfü- gungstellung eines digitalen Kartentools, in welchem von Herdenschutzhunden bewachte Gebiete markiert sind, sollen darüber hinaus Vorbereitung und Planung 3 Vgl. zu wölfischen Grenzunterwanderungen in der Schweiz Frank, Elisa; Heinzer, Nikolaus: Wölfische Unterwanderungen von Natur und Kultur: Ordnungen und Räume neu verhandelt. In: Stefan Groth, Linda Mülli (Hg.): Ordnungen in Alltag und Gesellschaft. Empirisch-kulturwissenschaftliche Perspekti- ven. Würzburg 2019, S. 93–124. 4 Die Agridea ist eine wichtige Akteurin im Rahmen des staatlichen Wolfsmanagements (insbesondere beim Thema Herdenschutz) und beschreibt sich auf ihrer Website folgendermassen: «AGRIDEA ist die landwirtschaftliche Beratungszentrale der kantonalen Fachstellen und setzt sich aktiv für die Land- wirtschaft und die bäuerliche Hauswirtschaft ein. Über unsere Agronomie- und Methoden-Kompetenz sowie über unsere Instrumente vernetzen wir als neutrale Wissensdrehscheibe Akteure aus der gan- zen Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft. Wir reduzieren Komplexität und schaffen Synergien.» Agridea: AGRIDEA für die Entwicklung der Landwirtschaft und des ländlichen Raums, www.agridea.ch/ de, 24. 3. 2021. 5 Kurzfilm Herdenschutzhunde. Schweiz 2019, Agridea, www.protectiondestroupeaux.ch/herdenschutz-A hunde/tourismus-und-herdenschutzhunde/sichere-begegnungen-mit-herdenschutzhunden, 30. 9. 2020 (Hervorhebung im Original). 9 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» von Freizeitaktivitäten individueller Nutzer*innen des alpinen Raums insgesamt dahingehend verändert werden, dass es zu weniger Konflikten zwischen Land- wirtschaft und Tourismus kommt Durch die Schulung situativer, individueller Verhaltensweisen im physischen Raum und durch die Einführung eines neuen Planungstools wird also versucht, lebensalltägliche Mikroebenen und systemische Makroebenen miteinander in Einklang zu bringen Diese Verschränkung verschiedener Skalierungsebenen kann auch bei der zum Thema Herdenschutz inhaltlich entgegengesetzten Position des «einem popu- lär ausgerichteten und verankerten Umweltschutz verpflichtet[en]»6 Vereins Aqua Nostra Schweiz7 beobachtet werden In einer kritischen Stellungnahme des Vereins zum «Konzept Wolf Schweiz» werden alltäglich-pragmatische Probleme der Her- denschutzhundehaltung direkt mit Nachteilen für staatliche Systeme verknüpft: «Die vorgesehenen Schutzvorkehrungen sind aufwändig; so benötigt der Herden- schutz von mindestens zwei Hunden pro Kleinherde enormen Aufwand für die Auf- zucht, Ausbildung und ganzjährige Haltung der Schutzhunde plus Administrativ- aufwand für deren Registrierung, Überprüfung und Abgeltung Die finanziellen Auswirkungen für Bund und Kantone sind enorm, zumal nebst den Kosten für nationale und kantonale Beratungsstellen zusätzlich auch noch die Direktzahlun- gen plus die Deckung der Kosten durch die Wildtierschäden anfallen Wenn jeder Bauer mit kleineren Tierherden auch noch Herden[schutz]hunde halten muss, ist dies in vielen Fällen nicht nur der guten Nachbarschaft abträglich, sondern auch für den Tourismus- und Wanderer-Staat Schweiz nachteilig Wie sich zunehmend zeigt, verursachen Schutzhunde auch Menschenbisse und vertragen sich schlecht mit anderen Hunden »8 Der Verein argumentiert in dieser Stellungnahme gegen die Umsetzbarkeit von Herdenschutzmassnahmen, indem er deren hohe Kosten und negative Auswirkun- gen auf bestehende kulturlandschaftliche Systeme hervorhebt Dabei werden die negativen Auswirkungen sowohl auf der lebensalltäglichen Ebene – zeitintensiver Mehraufwand und beeinträchtigte Nachbarschaftsverhältnisse der Herdenschutz- hundehalter*innen – verortet als auch als «für den Tourismus- und Wanderer-Staat Schweiz nachteilig» bezeichnet und damit zu einem nationalen Staatsproblem er- hoben Alltägliche Dysfunktionalität wird in dieser Wölfe insgesamt ablehnenden Position somit mit systemischer Dysfunktionalität gleichgesetzt 6 Aqua Nostra Schweiz: Porträt, www.aquanostra.ch, 10. 3. 2020. 7 Der 2002 gegründete Verein setzt sich aus regionalen Sektionen und einem nationalen Dachverband zusammen und sieht sich als konservativ-bürgerliches Gegengewicht zu Umweltschutzorganisationen wie WWF oder Pro Natura. Seine «Hauptaufgabe», so die Selbstbeschreibung auf der eigenen Website, besteht darin, Umweltschutz zu betreiben, bei dem «der Mensch im Mittelpunkt zu stehen» hat, und damit «eine Verbindung zwischen der Vertretung legitimer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher In- teressen einerseits und der notwendigen Wahrung einer harmonischen Lebensgrundlage anderseits zu schaffen». Aqua Nostra Schweiz: Porträt, www.aquanostra.ch, 10. 3. 2020. 8 Aqua Nostra Schweiz: Konsultation zu den Konzepten Wolf und Luchs. Stellungnahme des Verbandes Aqua Nostra Schweiz vom 29. 8. 14, hier S. 4. Die ans BAFU gerichtete Stellungnahme ist online zu- gänglich unter www.blorange.com/an/wp-content/uploads/2014/09/Vernehmlassung-Konzept- Wolf- Luchs.pdf, 7. 7. 2019. 10 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» Verkoppelung ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Argumente Eine weitere in den Wolfsdebatten zu beobachtende Diskurspraxis besteht in der Verkoppelung ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Argumente Mit Einschätzungen ökologischer Auswirkungen der Ausbreitung von Wölfen gehen fast immer auch Prognosen und Bewertungen wirtschaftlicher und kultureller, demografischer und gesellschaftspolitischer Folgen dieses Prozesses einher Auch dies trifft unabhängig von inhaltlichen Positionen und Ansichten zu Der wolfs- kritische Walliser Ständerat René Imoberdorf von der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) nennt im Rahmen der Ständeratsdebatte vom 16 März 2011 zur «Motion Hassler Hansjörg Grossraubtier-Management Erleichterte Regula- tion» (welche einen direkteren Zugriff auf Wölfe inklusive der Tötung schadens- stiftender Tiere forderte) etwa negative schaf- und tourismuswirtschaftliche Folgen der Wolfsrückkehr in einem Atemzug mit landschaftsökologischen Problemen wie der Verwilderung der Kulturlandschaft und der Zunahme von Naturgefahren: «Wenn der Aufwand für die Schafzüchter zu gross wird, also Schutz und Nutzung in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zueinander stehen, ist die Schafhaltung gefährdet Das hat gravierende Folgen: Weite Gebiete von der Talsohle bis weit über die obere Waldgrenze hinaus würden verganden; der Tourismus, einer der wich- tigsten Wirtschaftszweige in unserem Kanton, würde darunter leiden; und, was noch gravierender ist, wir müssten zunehmend mit Naturereignissen wie Lawinen rechnen »9 Die Vergandung, also die Verwilderung der Landschaft wird Imoberdorf zufolge zu einem doppelten Problem, da sie einerseits zu einem wirtschaftlichen Verlust aufgrund einer Degradation der Weiden und eines befürchteten Rückgangs des Tourismus, andererseits zu Sicherheitsproblemen durch «Naturereignisse wie Lawinen» führt Gemeinsam mit ökologischen und ökonomischen werden auch soziale und kulturelle Aspekte der Wolfsrückkehr thematisiert So beschreibt beispielsweise die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete im Anschluss an eine ähnlich pessimistische Einschätzung der Folgen dieser Rückkehr in einer Stellung- nahme zur Revision des «Konzepts Wolf Schweiz» die zunehmende Ausbreitung von Wölfen in den Schweizer Alpen als Vorgang, in welchem es um ökologische, wirtschaftliche, aber auch soziopolitische Fragen geht: «Bei der Debatte um den Wolf geht es letztlich um das Selbstverständnis und die Funktion der Berggebiete Die Berggebiete sehen sich als der Lebens- und Wirtschaftsraum für die einhei- mische Bevölkerung Die Bergbevölkerung will hier leben und arbeiten können Aus Leserbriefen, Verlautbarungen und Ähnlichem von Umweltschutzorganisa- tionen und städtischen Kreisen ist zu entnehmen, dass für diese Kreise der Wolf das Sinnbild der unberührten Natur ist Daraus lässt sich ableiten, dass die Wieder- ansiedlung des Wolfes einem Bedürfnis dieser vor allem städtischen Kreise nach unberührter Natur entspricht Dies als Gegenpol zum hektischen Leben im zersie- 9 Ständerat, Frühjahrssession 2011, 13. Sitzung, 16. 3. 2011, 10.3008, www.parlament.ch/de/ratsb etrieb/ amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=18920#votum5, 10. 3. 2020. 11 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» delten Mittelland Die Berggebiete werden so auf eine Rolle als Naturreservat und Ausgleichsraum zu den Städten reduziert Diese Haltung ist für die Berggebiete nicht akzeptabel Sie verkennt, dass die Alpen schon lange kein unberührter Na- turraum mehr sind Die Landschaft im Alpenraum ist eine Kulturlandschaft Ohne diese Kulturlandschaft könnte weder eine Landwirtschaft noch ein Tourismus stattfinden »10 Über den ökologischen Prozess der Wolfsrückkehr werden hier also auch die gesellschaftliche Rolle und «Funktion der Berggebiete», das Verhältnis un- terschiedlicher Bevölkerungsgruppen und sozialer Milieus zueinander sowie unterschied liche Wahrnehmungen von und Ansprüche an die natürliche Umwelt angesprochen Auch bei anderen Positionen können solche Verknüpfungen öko- logischer und gesellschaftlicher Fragestellungen nachgewiesen werden, wie ein Ausschnitt aus einem Interview mit Laura Schmid vom WWF Oberwallis zeigt Neben der ökologischen Rolle betont Schmid besonders den symbolischen Wert, den Wölfe in gesellschaftlichen Wertedebatten haben können: «[G]enauso wie für sie [gemeint sind Walliser Schafhalter*innen, N H ] der Wolf ein Symbol ist für Fremd-D ominiertheit und dafür, nicht ernst genommen zu werden vom Rest der Schweiz, ist der Wolf in unserem Lager auch ein Symbol für grössere Fragen: Wie viel Natur und Wildnis ist möglich in der Schweiz? Oder was ist die Gewichtung? Wie stark sagt man, ‹Nein, der Mensch und seine Hobbies und sein Platzanspruch sind alles-überragend und alles andere hat sich dem unterzuordnen›? Oder inwie- fern sagt man eben auch, ‹Nein, die Wildnis, die Natur hat auch ihre Berechtigung in diesem Land und es gibt Bereiche, wo wir uns halt anpassen müssen oder zu- rückstellen, um mit der Sache entsprechend umzugehen›? Also es ist eigentlich eine Wertefrage: Was ist einem wichtiger oder wie stark sagt man dann auch, ‹Doch, Natur an sich hat ihren Wert›?»11 Für die Umweltschützerin Schmid bedeuten Wölfe also nicht nur eine Berei- cherung (vor)alpiner Ökosysteme Analog zu den vorherigen Beispielen verknüpft auch sie den ökologischen Prozess der Wolfsrückkehr darüber hinaus mit ethi- schen Fragen nach Bedeutung und Berechtigung von «Natur» oder «Wildnis» inner- halb der Schweiz Damit bringt sie, ähnlich wie die vorher zitierten Akteur*innen, zumindest implizit auch gesellschaftliche Ideale, Wünsche und Hoffnungen zum Ausdruck In solchen Aussagen werden also alpine Zukunftsszenarien formuliert In diesen Szenarien spielen neben ökologischen, wirtschaftlichen, politischen und ethischen Wertfragen auch ästhetische und affektive Bewertungen eine Rolle Interviewpartner*innen und Akteur*innen aus dem Umweltschutzbereich brach- ten in Interviews und informellen Gesprächen beispielsweise immer wieder zum Ausdruck, dass die Präsenz von Wölfen einer Landschaft einen zusätzlichen Reiz verleihe, selbst wenn die Wölfe selbst kaum je oder gar nie zu sehen seien So 10 Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete: Positionspapier Wolf, 21. 2. 2014, hier S. 4, www.sab.ch/fileadmin/user_upload/customers/sab/Stellungnahmen/2014/SN_Wolfskonzept_2014_ 14.07.2014.pdf, 7. 7. 2019. 11 Interview Laura Schmid, WWF Oberwallis, mit Elisa Frank und Nikolaus Heinzer am 8. 11. 2016 in Bern. 12 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» berichtet David Gerke, Präsident der Gruppe Wolf Schweiz, in einem Interview von einer Faszination, welche Wölfe, zu denen er ansonsten ein distanziertes, auf öko- logischen Konzepten basierendes Verhältnis habe, in einem ‹natürlichen› Kontext bei ihm auslösten: «Für mich fühlt sich die Natur auch einfach anders an, wenn der Wolf darin ist und wenn du dann noch die Spuren siehst, dann ist das ganz speziell, oder »12 Trotz – oder gerade wegen? – ihrer Unsichtbarkeit erhöhen Wölfe für diese Akteur*innen also neben dem ökologischen und ethischen auch den ästhetischen und emotionalen Wert der durch sie bereicherten Umwelt Aber auch die negativ konnotierte Vorstellung einer aufgrund des Rückgangs der Beweidung durch Schafe verbuschenden, vergandenden und insgesamt ver- wildernden Landschaft trägt neben der ökonomisch-ökologischen eine ästhetische Dimension in sich 13 Verloren gehen in den Augen mancher Akteur*innen durch die Verwilderung nämlich nicht nur alpine Biodiversität, wirtschaftliche Funktio- nalität und Sicherheit von Berglandschaften, sondern auch deren Geordnetheit und vertrautes Aussehen Verwilderung wird in diesem Sinne also als ein Verlust von Wert in vielerlei Hinsicht verstanden Ein besonders bezeichnender Begriff, der in diesem Zusammenhang immer wieder fällt und die Wahrnehmung dieser auch ästhetisch-moralischen Degradation menschlicher Lebensräume anschaulich transportiert, ist derjenige der «Verlotterung» 14 Die Verlotterung alpiner Kultur- landschaft durch die Ausbreitung von Wäldern, den damit verbundenen Verlust von offenen Wiesen und Weiden sowie die Aufgabe und langsame Zerstörung von Maiensässen, Ställen und ganzer Weiler bedeutet den Verlust von Kontrolle, Ordnung und Attraktivität sowie eine physische und moralische Verwahrlosung; Verluste, die sich in einem auch für das Auge unangenehmen äusseren Erscheinen manifestieren So werden im «Argumentationskatalog Grossraubtierdebatte» auf der Website des Schweizerischen Ziegenzuchtverbands (SZZV) neben gesundheitlichen und ethologischen auch ästhetische Gründe für die Kritik an der Durchführung von Herdenschutzmassnahmen, in diesem Fall dem Einrichten von Nachtpferchen, aufgeführt: «Nachtpferche wirken sich negativ auf die Gesundheit der Schafe aus Manche Schaf-Rassen ziehen es instinktiv vor, während der Nacht zu fressen und sich tagsüber auszuruhen Die Nachtlagerplätze sind zudem einige Jahre später in der Natur noch gut erkennbar »15 Gemeint ist mit dem letzten Satz, dass die regel- mässige nächtliche Konzentration der Herden auf einem kleinen Umkreis zur Zer- störung des Bodens durch die Klauen der Tiere, aber vor allem auch zur Überdün- 12 Interview mit David Gerke, Präsident der Gruppe Wolf Schweiz, mit Nikolaus Heinzer am 20. 10. 2015 in Solothurn. 13 Zu den Begriffen «Verbuschung» und «Vergandung» vgl. unter anderem das Votum des Nationalrats Franz Ruppen in Nationalrat, Herbstsession 2016, 4. Sitzung, 14. 9. 2016, 14.320, www.parlament.ch/ de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=37957#votum4, 10. 3. 2020. 14 Vgl. dazu unter anderem die Feldnotizen des Autors vom 20. 6. 2016. 15 Schweizerischer Ziegenzuchtverband: Argumentationskatalog Grossraubtierdebatte. Eintrag auf der Website des SZZV. Die Website, http://szzv.ch, war zur Zeit des Verfassens dieses Artikels nicht funk- tionstüchtig, weshalb hier kein funktionierender Link zur Verfügung gestellt werden kann. 13 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» gung durch den vielen Kot und damit zur lokalen Überhandnahme einzelner, auf den hohen Ammoniakgehalt spezialisierter Pflanzen führt Diese Ausführungen sind ein gutes Beispiel dafür, wie ökologische, schafwirtschaftliche und ästhet ische Kriterien zusammengefügt und zu komplexen Argumentationssträngen verwoben werden Alpine Zukunftsvisionen zwischen Verdrängung und Koexistenz Verhandelt wird in solchen funktionalisierenden und gleichzeitig moralischen Dis- kursen, wie ein gutes, sicheres, angenehmes, aber eben auch schönes Leben in den Alpen aussieht und in Zukunft aussehen kann (Abb 1 und 2) Die verschiedenen Zukunftsszenarien unterscheiden sich dabei in ihrer Einschätzung diametral, je nachdem ob die durch Wölfe ausgelösten Veränderungen als positiv oder negativ bewertet werden Während Akteur*innen, welche den Einfluss der Wolfspräsenz positiv sehen, von Zusammenleben und Koexistenz sprechen und entsprechend optimistische Entwürfe skizzieren, äussern sich skeptische Perspektiven in Form von Verdrängungs- und Untergangsszenarien Vor allem Letztere sind dabei bis- weilen sehr zugespitzt formuliert, wie folgendes Beispiel eines Onlinekommentars zum Artikel «Wolf tötet trotz geschlossener Elektro-Koppel Moosalp-Schafe» zeigt Der User «schäfer» kommentiert den Vorfall mit folgenden Worten: «Es gibt keinen Schutz begreift das endlich! Genießen wir die letzten Jahre mit unseren Schafen! Ein Kulturgut geht verloren! Traditionen ebenfalls! Diese Generation macht vieles kaputt, die nächste wird manches mit viel Schweiß und Geld wieder aufbauen! Üb- rigens das ist nicht jammern das ist eine Tatsache! Wie wollen wir dieser Situation Herr werden wenn sogar gewisse Jägerverbände meinen ‹das ist kein Problem der Jäger, sondern der Schäfer› wacht endlich auf!!!!!!! Im Gegensatz zu unseren Vorfah- ren sind wir doch nur Hosensch…!!!!! Was ist schlimmer? Ein Wolf zu eliminieren? Oder unsere Rasse eliminieren zu lassen?»16 Die Rückkehr von Wölfen in die Schweizer Kulturlandschaft wird in dieser Aus- sage also mit dem Ende schafhalterischer Praktiken und Kulturen gleichgesetzt Ein «Kulturgut», «Traditionen», «Generation[en]» von «Schäfer[n]», ja sogar eine ganze nicht weiter definierte menschliche «Rasse» stehen vor der Auslöschung durch die wölfischen Störenfriede Der hier prognostizierte Niedergang geht Hand in Hand mit dem Gefühl, von anderen Interessengruppen («Jägerverbände») im Stich ge- lassen zu werden und die Kontrolle zu verlieren: Man ist der Situation nicht mehr «Herr» Etwas ausführlicher und ähnlich martialisch skizziert der Bündner Bio- bauer G eorges Stoffel die Zukunft der Schweizer Alpen und ihrer Bewohner*innen in einem vierzehnseitigen Papier von 2017 zum gescheiterten Projekt eines Na- tionalparks in der Adula- Region Stoffel wirft darin urbanen, «grünen» Eliten vor, ihre Vorstellung von einer wilden Alpenn atur gegen den Willen der ansässigen 16 Vgl. Onlinekommentar des Users «schäfer» zu Zengaffinen, Norbert: Wolf tötet trotz geschlossener Elektro-Koppel Moosalp-Schafe. In: 1815.ch, 1. 8. 2015, www.1815.ch/news/wallis/aktuell/moosalp, 10. 3. 2020. 14 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» Abb. 1: Eine mögliche Vision eines guten, sicheren und schönen Lebens in den Alpen: Wölfe sind nicht darin enthalten. Illustration einer wolfskritischen Informationsveranstaltung. Verein Lebensraum Schweiz ohne Grossraubtiere: Themenabend Wolf und Herdenschutz, www.lr-grt.ch/de-de/54-themenabend-wolf-und-herdenschutz, 10. 3. 2020. Bevölkerung durchsetzen zu wollen Dabei äussert er unter anderem auch die Ver- mutung, städtische Menschen würden damit ihr schlechtes ökologisches Gewissen reinwaschen wollen Neben Naturp arks wie dem «Parc Adula»-Projekt werden auch Grossraubtiere und insbesondere Wölfe als Waffen dargestellt, mit denen die Berg- bevölkerung an i hrem gewohnten Lebensstil gehindert und so Schritt für Schritt aus den Alpentälern verdrängt werden soll Wölfe werden damit zu Mitteln der Durchsetzung politischer Bevormundung: «PRO NATURA wollte sich (wörtlich) ‹zum hundertsten Geburtstag einen Nationalpark schenken› und es wurde für ei- nen ‹geordneten Rückzug des Menschen aus bestimmten Alpentälern› plädiert Das blieb ein intellektuelles Wunschdenken dieser Verbände Durch unsere basisdemo- kratischen Grundrechte und das zentrale Mitspracherecht der betroffenen Gemein- den, wurde dies abgelehnt oder die Planung mangels Zuspruch abgebrochen Das anvisierte Ziel wurde nicht erreicht, weil die betroffene Bevölkerung den Absichten der Naturschutz organisationen misstraute […] Aber als besondere Waffe, haben sie den in Umsetzung begriffenen Aktionsplan zur Wiederansiedlung des Wolfes im Köcher, der nun einen ungeordneten Rückzug aus bestimmten Alpentälern erzwin- gen soll, um so zu mehr Wildnisgebieten zu kommen »17 17 Stoffel, Georges: Die Frage des Beitritts zu einem Parkprojekt. Die komplexen Hintergründe des «Rewil-l 15 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» Abb. 2: Eine mögliche Vision von Koexistenz. Illustration aus einem WWF-Lehrmittel. Junod, Aline; Derron, Ariane; Rappaz, Diane: Mit dem Wolf unterwegs. Lehrmittel Panda- mobil – Theorieheft, WWF Schweiz, Zürich 2015, S. 16, www.wwf.ch/sites/default/files/ doc-2020-02/2017-06-lehrmittel-mitdemwolfunterwegs.pdf, 30. 9. 2020. Stoffel zeichnet ein äusserst pessimistisches Bild einer Zukunft, in der Um- weltverbände mithilfe von Wölfen als «besondere[r] Waffe» die Bewohner*innen alpiner Regionen zum «Rückzug aus bestimmten Alpentälern» gezwungen haben werden 18 Dieses Schreckensszenario konnte Stoffels Ausführungen zufolge zwar durch die Wahrung und Inanspruchnahme der «basisdemokratischen Grundrechte» im Kontext des geplanten Naturparkprojekts abgewendet werden, indem die vom geplanten Park «betroffenen Gemeinden» gegen die Eröffnung des Parks stimmten Damit wird dieser Fall zu einer punktuellen Erfolgsgeschichte für die ansonsten benachteiligte und durch die politisch bestärkte Wolfsrückkehr zusätzlich unter Druck geratene Bergbevölkerung gemacht, und das Ideal der basisdemokratischen und egalitären Beteiligung der solchermassen als peripher dargestellten Bevölke- rung an politischen Entscheidungen wird hier als politischer Grundwert affirmiert ding», des «Zurück zur Wildnis» mittels Pärken und der Ansiedlung von Grossraubtieren, Avers 2017, hier S. 7, www.lr-grt.ch/pdf/Die%20Frage%20des%20Beitritts%20zu%20einem%20Parkprojekt%20 15.%20APRIL%202017_DEF.pdf, 8. 7. 2019. 18 Vgl. ebd. 16 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» Wölfe werden jedoch als potenziell übermächtiges Druckmittel gesehen, mit des- sen Hilfe genau diese Grundwerte angegriffen und ein «ungeordnete[r] Rückzug» der Menschen aus alpinen Lebensräumen erzwungen werden sollen 19 Auch Zukunftsvisionen, welche Wölfe als positive Faktoren mit einbeziehen, verweisen auf diese politischen Konfliktkonstellationen, welche zwischen unter- schiedlichen Bevölkerungsgruppen bestehen So beispielsweise im Lehrmittel «Mit dem Wolf unterwegs» des WWF Schweiz 20 Dort werden trotz des Bezugs auf bestehende Konflikte, sowohl zwischen Mensch und Tier als auch zwischen unter- schiedlichen menschlichen Interessengruppen, Machtgefälle allerdings grössten- teils ausgeblendet und ein tolerantes Miteinander von allen Seiten gefordert: «Bei Stadtbewohnern ist der Wolf oft recht beliebt, in den Bergen hingegen weniger, da er dort direkte Auswirkungen auf das Leben der Menschen hat Genau in diesem Ökosystem kommt der Wolf in der Schweiz aber am häufigsten vor, selbst wenn er hin und wieder auch im Flachland anzutreffen ist Sein wichtigster Lebensraum befindet sich derzeit in den Alpen Doch bewohnt er diese Gegend nicht allein Es handelt sich um ein kaum überbautes Gebiet, das von den Bewohnern kleiner Berggemeinden, Bergbauern, Touristen, Jägern und anderen Akteuren gemeinsam genutzt wird Hinzu kommen die wildlebenden Tiere Sie alle müssen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen auf diesem Raum zusammenleben Die Heraus- forderung besteht darin, sich gegenseitig zu akzeptieren »21 Auf der nächsten Seite des Lehrmittels ist weiter zu lesen: «Für den Schaf- züchter ist der Wolf ein zusätzliches Problem, mit dem er fertig werden muss, selbst wenn Bund und Kantone bei Verlusten konkrete Finanzhilfe bieten Wie ist das Zusammenleben trotzdem möglich, und wie lassen sich Konflikte mildern? Es gibt diverse Möglichkeiten, um das Konfliktpotenzial zu verringern Wir können dem Wolf helfen, indem wir den Hirten helfen und auf Prävention setzen. Die Rück- kehr des Wolfs ist für die Landwirtschaft in Bergzonen auch eine Chance: Es werden Herdenschutzmassnahmen wieder eingeführt, die zahlreiche Vorteile bieten wie den Schutz der Herden vor Naturgefahren und Raubtieren, die Überwachung der Herden- gesundheit und eine nachhaltige und optimale Weideführung.»22 In diesem Zitat wird die positive Funktionalisierung des Wolfes besonders deutlich: Die Wolfsrückkehr wird als «Chance» gesehen, nicht nur für die Verbes- serung der Schafhaltung und eine ökonomische und ökologische Optimierung der Nutzung der alpinen natürlichen Ressourcen, sondern auch dafür, «Konfliktpoten- zial[e]» zwischen verschiedenen Akteur*innen «zu verringern», sich gegenseitig zu «helfen» und so zu einem für alle vorteilhafteren System zu kommen Neben der Bedeutung des Wolfes für konkrete ökologische und ökonomische Systeme wird da- mit also auch seine (in diesem Fall positive) Funktion in einer Gesellschaft an sich 19 Vgl. ebd. 20 Junod, Aline; Derron, Ariane; Rappaz, Diane: Mit dem Wolf unterwegs. Lehrmittel Pandamobil – Theorie- heft, WWF Schweiz, Zürich 2015, www.wwf.ch/sites/default/files/doc-2020-02/2017-06-lehrmittel-mit- demwolfunterwegs.pdf, 30. 9. 2020. 21 Ebd., S. 15. 22 Ebd., S. 17. (Hervorhebung im Original) 17 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» thematisiert Das zentrale Konzept in diesem Entwurf ist das «Zusammenleben» Dieses kann nur durch gegenseitige Akzeptanz der unterschiedlichen involvierten menschlichen und tierlichen Akteur*innen geschehen Ein tolerantes Miteinander stellt damit Kern und Ziel des als wünschenswert skizzierten Szenarios dar Inter- essanterweise lässt sich die Frage «Wie ist das Zusammenleben trotzdem möglich, und wie lassen sich Konflikte mildern?» auf die Koexistenz von Wolf, Nutztieren und Menschen, aber potenziell auch auf die Beziehung zwischen unterschied lichen Interessengruppen innerhalb der Schweizer Gesellschaft beziehen Dass sich die- ses Zukunftsszenario neben dem Kernkonflikt zwischen alpiner Schafhaltung und Artenschutz also ebenso auf gesellschaftspolitische Beziehungen bezieht, lässt sich nicht zuletzt in der Abbildung «Zusammenleben am Beispiel einer Alp» ab lesen, welche die beiden Zitate begleitet (Abb 2) 23 Die farbige computergenerierte Zeichnung zeigt eine alpine Landschaft, de- ren mit vereinzelten Bäumen und Wäldern bestandene grüne Hügel verschiedene menschliche und tierliche Akteur*innen bevölkern, die mit ihrer jeweiligen Be- zeichnung angeschrieben sind Die das Bild betrachtende Person befindet sich weit weg von den menschlichen Siedlungen: dem Dorf und der durch «Politiker» und «Umweltschützer» angedeuteten Stadt Von diesem von der Kultur entfernt vero rteten Punkt blickt man auf die in der Kulturlandschaft «Alp» friedlich zu- sammenlebenden Menschen und Tiere Zentrale Akteur*innen sind in diesem Blick also die Wölfe, bei denen man sich befindet Die Platzierung der weiteren Akteur*innen auf den verschiedenen Ebenen visualisiert den Grad, in dem sie jeweils in den Prozess der Wolfsrückkehr involviert sind Dabei endet der Kreis, der von den Wölfen ausgehend gezogen wird, weder bei den Akteur*innengruppen «Schafe/Ziegen», «Der Hirte und sein Hütehund» und «Herdenschutzhunde» noch bei «Wildhüter», «Hirsche», «Jäger», «Touristen», «Bauer» oder «Dorfbewohner», sondern inkludiert auch die zwar auf dem Bild unsichtbaren, aber durch ihre Nen- nung dennoch präsenten Akteur*innen «Politiker» und «Umweltschützer» Das in diesem Bild illustrierte «Zusammenleben» bezieht sich also einerseits – und der Fokussierung zufolge primär – auf die Koexistenz zwischen Wölfen auf der einen Seite und Menschen und von ihnen genutzten Tieren auf der anderen Doch zusätzlich ist damit auch das Zusammenleben der diversen, unterschied- lich nahe an den Wölfen verorteten menschlichen Akteur*innen untereinander angesprochen «Direkt betroffene» Akteur*innen wie Hirt*innen, Landwirt*innen und Dorfbewohner*innen leben in diesem visuellen Zukunftsszenario nicht nur mit Wölfen, sondern ebenso mit den sie regelmässig besuchenden Tourist*innen als auch mit den hier ausschliesslich im Urbanen verorteten, räumlich entfernten P olitiker*innen zusammen Rund um Wölfe wird damit ein auf dem Prinzip der Koexistenz basierendes Gesellschaftsmodell entworfen, welches nur dann funktio- niert, wenn sich alle involvierten Akteur*innen «gegenseitig akzeptieren» 24 Wenn die SP-Politikerin Silva Semadeni in der Nationalratsdebatte vom 14 September 23 Vgl. ebd., S. 16. 24 Ebd., S. 15. 18 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» 2016 zur Walliser Standesinitiative «Wolf Fertig lustig!» also festhält, «[z]ielführend sind Massnahmen für ein nachhaltiges Zusammenleben von Mensch, Nutzti eren und Wolf»,25 dann ist nach ihrer Lesart «nachhaltig» nicht nur im ökologischen, sondern auch im sozialen Sinne zu verstehen Der Umgang mit wölfisch verkörperter Natur als Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung Die Frage nach dem Umgang mit Wölfen und der durch sie verkörperten Natur hat also weitreichende gesellschaftspolitische Dimensionen Die Verhandlung der Koexistenz zwischen Menschen, Nutztieren, Wölfen und anderen Wildtieren ist immer eine Diskussion sowohl ökologischer als auch ökonomischer, soziopoliti- scher, ästhetischer, ethischer und moralischer Werte Und sie hängt mit Fragen der gesellschaftlichen Selbstidentifikation und -positionierung zusammen Denn allen Akteur*innen geht es ungeachtet ihrer (politischen) Position darum, sich in einer zukunftsorientierten und damit als fortschrittlich wahrgenommenen Gesellschaft zu verorten und diese gesellschaftliche Fortschrittlichkeit wiederum an einem be- stimmten Umgang mit Wölfen festzumachen Denn – so soll hier zum Schluss noch einmal deutlich gemacht werden – bei der Frage, wie man sich als Gesellschaft zu wölfisch verkörperter Natur in Bezug setzen und verhalten soll, geht es immer auch um die Aushandlung dessen, was verantwortungsvolles und fortschrittliches gesellschaftliches Handeln darstellt und wie man sich über den Umgang mit Wölfen sowohl innen- als auch aussen politisch als moderne und zeitgemässe Nation darstellt Mit dieser These beziehe ich mich unter anderem auf die Arbeit des Kulturanthropologen Tobias Scheidegger, der über die Entwicklung des Konzepts der Stadtnatur in den 1970er- bis 2010er- Jahren am Beispiel der Stadt Zürich forscht 26 Scheidegger stellt Fragen, welche zwar auf Stadtnatur und Stadtnaturpraktiken fokussieren, sich aber leicht auf das von mir untersuchte Feld übertragen lassen Denn Scheidegger beschäftigt sich mit gesellschaftlichen Naturaushandlungen, die mit den von mir beschriebenen in vielen Aspekten vergleichbar sind, wie die von ihm formulierten Forschungsfragen zeigen: «Welche Zwecke und Normen sind mit dieser Beschäftigung mit Stadtnatur verbunden? Welche gesellschaftlichen Leitvorstellungen prägen die Naturbezüge bzw welche Wertehaltungen (aber auch Lebensstile, Lebensformen, Ästhetiken) will man aus Umgang mit und Wahrnehmung von städtischer Natur ableiten und legitimieren? […] Wie sind diese Naturpraktiken und sich darin spiegelnden Norm- 25 Nationalrat, Herbstsession 2016, 4. Sitzung, 14. 9. 2016, 14.320, www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/ amt liches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=37957#votum4, 10. 3. 2020. 26 Auch Sabine Eggmann beschreibt den Modus der Selbstverständigung als «wesentliche Qualität» moderner Vergesellschaftung und als wichtige Praktik, anhand deren gesellschaftliche Ordnungen hergestellt, stabilisiert und reproduziert, aber auch herausgefordert werden. Vgl. Eggmann, Sabine: Doing Society: Was ‹Volkskultur› und ‹Gesellschaft› verbindet. Eine theoretische Einleitung. In: dies., Karoline Oehme-Jüngling (Hg.): Doing Society. ‹Volkskultur› als gesellschaftliche Selbstverständigung. Basel 2013, S. 9–26. 19 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» und (Lebens-)Stilproduktionen vor [dem] Hintergrund postindustrieller Stadtent- wicklung und Gesellschaft zu kontextualisieren?»27 Scheidegger geht davon aus, dass «Stadtnatur als Medium der Selbstverständi- gung spätmoderner Stadtgesellschaften»28 fungiert Genau dies lässt sich auch für wölfisch verkörperte Natur konstatieren und analog dazu sehe ich die Aushand- lung eines zeitgemässen Umgangs mit Wölfen als Medium der Selbstverständi- gung einer spätmodernen Schweiz Mit Orvar Löfgren und Götz Großklaus lassen sich gesellschaftliche Wahrnehmungen von, Weisen des Umgangs mit und der Relationierung zu wölfisch verkörperter Natur auch historisch in gesellschaftliche Selbstverortungsprozesse einbetten Löfgren etwa konstatiert in einem Artikel über bürgerliche Naturauffassun- gen, dass Verknüpfungen zwischen Mensch-Tier-Beziehungen und sozialen Ver- hältnissen seit dem 19 Jahrhundert bestehen und bis heute hergestellt werden: «Einen Dialog mit der Tierwelt kennen wir aus allen Kulturen – das gilt für die Gesellschaften der Antike ebenso wie für diejenigen unserer Tage Man projiziert Wertungen, Charakterzüge, hierarchische Prinzipien und moralische Grundwerte auf die Tierwelt Diese vermenschlichte Welt dient dann als Argument für Natür- lichkeit oder naturbestimmte Ordnungen in der Diskussion darüber, wie die menschliche Gesellschaft eingerichtet werden sollte Die Tiere sprechen zu uns »29 Auch für den Literatur- und Medienwissenschaftler Götz Großklaus ist die seit Aufklärung und Industrialisierung vorangetriebene, im Wesentlichen als Fortschritt und Modernisierung gehandelte «rational-instrumentelle Aneignung der Natur»30 eine wichtige Achse der historischen Entwicklung europäischer bür- gerlicher Gesellschaften Während ein auf stetiger Technisierung und zunehmen- der Kontrolle von Natur beruhendes Mensch-Umwelt-Verhältnis von bürgerlichen Schichten als «rationale[r] Zivilisierungsprozess»31 über weite Strecken positiv aufgewertet wurde, macht Großklaus in Rousseaus Gedanken zur Natur des Menschen im 18 Jahrhundert, in romantischen Ängsten der Entfremdung und Entzauberung von Natur und der damit einhergehenden Faszination für wilde Landschaften im 19 Jahrhundert oder auch in der ökologischen Bewegung der 1960er- und 70er-Jahre Gegenmomente fest, in denen vermittelt über die Aus- einandersetzung mit Mensch-Umwelt-Beziehungen alternative Gesellschaftsent- würfe artikuliert werden In eine ähnliche Richtung argumentiert Bernhard Tschofen, der in der kulturw issenschaftlichen Analyse von Naturkatastrophen, verstanden als soziale 27 Scheidegger, Tobias: Vortrag im Rahmen der Retraite des Lehrstuhls von Bernhard Tschofen am 9. 1. 2020 am ISEK – Populäre Kulturen der Universität Zürich. Scheidegger stellte mir die Powerpoint- Präsentation seines Vortrags zur Verfügung. 28 Ebd. 29 Löfgren, Orvar: Natur, Tiere und Moral. Zur Entwicklung der bürgerlichen Naturauffassung. In: Utz J eggle et al. (Hg.): Volkskultur in der Moderne. Probleme und Perspektiven empirischer Kulturforschung. Ham- burg 1986, S. 122–144, hier S. 142. 30 Großklaus, Götz: Der Naturtraum des Kulturbürgers. In: ders., Ernst Oldemeyer (Hg.): Natur als Gegen-n welt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur. Karlsruhe 1983, S. 169–196, hier S. 170. 31 Ebd., hier S. 190. 20 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» Ordnung en bedrohende Ereignisse, das Potenzial sieht, «die Modi und Muster ge- sellschaftlicher Selbstbeschreibung»32 offenzulegen Am Beispiel von Lawinen in den Alpen führt Tschofen aus, wie kulturelle Praktiken und Logiken gerade durch die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit in diesem Sinne als Katastrophen wahrgenommenen natürlichen Kräften geprägt werden und zum Vorschein kom- men: «Wichtig erscheint dabei zu sein, dass nicht aus den Augen verloren wird, wie das Natürliche umgekehrt auch zur Begründung des Sozialen wird, in dem die Bedrohung und spezifische Situation alpiner Lebenswelt gerade durch die zu beschreibenden kulturellen Praktiken (Symbole, Rituale, Materialisierungen) den Common Sense der untersuchten Communities herstellen hilft »33 Die Frage nach Fortschrittlichkeit und dem gesellschaftlichen Miteinander In meinem Forschungsfeld manifestieren sich solche Fragen der spätmodernen gesellschaftlichen Selbstverständigung und Zukunftsaushandlung unter anderem in Aussagen wie derjenigen des Schwarznasenschafzüchters Rolf Kalbermatten Dieser stellt eine von ihm befürwortete verstärkte Regulierung von Wölfen als fort- schrittliches Naturmanagement dar und gliedert die Schweiz damit gleichzeitig als eine moderne Gesellschaft in einen aufgeklärten westeuropäischen Kontext ein: «Der Wolf hat seine Berechtigung und er soll auch seine Existenz haben, das ist ganz klar Auf der Welt gibt es genug Gebiete, wo sich der Wolf heimisch fühlen kann, aber nicht hier Wir leben in der Schweiz nicht mehr wie vor 100 Jahren Mit der Besiedlungsdichte, die wir heute haben, bin ich der Meinung, dass es nicht mehr denkbar ist, dass sich der Wolf hier irgendwie heimisch fühlen kann Dem Wolf ist ja damit auch nicht gedient Er findet ja praktisch keine richtige Wildnis mehr vor, mit der ganzen Agglomeration und der Landwirtschaft, mit ihren Nutz- flächen Ich sehe nicht, dass ein Nebeneinander künftig möglich sein wird Das Tier ist ja nicht vom Aussterben bedroht Ich begreife zum Beispiel nicht, warum er immer noch auf der roten Liste dieser Berner Konvention ist In Westeuropa sollte man den doch regulieren dürfen Denn wie gesagt, wir leben heute auch nicht mehr wie damals, als der Wolf da war Das sieht heute ganz anders aus, in der Schweiz vor allem, aber auch in den umliegenden Ländern »34 Fortschrittlichkeit wird hier durch Begriffe wie «Agglomeration», «Landwirt- schaft» und «Nutzflächen» repräsentiert und besteht aus der «Regulierung» von Wölfen, welche für eine anachronistische «Wildnis» und eine vergangene, überwun- dene Zeit stehen Die Regulierung von Wölfen erhält eine zusätzliche Aufwertung, 32 Tschofen, Bernhard: Natur. In: Jan Hinrichsen, Reinhard Johler, Sandro Ratt (Hg.): Katastrophen/Kultur. Beiträge zu einer interdisziplinären Begriffswerkstatt (Studien und Materialien des Ludwig-Uhland- Instituts 50), Tübingen 2019, S. 107–119, hier S. 118. 33 Ebd. 34 Alpines Museum der Schweiz; Universität Zürich – ISEK (Hg.): Der Wolf ist da. Eine Menschenausstel-l lung, Bern 2017, hier S. 27. 21 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» indem sie als ethisch verantwortungsvolles Verhalten gegenüber den Raubtieren gerahmt wird, welches dem ontologischen Status der hier evozierten zivilisierten Schweiz – und der Vorstellung von einer kulturell inkompatiblen wölfisch verkör- perten Natur – konsequent Rechnung trägt Genau diese Regulierung wird von Akteur*innen aus dem Umweltschutz, ebenfalls im Namen des Fortschritts, jedoch als ineffizient kritisiert und zugleich als primitiv und archaisch konnotiert, wie beispielsweise aus einer gemeinsamen Medienmitteilung der Naturschutzorganisationen Pro Natura, BirdLife und WWF Schweiz von 2016 zur damals in Entstehung befindlichen Revision des eidgenös- sischen Jagdgesetzes hervorgeht: «‹Regulieren› ist dabei die schönfärberische Um- schreibung von Dezimierung durch Tötung Erfahrungen im Ausland zeigen deut- lich, dass die Bestandsdezimierung weder zu weniger Konflikten noch zu mehr Akzeptanz gegenüber dem Wolf führt – Konflikte nahmen sogar oft zu »35 Durch den Bezug auf mit Fortschrittlichkeit assoziierte internationale Erfah- rungen und wildbiologische Expertise wird der durch die Gesetzesrevision ange- strebte Umgang mit Wolfspopulationen als irreführend und rückständig dargestellt Entsprechend griffen diese Akteur*innen die im Herbst 2020 zur Abstimmung vor- gelegte Jagdgesetzesrevision in öffentlichen Debatten als «Abschussgesetz» an und lehnten sie als unzeitgemäss ab: «Die Umweltverbände lehnen die Revision des Jagdgesetzes in dieser naturfeindlichen, auf Abschüsse fokussierten Form deshalb ab Sie erwarten von Bundesrat und Parlament eine deutlich naturfreundlichere, fachlich fundiertere Vorlage, die einer modernen Gesellschaft angemessen ist »36 Es ist also die Aushandlung eines «einer modernen Gesellschaft angemessen[en]» Verhaltens, welche den Auseinandersetzungen um wölfisch verkörperte Natur zu- grunde liegt Neben gesetzlichen Grundlagen und konkreten Inhalten des Wolfsmanage- ments wird auch die Art und Weise der öffentlichen und politischen Auseinan- dersetzungen als Spiegel für die Verfasstheit der Gesellschaft herangezogen So wird die in den Diskussionen stark ausgeprägte, stets der Gegenseite angelastete Emotionalität von jeglichen Akteur*innen als einer nüchternen und vernünfti- gen Konfliktlösung hinderlich kritisiert 37 Entsprechend wird von allen Seiten eine Entemotionalisierung des Themas und eine sachlichere Betrachtungs- und 35 Pro Natura, WWF Schweiz, BirdLife: Revision des Jagdgesetzes: Artenschutz in Gefahr. Gemeinsame Medienmitteilung, 25. 11. 2016, www.birdlife.ch/de/content/revision-des-jagdgesetzes-artenschutz- gefahr, 30. 9. 2020. 36 Ebd. Die bereits 2016 diskutierte Revision des eidgenössischen Jagdgesetzes wurde am 27. September 2019 vom Parlament nach mehreren Differenzbereinigungssitzungen in National- und Ständerat ver- abschiedet. Dagegen ergriffen verschiedene Umweltschutzorganisationen, Parteien und Interessen- gruppen das Referendum, weshalb über die Gesetzesrevision am 27. September 2020 abgestimmt wurde. Auch in dem im Frühling und Sommer 2020 laufenden Abstimmungskampf tauchten in den beiden Pro- und Kontralagern Bezüge auf die Fortschrittlichkeit beziehungsweise Rückständigkeit der Gesetzesrevision auf. Vgl. dazu die Websites des Pro- und des Kontralagers, https://ja-jagdgesetz.ch, 20. 2. 2020, sowie https://jagdgesetz-nein.ch, 20. 2. 2020. 37 Vgl. Straub, Ursina: «Unaufgeklärt sind immer die anderen». In: Südostschweiz, 19. 5. 2018, S. 9, www. isek.uzh.ch/dam/jcr:9d5fae3f-4c3f-4ac3-b6bd-b9fdc680a64e/2018_05_19_SO%20am%20WE_Un- aufgekla%C2%A8rt%20sind%20immer%20die%20anderen.pdf, 30. 9. 2020. 22 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» Diskussions weise gefordert Exemplarisch dafür ist etwa die folgende Aussage aus einem Positionspapier der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berg gebiete: «Die Diskussionen um den Wolf werden in der Schweiz wie auch in anderen Ländern sehr emotional geführt Die Fronten sind verhärtet, sachliche Diskussionen sind kaum mehr möglich Dass beim Abschuss eines Wolfes Mord- drohungen ausgesprochen und von Privaten sogar ein Kopfgeld ausgesetzt wird, ist dabei eines demokratischen Rechtsstaates nicht würdig »38 Nationale Selbstverortungen Die Aushandlung von «moderner Gesellschaft» wird also auch als Frage nach einem «demokratischen Rechtsstaat» formuliert und betrifft damit neben einer ‹zivilen› Argumentationskultur ebenso Rolle und Handeln eines zeitgemässen politischen Systems und eines fortschrittlichen Staates Wiederum als Beispiel hier das Votum des SVP-Ständerats Werner Hösli aus der Ständeratsdebatte vom 9 März 2016 zur «Motion Imoberdorf René Den Wolf als jagdbare Tierart einstufen», welche eine Erleichterung der Bejagung von Wölfen forderte: «Wenn die Ausbreitung des Wol- fes dazu führt, dass unsere alpinen Gebiete nicht mehr bewirtschaftet werden und unsere Berggebiete einen weiteren Abwanderungsschub erleben – nicht zuletzt darum, weil sich die Kinder nicht mehr alleine auf den Schulweg getrauen –, dann haben wir nicht nur sehr unverhältnismässig, sondern staatspolitisch naiv gehan- delt »39 Den in der debattierten Motion angestrebten Umgang mit Wölfen bezeich- nete Hösli dabei als «regierungswürdiges Vorausschauen und regierungswürdiges Handeln» 40 Die hier erneut deutlich hervortretende Frage nach der Fortschrittlichkeit des Umgangs mit wölfisch verkörperter Natur geht jedoch nicht nur mit einer innen-, sondern auch mit einer aussenpolitischen Selbstverständigung der Schweiz ein- her So führte der Genfer Grünenpolitiker Robert Cramer in der Ständeratsdebatte vom 27 September 2017 verschiedene Argumente gegen die Walliser Standes- initiative «Wolf Fertig lustig!» an Die Initiative forderte eine Verschiebung der Wolfsmanagementkompetenzen von der eidgenössischen auf die kantonale Ebene und damit verbunden den Austritt der Schweiz aus der Berner Konvention, einem internationalen Artenschutzabkommen Cramer argumentierte zum einen, dass die Initiative gegen die Bundesverfassung verstosse, welche die Schweiz dazu verpflichte, Wildtiere zu schützen; zum anderen hob er die Diskussion auf eine internationale Ebene, indem er mögliche negative aussenpolitische Auswirkungen einer Schweizer Kündigung der Berner Konvention heraufbeschwor: «La Suisse est 38 Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete: Positionspapier Wolf, vom 21. 2. 2014, hier S. 4, www.sab.ch/fileadmin/user_upload/customers/sab/Stellungnahmen/2014/SN_Wolfskonzept_2014_ 14.07.2014.pdf, 7. 7. 2019. 39 Ständerat, Frühjahrssession 2016, 7. Sitzung, 9. 3. 2016, 14.3570, www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/ amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=36795#votum8, 30. 9. 2020. 40 Ebd. 23 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» un petit pays et pour un petit pays comme le nôtre, les accords internationaux sont d’une très grande valeur, parce que ce sont eux qui permettent d’échapper à la loi du plus fort Envoyer le signal, dans cette chambre, que nous pensons raisonnable de donner suite à une initiative cantonale dans laquelle on demande de dénoncer un accord international, je pense que c’est tout simplement irresponsable, quel que soit l’accord dont on parle En Suisse, nous avons le sens de la parole donnée; quand on s’est engagé, c’est pour de bon, et la dénonciation d’un accord internatio- nal me paraît, surtout dans les temps actuels, tout à fait irresponsable »41 Cramer betont, dass es für ein kleines Land wie die Schweiz unverantwortlich sei, durch die Kündigung eines internationalen Abkommens die Möglichkeiten des politischen Einflusses auf internationaler Ebene zu gefährden Man setze damit nicht nur eine wichtige Machtposition aufs Spiel, sondern schade zudem dem Ruf der Schweiz als vertrauenswürdige und verbindliche Nation Cramer nimmt nicht nur eine innenpolitische Auslotung der Schweizer Gesellschaft vor, sondern leistet auch auf aussenpolitischer Ebene nationale Identitätsarbeit Im Rahmen der Aus- einandersetzungen um Wölfe steht also auf dem Spiel, wie man sich sowohl nach innen als auch nach aussen als fortschrittliches Land präsentieren kann Zuletzt sollen noch einmal zwei Stimmen zu Wort kommen, welche diese natio- nale Identitätsaushandlung, welche über die Wolfsdebatten vermittelt geschieht, besonders zugespitzt artikulieren Der Kopräsident des Vereins Lebensraum Schweiz ohne Grossraubtiere, Georges Schnydrig, sah sich in einem Interview, das Elisa Frank und ich mit ihm führten,42 dazu veranlasst, den Umgang mit Natur als Grundsatzfrage einer nationalen Ausrichtung zu reformulieren Relationierungen zu wölfisch verkörperter Natur werden dadurch zum Medium, über das richtungs- weisende Sinn- und Identitätsfragen verhandelt werden: G S : «Und für mich stellt sich einfach diese Frage, ja, in welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz? […] Wollen wir unsere Schweiz so erhalten, wie sie hier und heute ist, wollen wir sie ein bisschen ausbauen oder nein, wollen wir wieder zurück? Es gibt verschiedene Möglichkeiten, aber das muss man, das muss man debattieren […]» N H : «Und in welche Richtung willst du die Schweiz haben?» G S : «Also ich würde die Schweiz einfach mal da lassen, wo sie ist […] Weisst du, dieses Europa geht mir sowieso nicht Mir geht dieses System nicht Also ich verstehe das System, dass man zusammen Probleme lösen muss, ich verstehe das Aber der Geldfluss, wie der heute da läuft, das ist eine Katastrophe in der EU Ich will nicht wissen, wie viel Geld da tagtäglich irgendwo den Bach runter geht Wo nur ein paar Parlamentarier einfach irgendwo hocken und Geld verdienen Also Probleme lösen ist eines, aber da sind einige andere Sachen, die nicht gehen Die 41 Ständerat, Herbstsession 2017, 10. Sitzung, 27. 9. 2017, 14.320, www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/ amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=41187, 11. 3. 2020. 42 Im Rahmen des SNF-Projekts «Wölfe: Wissen und Praxis. Ethnographien der Wiederkehr der Wölfe in der Schweiz», in welchem auch dieser Aufsatz entstand, betrieben Elisa Frank und ich als Projektmit- arbeitende punktuell gemeinsam Feldforschungen und führten zusammen Interviews durch, so auch das hier zitierte Interview. 24 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» Schweiz muss da bleiben, wo sie ist, aber die Schweiz muss sich natürlich dann auch ihrer Stärken bewusst sein Wir haben die » N H : «Und welche sind die?» G S : «Genau die, die wir heute haben Wir haben doch eine saubere Schweiz, ein absolut intaktes Landschaftsbild, eine gewisse Sicherheit Wir haben eine hohe Sicherheit Wo sich der Mensch im Moment noch sicher und wohl fühlt, auch in den Behörden, bei den Kantonen, überall Und das öffnet man jetzt genau, auch bei einem solchen Thema [Thema Wolf, N H ], allmählich wieder ein bisschen Ob das gut oder schlecht ist, kann ich jetzt nicht sagen Aber ich sehe da einfach gewisse Gefahren, die auf uns zukommen Und eine gewisse Existenz, die du sehr vielen Leuten einfach in Frage stellst und teilweise auch wegnimmst »43 Schnydrig sieht in den Wölfen also eine Gefahr für von ihm als Grundpfeiler der schweizerischen Nationalidentität gesetzte Werte wie «Sauberkeit» und «Sicher- heit», ein «intaktes Landschaftsbild» oder ein Staatsvertrauen, welche zu einer sicheren und zufriedenen «Existenz» führten Eine «Öffnung» gegenüber E uropa, aber auch gegenüber einem integrativen Verhältnis zu Wölfen, gegen das er und sein Verein opponieren, gefährdet in seinen Augen eine florierende Zukunft der Schweiz Politisch Schnydrigs Position diametral entgegengesetzt, jedoch auf der glei- chen gesamtgesellschaftlichen Ebene argumentierend diskutiert Laura Schmid vom WWF Oberwallis die Frage der Akzeptanz wölfisch verkörperter Natur als Frage nach der grundsätzlichen gesellschaftlichen Ausrichtung der Schweiz Die Vorstellung, dass die Schweiz auf die totale Kontrolle von Wölfen und der von i hnen verkörperten Wildnis verzichtet und diese damit «ein bisschen gehen»44 lässt, ist für sie äusserst positiv aufgeladen: «Also ich glaube, das wäre für mich ein Symbol für eine Art moderne Schweiz, die es schafft, irgendwie zu sagen: ‹Hey, es gibt unterschiedliche Berechtigungen in dem Land und es gibt auch eine Berechtigung für Wildnis ›»45 Auch für Schmid geht es hier, bei allen inhaltlichen Differenzen zu Schnydrig, beim Thema Wolf also um mehr als um das Management von Raubtieren: Für sie steht die von ihr und ihrer Organisation anvisierte gesellschaftliche Relationierung zu Wölfen – nämlich Wölfen Raum und Entfaltungsmöglichkeiten zuzugestehen – im Gegensatz zu von ihr diskreditierten restriktiven und anthropozentrischen Umweltrelationierungen für eine «moderne Schweiz» 43 Interview Georges Schnydrig, Kopräsident des Vereins Lebensraum Schweiz ohne Grossraubtiere, mit Elisa Frank und Nikolaus Heinzer am 14. 11. 2016 in Visp. 44 Interview Laura Schmidt, WWF Oberwallis, mit Elisa Frank und Nikolaus Heinzer am 8. 11. 2016 in Bern. 45 Ebd. 25 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» Wölfe und die Aushandlung von Gesellschaft Es wäre sicherlich übertrieben zu sagen, dass sich über die Wolfspolitik ein ganzes Land definiert Doch im Rahmen der Auseinandersetzungen um die Ausbreitung von Wölfen in der Schweiz wird Gesellschaft ausgehandelt Dabei geht es nicht nur um interne soziopolitische und demografische Verhältnisse und um internationale Positionierungen, um nachhaltige Traditionen und um Fragen der Selbstbestim- mung und -repräsentation, sondern auch um den Umgang mit dem Anderen, dem Fremden, das von aussen kommt oder gar aufgezwungen wird: Kontrolle oder Koexistenz, Ausschluss oder Integration, Grenz- oder Willkommenspolitik? Wölfe erhöhen dabei die Sichtbarkeit von Akteur*innen und geben ihnen eine laute Stimme, ihrem Wort Gewicht Sie ermöglichen es, ökologische und ökonomische, politische und kulturelle, gesellschaftliche und historische Zusammenhänge zu- zuspitzen und in einer prominenten Arena mögliche Zukünfte der Schweiz mit unmittelbarer Dringlichkeit zur Diskussion zu stellen Und sie ermöglichen es, genau diese gesellschaftlichen, interspezifisch gestalteten Aushandlungsprozesse kulturwissenschaftlich zu untersuchen und besser zu verstehen 26 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Nikolaus Heinzer: «In welche Richtung will jetzt wirklich die Schweiz?» SCHWEIZERISCHES ARCHIV FÜR VOLKSKUNDE / ARCHIVES SUISSES DES TRADITIONS POPULAIRES 117. JAHRGANG (2021), HEFT 1, S. 27–42, DOI 10.33057/CHRONOS.1655/27-42 Wege aus der Unsichtbarkeit Die Sammlerin Annemarie Weis KARIN KAUFMANN, TABEA BURI Abstract Die Walliser Sammlung von Annemarie Weis (1877–1933) im heutigen Museum der Kulturen Basel (MKB) umfasst knapp 400 volkskundliche Objekte Weis’ Sammlungs- tätigkeit blieb bisher in der offiziellen Geschichtsschreibung des Hauses weitgehend unsichtbar Das Beispiel von Annemarie Weis steht stellvertretend für eine Reihe von Frauennamen in der Fachgeschichte der Volkskunde, die im Schatten der Museumsmän- ner verschwanden Die Analyse der museumsinternen Daten zur Sammlung zeigt, an welcher Stelle Weis’ Name vergessen ging Die Einbettung ihrer Forschungstätigkeit in die epistemologischen Annahmen der damaligen Volkskunde gibt Aufschluss darüber, welche Rolle ihr Geschlecht bei der Rezeption ihrer Leistungen am Museum spielten Weis’ Beitrag zur Ethnografie des Wallis am Museum der Kulturen Basel soll dadurch sichtbar gemacht und in die Museumsgeschichte eingeschrieben werden Keywords: Museum of Cultures Basel, Annemarie Weis, women collector, gender, Swiss folklore, Valais, ethnography Museum der Kulturen Basel, Annemarie Weis, Sammlerin, Geschlecht, Wallis, Ethnografie, Schweizer Volkskunde Annemarie Weis (1877–1933) war eine Volkskundlerin, deren Arbeit bisher zu wenig Beachtung fand Geboren in Riehen bei Basel reiste die gelernte Arbeits- lehrerin ab 1909 regelmässig ins Oberwallis und lebte für längere Zeit ein selb- ständiges Leben als unverheiratete Frau im Binn- und Saastal Die überlieferten Quellen lassen erahnen, dass sie bald schon ein ausgeprägtes Interesse für die volkskundlichen Aspekte dieser Region entwickelte Ähnlich wie heutige ausgebil- dete Feldforscher*innen lernte sie den lokalen Dialekt, die Techniken der materiel- len Kultur und baute Beziehungen zur lokalen Bevölkerung auf Sie stand im Kon- takt mit Eduard Hoffmann-Krayer, seit 1904 Vorsteher der Abteilung Europa am damaligen Völkerkundemuseum Basel 1 Er baute eine volkskundliche Sammlung 1 Das Völkerkundemuseum wurde 1996 in «Museum der Kulturen Basel» (MKB) umbenannt. Die Abb- 27 SAVk | ASTP 117:1 (2021) auf, zu der ihm Weis über 400 Walliser Objekte vermittelte; zudem publizierte sie mehrere kurze Artikel im Korrespondenzblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (SGV) 2 Ihre Arbeit wurde bisher nicht angemessen rezipiert Stücke ihrer Sammlung figu rierten in wissenschaftlichen Publikationen3 und verschiedenen Ausstellun- gen4 – allerdings wiederholt ohne Nennung ihres Namens Ein Viertel ihrer Samm- lung war bisher in der Sammlungsdatenbank des heutigen Museums der Kulturen Basel (MKB) nicht mit ihrem Namen verknüpft Ausserdem fehlt ihre Person in einschlägigen Publikationen zur Ethnografie des Wallis sowie zu weiblichen For- schenden in der Volkskunde 5 Als Ausnahme ist die Begleitpublikation zur Aus- stellung «Tessel, Topf und Tracht» im MKB zu nennen, wo sich ein sehr knappes Porträt unter dem Titel «die Unbekannte» findet 6 Ausserdem wird ihr Leben in einer Publikation zu Botanikt ouristen im Wallis umrissen, dort allerdings mit dem Fokus auf ihre Tätigkeit als Sammlerin von Herbarbelegen 7 Die unzureichende Rezeption dieser Sammlerin steht stellvertretend für eine Tendenz des «Unsichtbarwerdens» der Leistungen von Frauen in den Anfängen der Volkskunde 8 In den Museumssammlungen verschwanden sie im Schatten der «Museumsmänner» 9 Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, untersuchten wir die teilung Europa trug von 1944 bis zu dieser Umbenennung den Titel «Schweizerisches Museum für Volkskunde», blieb aber Teil des Völkerkundemuseums. 2 Weis, Annemarie: Ein alter Brauch bei Versteigerungen. In: Schweizer Volkskunde 8 (1918), S. 7; dies.: Eine Walliser Ortsneckerei. In: Schweizer Volkskunde 8 (1918), S. 8; dies.: Allerlei Volkskundliches aus dem Oberwallis. In: Schweizer Volkskunde 11 (1921), S. 53; dies.: Volkskundliche Splitter. In: Schwei- zer Volkskunde 13 (1923), S. 6 f.; dies.: Volkskundliches aus Saas (Wallis). In: Schweizer Volkskunde 13 (1923), S. 38 f.; dies.: Totenbräuche. In: Schweizer Volkskunde 13 (1923), S. 41 f. 3 Museum der Kulturen Basel (Hg.): Tessel, Topf und Tracht. Europa gesammelt und ausgestellt. Basel 2015, S. 134; Thomas Antonietti (Hg.): Nahe Ferne. Ein Jahrhundert Ethnologie im Wallis. Baden 2013 (Reihe des Geschichtsmuseums Wallis 12), S. 163; Carlen, Louis: Volkskundliches aus dem Oberwallis. Ausgewählte Aufsätze zur Volkskunde von Josef Bielander. Brig 1985, S. 149; Rütimeyer, Leopold: Ur- Ethnographie der Schweiz. Ihre Relikte bis zur Gegenwart mit prähistorischen und ethnographischen Parallelen. Basel 1924 (Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 16), S. 168. 4 Dauerausstellung Völkerkundemuseum (1917), Tessel, Topf und Tracht (MKB 2015), Vom Zimt zum Stern (MKB 2016), In der Reihe tanzen (MKB 2016), Migration (MKB 2017), Sonne, Mond und Sterne (MKB 2018), Mutter und Kind (MKB 2019), Memory (MKB seit 2020), Dauerausstellung Mühlen museum Brügglingen, Dauerausstellung Spielzeugmuseum Riehen (bis 2020). 5 Zum Beispiel Antonietti (Anm. 3) oder Burckhardt-Seebass, Christine: Von Bürgersitten und Trachten. Töchter Helvetiens auf ethnologischen Pfaden. In: Elsbeth Wallnöfer (Hg.): Mass nehmen – Mass hal- ten. Frauen im Fach Volkskunde. Wien, Köln, Weimar 2008, S. 164 f. 6 Museum der Kulturen Basel (Anm. 3), S. 134. 7 Wyder, Margrit: Von Alpenblumen und Menschen. Botanik Touristen im Walliser Saastal. Visp 2018. 8 Ab den 1990er-Jahren erschienen im deutschsprachigen Raum einige Sammelwerke, um die Leis-s tungen der Fachfrauen nachträglich in die Fachgeschichte einzuschreiben und zu honorieren, vgl. Alzheimer-Haller, Heidrun: Frauen in der Volkskunde. In der Empirischen Kulturwissenschaft, der Europäischen Ethnologie/Ethnographie und Kulturanthropologie in Deutschland. Würzburg 1994 (Ver- öffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 55); Arbeitsgemeinschaft Fachfrauen – Frauen im Fach (Hg.): Fachfrauen – Frauen im Fach. Frankfurt am Main 1995 (Schriftenreihe des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt am Main 52); Wallnöfer (Anm. 5). 9 Kleindorfer-Marx, Bärbel: Ehrenamt und Hingabe. Frauenarbeit im Museum des frühen 20. Jahrhun-n derts. In: Wallnöfer (Anm. 5), S. 204–206. 28 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit Sammlungstätigkeit von Annemarie Weis im Kontext ihrer Zeit Wir stellen ihre Sammlung den Erkenntnisabsichten der damaligen Volkskunde gegenüber und rekonstruieren, welche museumsinternen Prozesse sowie gesellschaftlichen Fakto- ren dazu führten, dass ihr Name wenig genannt blieb Ziel ist es, Weis’ Beitrag zur Ethnografie des Wallis am MKB sichtbar zu machen und damit in die Museums- geschichte einzuschreiben 10 Wichtigste Quelle stellten 14 Briefe von Weis an Hoffmann-Krayer sowie fünf Briefe der Walliser Informant*innen an Weis dar, die sich in den Sammlungsakten des MKB befinden Antwortbriefe sind leider nicht auffindbar 11 Als weitere zen- trale Dokumente dienen zwei handgeschriebene Einlaufbücher, die Karteikarten, die Jahresberichte sowie die Einträge in der Sammlungsdatenbank Durch einen Abgleich dieser Quellen lässt sich nachvollziehen, wie sich die Informationen durch die Übertragung in die verschiedenen Medien veränderte und weshalb Weis’ Name teilweise verschwand Frauen im Feld für die Volkskunde Die Ausblendung von Frauen und anderen Bevölkerungsgruppen12 tritt in der Wis- senschaftsgeschichte verschiedener Fächer auf 13 Die Frauen- und Geschlechter- geschichte zeigt seit den 1960er-Jahren, dass die vermeintliche Geschichtslosigkeit der Frauen nicht daher rührt, dass sie keine Geschichte machten, sondern dass die im 19 Jahrhundert einsetzende Verwissenschaftlichung der Geschichtsschrei- bung männlich geprägt war Im Zuge dessen wurden Texte weiblicher Geschichts- schreiber*innen und die historischen Erfahrungen von Frauen negiert und zum Verschwinden gebracht Frauen hatten zudem eingeschränkten Zugang zu Bildung und somit zu historischen Quellen in Bibliotheken und Universitäten 14 Viele volkskundliche Sammlungen gehen auf Initiativen «leidenschaftlicher Laien» aus bildungsbürgerlichen Kreisen zurück, die in exklusiven Vereinen eine «gemeinsame Weltsicht» schulten und kultivierten 15 Die finanzielle Grundlage 10 Diese Forschung wurde finanziert vom Georges und Mirjam Kinzel-Fonds. 11 Im Archiv der SGV findet sich keine Korrespondenz mit Weis. Wir versuchten erfolglos, Familienmit-t glieder von Annemarie Weis in Basel oder Riehen zu kontaktieren. Bei noch lebenden Verwandten der Informant*innen im Wallis ist keine Korrespondenz vorhanden. Weder im Staatsarchiv Sitten, beim Zivilstandsamt Visp noch bei den Einwohnerbehörden der Orte Saas-Grund und Binn fand sich eine Spur von Weis. 12 In Vergessenheit geraten sind nicht nur die forschenden Frauen, sondern auch Informant*innen, Übersetzer*innen und andere Cultural Brokers, die so manche Forschung überhaupt ermöglichten, vgl. marginalie.hypotheses.org/527#identifier_3_527, 22. 10. 2019. 13 Für die Ethnologie vgl. Kokot, Waltraud (Hg.): Pionierinnen der Ethnologie. Trier 2002, S. 6; Beer, Bett- tina: Frauen in der deutschsprachigen Ethnologie. Ein Handbuch. Köln, Weimar, Wien 2007. 14 Opitz-Belakhal, Claudia: Geschlechtergeschichte. Frankfurt, New York 2010 (Historische Einführungen 8), S. 148–150. 15 Imeri, Sabine: Sammelstellen und Deutungsagenturen. Volkskunde im Verein um 1900. In: Christiane Cantauw, Michael Kamp, Elisabeth Timm (Hg.): Figurationen des Laien zwischen Forschung, Leiden- schaft und politischer Mobilisierung. Museen, Archive und Erinnerungskultur in Fallstudien und Be- richten. Münster 2017, S. 34 f. 29 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit der Forschenden war oft anderweitig gesichert Die ersten Volkskundlerinnen im deutschsprachigen Raum stammten demnach aus finanziell stabilen Verhältnissen So konnten sie ihrer Sammel- und Forschungsleidenschaft nachgehen, ohne – auch als unverheiratete Frauen, was in der Schweiz die meisten von ihnen waren – in materielle Not zu geraten 16 Manche Frauen verzichteten auf eine eigene Familie oder gingen strategische Eheschliessungen ein, in denen sie finanziell oder fach- lich in ihren Forschungsinteressen unterstützt wurden 17 Die «Verwissenschaftlichung» der Schweizer Volkskunde an der Wende zum 20 Jahrhundert wurde von wenigen Männern vorangetrieben, die alle über eine akademische Ausbildung in anderen Disziplinen verfügten Ein universitärer Ab- schluss in Volkskunde war erst in den 1950er-Jahren möglich Frauen wurde der Zugang zu höheren Bildungsinstitutionen bis in die 1920er-Jahre erschwert und auch danach kann nicht von Chancengleichheit im Zugang zu Bildung gesprochen werden 18 Mit der Professionalisierung volkskundlicher Museen übernahmen auch studierte Fachfrauen «nur» technische Hilfsarbeiten wie das Katalogisieren der Sammlung, das Fotografieren, die Vermittlung und die Werbung 19 Frauen mit akade mischen Ambitionen wurden oft nicht ausreichend gefördert 20 Schluss- endlich gingen in die Geschichtsschreibung vieler Museen ausschliesslich die «Museums männer» ein 21 Christine Burckhardt-Seebass hat in ihrem Überblick über Schweizer Volks- kundlerinnen zu Beginn des 20 Jahrhunderts22 den Stand der Frauen im Fach noch in den 1990er-Jahren folgendermassen umrissen: «Von den genannten [Frauen-] Namen gehört kein einziger zu den klingenden in der Fachgeschichte Sie und viele andere verstecken sich in Fussnoten und Vorworten der Publikationen der Männer, die man sehr viel besser kennt, oder sie sind, weil ausserhalb etablierter wissen- schaftlicher Institutionen oder höchstens als unbezahlte Hilfskräfte wirkend und zum Teil sogar anonym publizierend, aus dem üblichen Raster von Gelehrtenkalen- 16 Alzheimer, Heidrun: Frauen in der Volkskunde. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte. In: Dieter Harmening, Erich Wimmer (Hg.): Volkskultur – Geschichte Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag. Würzburg 1990, S. 257–260; Burckhardt-Seebass (Anm. 5), S. 169. 17 Hosp, Inga: Von heiligen Madln und Suppenbrunzern. Marie Andree Eysn (1847–1929) als Impuls für die religiöse Volkskunde. In: Wallnöfer (Anm. 5), S. 12–23. 18 Burckhardt-Seebass (Anm. 5), S. 164 f. 19 So zum Beispiel eine der ersten Studentinnen an der Universität Basel, Adèle Stöcklin (1876–1960), vgl. Burckhardt-Seebass (Anm. 5), S. 169–171; Kleindorfer-Marx (Anm. 9), S. 216 f. 20 Eugenie Goldstern (1884–1945), österreichische Volkskundlerin und Zeitgenossin von Weis, forschte und sammelte ab 1912 für den Völkerkundler Arnold van Gennep im Unterwallis für dessen Regional- volkskunde. Sie begann 1910 in Wien zu studieren und promovierte 1921 im Fach Geografie mit einer Monografie zum französischen Dorf Bessan. Diese wurde wissenschaftlich so gut wie nicht rezipiert, da sie theoretisch nicht auf dem neusten Stand war, was unter anderem mit der mangelnden akade- mischen Förderung zusammenhing. Vgl. Burckhardt-Seebass, Christine: Lust aufs Feld. In: Österreichi- sches Museum für Volkskunde (Hg.): Eugenie Goldstern und ihre Stellung in der Ethnographie. Beiträge eines Symposiums zur Ausstellung «Ur-Ethnographie. Auf der Suche nach dem Elementaren in der Kultur. Die Sammlung Eugenie Goldstern». Wien 2005, S. 231–242. 21 Kleindorfer-Marx (Anm. 9), S. 204. 22 Burckhardt-Seebass (Anm. 5), S. 164–166; dies.: Spuren weiblicher Volkskunde. Ein Beitrag zur schweii- zerischen Fachgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 87 (1991), S. 209–224. 30 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit dern, Jahresberichten und ähnlichem gefallen und allenfalls der vagen Kategorie ‹Schriftstellerin› zugeordnet worden »23 Was die ungenügende Rezeption der Frauen als volkskundliche Sammlerin- nen betrifft, so ist zu bedenken, dass das Sammeln von Materialien und Informa- tionen in den Anfängen des Fachs als zweitrangige, der Analyse untergeordnete Tätigkeit angesehen wurde Die Feldforschungstätigkeit galt als mechanisches Abfragen von Informationen, das mit der wissenschaftlichen Interpretation der Daten nichts zu tun habe – und stellte in dieser Perspektive eine vorwissenschaft- liche Arbeit dar: «Wie man sammelte, wussten die Herren von der Universität nicht und sie probierten es auch nicht aus Die Frauen aber taten es, wenn auch methodisch unvorbereitet und unreflektiert, und sie betrieben die eigentliche Feldforschung »24 Frauen wurde gemeinhin – ähnlich, wie die evolutionistisch beeinflusste damalige Volks- und Völkerkunde für die Landbevölkerung oder die «primitiven» (aussere uropäischen) Völker annahm – eine mindere Intellektualität und irrationale Mentalität zug eschrieben Entsprechend seien sammelnde Frauen oft im Feld anzutreffen gewesen Sie agierten da als «dienende Gewährsfrauen oder Exploratorinnen» 25 Auch wenn die Forschungstätigkeit der Frauen oft keine Anstellung an einer Universität in Aussicht stellte und zu wenig honoriert wurde, bot sie ihnen doch die Möglichkeit, sich mit den gewünschten Inhalten zu befassen und vielleicht auch aus dem rigiden bürgerlichen Alltag auszubrechen 26 Die lange Abwesenheit von der Familie war jedenfalls nicht mit den gesellschaftlichen Rollenidealen der Zeit vereinbar und Ausbruchsfantasien, Fernweh und Reiselust waren für manche Frauen Ansporn, in die Feldforschung zu gehen 27 Annemarie Weis in Aktion 1877 geboren als uneheliches Kind einer Witwe wuchs Annemarie Weis mit zwei Brüdern in Riehen bei Basel auf 28 Gut möglich, dass sie in dieser Familienkon- stellation schon früh die Strenge gesellschaftlicher Normen zu spüren bekam Als Arbeitslehrerin an der Sekundarschule wurde sie finanziell unabhängig und blieb ihr Leben lang unverheiratet Spätestens mit 32 Jahren (1909) kam Weis zum ersten Mal ins Wallis Mög- licherweise war ihr der Aufenthalt in der Bergluft aus gesundheitlichen Gründen empfohlen worden 29 Im Saastal lernte sie den Zürcher Hobbybotaniker Alfred Kel- ler und dessen Familie kennen und begann mit ihnen gemeinsam als «Botanisches 23 Burckhardt-Seebass (Anm. 22), S. 216. 24 Ebd., S. 218. 25 Burckhardt-Seebass (Anm. 5), S. 166. 26 Burckhardt-Seebass (Anm. 22), S. 218. 27 Beer (Anm. 13), S. 9. 28 Wyder (Anm. 7), S. 63. 29 Wir danken Margrit Wyder für diesen Hinweis. 31 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit Kränzchen von Almagell» die Flora der Region zu sammeln 30 Insbesondere mit Else Keller verband sie eine gute Freundschaft Sie fühlte sich wohl in den Bergen und erreichte als wendige Bergsteigerin so manches Pflänzchen in grossen Höhen und entlegenen Winkeln In den kommenden acht Jahren verbrachte sie jeden Sommer die Schulferien im Oberwallis Aus den Jahren 1918–1921 wissen wir nur wenig über ihre Walliser Aufenthalte, aber ab April 1922 wohnte sie zwei Jahre lang in Wildi bei Saas-Fee und ab dem 10 Mai 1924 mietete sie eine Wohnung in Tamatten bei Saas-Grund, «die schönste in ganz Saas», wie sie berichtete 31 Dort blieb sie wohnhaft bis 1927 und lebte ein selbständiges Leben als «Einsiedlerin von Saas»;32 sie lernte den Saaser Dialekt und nahm Spinnstunden Die Winter verbrachte sie teilweise in Basel, wo sie allerdings jeweils «bald genug von der Unruhe des Stadtlebens»33 hatte Sie baute im Wallis soziale Beziehungen auf und genoss das Vertrauen der loka- len Bevölkerung Sie gab Aufträge für Schreinerarbeiten, tauschte Ziegenfleisch, Eier und Butter für den täglichen Bedarf (auch wenn sie mittags regelmässig im Hotel zu essen pflegte, wo auch ihre Freund*innen des botanischen Kränzchens wohnten) Besonders mit Jakobina Thenisch aus Binn pflegte sie ein freundliches Verhältnis Weis schickte ihr Pakete aus Basel und umgekehrt suchte Thenisch nach volkskundlichen Objekten in ihrer Umgebung Weis’ Beziehungen zu Lokalen und Reisenden im Wallis sind deswegen bemerkenswert, weil sie in Basel offenbar «fast ohne nähere Bekannte lebte»,34 wie der Basler Botaniker Hermann Christ- Socin nach ihrem Tod schrieb Neben der Botanik interessierte Weis sich für volkskundliche Aspekte des Wal- liser Alltags Spätestens ab 1916 stand sie in regem Austausch mit Hoffmann-Krayer, sammelte systematisch für seine Sammlung und beantwortete seine zahlreichen Nachfragen Dabei half ihr ihr Netz von lokalen Kontakten Wenn sie bei ihren Bekannten zu Besuch war, fragte sie nach handwerklich interessanten Objekten, sie liess sich alte Häuser zeigen, aus denen sie manchmal mitnehmen durfte, was sie wollte Darüber hinaus gab sie einheimischen Personen den Auftrag, nach be- stimmten Dingen zu suchen Sie erhielt nicht ohne Weiteres alle Objekte, die sie sich wünschte Wiederholt erwähnt sie in Briefen die komplexen Verhandlungen, die sie mit der lokalen Bevölkerung zu führen hatte 35 Von Basel aus schickte sie ihren Walliser Bekannten Hoffmann-Krayers Fragebogen zusammen mit Tabak, Gelee, Flaschen und Kartoffeln Weis wusste sich finanziell zu organisieren Während der fünf Jahre, die sie mehrheitlich im Wallis verbrachte, musste sie ohne ihren Lohn als Lehrerin aus- kommen Am Verkauf der Objekte für Hoffmann-Krayer verdiente sie nicht – sie verrechnete ihm jeweils den Preis, den sie selbst den Vorbesitzer*innen bezahlt 30 Wyder (Anm. 7). 31 Brief von Annemarie Weis (AMW) an Eduard Hoffmann-Krayer (EHK), 11. 6. 1925, Akten MKB, VI_1133. 32 So nannte sie der Basler Botaniker Hermann Christ-Socin in einem Brief an Alfred Keller, zitiert in: Wyder (Anm. 7), S. 66. 33 Brief AMW an EHK, 8. 2. 1926, Akten MKB, VI_1133. 34 Brief Hermann Christ-Socin an EHK, 10. 10. 1933, Archiv SGV, Af 57. 35 Akten MKB, VI_863 und VI_864. 32 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit hatte, und achtete darauf, nichts zu erwerben, was sie nicht an Hoffmann-Krayer weitergeben konnte Im Zweifelsfall fragte sie nach: «Die Ausbeute ist sehr gross Ist Sie Ihnen zu gross? Ich habe bis jetzt etwa 250 frs verbraucht »36 Als sie 1917 auch im Frühling ins Binntal reisen wollte, bat sie Hoffmann-Krayer um finanzielle Unter- stützung, um eine Stellvertreterin für ihre Schullektionen zu bezahlen Sie erklärte, es sei ein günstiger Moment, um Objekte anzukaufen: «Ein weiterer Grund ist der jetztige [sic] Geldmangel in Binn, der die Leute besonders geneigt macht, etwas zu veräussern »37 Ausserdem würden es die Leute als Freundlichkeit auslegen, wenn sie so früh im Jahr käme, und «dadurch sehr zuvorkommend sein» 38 Schlussendlich gelang es ihr offenbar, das nötige Geld zu beschaffen, denn schon neun Tage später schrieb sie aus dem Binntal nach Basel Neben den Kosten für die Objekte musste auch der Transport bezahlt werden Bis 1938 führte keine Strasse ins Binntal,39 der Weg vom Haupttal führte durch die enge Twingischlucht hinauf, der «an einigen Stellen grauenhaft»40 war Auf diesem Weg schwere Objekte wie einen Mühlestein mit Lasttieren ins Tal zu transportieren, war kein leichtes Unterfangen Die Preise für den Transport berechneten sich nach Gewicht und auch hier zeigte sich Weis’ ökonomisches und praktisches Denken: Um die Transportkosten niedrig zu halten, schlug sie vor, von einem schweren Steinmörser einen Teil abzuschlagen 41 Manchmal notierte Weis, was sie über den Gebrauch der Gegenstände wusste oder bei lokalen Spezialist*innen in Erfahrung bringen konnte Die gesammelten Informationen sandte sie nach Basel, teils legte sie auch einen Brief ihrer Gewährs- person bei Weil von den Antworten Hoffmann-Krayers an Weis nichts erhalten ist, können wir seine Reaktionen nur erahnen Gut möglich, dass er sich nicht immer Zeit genommen hatte, ihre Sendungen zu verdanken Im letzten Brief von Weis, der erhalten ist, kommt ihr Unmut darüber jedenfalls zum Ausdruck: «Haben Sie das schöne Heidenkreuz erhalten? Sie haben zwar wie üblich keinen Mucks gemacht »42 Der Tonfall dieses Zitats zeigt Weis nicht als stille Zudienerin, sondern als selbst- bewusste Person, die sich auch traute, einem Professor die Meinung zu sagen In einem anderen Brief an Hoffmann-Krayer schrieb sie: «Ich finde es schade, dass Sie sich immer so abhetzen Schliesslich haben Sie es doch in der Hand der Hetzerei ein Ende zu machen Wenn Sie wüssten wie viel mehr man vom Leben hat, wenn man es beschaulich durchlebt, so würden Sie gewiss auch bald auf alle moderne Kultur pfeifen »43 Wiederholt lud sie ihn ein, ins Saastal zu kommen Im Sommer 1917 reiste er tatsächlich ins Saastal und brachte 44 Objekte als Geschenk nach Basel zurück Es ist anzunehmen, dass er dabei mit Weis gemein- sam unterwegs war Später im Jahr arbeiteten die beiden in Basel gar zusammen 36 Brief AMW an EHK, 25. 2. 1917, Akten MKB, VI_0782. 37 Brief AMW an EHK, 11. 2. 1917, Akten MKB, VI_0782. 38 Ebd. 39 Graeser, Gerd; Bellwald, Werner: Das Binntal und sein Regionalmuseum 1982–2012. Archäologie, Volkskunde, Schul- und ‹Volks›medizin. Brig-Glis 2013, S. 26. 40 Brief AMW an EHK, 20. 2. 1917, Akten MKB, VI_0781 41 Brief AMW an EHK, 27. 2. 1917, Akten MKB, VI_0781. 42 Brief AMW an EHK, 14. 11. 1929, Akten MKB, VI_1237. 43 Brief AMW an EHK, 8. 2. 1926, Akten MKB, VI_1133. 33 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit an der Inventarisierung: Sowohl auf den Karteikarten wie auch im Einlaufbuch ist Weis’ Handschrift zu erkennen 44 Im Einlaufbuch ist sonst bis 1926 keine andere Handschrift ausser Hoffmann-Krayers eigener zu sehen Dass er Weis diese Arbeit machen liess, zeugt von seinem Respekt und Vertrauen Es scheint, als wäre sie gern noch enger mit ihm in Kontakt geblieben: «Wenn es Ihnen passt, so könnte ich einmal auf Ihr Büro kommen u dann könnten wir ein wenig plaudern Es ist eigentlich schon recht lange her, seit ich Sie gesehen habe »45 Weis sandte Hoffmann-Krayer 1928 die letzten volkskundlichen Objekte; bis 1930 lieferte sie dem Botaniker Christ-Socin Herbarbelege Auf ihrer letzten Reise ins Wallis erkrankte sie Zurück in Basel wurde sie im Claraspital operiert, starb aber am 18 September 1933 im Alter von 56 Jahren 46 Aus ihrem Haushalt wur- den dem Museum fünf Objekte als Erbschaft überlassen Knapp einen Monat nach ihrem Tod richtete sich Christ-Socin an Hoffmann-Krayer In seinem Brief berich- tete er von Weis’ Tod, lobte ihre Verdienste um die Botanik und die Volkskunde und fragte Hoffmann-Krayer, ob er nicht «ein lobendes Wort […] sagen» könne, also in einer seiner Zeitschriften über Weis berichten würde Hoffmann-Krayer reagierte auf diese Bitte in keiner Weise; weder im Schweizerischen Archiv für Volkskunde noch im Korrespondenzblatt Schweizer Volkskunde oder in den Jahresberichten des Museums wurde ihr Tod auch nur erwähnt Zudienende Sammlerin oder eigenständige Forscherin? Insgesamt sammelte Weis über 400 Objekte für das Museum in Basel Sie orien- tierte sich an den theoretischen Leitbildern der Zeit und wusste, welche Entwick- lungsreihen Hoffmann-Krayer mit seiner Sammlung abbilden wollte, oder fragte ihn explizit, was sie sammeln solle: «Falls Sie noch besondere Wünsche haben, dass ich nach diesem oder jenem Ausschau halten soll, so berichten Sie mir nur »47 Darüber hinaus hatte sie eigene Interessen und Ideen und sandte ungefragt Ob- jekte, die sie für interessant hielt Die Abteilung Europa verschrieb sich in ihren Anfängen um 1900 dem Sammeln von Gegenständen, «die vom Landvolk entweder erzeugt oder verwendet werden und gegenüber der modernen städtischen Kultur eine wesentlich primit ivere Kulturs tufe repräsentieren» 48 Relevant waren Objekte aus entlegenen Gebieten, wobei dem Wallis eine prominente Rolle zukam 49 Leopold Rütimeyer (1856–1932), Arzt, Ethno- graf und Gründungsmitglied des MKB, erklärte: «Ein glücklicher volkskundl icher Konservatismus der [W]alliser Bergleute trägt dazu bei, dass diese ursprünglichen 44 Sammlung MKB, Einlauf VI_0782. 45 Brief AMW an EHK, 14. 11. 1929, Akten MKB, VI_1237. 46 Brief Hermann Christ-Socin an EHK, 10. 10. 1933, Archiv SGV, Af 57. 47 Brief AMW an EHK, 25. 2. 1917, Akten MKB, VI_0782. 48 Hoffmann-Krayer, Eduard: Europa. In: Fritz Sarasin (Hg.): Bericht über die Sammlung für Völkerkunde des Basler Museums für das Jahr 1904. Basel 1904, S. 3. 49 Antonietti, Thomas: Ein Jahrhundert sammeln und forschen. Ethnologie im Wallis 1890–2010. In: ders. (Anm. 3), S. 23–32. 34 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit Zustände, die so recht das Milieu der hier noch lebenden archaistischen Geräte und Gebräuche bilden, der andringenden Neuzeit nur langsam weichen »50 Wenn auch heute solche Erklärungen nicht mehr wissenschaftlich haltbar sind, galten sie Anfang des 20 Jahrhunderts als plausibel und verstärkten das Bild einer Region, in der die Zeit langsamer verstreicht und die von äusseren Einflüssen unberührt bleibt 51 Im ersten Brief, der uns von Annemarie Weis an Hoffmann-Krayer überlie- fert ist, schreibt sie wie für die Region werbend: «Das Binntal war u ist jetzt noch eines der abgeschlossensten Täler u daher die Beeinflussung von Italien od dem Haupttal her ganz gering »52 Im Sommer 1910 eröffnete die «Ausstellung für Volkskunst und Volkskunde» im Basler Rollerhof Es war die erste Präsentation der noch jungen volkskund- lichen Sammlung in Basel 1910 Das Wallis war hier mehrfach und prominent vertreten 53 Die Ausstellung motivierte Leute dazu, Objekte zur Sammlungserwei- terung beizutragen, so «dass das Jahr 1910 mit einem Zuwachs von 1038 Num- mern an Fruchtbarkeit alle früheren übersteigt» 54 Dies tat auch Weis: Inspiriert von der Ausstellung übergab sie dem Museum eine hölzerne Spielzeugkuh aus dem Wallis 55 Es war die erste in der Sammlung Kurz darauf intensivierte sich das Interesse an den hölzernen Spielzeugtieren Im Anschluss an einen 1914 veröffentlichten Artikel von Théodor Delachaux zum Thema im Schweizerischen Archiv für Volkskunde, wies Hoffmann-Krayer als Herausgeber darauf hin, dass die Museumssammlung «seit längerer Zeit ihr Augenmerk auf das Spielzeug gerichtet hat und Europäisches wie Aussereuropäisches aus diesem Gebiete jederzeit gerne entgegennimmt oder erwirbt» 56 Daraufhin sandten mehrere Personen Holzkühe aus der Schweiz ein und eine «wahre Hochflut»57 davon bereicherte 1914 die euro- päische Sammlung Es ist anzunehmen, dass auch Weis den Artikel von Delachaux und den Sammelaufruf gelesen hat Sie schenkte Hoffmann- Krayer zwei Jahre später weitere 18 Holzkühe aus dem Goms, im Jahr darauf 30 Holzfigürchen aus dem Binntal sowie 19 Knochen tiere und zwei kleine, stark abstrahierte Püppchen aus Saas-Almagell Insbesondere Rütimeyer verfolgte diesen Sammlungsstrang intensiv weiter In seinem Werk Die Ur-Ethnographie der Schweiz erwähnt er die Knochenkühe aus Almagell – ohne Weis namentlich zu erwähnen 58 50 Rütimeyer, Leopold: Über einige archaistische Gerätschaften und Gebräuche im Kanton Wallis und ihre prähistorischen und ethnographischen Parallelen (Sonderausgabe aus dem Schweizerischen Archiv für Volkskunde 20). Basel 1916, S. 7. 51 Antonietti (Anm. 49), S. 26. 52 Brief AMW an EHK, 28. 10. 1916, Akten MKB, VI_0750. 53 Kurzer Führer durch die Ausstellung für Volkskunst und Volkskunde. Basel 1910. 54 Hoffmann-Krayer, Eduard: Europa. In: Paul Sarasin (Hg.): Bericht über die Sammlung für Völkerkunde des Basler Museums für das Jahr 1910. Basel 1910, S. 29. 55 Die Kuh ist auf einem Foto zu sehen, das abgebildet ist in Antonietti (Anm. 3), S. 163. Dort ist das Foto als Aufnahme aus der Ausstellung 1910 beschriftet, die Aufnahme kann aber frühestens von 1917 stammen. 56 Hoffmann-Krayer, Eduard. Nachwort der Redaktion. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 18 (1914), S. 112. 57 Hoffmann-Krayer, Eduard: Europa. In: Fritz Sarasin (Hg.): Bericht über die Sammlung für Völkerkunde des Basler Museums für das Jahr 1914. Basel 1914, S. 24. 58 Rütimeyer (Anm. 3). 35 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit Ein anderer Sammlungsstrang konzentrierte sich Anfang des 20 Jahrhunderts auf Lampen und Beleuchtungsgeräte Bereits 1909 führte Hoffmann-Krayer aus, dass nicht alle Objekte des Hausrats exzessiv gesammelt werden sollen, aber dass bei gewissen Gruppen «eine möglichst vollständige Entwicklungsreihe wünschens- wert ist», darunter eben das «Beleuchtungsgerät» 59 Bereits 1910 präsentierte er «eine lange Reihe verschiedenster Beleuchtungsgeräte, […] von den einfachsten bis zu den kompliziertesten Formen» 60 Weis scheint dieses Interesse an Leuch- ten übernommen zu haben Sie sammelte Kerzenhalter, metallene Öllampen und Kerzen, insbesondere aber auch 43 Specksteinlampen Dazu dokumentierte sie, wie sich deren Funktion im Laufe der Zeit verändert hatte: Was früher als Lampe gedient habe, sei heute als Futtertrog für Haustiere, als Weihwassergefäss oder als Wasserbehälter beim Sensendengeln im Einsatz Umgekehrt lieferte sie zwei Objekte ein, die von einem Weihwassergefäss zur Lampe umfunktioniert worden waren 61 Indem sie solchen Wandel dokumentierte, sprach sie der Herkunfts- gesellschaft eine Zeitlichkeit zu Darin unterschied sie sich von Sammler*innen, die in der gleichen Zeit auf der Suche nach dem Ursprünglichen das Bild einer unveränderlichen Vergangenheit produzierten 62 Mit Enthusiasmus recherchierte Annemarie Weis Herkunft und Funktion der Lampen und notierte die Gesteinsarten An Hoffmann-Krayer schrieb sie: «Die Sache interessiert mich u ich lege alles Nachrichtenmaterial zu späterer Bear- beitung zusammen »63 Wiederholt erwähnte sie die «Steinlampenarbeit», die sie schreiben wolle, für die sie aber keine Zeit finde 64 «Wegen dem Steinlampenauf- satz kann ich nichts Bestimmtes sagen Verspreche ich auf eine festgesetzte Zeit, so bin ich dadurch täglich geplagt; verspreche ich nichts, so ist es möglich, dass mir die Arbeit einmal rasch aus der Hand geht Jetzt ist das Wetter auch noch zu schön, um an Schreibereien festzusitzen »65 So blieben die von Weis gesammelten Lampen weitgehend unbearbeitet – trugen aber wesentlich zu Hoffmann-Krayers grosser Entwicklungsserie von Beleuchtungsgeräten bei, die er 1917 im Museum präsen- tierte 66 Es ist schwer zu sagen, weshalb Weis die Arbeit nie verfasste Sie hatte zu dem Zeitpunkt bereits kurze deskriptive Beiträge zu Walliser Brauchtümern veröffentlicht 67 Möglicherweise ging ihr ein klassifizierender, interpretierender Aufsatz nicht so leicht von der Hand Oder aber sie distanzierte sich selbstbewusst von der «Armchair»-Wissenschaft, wie der letzte Satz des Zitates vermuten lässt 59 Der Vortrag, den er 1909 in Graz gehalten hatte, wurde im Jahr darauf publiziert: Hoffmann-Krayer, Eduard: Ideen über ein Museum für primitive Ergologie. In: Museumskunde 6/2 (1910), S. 121. 60 Kurzer Führer (Anm. 53), S. 17. 61 Akten MKB, VI_0750, VI_1094 und VI_0782. Das Weihwasserbecken in der Kapelle von 1690 in Binn hat bis heute die gleiche Form und Materialität wie einige der Steinlampen. 62 Antonietti (Anm. 49), S. 26 f. 63 Brief AMW an EHK, 12. 1. 1917, Akten MKB, VI_0832. 64 Brief AMW an EHK, 23. 6. 1924, Akten MKB, VI_1094. 65 Brief AMW an EHK, 19. 8. 1925, Akten MKB, VI_1133. 66 Ausstellungsfoto 1917 «Europa: Laternen & Spähnhalter», Fotoarchiv MKB, X 23. 67 In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass das Korrespondenzblatt Schweizer Volkskunde explizit Texte von Laienforscher*innen oder «Dilettant*innen» begrüsste. Vgl. Zur Einführung. In: Schweizer Volkskunde 1 (1911), S. 1 f. 36 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit Auch kleinere Objektgruppen in Weis’ Sammlung lassen sich den Interes- sen Hoffmann-Krayers zuordnen Zu nennen sind Gerätschaften der Land- und Viehwirtschaft sowie Werkzeug und Hilfsmittel für die Käseherstellung und die Tierhaltung – alles Objektgruppen, die Hoffmann-Krayer als sammlungsrelevant bezeichnete 68 Von Bedeutung waren auch die von Weis eingelieferten Schaf- und Wassertesseln Solche Kerbhölzer, die mittels Einkerbungen Rechte und Pflichten dokumentierten, wurden seit Beginn der Abteilung gesammelt Weis lieferte über- dies Salz- und Kaffee mühlen, Mörser, Pfannenknechte und Bügeleisen aus dem Wallis – alles Objekte, die in Varia nten bereits 1910 ausgestellt wurden und folglich Hoffmann-Krayers Interesse zugeordnet werden können 69 Sie schickte ausserdem 18 Löffel nach Basel – auch an dieser Objektkategorie hatte er eindeutig Interesse, schliesslich waren zwei hölzerne «Nidle-Kelle» unter den allerersten Objekten, die Hoffmann-Krayer 1904 in Aeschi bei Spiez selbst gesammelt hatte Weis teilte mit Hoffmann-Krayer ein Interesse für Holzinschriften Eine beson- ders kryptische Inschrift erwähnte er im Jahresbericht 1923 prominent: «Hier sei auch die höchstmerkwürdige, 1590 datierte, Inschrift von einer Zimmerdecke in Saas-Fee angereiht (Sendung Fräulein Weis), die bereits bei Larden: «Inscriptions from Swiss Chalets» Fig 51, abgebildet ist […] »70 Walter Larden, ein leidenschaft- licher Hausinschriftensammler aus England, dokumentierte ab 1899 Schweizer Haus inschriften und übersetzte diese unter anderem mithilfe von Hoffmann-Krayer Es scheint nahel iegend, dass Weis von Hoffmann-Krayer 1923 den Auftrag erhielt, die Inschrift für das Museum zu erwerben Sie hat über die Jahre wohl selbst ein «Faible» für diese Art Objekte entwickelt So schrieb sie ihm 1925: «[I]ch möchte mich auch noch ein wenig an dem Fang [einer famosen Deckeninschrift] weiden Zu- erst wollte ich die Inschrift für mich kaufen, denn eine schöne Inschriftensammlung würde mir gefallen, aber nun hat, Sie würden sagen, die bessere Einsicht gesiegt »71 Hier bleibt unklar, was sie mit den Objekten vorhatte Es gibt keinen Hinweis dar- auf, dass sie sich eine systematische Privatsammlung anlegte Aus ihrem Nachlass sind nur wenige Einzelstücke unterschiedlicher Objektkategorien bekannt Als gelernte Handarbeitslehrerin interessierte sich Weis für Techniken der Textilverarbeitung wie Spinnen und Weben – ein weiterer Sammlungsschwer- punkt am Museum Wie Hoffmann-Krayer im Jahresbericht von 1918 vermerkte, konnte sie durch die gesammelten Objekte Lücken in den Entwicklungsserien der Flachs-, Hanf- und Wollbearbeitung schliessen 72 Sie beschäftigte sich intensiv mit textilem Handwerk: «In den letzten Jahren hab ich die primitive Handweberei im Wallis durchstudiert, sodass ich Ihnen ganz gut einen Webstuhl in der Sammlung in Stand stellen könnte »73 68 Hoffmann-Krayer (Anm. 59), S. 120 f. 69 Kurzer Führer (Anm. 53), S. 19 beziehungsweise 22. 70 Hoffmann-Krayer, Eduard: Europa. In: Fritz Sarasin (Hg.): Bericht über die Sammlung für Völkerkunde des Basler Museums für das Jahr 1923. Basel 1923, S. 15. 71 Brief AMW an EHK, 18. 12. 1925, Akten MKB, VI_1133. 72 Hoffmann-Krayer, Eduard: Europa. In: Fritz Sarasin (Hg.): Bericht über die Sammlung für Völkerkunde des Basler Museums für das Jahr 1918. Basel 1918, S. 15. 73 Brief AMW an EHK, 14. 11. 1929, Akten MKB, VI_1133. 37 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit Weis schickte Hoffmann-Krayer auch unaufgefordert Dinge, in denen sie Potenzial für die Sammlung sah, die sich jedoch keinem damals bestehenden Sammlungsinteresse am Museum zuschreiben lassen 1917 sandte sie ihm ein «Butzenscheiblein», ein rundes Glasteil einer alten Fensterverglasung, mit dem Kommentar: «Ich weiss zwar gar nicht ob Sie erfreut sein werden über das Butzen- scheiblein Wenn es Ihnen nicht passt so geben Sie es bitte Horne [dem Transpor- teur] wieder mit Es wäre zwar sehr interessant eine ganze Entwicklungsserie zu haben »74 Die kleine Glasscheibe kam in die Sammlung, wurde aber nie zu einer Reihe ergänzt Ihre Anmerkung zeigt jedoch, dass sie mit dem evolutionistischen Konzept der Entwicklungsserie vertraut war Es ist anzunehmen, dass sie durch den Kontakt mit Hoffmann-Krayer und Rütimeyer eine Vorstellung davon erhielt, welche Objektkategorien für die Sammlung interessant sein könnten Neben Vor- schlägen zu Entwicklungsserien betonte sie beispielsweise auch die «Primitivität» und «Urtümlichkeit» mancher Objekte als gesuchte Eigenschaft Alle drei «Heidenkreuze» in der Sammlung des MKB stammen ebenfalls von Weis Es handelt sich dabei um Stützbalken, die am First spätmittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Blockbauten angebracht waren, um die Dachkonstruktion zu stützen Weil stabilere Konstruktionsweisen die Heidenkreuze oder Heidenbalken ablösten, wurden sie bei Renovationen oft über- oder ganz ausgebaut Sie hatten da- her zu Zeiten von Weis bereits Seltenheitswert für volkskundliche S ammler*innen 75 Ob Hoffmann-Krayer sie aufgefordert hatte, nach diesen Objekten Ausschau zu hal- ten, ist nicht belegt Dagegen spricht, dass sie in der Objektliste von 1918, in der das erste Kreuz verzeichnet ist, das Objekt kurz erklärt: «24 Heidenkreuz Die ältesten Häuser im Wal[l]is haben am First ein sog Heidenkreuz Nicht alle sind gleich gross Dies ist das vollkommenste Stück, das ich gesehen habe […] »76 Hoffmann-Krayer er- wähnte das Objekt im Jahresbericht mit ihrer Erklärung, jedoch ohne sie zu nennen Im Mai 1925 liess Weis ein weiteres, rund 1,5 Meter hohes Heidenk reuz nach Basel senden 77 Ob Hoffmann-Krayer die Heidenkreuz lieferungen schätzte, wissen wir nicht Nach der Sendung des dritten Heidenkreuzes fragte Weis Hoffmann-Krayer etwas ungehalten danach, da er offenbar nicht darauf reagiert hatte 78 Das Stück wurde, wie auch die beiden vorangehenden, von Hoffmann-Krayer immerhin im Jahresb ericht erwähnt 79 Annemarie Weis sammelte auch pflanzliches Material,80 was wohl von ihrem persönlichen Interesse für die Botanik herrührte Darunter sind Bandagen aus 74 Brief AMW an EHK, 20. 5. 1917, Akten MKB, VI_781. 75 Egloff, Wilhelm; Egloff-Bodmer, Annemarie: Das Land, der Holzbau, das Wohnhaus (Die Bauernhäuser des Kantons Wallis 1), S. 204 f. 76 Objektliste AMW an EHK, 1918, Akten MKB, VI_863 und VI_864. 77 Postkarte AMW an EHK, 29. 5. 1925, Akten MKB, VI_1133. 78 Brief AMW an EHK, 14. 11. 1929, Akten MKB, VI_1133. 79 Hoffmann-Krayer, Eduard: Europa. In: Fritz Sarasin (Hg.): Bericht über die Sammlung für Völkerkunde des Basler Museums für das Jahr 1928. Basel 1928, S. 21. 80 Lärchenrinde «Lätschene» als Wundheilmittel, Lärchenschwamm «Gebakene Lätschene» als Ver-r bandsmaterial, Baumflechte als Ziegenfutter, Wurzelfaser als Milchsieb, Sauerdornwurzel zum Färben von Wollgarn. 38 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit Lärchenschwamm, einem grossen Baumpilz, der wegen seiner entzündungshem- menden Wirkung als Verbandsmaterial verwendet wurde 81 Weis interessierte sich auch für Strategien der Bevölkerung in Notsituationen Sie lieferte zum Beispiel Baumflechten ein, sogenanntes Graad, das damals als Tierfutter für die Ziegen und Schafe verwendet wurde, da aufgrund des kargen Bodens im Saastal das Heu über Winter oft nicht ausreichte Die Bauern gaben es den Tieren zum Schluss der Fütterung, so sparten sie Heu Die Futternot sei gross gewesen und so war diese Art der Fütterung bis 1930 üblich 82 Dass Weis allerdings nicht einfach alles sammelte, zeigt sich im Vergleich mit anderen Walliser Sammlungen am MKB und an anderen Museen Sie sammelte zum Beispiel keine Trachten, keine Masken und auch keine anderen Brauch- objekte Aus dem Bereich der Jagd, der in der Sammlung des Regionalmuseums Binn stark vertreten ist, findet sich bei ihr ebenfalls nur sehr wenig: drei verzierte Pulverhörner Auch die Lederverarbeitung, insbesondere das Schuhmachereihand- werk, und der Tourismus kommen in der Sammlung Weis nicht vor Auch ist die im Binntal zentrale Strahlerei, das Suchen von Kristallen und Mineralien, nur mit einem einzigen Objekt vertreten Im Vergleich zum Saaser Museum in Saas-Fee, welches ein ganzes Stockwerk der Sakralkunst widmet, hat Weis auch nur verein- zelt und zudem wenig systematisch religiöse Objekte gesammelt Soweit bekannt, rezipierte sie keine wissenschaftliche Literatur, war nicht Mit- glied der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, noch äusserte sie je Ambi- tionen, ein Studium oder eine wissenschaftliche Position am Museum anzutreten Gleichwohl zeugt ihre Sammlungst ätigkeit von ihren fachlichen Kenntnissen und einem grundlegenden Verständnis der theoretischen Konzepte der damaligen Volkskunde Sie sammelte aber nicht nur Objekte im Auftrag von Hoffmann-Krayer, sondern brachte eigene Ideen ein, zeigte sich kreativ und interessiert Durch ihren Alltag im Wallis und ihr Netz von Bekanntschaften bereicherte sie ihre Sammlung mit präziseren Informationen als die meisten Sammler*innen ihrer Zeit Wie Annemarie Weis im MKB unsichtbar wurde Zurück nach Basel: Hier war Hoffmann-Krayer seit 1904 mit dem Aufbau einer volks- kundlichen Sammlung am damaligen Völkerkundemuseum betraut Für die Erwei- terung der Sammlungsbestände war er auf die Einsendungen von Einliefer*innen angewiesen, die ihm Objekte schenkten oder verkauften Als Vorsteher der Abtei- lung Europa oblag ihm – mit Ausnahme grösserer Ankäufe – alleine die Entschei- dung, welche Objekte aufzunehmen seien Die Museumskommission (er war Mit- glied) bestimmte ein jährliches Ankaufsbudget jeder Abteilung Dieses variierte, war jedoch (wie Hoffmann-Krayer wiederholt betonte) in der Regel zu klein So griff er immer wieder in die eigene Tasche, um Objekte anzukaufen 81 Brief Jakobina Thenisch an AMW, 3. 2. 1917, Akten MKB, VI_782. 82 Ruppen, Peter Joseph; Imseng, Gustav; Imseng, Werner: Saaser Chronik. 1200–1988. 3., erweiterte Auflage. Saas Fee 1988 (1851), S. 276. 39 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit In den Jahresberichten listeten die Abteilungsvorsteher jeweils besondere Neu- zugänge sowie alle Schenkungen auf Die Sammlung Weis findet darin von 1916 bis 1933 jährlich Erwähnung 83 Hoffmann-Krayer lobt dabei ihre Sammlungstätigkeit ausdrücklich und schreibt von ihrem «grosse[n] Verständnis für das Primitive» 84 Explizit erwähnt er vor allem jene Stücke, die sich am besten in die bestehenden Sammlungsbereiche einfügten,85 zum Beispiel die Steinlampen: «Ganz besonders aber müssen wir ihr die Schenkung einer Steinlampe verdanken, wie sie primitiver nicht gedacht werden kann ‹Lampe› darf man das Objekt im Grunde kaum mehr nennen »86 Weiter erwähnt er ihren Beitrag zur Textilsammlung: «[D]ie Gruppe Textilgerät und Textilien [ist] um einige sehr bemerkenswerte Stücke bereichert worden Dank der verständnisvollen Sammeltätigkeit von Frl A M Weis sind jetzt fast alle Entwicklungsstadien der Flachs-, Hanf- und Wollbearbeitung vom rohen Zustande bis zum gewobenen Stoff vereinigt, so dass sich eine instruktive Gruppe dieses Betriebes zusammenstellen liesse »87 In einem grossen Nummernbuch dokumentierte Hoffmann-Krayer jeden Eingang in die europäische Sammlung Dort sind die 39688 Objekte, die sicher über Weis ins Museum kamen, mit ihrem Namen versehen Daneben vermerkte Hoffmann-K rayer in der Spalte «Bemerkungen», ob sie die Objekte geschenkt hatte, ob sie über den Abteilungsetat angekauft worden waren oder ob er selbst sie Weis abgekauft und dann dem Museum geschenkt hatte 1931 beschloss die Kommis- sion, dass jede Abteilung ein Einlaufjournal führen müsse; ein Buch also, in dem nicht jedes einzelne Objekt, sondern jeder neue Einlauf als Geschenk oder Kauf aufgeführt sei 89 Für die Abteilung Europa bedeutete dies, dass das detaillierte Nummernbuch abgeschrieben werden musste Diese Arbeit wurde erst nach Hoffmann-Krayers Tod unter seinem Nachfolger Hanns Bächtold-Stäubli angegangen: Aus dem alten Nummernbuch wurden 1939 alle Einträge in verkürzter Form in ein Einlaufjour- nal übertragen Fortan wurde während Jahren nur dieses weitergeführt In die- sem neuen Journal verschwanden nun die Namen der Einliefer*innen zugunsten derjenigen Person, die das Geld für die Objekte gesprochen hatte – oft war dies Hoffmann-Krayer, der aus seinem privaten Vermögen manch einen Ankauf finan- 83 Einzige Ausnahme ist das Jahr 1922, in dem Weis nur insgesamt vier Objekte einlieferte. Ebenfalls namentlich erwähnt wird sie in Rütimeyer, Leopold: Weitere Beiträge zur schweizerischen Ur-Ethno- graphie aus den Kantonen Wallis, Graubünden und Tessin und deren prähistorischen und ethnographi- schen Parallelen. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 22 (1918–1920), S. 39 f. 84 Hoffmann-Krayer (Anm. 72), S. 13 f. 85 Vereinzelte Objekte finden keine Erwähnung, zum Beispiel das botanische Material. 86 Hoffmann-Krayer (Anm. 72), S. 17. 87 Ebd., S. 15. 88 396 sind heute Teil der Sammlung. Einige Objekte wurden als Dubletten ausgesondert, andere sind zwar auf Weis’ Listen, aber nicht im Sammlungsverzeichnis zu finden, wurden folglich nicht inventarisiert. Weis sammelte nur für Basel; weder das Schweizerische Nationalmuseum in Zürich, das Geschichtsmuseum Sitten, das Musée d’ethnographie de Genève, das Musée d’ethnographie de Neuchâtel noch das Alpine Museum der Schweiz in Bern haben Objekte von ihr verzeichnet. Auch in den Lokalmuseen in Binn und in Saas-Fee ist sie nicht vertreten. 89 Protokoll der Museumskommission vom 30. 4. 1931. Archiv MKB 01-0007. 40 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit zierte Wurde ein Ankauf über den Abteilungsetat finanziert, blieb der Name teils bestehen, teils wurde er ebenfalls durch Hoffmann-Krayer ersetzt Diese Inkonsis- tenz ist unter anderem damit zu erklären, dass ein Einlauf oft Objekte beinhaltete, die in unterschiedlicher Art und Weise ans Museum übergeben worden waren Im neuen Einlaufjournal präsent blieben hingegen die Namen der Donator*innen 90 Dieses neue, reduzierte Verzeichnis gewichtete also den finanziellen Aspekt der Objektgeschichten höher als die Arbeit des Sammelns Dazu passt, dass auf man- chen Karteikarten nachträglich Hoffmann-Krayer als Schenker ergänzt wurde, wo dieser es nicht schon selbst vermerkt hatte Weis hatte nur einen kleinen Teil ihrer Sammlung dem Museum als Geschenk übergeben Deshalb verschwand in diesem Moment der Museumsgeschichte ihr Name zu einem grossen Teil In vergleichbarer Weise verschwand Weis’ Name auch in Ausstellungen Auf Fotos der ersten Dauerausstellung der Abteilung Europa nach dem Museums- umbau 1917 sind zahlreiche Exponate aus ihrer Sammlung zu sehen In einer Vitrine mit dem Titel «Primitives Spielzeug» sind die Objektbeschriftungen gut zu lesen Genannt sind jeweils die Schenker, in diesem Fall Maurice Gabbud, Rüti- meyer und Hoffmann-Krayer Die Beschriftung der Tierchen aus Weis’ Sammlung haben hingegen keine Personenbezeichnung, da Hoffmann-Krayer für die Objekte bezahlt hatte 91 Zwischen 2006 und 2009 übertrugen Hilfsassistierende und Mitarbeiter*innen der Abteilung Europa die Einträge des 1939 neu konzipierten Einlaufbuchs in die bis heute genutzte Datenbank, sodass die Auslassungen von 1939 auch im neuen Medium weiterbestanden Von den insgesamt 396 Objekten war Weis in der Samm- lungsdatenbank nur bei 292 Objekten (73,7 Prozent) als Sammlerin und Einliefe- rin angegeben Die anderen waren mit Hoffmann-Krayer als Schenker verknüpft Bei 81 (20,5 Prozent) dieser Objekte fand sich Weis’ Name auf der gescannten Karteikarte, bei 23 Objekten (5,8 Prozent) fand sich der Hinweis nur noch im alten Eingangsjournal Wenig Anerkennung für relevante Leistung Annemarie Weis hatte sich durch ihre Lehrtätigkeit, Kinderlosigkeit und ihren wirtschaftlichen Weitblick die finanziellen Voraussetzungen geschaffen, die es ihr ermöglichten, ihren volkskundlichen Interessen nachzugehen Sie ist ein Beispiel für eine Sammlerin, die nicht nur als Zudienerin Anweisun- gen und Aufträge im Feld ausführte Sie ergänzte nicht bloss die bereits begonne- nen Entwicklungslinien, sondern schlug neue Objektgruppen wie beispielsweise die botanischen Stücke für den Sammlungsbestand vor Weis war fachkundig, en- gagiert und leistete einen nennenswerten Beitrag zu einer Ethnografie des Wallis, 90 Auch Frauen figurieren als Schenkerinnen. 91 Ausstellungsfoto 1917 «Europa: Primitives Spielzeug», Fotoarchiv MKB, X 5. In gleicher Weise fehlen auf anderen Fotos dieser Ausstellung die Namen männlicher Einlieferer, die die Objekte nicht ge- schenkt, sondern verkauft hatten. 41 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit der es verdient, unter ihrem Namen erwähnt zu werden Hoffmann-Krayer hätte alldem vermutlich nicht widersprochen, wie seine respektvollen Äusserungen über ihre Arbeit in den Jahresberichten sowie ihre Zusammenarbeit im Feld und im Büro vermuten lassen Ein Viertel der von ihr eingelieferten Objekte war nicht ihrer Person zugeord- net, sondern Hoffmann-Krayer, der ihr die Objekte abgekauft hatte Der Fokus auf die schenkende anstelle der sammelnden Person verstärkte die Präsenz wohl- situierter Bürger*innen in der Geschichtsschreibung des Museums So ist Weis ein Beispiel dafür, wie in der Fachgeschichte der Volkskunde häufig Namen männ- licher Forschender hervorgehoben wurden, während die Leistungen der Frauen allenfalls marginale Erwähnung fanden Ein absichtliches Unterschlagen ihrer Sammeltätigkeit durch die männlichen Museumsmitarbeiter liegt nicht vor Ihre Leistung wurde von Hoffmann-Krayer und auch Rütimeyer erwähnt und gelobt Vielmehr ist ihr Verschwinden in der Museumsgeschichtsschreibung einer strukturellen Problematik zuzuschreiben, die an der Schnittstelle von der Wissensproduktion in der frühen Volkskunde und diskriminierenden Weiblichkeitsvorstellungen in der Gesellschaft zu verorten ist Während die Fähigkeit zur wissenschaftlichen Analyse den Männern vorbehalten war, galt die Funktion der Feldforscher*in und Sammler*in per se als der unwis- senschaftliche und wenig prestigeträchtige Teil des Faches, der mehr Handwerk als analytisches Denken erforderte – weshalb diese Aufgabe eher den als irrational geltenden Frauen zugedacht war Hoffmann-Krayer, der sich andernorts für die Wertschätzung von Wissen aus- serhalb universitärer Institutionen eingesetzt hatte, hätte möglicherweise verhin- dern können, dass Weis’ Leistung so wenig rezipiert wurde, indem er – wie von Christ-Socin aufgefordert – nach ihrem Tod etwas über sie publiziert hätte Wieso er sich dagegen entschied, können wir nicht sicher wissen 42 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Karin Kaufmann, Tabea Buri: Wege aus der Unsichtbarkeit SCHWEIZERISCHES ARCHIV FÜR VOLKSKUNDE / ARCHIVES SUISSES DES TRADITIONS POPULAIRES 117. JAHRGANG (2021), HEFT 1, S. 43–58, DOI 10.33057/CHRONOS.1655/43-58 «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» Globis Umgang mit Armut in den 1930er-Jahren CHRISTOPHE ROULIN, BENEDIKT HASSLER Abstract Die Kinder- und Jugendzeitung Der Globi lancierte 1934 einen Aufsatzwettbewerb zu einer Bildstrecke, in der Globi einen «Bettler» grob und ohne dessen Einwilligung auf ein Feld zieht und dort als Vogelscheuche positioniert Die Kinder waren eingeladen, zu dieser Bildstrecke einen passenden Text einzusenden Ausgehend von der Bildstrecke geht der Artikel der Frage nach, was für ein Umgang mit armutsbetroffenen Menschen sich in diesem Dokument aus den 1930er-Jahren manifestiert: Der in der Bildstrecke dargestellte Globi zeichnet sich durch rasches und bestimmtes Handeln aus Er ver- ändert weder die ökonomische noch die soziale Situation zum Guten, macht aber einen Witz auf Kosten des Bettlers und sorgt dafür, dass dieser für die Allgemeinheit weniger störend ist Im Gegensatz zum behördlichen Umgang in den 1930er-Jahren befasst sich Globi nicht vertieft mit der Person, sondern handelt unabhängig von Erkundungen und Abklärungen nach seinen eigenen Vorstellungen Keywords: Poverty, beggary, children’s literature, Globi, Switzerland, 1930s Armut, Bettelei, Kinderliteratur, Globi, Schweiz, 1930er-Jahre Globi ist eine populäre Marketingfigur, die anlässlich des 25-Jahre-Jubiläums des Warenhauses Globus im Jahr 1932 vom Zeichner Robert Lips und dem Globus- Werbel eiter Ignatius Karl Schiele zum Leben erweckt wurde Die Globi-Figur ist ein Mischwesen zwischen Papagei und Mensch und Schiele charakterisierte Globi als «Draufgänger, Lausbube[n] und fröhliche[n] Schlingel in einer Person […] Aber wohlgemerkt: mit Herz und Gemüt »1 Die Figur wurde geschaffen, um Kinder durch Inserate, Drucksachen und Veranstaltungen als zukünftige Kund*innen für das Globus-Warenhaus zu gewinnen So begrüsste Globi beispielsweise als Fest- onkel mit «frohmütigem Herzen und goldlauterer Gesinnung»2 die Kinder zu mehr- 1 Zitiert nach Bellwald, Waltraut: Globi – der Schweizer «Nationalvogel»: von der Werbefigur zum Kinder - buchhelden. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 99/1 (2003), S. 1–22, hier S. 16. 2 Globi-Verlag: Globi. Streiche aus den ersten Jahren. Zürich 1992, S. 4. 43 SAVk | ASTP 117:1 (2021) tägigen Jugendmeetings mit Schiessbuden, «Hau den Lukas», Zeichnungs- und Aufsatzwettbewerben sowie Geschicklichkeits- und Glücksspielen Diese Jugend- meetings fanden in den Globus-Verkaufsfilialen statt Von Beginn an war Globi aus der Marketingperspektive betrachtet ein Erfolg Diesen erklärte sich Werbe- leiter Schiele unter anderem aus dem Umstand, dass die Figur eine willkommene Ablenkung in der Tristesse der 1930er-Jahre darstellte 3 Doch auch in späteren Jahrzehnten erzielten die Globi-Bücher hohe Auflagen Sie sind bis zum heutigen Tag im Handel erhältlich und gehören zu den Schweizer Kinderbuchklassikern Doch Globi war schon früh auch eine umstrittene Figur Bereits 1951 beschrieb Karl Schöbi den Band Globi in der Verbannung aus einer pädagogischen Per- spektive als «Buch voller Unmöglichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten» Schöbi beanstandete insbesondere die «überreizte[ ] Phantasie in Wort und Bild» 4 Ab den 1970er-Jahren mehrten sich die kritischen Stimmen So problematisierte die Kinderpsychologin Ursula Müller 1972 in einer Sendung am Schweizer Fernsehen dezidiert die rassistischen Figuren und Schilderungen in den Globi-Büchern,5 der Schriftsteller Georg Späth bezeichnete in derselben Sendung Globi als «grosses Geschäft auf Kosten unserer Kinder»6 und Regula Renschler zeigte Anfang der 1980er-Jahre in einem Artikel unter Anführung zahlreicher Beispiele auf, wie «rassistisch und sexistisch» einzelne Texte und Bilder der Globi-Geschichten sind 7 Andere Autor*innen bekräftigten später diese Analysen8 und problematisierten ausserdem Globis fragwürdigen Umgang mit der Natur sowie den Umstand, dass sich Globi in vielen Geschichten über schwache Nebenfiguren lächerlich macht und diese herabsetzt 9 Diese Analysen sind insgesamt sicherlich zutreffend und wichtige Beiträge zu den Debatten über die Normen und Bilder, die durch Kinder- literatur vermittelt werden Angesichts dieser Vielzahl an wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Globi-Geschichten ist es auffallend und bemer- kenswert, dass Globis Umgang mit armutsbetroffenen Menschen bislang nicht nä- her thematisiert wurde, obwohl sein diesbezügliches Handeln als ausgesprochen abwertend gesehen werden muss In dieser Hinsicht ist eine sechsteilige Bildstrecke aus dem Jahr 1934 hervor- zuheben, in der Globi einen Bettler kurzerhand und ohne dessen Einwilligung auf 3 Renschler, Regula: «Neger hat er just erblickt, Und die Lage wird verzwickt». Der krasse Rassismus in den Schweizer Globi-Büchern. In: dies., Roy Preiswerk (Hg.): Das Gift der frühen Jahre. Rassismus in der Jugendliteratur, Basel 1981, S. 213–234, hier S. 214. 4 Schöbi, Karl: Globi in der Verbannung: ein ungeeignetes Lehrmittel für unsere Schulen. In: Schweizer Schule 38/5 (1951), S. 152–155, hier S. 153. 5 Purtschert, Patricia: «De Schorsch Gaggo reist uf Afrika»: Postkoloniale Konstellationen und diskursive Verschiebungen in Schweizer Kindergeschichten. In: dies., Barbara Lüthi, Francesca Falk (Hg.): Post- koloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Bielefeld 2012, S. 89–116, hier S. 101. 6 Schweizer Fernsehen: 40 Jahre Globi, www.srf.ch/play/tv/srf-wissen/video/40-jahre-globi?id=c51227- e0-437e-492f-a9c6-09ad172e7575. 15. 3. 1972, 20. 3. 2020. 7 Renschler (Anm. 3), S. 214. 8 Purtschert (Anm. 5), S. 97. 9 Ulrich, Anna Katharina: Schrift-Kindheiten. Das Kinderbuch als Quelle zur Geschichte der Kindheit. Zürich 2002. 44 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» einen Acker stellt, um die dort befindlichen Vögel zu vertreiben Anhand dieses Beispiels erörtert der vorliegende Aufsatz, welche Formen des Umgangs mit Armut in der Bildstrecke beschrieben und demnach als tolerabel und publikationswürdig erachtet wurden Zur Analyse der durch die Bildstrecke vermittelten Perspektive auf Armut wird zunächst in die Geschichte der Figur Globi eingeführt Das darauf- folgende Kapitel nimmt Bezug auf die Bildergeschichten, in denen Armut bei Globi thematisiert wird Hierfür wurden die ersten 14 Globi-Bildbände gesichtet, die von 1935 bis 1947 erschienen sind Durchgesehen wurden ausserdem die ersten zehn Jahrgänge der Globi-Jugendzeitschrift (1935–1944) Im nachfolgenden Kapitel wird Globis Umgang mit Armut in der im Fokus stehenden Bildstrecke von 1934 analy- siert Zu dieser Bildstrecke wurde ein Aufsatzwettbewerb für Kinder ausgeschrie- ben, der von der 13-jährigen Ruth Aeberli gewonnen wurde Die Interpretation des Siegeraufsatzes, der die Bildstrecke beschreibt, erweist sich als ertragreich, da Aeberli ihn 1934 verfasste und deshalb eine authentische Zeitzeugin und Interpre- tin der Bildstrecke ist 10 Die in der Bildstrecke und im Aufsatz dargelegten Perspek- tiven auf Armut werden daraufhin mit der Gesetzgebung zu und Diskursen rund um Armut aus den 1930er-Jahren kontrastiert Dieses Vorgehen ermöglicht eine Einordnung, inwiefern Globis Handeln den geltenden Gesetzen und Normen der damaligen Zeit entspricht und in welchen Punkten Globi davon abweicht Globi der Kinderfreund Seit dem 18 Jahrhundert sind Kinderzeitschriften im deutschsprachigen Raum bekannt Diese setzen sich in der Regel aus Erzählungen, Aufsatz- und Zeichnungs- wettbewerben, Rätseln sowie Sachbeiträgen zusammen Viele dieser Zeitschriften wurden von Unternehmen zu Werbezwecken herausgegeben 11 So entstand im Jahr 1935 auch die Globi-Zeitung, die nach zwei Sondernummern im Jahr 1934 bis in die 1970er-Jahre regelmässig erschien und Kinder und Jugendliche in der Deutsch- schweiz prägte 12 Nebst der Zeitschrift wurden die Globi-Geschichten ab 1935 auch in Bilderbüchern veröffentlicht Im Sommer 2020 erschien mit Globi auf der Alp bereits der 91 Band der Albumreihe Für Schiele war Globi zunächst eine Werbe- figur, mittels der er eine verstärkte Kund*innenbindung anstrebte und die den Be- kanntheitsgrad der Marke Globus steigern sollte Ferner verstand Schiele Globi als literarische Figur, die den Kindern und Jugendlichen ein Freund und Helfer sein sollte, der diesen Werte und Tugenden vermittelt 13 Diese beiden Aspekte – Globi als Werbefigur und literarische Figur – werden nachfolgend erörtert 10 Die übrigen eingereichten Kinderaufsätze konnten nicht ausfindig gemacht werden. Angefragt wurde beim Globi-Verlag, dem Stadtarchiv Zürich, dem Archiv der Kinder- und Jugendzeichnungen der Stif- tung Pestalozzianum sowie bei privaten Sammlern. 11 Bellwald, Waltraut: Globi, ein Freund fürs Leben. Die Erfolgsgeschichte einer Reklamefigur. Zürich 2003, S. 84; Lehninger, Anna: Vor-Bilder. Nach-Bilder. Zeit-Bilder. Kommerzielle Zeichenwettbewerbe für Kinder in der Schweiz, 1935–1985. Zürich 2015, S. 37. 12 Lehninger (Anm. 11), S. 37. 13 Schiele, Ignatius Karl: Vorwort. In: Globi Verlag (Hg.): Globis Siege und Niederlagen. Zürich 1943. 45 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» Als Werbefigur versuchte Globi den Kindern Produkte schmackhaft zu ma- chen In der Zeitschrift warb Globi ab dem Jahr 1935 jeweils auf mindestens zwei Seiten pro Ausgabe für Produkte wie «Globis Luftbefeuchter mit Spezial- Verdunstungs platte»,14 die Kinderschuhe «Globi-Trotter»15 und «Globi Sana»16 oder den Kindermantel «Globardine» 17 Darüber hinaus animierte Globi Kinder und Jugendliche mittels verschiedener Aufsatz- und Zeichnungswettbewerbe zur Ein- sendung von Beiträgen und stellte die Nennung des Namens in der Zeitschrift sowie diverse Preise als Belohnung in Aussicht In einer Ausgabe wurde beispiels- weise eine Bezeichnung für einen Kinderschuh gesucht, was rund tausend Kinder dazu veranlasste, einen entsprechenden Vorschlag einzusenden 18 Die Kinder und Jugendl ichen beteiligten sich rege mit Aufsätzen, Basteleien, dem Beantwor- ten von Rätsel fragen, dem Ausdenken von Werbesprüchen und der Einsendung von Fragen an Globi und traten so in Austausch mit den Herausgebern Diese ermunterten die Kinder, auch unabhängig von Wettbewerbsausschreibungen Bastelarbeiten, Zeichnungen oder Fragen einzusenden Nach Erhalt wurden diese beantwortet, Gaben und Zeichnungen verdankt und ausgewählte Einsendungen in der Zeitschrift publiz iert 19 Schiele zufolge wurden von 1932 bis 1948 knapp 200 000 Kinderzeichnungen eingereicht, was den grossen Erfolg der Figur bei den Kindern illustriert 20 Als Werbefigur erfüllte Globi seinen Zweck und animierte zum Mitmachen, dies gar so erfolgreich, dass in der ganzen Deutschschweiz Globi- Clubs entstanden 21 Doch Globi war nicht bloss eine Werbefigur, sondern sollte den Kindern als lite- rarische Figur auch moralische Orientierung bieten In der Kinder- und Jugendlite- ratur «erhält die Vermittlung eines Welt- und Gesellschaftsbildes, die pädago gische oder politische Intention, seit je einen spezifischen Wirkungsraum» 22 Schiele kon- zipiert Globi als Figur, die nicht lange redet, sondern unverzüglich handelt und das Heft in die Hand nimmt Als Figur, die nicht viel fragt, sondern auch einmal etwas wagt 23 In den Worten Schieles soll Globi ein «rechter Junge» sein 24 Trotz seiner forschen Art zweifelt Globi die Gesellschaftsordnung nicht grundsätzlich an oder leistet Kritik an den herrschenden Verhältnissen Vielmehr rebelliert Globi im Rahmen der gesellschaftlichen Institutionen und nicht gegen diese 25 Dabei 14 Der Globi, die lebendig, reich beschilderte Jugendschrift 2/9 (1936), S. 145. 15 Der Globi, die lebendig, reich beschilderte Jugendschrift 1/8 (1935), S. 112. 16 Der Globi 2/2 (1936), S. 32. 17 Der Globi 1/9 (1935), S. 155. 18 Bellwald (Anm. 11), S. 88. 19 Lehninger (Anm. 11), S. 37 f.; Bellwald, Waltraut; Tomkowiak, Ingrid: Globi. Eine Schweizer Reklame-e figur wird zum Mythos. In: Christoph Schmitt (Hg.): Erzählkulturen im Medienwandel. Münster, New York, München, Berlin 2008, S. 325–340, hier S. 334. 20 Lehninger (Anm. 11), S. 38. 21 Bellwald (Anm. 11), S. 94 und 108–110. 22 Grebe, Wolfgang: Erziehung zur Solidarität. Grundlagen und Möglichkeiten politischer Emanzipation. Giessen 1973, S. 82. 23 Bellwald (Anm. 11), S. 25. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 20. 46 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» lotet Globi immer wieder die Grenzen aus und nimmt sich auch Themen an, die Erwachsenen unangenehm sein können Während unter kindergerechter Literatur oftmals verstanden wird, diese solle in den Geschichten eine heile Welt und Idylle vermitteln, gesteht Globi den Kindern und Jugendlichen zu, mit heiklen Themen wie beispielsweise Armut umzugehen 26 Globis grenzüberschreitende Handlungen steigerten seine Attraktivität bei den Kindern, gleichzeitig führten sie zu einer Ablehnung durch manche Eltern und Pädagogen, die den Inhalt sowie die Erscheinungsform und Ästhetik kriti- sierten Aus diesem Grund war Globi stets eine umstrittene Figur «Vor allem der Lehrerverband stand ihm von Anfang an eher abwertend gegenüber Gerade von dieser pädagogischen Institution erhoffte sich Schiele jedoch Anerkennung »27 Mit der Gründung des Schweizerischen Jugendschriftwerks wurde im Jahr 1932 eine Institution geschaffen, die die Bekämpfung von «Schund und Schmutz» in der Kinder- und Jugendliteratur zum Ziel hatte Auch aus deren Perspektive wurde die Globi-Figur aufgrund seines impulsiven und unangepassten Verhaltens pro- blematisiert 28 Armut bei Globi In den Globi-Bildstrecken finden sich von 1934 bis 1947 nur wenige Darstellungen armutsbetroffener Menschen Insgesamt konnten fünf Bildstrecken identifiziert werden In der Geschichte «Globi’s Gewissen – das bessere Ich»29 hält Globis Ge- wissen ihn von einer schlechten Tat ab und fordert ihn auf, einem Bettler Geld zu geben und damit Gutes zu tun (Abb 1) In der Bildstrecke «Todes-Angst» soll Globi ebenfalls sein Gewissen erleich- tern, indem er einem Bettler alles Ersparte in den Hut legt 30 In diesen beiden Bild- strecken kommt den Armen eine Funktion zu, die sie auch im Mittelalter hatten Sie ermöglichen es den Besitzenden, ihre religiös vorgeschriebenen guten Taten zu erbringen 31 Hierbei steht nicht die Sicherung der Existenz der Armen im Zentrum, sondern das moralische Wohlergehen der Gebenden Die Höhe der Gaben bemisst sich demnach auch nicht an den Nöten der Armen, sondern an den Bedürfnissen der Reichen Das Gewissen wird durch die Gaben erleichtert und dieses Handeln soll die Chancen der Reichen im «Jenseits verbessern und nicht primär die Chan- 26 Rychener, Ingeborg: Wie Kinder ein Bilderbuch verstehen. Eine empirische Studie zur Entwicklung des Textverstehens. Bern 2011, S. 69. 27 Bellwald/Tomkowiak (Anm. 19), S. 336. 28 Lehninger (Anm. 11), S. 37. 29 Die Geschichte wurde ursprünglich unter dem Titel «Globi’s Gewissen – das bessere Ich» abgedruckt. In: Der Globi 9/1 (1943), S. 5. Die Geschichte wurde danach ebenfalls im Bildband Globis Siege und Niederlagen (1943) unter dem Titel «Kampf zwischen Gut und Böse» publiziert. 30 Globi Verlag: Globis Siege und Niederlagen. Zürich 1943. 31 Coser, Lewis A.: Soziologie der Armut: Georg Simmel zum Gedächtnis. In: Stephan Leibfried, Wolfgang Voges (Hg.): Armut im modernen Wohlfahrtsstaat (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycho- logie, Sonderheft 32). Opladen 1992, S. 34–47, hier S. 35. 47 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» cen der Armen im Diesseits» 32 In den beiden genannten Bildstrecken interagieren die Bettler nicht mit Globi Sie spielen für die Geschichte bloss eine untergeordnete Rolle Genauso gut könnte Globi das Geld in einen Opferstock werfen Ganz anders, wenn Globi in Paris33 oder als Kinderfreund34 zwei Vagabunden trifft, deren Armut jedoch nicht ins Zentrum gestellt wird Mit den Vagabunden erlebt Globi jeweils kurze Abenteuer, wobei die beiden eine aktivere Rolle einnehmen als die Bettler Der erste lädt Globi in Paris dazu ein, bei ihm unter der Brücke zu übernachten, der zweite bittet Globi, noch einen zweiten Schuh aus dem See zu fischen, nachdem zu Globis Ärger ein Schuh statt eines Fischs an der Angel hängen geblieben war Durch den Umstand, dass die beiden Vagabunden nicht betteln, stehen sie stell- vertretend für eine selbstgewählte und klaglos akzeptierte Armut, die nicht weiter thematisiert oder problematisiert wird Während in den übrigen Bildstrecken aus den Sammelbänden und Zeitschriften dieser Zeit das Thema Armut nicht vorkommt, taucht es in den restlichen Rubriken der Globi-Jugendzeitschrift sehr wohl auf So in den seit 1936 abgedruckten Berich- ten aus der Globi-Bewegung, die über Neugründungen, Aktivitäten und kommende Festivitäten berichten und Verhaltensregeln für Clubmitglieder thematisieren Zu diesen Verhaltensregeln gehört unter anderem die Hilfsbereitschaft, die als zentral angesehen wird: «Jede gute Tat macht den Menschen wertvoller Darum helfen wo man kann: den Schwachen und Minderbegabten, den Alten und Gebrechlichen, den Armen und Verstossenen, den Einsamen und Unverstandenen »35 In den üb- rigen Rubriken wie Erzählungen, eingesandte Briefe, Reiseb erichte von Jugend- lichen36 und Erwachsenen wird Armut stellenweise thematisiert Auch in anderen Kinder- und Jugendzeitschriften in den 1930er-Jahren ist Armut Thema, etwa in den Heften des Schweizerischen Jugendschriftenwerks Dort wird unter anderem zu «Bescheidenheit und zum sorgsamen Umgang mit den Gaben Gottes» aufgeru- fen 37 Zufriedene Selbstbeschränkung wird dabei präventiv gegen Verschuldung und somit zur Verhinderung von Armut angesehen 32 Coser (Anm. 31), S. 35. 33 Globi Verlag: Globi erlebt Paris. Zürich 1946. 34 Globi Verlag: Globi, der Kinderfreund. Zürich 1947. 35 Der Globi, 3/4 (1937), S. 63. 36 So wird etwa die Armut in Marseille von einem 14-jährigen Mädchen geschildert: «Wieviel Elend herrscht doch im Hafenviertel und niemand kann es lindern. Da wäre es schon nötig, wenn die Re- gierung tüchtig eingreifen würde. Wie können wir doch froh sein in der Schweiz, dass solches bei uns nicht vorkommt.» In: Der Globi, 3/11 (1937), S. 168. 37 Linsmayer, Charles: «Ein geistiges Rütli für die Schweizer Jugend». 75 Jahre SJW Schweizerisches Juu- gendschriftwerk. Egg 2007, S. 29. 48 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» Abb. 1: Bildstrecke «Globi’s Gewissen – das bessere Ich», gezeichnet von Robert Lips. Der Aufsatzwettbewerb anlässlich des Jugendmeetings von 1934 Im Jahr 1934 wurde anlässlich des Jugendmeetings in der Zeitschrift Der Globi38 ein Aufsatzwettbewerb ausgeschrieben, in dem Armut ebenfalls Thema war Zu einer von Robert Lips gezeichneten, sechs Bilder umfassenden Bildstrecke (Abb 2) sollte eine passende Geschichte geschrieben werden Alle Kinder bis zum Alter von 14 Jahren, die am Wettbewerb teilnehmen wollten, waren aufgefordert, in einem höchstens zweiseitigen Aufsatz zu schildern, «was auf den Bildern […] vor sich geht» 39 Ein passender Titel sollte den Text abrunden Ein «Preisgericht» bewertete den Inhalt, die Form sowie die Rechtschreibung, um eine*n Sieger*in zu küren 40 Die 13-jährige Ruth Aeberli aus Zürich wurde mit ihrem Text zur «Schweizer- Meisterin in Globi’s Aufsatz-Wettbewerb»41 gekürt und erhielt einen Gutschein im Wert von 20 Franken 42 Die Arbeit wurde nach Angaben der Jury, bestehend aus Ignatius Karl Schiele, Eugen Moser sowie Meta Bofinger, einstimmig als die beste erkoren, da sie den Inhalt der Zeichnungen richtig und sinnvoll erfasse Beim Vergleich des Textes mit der Bildstrecke ist jedoch auffallend, dass Aeberli Dinge beschreibt, die so in den Bildern nicht zu sehen sind Die Unterschiede zwischen Text und Bild sind nicht etwa Feinheiten, sondern in den beiden Dokumenten wird ein ausgesprochen verschiedener Umgang mit Armut dargestellt Durch das Aus- reizen des Interpretationsspielraums gelingt es Aeberli, die Szenen zu entschärfen und Globis Charakter milder erscheinen zu lassen, als dies in Lips’ Bildstrecke 38 Der Globi, Festschrift zum Jugend-Meeting (1934), S. 14 f. 39 Ebd., S. 14. 40 Der Globi, Jugend-Schrift der Magazine zum Globus. Weihnachts-Nummer (1934), S. 12. 41 Ebd., S. 10. 42 Der Globi (Anm. 38), S. 14. 49 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» Abb. 2: Bildstrecke zum Aufsatzwettbewerb von 1934, gezeichnet von Robert Lips. angelegt war Diese Entschärfung der Bilder durch den Text ist nicht nur bei der vorliegenden Bildstrecke zu beobachten, sondern wird in ähnlicher Weise auch für die frühen Globi-Kinderbücher konstatiert So soll Jakob Stäheli, der ab 1959 für die Globi-Bildbände die Texte zu den Bildern von Lips verfasste, darum be- müht gewesen sein, Lips’ Bilder textlich zu relativieren, da dieser «[i]rgendwelche Einwände, dass man etwa eine Szene ‹friedlicher› zeichnen könnte», nicht gelten liess 43 Stärker beeinflusst wurde Lips durch Schiele selbst, der häufig Kritik an den Bildstrecken übte und Anweisungen zur Überarbeitung gab 44 Die Diskrepanzen zwischen Bildstrecke und Kinderaufsatz sind für die hier dargelegte Analyse von besonderer Bedeutung, weil sich darin Aspekte der Bild- strecke verdeutlichen, die Aeberlis Vorstellungen von einem adäquaten Umgang mit armutsbetroffenen Menschen widersprechen und deshalb im Aufsatz – be- wusst oder unbewusst – weggelassen oder umgedeutet werden Der Fokus in der Gegenüberstellung der Bildstrecke und des Aufsatzes liegt deshalb nicht auf A spekten, die man anders sehen könnte, sondern auf Interpretationen der jungen Texterin, für die es angesichts der Bilder keinen Anlass gibt oder die der Bild- strecke gar offensichtlich widersprechen Anhand der Diskrepanzen offenbaren sich Aspekte des Umgangs mit Armutsbetroffenen, die – zumindest aus Aeberlis Perspektive und Moralvorstellung – als besonders stossend oder abwegig erachtet werden (Abb 3) 43 Bellwald (Anm. 11), S. 59. 44 Bellwald/Tomkowiak (Anm. 19), S. 329. 50 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» Abb. 3: Der prämierte Aufsatz von Ruth Aeberli zur Bildergeschichte. Die Bildstrecke sollte die Kinder und Jugendlichen zu einem Aufsatz ermuti- gen Die Bilder sind weder komplex noch ästhetisch anspruchsvoll, sie sind auf das Wesentliche reduziert und bieten wenig Details Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass im Aufsatz die Bilder zunächst rein deskriptiv wiedergegeben werden Der Beginn von Aeberlis Geschichte lässt sich in wenigen Punkten zusammenfassen: Globi beobachtet auf den ersten beiden Bildern «Krähen», die Saatkörner von einem Feld aufpicken, und einen an eine Hausmauer gelehnten «Bettler» in zerrissenen Kleidern Die Figur bedient gängige Stereotype, damit ihr sofort und unmissver- ständlich die Rolle des Armen zugewiesen werden kann Die Bildfolge lässt sich dementsprechend schnell rezipieren und einfach deuten 45 Auf diese unstrittige Anfangssequenz folgt die erste offensichtliche Abweichung zwischen dem Text und den Bildern Aeberli beschreibt, Globi habe den Bettler «freundlich» aufgefordert, mit ihm mitzukommen Anschliessend habe er den Bett- ler «auf den Acker hinaus» gezogen Diese Textpassagen verdeutlichen, dass sich die Autorin hinsichtlich der Beziehung und Interaktion zwischen Globi und dem Bettler unsicher ist Unklar bleibt insbesondere der Aspekt der Macht Globi spricht den Bettler in Aeberlis Geschichte zwar freundlich an, versucht anschliessend jedoch nicht, ihn argumentativ von seiner Idee zu überzeugen, sondern zieht ihn ohne langes Federlesen am Ärmel auf das Feld hinaus Aeberli entwirft damit zwei grund- legend unterschiedliche Interpretationen hinsichtlich des Handlungsspielraums des Bettlers Die Bildstrecke stützt allerdings lediglich die zweite Sichtweise Während es keine Anhaltspunkte für ein freundliches Ansprechen gibt, ist das Ziehen am Ärmel auf Bild vier eindeutig erkennbar Ebenso zeigt sich in besagtem Bild deutlich, dass der Bettler nur wenig erfreut ist über den Umstand, aufs Feld gezogen zu werden 45 Rychener (Anm. 26), S. 68. 51 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» Der Geschichte Aeberlis zufolge teilt Globi dem Bettler daraufhin mit, eine Arbeit für ihn zu haben Für diese Arbeit will Globi dem Bettler gar täglich «einen guten Lohn» bezahlen Es handelt sich demnach um eine Erwerbsarbeit und nicht um eine reine Beschäftigungsmassnahme Auch darin liegt eine deutliche Diskre- panz zur Bildstrecke, die keine Anhaltspunkte dahingehend aufweist, dass der Bettler für seine Tätigkeit von Globi Geld bekommen soll Es ist davon auszugehen, dass Lips ein solch zentrales Ereignis wie die Vereinbarung oder Bezahlung eines Lohns in der Bildstrecke festgehalten hätte, wenn er die von ihm entworfene Ge- schichte so verstanden hätte Doch in Bild fünf ist lediglich ersichtlich, wie Globi den Bettler auf das Feld stellt und nach seinen eigenen Vorstellungen in Position bringt Ebenso unverkennbar ist, dass der Bettler den Hut daraufhin weiterhin ausgestreckt hält, was nur das fortdauernde Betteln symbolisieren kann Würde der Mann von Globi einen «rechten Lohn» erhalten, wäre es geradezu unlauter und frech, weiterhin zu betteln Aeberli versucht diesen Widerspruch, den sie wohl selbst bewusst oder unbewusst erkennt, aufzulösen, in dem sie textet, Globi habe den Bettler angewiesen, den Hut weiterhin in der Hand zu halten Doch um als Vogelscheuche zu «arbeiten», wäre es adäquater, den Hut auf dem Kopf zu tragen Dass der Bettler weiterhin den Hut in der Hand hält, muss demzufolge einen ande- ren Grund haben, als von der Autorin vermutet Die wahrscheinlichste und einzig mögliche Erklärung ist, dass der Bettler keinen Lohn für seine neue Aufgabe erhält Auch dies scheint aus Aeberlis Perspektive jedoch undenkbar, weshalb dieser Um- stand in der Geschichte umgedeutet wird Eine dritte Diskrepanz liegt in der deutlichen Aussage Aeberlis, der Bettler sei mit Globis Idee «einverstanden» gewesen Auch hierfür gibt es weder auf Bild fünf noch auf Bild sechs irgendwelche Anhaltspunkte In den Bildern ist der Bettler nie handelndes Subjekt, sondern immer lediglich Objekt der Taten Globis An keiner Stelle gibt es einen Hinweis darauf, dass der Bettler seine Meinung kundtut oder dass er nach seiner Meinung gefragt wird Die Aktivität Globis wird mit der Pas- sivität des Gegenübers kontrastiert und dadurch akzentuiert 46 Angesichts dieser grundlegenden Konzeption kann der Bettler sein Einverständnis gar nicht geben, da er nicht handelndes beziehungsweise zur Handlung fähiges Subjekt ist Sowohl das heruntergekommene Erscheinungsbild als auch die offensichtliche Passivität des Bettlers legitimieren Globis fordernden Umgang, da der Bettler zu keinem e igenständigen Handeln fähig zu sein scheint Für den Bettler ändert sich die Situa tion durch Globis Handeln nicht zum Guten Sein Status als Ausgestossener bleibt bestehen und seine Chancen, Almosen zu erhalten, vermindern sich sogar noch weiter, da er aufgrund von Globis Handeln deutlich stärker im Abseits steht 46 Eine vergleichbare Analyse legt Purtschert vor. So zeigt sie anhand von Globis Spiel mit der «Hottenn- totten-Frau», wie «Globis Aktivität» mit der «Passivität der Afrikanerin» kontrastiert wird. Der Bettler wie auch die «Hottentotten-Frau» werden zu «scheinbar willenlose[n] Objekte[n], […] mit denen nach Belieben und zur eigenen Belustigung gespielt werden kann». Purtschert (Anm. 5), S. 97 f. 52 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» Kontextualisierung der Interpretation Der Aufsatzwettbewerb wurde im Jahr 1934 ausgeschrieben Es kann also davon ausgegangen werden, dass Lips die Bildstrecke in ebendiesem Jahr vor dem Kon- text der damaligen Zeit zeichnete Im Nachgang des Ersten Weltkriegs herrschte in der Schweiz grosse Not und es kam zu sozialen Spannungen, die schliesslich in den Generalstreik von 1918 mündeten Auch sozialpolitische Massnahmen wie die Einführung einer Kranken- und Unfallversicherung und eine zunehmend professio- nalisierte Sozialarbeit konnten nicht verhindern, dass die Wirtschaftskrisen der 1920er- und 30er-Jahre für viele Lohnabhängige existenzbedrohend waren 47 Gegen Risiken wie «Invalidität», Alter und Arbeitslosigkeit bestanden noch keine umfas- senden staatlichen Sozialversicherungen Das Ausmass der Fürsorgeabhängigk eit in der Schweiz trug der Theologe Albert Wild, Zentralsekretär der Schweizeri- schen Gemeinnützigen Gesellschaft, jährlich in der Zeitschrift Der Armenpfleger zusammen 48 So zeigt sich anhand der Zahlen aus den einzelnen Kantonen, dass die Gesamtzahl der Unterstützten in der Schweiz von 165 609 im Jahr 1930 auf 211 487 im Jahr 1934 anstieg 49 Auch für die Stadt Bern demonstrieren die Zahlen einen kontinuierlichen Anstieg der von der Fürsorge abhängigen Bevölkerung von 1920 bis 1938, wobei sich dieser Anteil im Jahr 1938 auf 13,5 Prozent der Bevöl- kerung belief 50 Die Armut belastete nicht nur bedeutende Teile der Bevölkerung Auch die Gemeinden klagten über hohe Kosten für fürsorgebedürftige Personen 51 Der Aufsatzwettbewerb wurde demnach in einer Zeit ausgeschrieben, in der die Armen zahlen stark steigend waren und Armut in der Schweiz ein wichtiges Thema darstellte Zu Beginn des 20 Jahrhunderts änderte sich der staatliche Umgang mit Armut in der Schweiz Gefordert wurde «eine ‹rationelle Armenpflege› […], die sich auf wissenschaftlich begründete und säkularisierte Methoden stützte» 52 Vor diesem Hintergrund wurde die Armenpolitik verwissenschaftlicht, professionalisiert und rationalisiert Darüber hinaus wurde Armut zunehmend als individuelle Problem- lage betrachtet Während zu Beginn des 20 Jahrhunderts noch der Einfluss sozial er Milieus als primär prägend erachtet wurde, gerieten durch den Einfluss der Psych- iatrie stärker «Erbanlagen» als Armutsursache in den Blick 53 So schreibt Moritz 47 Simon-Muscheid, Katharina; Schnegg, Brigitte: «Armut». In: Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 11. 5. 2015, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016090/2015-05-11, 21. 9. 2020. 48 Zihlmann, Alfred: Albert Wild, alt Pfarrer. In: Der Armenpfleger. Monatszeitschrift für Armenpflege und Jugendfürsorge 46/3 (1950), S. 18. 49 Wild, Albert: Schweizerische Armenstatistik 1930. In: Der Armenpfleger. Monatszeitschrift für Armenn- pflege und Jugendfürsorge 29/9 (1932), S. 89 f., sowie ders.: Schweizerische Armenstatistik 1934. In: Der Armenpfleger. Monatszeitschrift für Armenpflege und Jugendfürsorge 34/1 (1937), S. 1–3. 50 Schnegg, Brigitte; Matter, Sonja; Sutter, Gabi: Staatliche Fürsorge und gesellschaftliche Marginalität. Geschlechterordnung, Leitbilder und Interventionspraktiken der Sozialarbeit in der Stadt Bern des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts, https://boris.unibe.ch/57597, 4. 11. 2020, S. 8. 51 Matter, Sonja: Der Armut auf den Leib rücken. Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900–1960). Zürich 2011, S. 142. 52 Schnegg/Matter/Sutter (Anm. 50), S. 8. 53 Matter (Anm. 51), S. 166. 53 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» Tramer, Psychiater der bürgerlichen Armenpflege Zürich im Jahr 1923, man müsse als Armenpfleger in der Lage sein, sich in eine Person «einzufühlen» und abzuschät- zen, ob man «einen abnormen oder kranken Menschen vor sich hat» 54 Fürsorge- abhängige Personen wurden im Rahmen dieser veränderten Betrachtung von Armut zunehmend als «Psychopathen» klassifiziert und ihr normabweichendes Verhalten damit pathologisiert 55 Einerseits entlastete dies die Personen, weil Armut weniger moralisiert und auf den Arbeitswillen reduziert wurde Zugleich haftete den Perso- nen nun ein psychiatrisches Etikett an, das sie kaum mehr ablegen konnten Die konkreten Massnahmen der Armenfürsorge können für die damalige Zeit in die «offene» und die «geschlossene Fürsorge» aufgeteilt werden 56 Im Rahmen der of- fenen Fürsorge wurden materielle Mittel zur Sicherung der Existenz zur Ver fügung gestellt Doch die offene Fürsorge beschränkte sich nicht auf finanzielle Mittel, son- dern bestand ebenso aus Eingriffen in die Lebenswelten und die Lebensf ührung der Armutsbetroffenen Die sozialarbeiterische Einzelfallhilfe hatte das Ziel, die indi viduelle, kausale Ursache der Armut zu ergründen 57 In diesem Zusammenhang spielten Hausbesuche und die «planmässige Aktenführung» eine entscheidende Rolle 58 Die Fürsorgerinnen und Fürsorger sollten «gegenüber den fürsorgebedürf- tigen Menschen als erziehende Instanz auftreten» und diesen den Weg zur ‹richtigen› Lebensführung weisen, was für Männer hiess, sie zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit zu bewegen 59 Bei fehlender Mitwirkung konnte die Unterstützung eingestellt wer- den Für vermeintlich arbeitsfähige Arme war auch die administrative Versorgung, das heisst in diesem Fall die Einweisung in eine Zwangsarbeitsanstalt, vorgesehen Dies war ein Instrument der genannten geschlossenen Fürsorge Schätzungen der Unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgungen zufolge war die Zeit zwischen 1930 und 1940 eine Phase, in der im Vergleich zu späteren Jahren viele administrative Versorgungen vorgenommen wurden 60 International und über die Zeit betrachtet weist die Geschichte der Armenunter- stützung einige bemerkenswerte Kontinuitäten auf So sehen sich Gesellschaften mit Eigentumsrechten stets mit der Frage konfrontiert, nach welchen Indikatoren die Rechtmässigkeit eines Anspruchs auf Unterstützung der Armen beurteilt wer- den soll Es geht dabei jeweils um Fragen des Ein- und Ausschlusses De Swaan zufolge sind «Unvermögen, Nähe und Fügsamkeit» die zentralen Kriterien, die in verschiedenen Epochen bei der Beurteilung dieser Frage zur Anwendung kom- men 61 Dies gilt auch für die Schweiz 54 Tramer, Moritz: Was der Armenpfleger von der Psychiatrie wissen soll. In: Der Armenpfleger. Monats-s zeitschrift für Armenpflege und Jugendfürsorge 20/1 (1923), S. 3 f. 55 Matter (Anm. 51), S. 170–172. 56 Ebd., S. 151. 57 Ebd., S. 134 f. 58 Schnegg/Matter/Sutter (Anm. 50), S. 12. 59 Matter (Anm. 51), S. 158, 160. 60 Unabhängige Expertenkommission Administrative Versorgung (Hg.): Organisierte Willkür. Administra-a tive Versorgungen in der Schweiz 1930–1981. Zürich 2019, S. 94 f. 61 De Swaan, Abram: Der sorgende Staat. Wohlfahrt Gesundheit und Bildung in Europa und den USA der Neuzeit. Frankfurt am Main 1993, S. 28. 54 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» Das Kriterium des Unvermögens wird im heutigen Sprachgebrauch in der Regel mit Arbeitsunfähigkeit bezeichnet und bezieht sich auf Personen, die aus gesellschaftlich anerkannten Gründen «nicht mehr selbst für ihren Unterhalt aufkommen können» 62 Dieses Unvermögen allein ist jedoch in der Regel noch kein hinreichender Grund für einen Unterstützungsanspruch Die Frage des Un- vermögens ist für die vorliegenden Dokumente nicht abschliessend beurteilbar, es gibt jedoch klare Indizien dafür, dass der Mann schwere körperliche Arbeit kaum ausführen könnte So verweist Aeberli auf den gekrümmten Rücken und den Stock in der Hand und in der Bildstrecke wirkt der Mann alt, krank und schwach Aller- dings gibt es kein Merkmal, das auf den Bildern oder im Text explizit darauf ver- weist, dass der Mann aus körperlichen Gründen nicht in der Lage wäre zu arbeiten Anhand des Prinzips der Nähe wird über die Zuständigkeit entschieden, was bedeutet, dass Unterstützung an den Heimatort oder Wohnort gebunden ist Wäh- rend bis Anfang des 20 Jahrhunderts noch in erster Linie die Heimatgemeinden für die Fürsorge zuständig waren, traten einige Kanone der Deutschschweiz 1917 dem Konkordat zur wohnörtlichen Unterstützung bei 63 Das Wohnortsprinzip setzte sich von diesem Zeitpunkt an zunehmend durch Weder in der Bildstrecke noch im Text gibt es Hinweise darauf, dass es sich bei dem Bettler um einen Frem- den handelt Das dritte Kriterium ist Fügsamkeit Hierbei geht es um die Frage, «ob die Ar- men aktiv auf eine Umverteilung des ihnen vorenthaltenen Surplus dräng[ ]en oder untätig bl[ei]ben» 64 Sowohl in Aeberlis Geschichte als auch auf den Bildern zeigt sich der Mann in hohem Masse fügsam und lenkt sofort ein, wenn ihm ein neuer Standort und eine neue Funktion beziehungsweise Beschäftigung zugewiesen wer- den Er bettelt um Geld, versucht aber nicht, verbal Unterstützung einzufordern oder Globi gar auszurauben, zu bestehlen oder ihm den Weg zu versperren Auch zeigt er sich in keiner Weise rebellisch gegen die herrschende Ordnung In diesem Zusammenhang darf nicht vernachlässigt werden, dass das Betteln in allen Kan- tonen seit «der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts oder anfangs des 20 Jahrhun- derts unter Strafe gestellt» war 65 So war beispielsweise gemäss dem «Gesetz über die Armenfürsorge» des Kantons Zürich der Bettel verboten66 und die Behörden waren bei wiederholtem Verstoss gegen das Bettelverbot durch kantonsangehörige Personen berechtigt, eine «Versorgung anzuordnen» 67 Kantonsfremde Personen konnten mit bis zu sieben und bei wiederholtem Aufgegriffenwerden mit bis zu 14 Tagen Haft belegt werden Zugleich gibt es jedoch auch Indizien dafür, dass 62 Castel, Robert: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz 2008 (1995), S. 58. 63 Epple, Ruedi; Schär, Eva: Stifter, Städte, Staaten. Zur Geschichte der Armut, Selbsthilfe und Unterstütt- zung in der Schweiz 1200–1900. Zürich 2010, S. 256. 64 De Swaan (Anm. 61), S. 29. 65 Möckli, Daniel: Bettelverbote: einige rechtsvergleichende Überlegungen zur Grundrechtskonformität. In: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht 111/10 (2010), www.zora.uzh.ch/ id/eprint/36269, S. 4. 66 Verordnung zum Gesetz über die Armenfürsorge vom 7. 4. 1927 (1927), § 57. 67 Ebd., § 59. 55 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» das Betteln als vergleichsweise geringe Störung der öffentlichen Ordnung einge- schätzt wurde So strich der Nationalrat den Artikel zum Betteln aus dem Entwurf zum Schweizerischen Strafgesetzbuch von 1918, da das Betteln als «Bagatellsache» betrachtet wurde 68 Zusammenfassend kann demzufolge konstatiert werden, dass Betteln zwar nicht legal war, allerdings auch nicht per se als schwere Straftat be- trachtet wurde Der Mann verstösst gegen geltende Gesetze, gleichzeitig stellt er keine offensichtliche Bedrohung des Sozialen dar Die Armenpflege der 1930er-Jahre hätte sich nun wohl intensiv mit dem Mann befasst, um nach einer Anhörung und dem Sammeln von Informationen die Ur- sache der Hilfsbedürftigkeit festzustellen Darauf basierend wären Mittel der of- fenen oder geschlossenen Armenpflege zur Anwendung gekommen Doch solche Überlegungen scheinen in der Bildstrecke und in Aeberlis Text keine Rolle zu spie- len In beiden Geschichten findet kein Erkundungsgespräch statt und Globi inter- essiert sich kaum für die Person des Bettlers Auch unterlässt es Globi, dem Mann das Betteln zu verbieten oder ihn bei den Behörden zu melden Vielmehr handelt er nach eigenem Gutdünken: In der Bildstrecke zieht Globi den Mann fordernd auf das Feld und positioniert ihn dort nach seinen Vorstellungen Damit stellt er die vom Bettler vermittelte und zur Schau gestellte Arbeitsunfähigkeit, das heisst das Kriterium des Unvermögens, implizit infrage Doch er kümmert sich nicht weiter um die Gründe für die Untätigkeit des Mannes, sondern stellt ihn auf das Feld, wo sein Körper nicht stärker beansprucht wird als beim Betteln am Wegrand Der Bettler bleibt in der Bildstrecke ein Bettelnder Er ist nun aber weniger störend für die öffentliche Ordnung, da er sich nicht mehr am Wegrand aufhält und zudem noch eine positiv konnotierte Funktion erfüllt, indem er die Vögel auf dem Feld verscheucht Globi ändert damit nichts an der sozialen und ökonomischen Situa- tion des Mannes, erhöht jedoch die gesellschaftliche Wohlfahrt in einem utilitaris- tischen Sinne In der Bildstrecke spielt die bürokratisch organisierte Armenpflege keine Rolle Globi löst das Problem jenseits von staatlichen Massnahmen auf seine Weise mit einem Witz auf Kosten des Bettlers Sein impulsives und unangepasstes Verhalten wird in der Bildstrecke offensichtlich Gleichzeitig scheint Globi jedoch in der Bildstrecke so weit von Aeberlis Moral- vorstellungen abzuweichen, dass sie versucht ist, sein Handeln in ihrer Geschichte ein wenig zu entschärfen Auch bei Aeberli interessiert sich Globi nicht vertieft für den Bettler Ohne gross zu überlegen und abzuklären, verschafft Globi dem Bettler eine Lohnarbeit Es handelt sich dabei nicht um irgendeine Arbeit Aeberli betont, dass der Mann von Globi einen rechten Lohn erhält und auch einwilligt, mit der Tätigkeit einverstanden zu sein Im Gegensatz zur Bildstrecke und zur damaligen Zeit wird aus dem Bettler in Aeberlis Geschichte ein Akteur, dessen Meinung einen Wert hat und der nicht allein Objekt von Globis Taten ist Das individuelle Wohl des Bettlers spielt nun eine mitentscheidende Rolle Denn erst dadurch wird Globis Handeln für Aeberli zu einer «guten Tat» Keine Beachtung findet in Aeberlis Geschichte die ökonomische Situation in den 1930er-Jahren, 68 Möckli (Anm. 65), S. 4. 56 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» die es den fürsorgeabhängigen Personen kaum erlaubte, Arbeit zu finden Solche strukturellen Gegebenheiten scheinen für eine Heldenfigur wie Globi keine Hürde darzustellen Fazit Globi wird sowohl in der Bildstrecke als auch in Aeberlis Geschichte als originell beschrieben und sein Handeln wird als innovativ betrachtet In den beiden Doku- menten orientiert sich Globi jedoch an unterschiedlichen Normen und Zielsetzun- gen In Aeberlis Text liegt Globis Handeln die Norm zugrunde, dass der Bettler mit den Vorschlägen einverstanden sein muss Aeberli verortet Globis Handeln entgegen dem herrschenden Zeitgeist der 1930er-Jahre und räumt dem individu- ellen Wohl des Bettlers einen gewissen Stellenwert ein Nur eine Arbeit, für die der Bettler einen «guten Lohn» bekommt, die er selbst ausüben möchte und die dazu zweckdienlich ist, wird als angemessen betrachtet Es kann nur spekuliert werden, weshalb die Jury Aeberlis Aufsatz prämierte Die Rechtschreibung und die Form sind ohne Zweifel tadellos Bezüglich des Inhalts könnte Aeberli die Jury und insbesondere Schiele damit überzeugt haben, dass sie mit ihrer relativierenden und besänftigenden Interpretation als Beweis dafür dient, dass selbst derbe Witze aus pädagogischer Perspektive nicht problematisch sind und Kinder in der Lage sind, diese einzuordnen In der Bildstrecke ist des Bettlers Wohl kein normativer Orientierungspunkt für Globi Vielmehr geht es in Globis Überlegungen darum, für den Bettler rasch und unbürokratisch eine Tätigkeit zu finden, damit dieser trotz seiner Passivität zumindest einen minimalen Beitrag zur Steigerung des Gemeinwohls in einem utili taristischen Sinne leistet Dadurch sinken zwar die Chancen des Bettlers, Almo- sen in seinen Hut gelegt zu bekommen Im Gegenzug wird jedoch die Ernte durch das Vertreiben der lästigen Vögel höher ausfallen Ausserdem steht der Bettler nun mit dem Rücken zur Strasse und die Leute müssen ihn nicht mehr ansehen Ausser für die Krähen ist der Bettler für niemanden mehr störend In der Bildstrecke wird deutlich, wie Globi den Armen aus der Gesellschaft ausschliesst Er wird nicht den Behörden übergeben, die anschliessend Mass- nahmen verfügen Globi wird vielmehr selbst aktiv, weist dem Armen eine neue Aufgabe zu und geht damit die gesellschaftliche Herausforderung der Armut an Durch sein Handeln bedient Globi die Fantasie derjenigen, welche unbürokrati- sches, hemdsärmeliges Vorgehen als besonders wirkungsvoll erachten, um «inno- vative» Lösungen für die Armen zu schaffen Kennzeichen hiervon ist, dass nicht die strukturellen Bedingungen von Armut bearbeitet werden, sondern diejenigen, die von ihr betroffen sind Wie bei Globi werden die Armen dabei ohne Rücksicht auf Problemlagen und individuelle Bedürfnisse so «positioniert», dass sie die All- gemeinheit möglichst wenig belasten Die Bildstrecke von 1934 wurde im Jahr 1992 im Globi-Sonderband Streiche aus den ersten Jahren erneut veröffentlicht Dies zum 60-Jahre-Jubiläum mit anderen 57 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» Geschichten, die noch nie in Buchform erschienen sind Im Vorwort wird zwar festgehalten, dass die Streiche aus heutiger Sicht als «sehr derb» wahrgenommen werden können,69 jedoch fehlt es bei der Bildstrecke an einer kritischen Einord- nung Überschrieben wird die Bildstrecke mit «Wettbewerb von 1933: Wer schreibt den schönsten Aufsatz über diese Bilder?»,70 was darauf hinweist, dass eine schöne Geschichte mit der Bildstrecke in Einklang zu bringen sei So lässt sich festhal- ten, dass weder im Jahr 1934 noch im Jahr 1992 Globis Umgang mit Armut als so störend empfunden wurde, dass diese Bildstrecke nicht veröffentlicht werden könnte Dies liefert auch Hinweise dazu, dass der Umgang und die Darstellung von armutsbetroffenen Personen in Kinderliteratur wenig sensibel reflektiert werden 69 Globi Verlag (Anm. 2), S. 4. 70 Ebd., S. 25. 58 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Christophe Roulin, Benedikt Hassler: «Wenn Globi hilft, ist recht geholfen!» SCHWEIZERISCHES ARCHIV FÜR VOLKSKUNDE / ARCHIVES SUISSES DES TRADITIONS POPULAIRES 117. JAHRGANG (2021), HEFT 1, S. 59–73, DOI 10.33057/CHRONOS.1655/59-73 Subjektivierungsweisen Über dispositivtheoretische Anleihen und ‹Dringlichkeiten› zu einer kulturanalytischen Lesart MARTINA RÖTHL Abstract Der Beitrag reflektiert theoretische Einsichten einer Untersuchung, die sich – am Beispiel des Tiroler Tourismus und bei den Selbstverständnissen klein strukturierter touristischer Beherberger*innen ansetzend – mit der Frage beschäftigte, wie sich Pendelb ewegungen zwischen dispositivtheoretischen Ansätzen und europäisch-ethnologischen/kulturana- lytischen Herangehensweisen vollziehen und produktiv machen lassen Vor diesem Hin- tergrund stellt dieser Beitrag nun weniger die Lebenszusammenhänge der Beforschten in den Mittelpunkt; vielmehr werden heuristische beziehungsweise methodo logische Ausgangslagen, Möglichkeiten und Grenzen auf Subjektivierungs- respektive Aneig- nungsweisen zielender Kulturanalysen erörtert Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf den analytischen Mehrwert der Analysekategorie ‹Dringlichkeit› – und darauf, wie sich die Aneignung von Subjektivität empirisch greifbar machen lässt Keywords: lines of subjectivation, dispositive analysis, urgence, cultural anthropology Subjektivierung, Subjektivierungsweisen, Dringlichkeit, Dispositivtheorie Dispositivtheoretische Anleihen – Anleihen bei Foucault Zwischen 2010 und 2015 führte ich eine dispositivanalytisch motivierte Feldanalyse zur Tiroler Privatvermietung durch, deren Forschungsgegenstand die tourismus- induzierten Subjektivierungen sogenannter Bereister waren 1 Im Rückgriff auf Dispositivtheorie wurde ein als ‹Analyseraum› verstandenes Betrachtungsmodell entwickelt Dieses erlaubte es, Tiroler Tourismus als ein historisch gewordenes, relationales Gefüge zu perspektivieren, das bestimmte (in der Folge näher zu be- 1 Es handelt sich um meine Dissertationsforschung: Röthl, Martina: Tiroler Privat(zimmer)vermietung. Dispositive Bedingungen. Subjekteffekte. Aneignungsweisen. Münster 2018; zu ‹Feld-Analyse› vgl. Lindner, Rolf: Vom Wesen der Kulturanalyse. In: Zeitschrift für Volkskunde 99 (2003), S. 177–188. 59 SAVk | ASTP 117:1 (2021) stimmende) Wahrnehmungsformen und Identitätsvorgaben hervorbringt Im Feld begegnete mir ‹der Tourismus› in stark reifizierter Form – Beforschte bemühten ihn etwa immer wieder als ‹Säule der Wirtschaft›, in Interviews trat er häufig als eine Art eigenständig handelndes Wesen auf Aus europäisch-ethnologischer Sicht war ein solches Gefüge also nicht anders als über das Wissen, Sprechen und Handeln einzelner Akteur*innen und Akteursgruppen konstituiert zu denken Inwieweit Michel Foucaults Theorieangebot Bezugsgrössen wie «Akteure, Handlungen, Ver- haltensweisen als Teil einer beobachtbaren Objektwelt» überhaupt zulässt,2 schien jedoch ungeklärt, woraus sich eine erst nach und nach handhabbare, dann aber auch heuristisch fruchtbar werdende Ambivalenz ergab Wie Diskurse sind auch Dispositive als an Methodologie gebundene Analyse- einheiten zu verstehen 3 Als solche spannen sich Dispositive nun über eine urgence, syno nym dazu «strategischer Imperativ», auf Die Begriffe bezeichnen eine als solche konnotierte gesellschaftliche Notlage oder Dringlichkeit, auf die die Elemente eines Dispositivs strategisch reagieren Exemplarisch für solche Elemente nennt Foucault neben Diskursen, Gesetzen und wissenschaftlichen Aussagen auch Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, administrative Massnahmen sowie moralische und philanthropische Lehrsätze Mit den Worten «Gesagtes ebenso wie Ungesagtes» ist in dieser zum Dispositiv wohl am häufigsten bemühten Passage noch expliziter darauf hingewiesen, dass Dispositivelemente sowohl diskursiven als auch nichtdiskursiven Charakters sein können 4 Auf die Analyse des Zusammenspiels solcher diskursiver und nichtdiskursiver Elemente wird ebenso noch zurückzukommen sein wie darauf, dass dieses sich an urgencies ausrichtet und auf die Produktion dispositiver Bedingungen hinausläuft Denn heu- ristisch eröffnet sich genau hier die Möglichkeit der Annäherung an Subjektivierun- gen – die ich im Sinne der Aneignung von Subjektivität, sprich der Hervorbringung und Aufrechterhaltung von Selbstverhältnissen, verfolge Zu Forschungsbeginn lagen aus dem Fach keine Bearbeitungen zur forschungs- praktischen Operationalisierung von Dispositivtheorie vor, sodass auf die Theorie- entwürfe und Praxisbeispiele benachbarter Disziplinen zurückgegriffen werden musste 5 Für diese waren fachliche Sonderzuschnitte mitzudenken, im Hinblick auf 2 Kritisch dazu Gehring, Petra: Abseits des Akteurs-Subjekts. Selbsttechniken, Ethik als politische Hal-l tung und der Fall der freimütigen Rede. In: Reiner Keller, Werner Schneider, Willy Viehöver (Hg.): Dis- kurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung. Wiesbaden 2012, S. 21–33, hier S. 32. 3 Vgl. zum Beispiel Landwehr, Achim: Abschließende Betrachtungen: Kreuzungen, Wiederholungen, Irritationen, Konflikte. In: ders. (Hg.): Diskursiver Wandel. Wiesbaden 2010, S. 377–384, hier S. 383. 4 Foucault, Michel: Ein Spiel um die Psychoanalyse. In: ders.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, S. 118–175, hier S. 119 f. 5 Vgl. zum Beispiel Bührmann, Andrea D.; Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einfüh-h rung in die Dispositivanalyse. Bielefeld 2008; Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse. Frankfurt am Main 2008; Gehring, Petra: Foucault – die Philosophie im Archiv. Frankfurt am Main 2004. Unter dem Schlagwort «Potenzialanalyse» hatte Andreas Schmidt zum Dispositiv gearbeitet, dazu allerdings nicht publiziert. Seit 2015 zum Beispiel Egger, Simone: ‹Volkskultur› in der spätmodernen Welt. ‹Das Bayerische› als ethnokulturelles Dispositiv. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaf- ten 27/2 (2016), S. 119–147. 60 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen Adaptionen galt es Vorsicht walten zu lassen Die Philosophin Petra Gehring geht etwa mit der sozialwissenschaftlichen/wissenssoziologischen Foucault-R ezeption hart ins Gericht: «Verlassen sich am Ende ganze Disziplinen auf derartige Lektü- ren, ist es kein Wunder, wenn sozialwissenschaftliche Forschung ‹mit› Foucault […] anderen merkwürdig ähnelt und am Ende nahezu alles mit allem kombi- nierbar erscheint Man hantiert nur noch mit den Namen, die Hülle ist leer Und methodisch geht alles, was geht »6 Fragen der (Un-)Vereinbarkeit mit fachlichen Prämissen wurden letztlich so nah wie möglich an Foucaults Texten erörtert Dabei zeichnete sich ab, dass sich Kultur- und Dispositivanalyse gewinnbringend zusam- menspannen lassen, solange diese als Forschungsstile aufgefasst bleiben und dem Reflex, Foucault empirisch auslegen zu wollen, nicht nachgegeben wird 7 Evident wurde damals ausserdem, dass der Mehrwert foucaultscher Theorieofferten sei- tens europäisch-ethnologischer Fachvertreter*innen eher zurückhaltend bewertet wurde Anschlussmöglichkeiten galt es sorgfältig zu prüfen (Un-)Vereinbarkeiten, Anschlussfähigkeit – die gewichtigsten Punkte Die Nachfolgefächer der Volkskunde sind hinsichtlich ihrer Forschungsinteressen und ihrer methodisch-theoretischen Zugänge breit aufgestellt An unterschiedlichen Standorten trifft man nicht nur auf unterschiedliche Fachbezeichnungen, sondern auch auf differente Positionen Arbeitsbereiche der Kommissionen der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (dgv) benennen Themenspektren, bilden aber keinen Kanon Fachprämissen auf kleinste gemeinsame Nenner zu bringen, ist daher kein einfaches Geschäft Die meisten Fachkolleg*innen würden aber wahrscheinlich zu- stimmen, einer vornehmlich empirisch arbeitenden, historisch argumentierenden Gegenwartswissenschaft anzugehören, die sich des Hinterfragens von Selbstver- ständlichkeiten und eines Denkens in Relationen bedient – und bei ‹Einzelnen›, sprich Akteur*innen und ihrem Handeln, ansetzt Gäbe es ein Ranking fachidenti- tärer Bezugspunkte, so würde ich vermuten, dass ein solches vom Alltagsbegriff an- geführt würde und der subjektzentrierte Zugang sowie das Interesse an Praktiken und der materiellen Kultur nicht sehr weit dahinter rangierten Die Brücke zu einem europäisch-ethnologischen Verständnis von Alltag liess sich nun zunächst vor dem Hintergrund schlagen, dass Dispositivtheorie Subjekte über ihr Verhältnis zu Rationalität verhandelt, dieser aber gleichzeitig und radikal ihren ontologischen Gehalt entzieht Unweigerlich stellen sich hier Fragen nach Selbstverständlichkeiten und Normen, ihrer Etablierung und so auch nach ‹geteil- tem Sinn› 8 Meine Untersuchung setzte ausserdem beim Alltagswissen der ‹Bereis- 6 Gehring, Petra: Nachwort. In: Michel Foucault: Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, hg. von Daniel Defert, François Ewald. Frankfurt am Main 2009, S. 373–393, hier S. 389. 7 Vgl. dazu auch Gehring (Anm. 6). 8 Für das europäisch-ethnologische Verständnis von Alltag war neben Henri Lefebvres Kritik des All- tagslebens die zunächst durch die Arbeit von Peter Berger und Thomas Luckmann bekannt gewordene Alltagstheorie von Alfred Schütz prägend. Für Michel Foucault lassen sich trotz aller – späteren – Kritik 61 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen ten› an, wobei die Kategorie ‹Wissen› bewusst weit gefasst war Teil der Analyse war es, entlang von Feldmaterialien unterschiedliche Wissensformen – etwa Wissen aus touristischen Spezialdiskursen, implizites oder ‹emotionales› Wissen, Körper- wissen, in Handlungen aufgehendes und in Gegenständen sedimentiertes Wissen, Bildwissen9 – zu identifizieren und auszuloten, mit welchen Subjektvorgaben Be- forschte konfrontiert sind Auf der normativ-programmatischen ‹Vorgabens eite› ad- ressierte Subjektivierungsangebote wurden eingehend in den Blick genommen – Ziel war allerdings, die auf tatsächliche Aneignung gerichtete Subjekt analyse hier möglichst breit aufsetzen zu können Ein zentraler Punkt ist diesbezüglich, dass auf normativ-programmatischen Ebenen liegenden Identitätsvorgaben bislang ungleich mehr wissenschaftliche Aufmerksamkeit zugefallen war/ist als Subjekti- vierungsweisen Andrea D Bührmann nennt dazu exemplarisch Ulrich Bröcklings Bearbeitung zum unternehmerischen Selbst, die nicht auf Selbstdeutung, Selbst- erleben und Selbstwahrnehmung von Individuen oder ihre Alltage rekurriert, sondern lediglich «auf die Rationalitäts- und Rationalisierungsmuster, auf die Pro- gramme und Technologien, die ihnen […] praktische Handreichungen geben, wie sie ihr Leben führen sollen» 10 Die Frage nach dem Wie der Aneignung verwies also auf ein Desiderat Damit ist angedeutet, wo die Potenziale kulturwissenschaftlicher Subjekt- analysen liegen Ins Zentrum rücken entsprechend die Fragen, wie Subjekte ihr ‹Selbst› entlang der an sie herangetragenen Denk- und Handlungsmöglichkeiten ausrichten; unter welchen Gesichtspunkten Einzelne Subjektivierungsangebote überhaupt als solche bewerten; über welche Praktiken sie sie gegebenenfalls tat- sächlich aufgreifen und – fragmentarisch – in je eigene Lebenszusammenhänge einpassen Aus der Richtung dieser Fragen und aus europäisch-ethnologischer Sicht erwies sich nun die folgende dispositivtheoretische Option als besonders attraktiv: Dispositive sind konzeptionell nicht als Summe oder Gesamtheit ihrer Einzelelemente angelegt Vielmehr bildet sich ein Dispositiv über das Zusam- menspiel der auf urgence reagierenden – und jeweils anteilig diskursiven oder nichtdiskursiven – Elemente Zum Zweck der analytischen Differenzierung sind Diskurse wieder auf die Ebene des Sprachlichen reduziert, dem Nichtdiskursiven (konkretem Tun, Praktiken, Routinen und Handlungsmodellen, Institutionen und Dingen) sowie dem ihm immanenten Wissen kommt so jedoch von vornherein eigene analytische Aufmerksamkeit zu phänomenologische Berührungspunkte ausmachen. Im Vergleich zum Einfluss Martin Heideggers wird derjenige von Maurice Merleau-Ponty oft weniger stark in den Vordergrund gespielt. 9 ‹Wissen› avancierte letztlich zum zentralen Vermittlungsbegriff zwischen Theorie und Feld, vgl. Röthl (Anm. 1), S. 40 und 558 f. Zur Materialbasis gehörten unter anderem 69 leitfadengestützte Interviews, 39 informelle Gespräche, Beobachtungsprotokolle sowie Feldobjekte, weiters Feldfotos, Werbemateria- lien, private Filme und Fotos, Lehrfilme sowie Tourismusmagazine, Zeitungsberichte und touristische Informationsblätter. 10 Bührmann, Andrea D.: Das unternehmerische Selbst: Subjektivierungsform oder Subjektivierungs-s weise? In: Reiner Keller, Werner Schneider, Willy Viehöver (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung. Wiesbaden 2012, S. 145–164, hier S. 152 (Hervorhebung M. R.); vgl. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjekti- vierungsform. Frankfurt am Main 2007. 62 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen Das Bündel des weiten Diskursbegriffs, zu dem das Dispositiv gewissermassen in Konkurrenz steht, ist aufgeschnürt 11 Aus der Richtung des Dispositivs ist nach dem Zusammenwirken von Diskursen, Praktiken und Materialitäten (‹Sichtbarkei- ten›) zu fragen, nach dessen Verhältnis zu urgence sowie nach der wirklichkeits- stiftenden und subjektkonstituierenden Qualität entsprechender Wechselseitig- keiten Davon lässt sich, das sei betont, bereits in Phasen der Felderschliessung profitieren Als Schwierigkeit erwies sich hingegen, dass der Subjektbegriff auf europäisch-ethnologischer Seite alles andere als eindeutig besetzt ist und sich die Ansichten darüber, was ein Subjekt ist oder sein könnte, in keinerlei Weise mit poststrukturalistischen Lesarten treffen 12 Nicht ignorieren liess sich dies- bezüglich wie schon angedeutet Foucaults prinzipieller Bruch mit dem Konzept empirischer Akteur*innen, dem das Subjekt aus europäisch-ethnologischer Sicht stark verpflichtet ist: Empirische Akteur*innen sieht Foucaults Diskurskonzept ebenso wenig vor wie das äusserliche Verhältnis zwischen Diskursen und s ozialen Akteur*innen – und auch die Praktiken der Selbstsorge setzen nicht beim anthro- pologisch gegebenen Selbst des Menschen an Bei Foucault – und das gilt auch beziehungsweise speziell für die Perspektive des Dispositivs – haben wir es im Grunde nie mit aus sich heraus erfahrenden Subjekten zu tun, vielmehr ist es «die Erfahrung, die die Rationalisierung eines selbst vorläufigen Prozesses ist, der auf ein Subjekt hinausläuft» 13 Von Versuchen kultur- und dispositivanalytischer ‹Amalgamierung› war – und ist – vor diesem Hintergrund Abstand zu nehmen Fruchtbar wurden jedoch die – zwischen Foucault und Europäischer Ethnologie, zwischen Dispositivkonzept und Kulturanalyse, zwischen Theorie und Feld – voll- zogenen Pendelbewegungen und die Perspektiven interpretativer Analytik, wie Paul Rabinow und Hubert Dreyfus sie im Rückgriff auf Foucault beschreiben 14 Das dispositivtheoretische Fragment, mit dem sich auf die mit Abstand produktivste Analysekategorie hinauskommen liess, war nun aber der schon erwähnte «strate- gische Imperativ» Im Hinblick auf Anschlussfähigkeit war hier jedoch zunächst zu klären, inwieweit sich eine übergeordnete Strategie kollektiven Zuschnitts, für die urgence streng genommen steht, ins Verhältnis zu den Positionen und Interessen Einzelner setzen lässt 11 Vgl. Landwehr (Anm. 3), S. 383. Zum weiten Diskursbegriff vgl. zum Beispiel Kaschuba, Wolfgang: Gee- schichtspolitik und Identitätspolitik. Nationale und ethnische Diskurse im Kulturvergleich. In: Beate Binder, Wolfgang Kaschuba, Peter Niedermüller (Hg.): Inszenierung des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts. Köln 2001, S. 19–42, hier S. 38. 12 Vgl. dazu zum Beispiel Seifert, Manfred: Personen im Fokus. Zur Subjektorientierung in der Europäi-i schen Ethnologie. In: Zeitschrift für Volkskunde 111 (2015), S. 5–30. 13 Vgl. Gehring (Anm. 6), S. 389; Gehring (Anm. 2), S. 24; Foucault, Michel: Die Rückkehr der Moral. In: ders.: Schriften 4, hg. von Daniel Defert, François Ewald. Frankfurt am Main 2005 S. 859–873, hier S. 871. 14 Dreyfus, Hubert L.; Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim 1983. Auf eine von Andrea D. Bührmann und Werner Schneider eingebrachte Erweiterung sei mit dem Begriff der ‹re-konstruktiven Analytik› hingewiesen, vgl. Bührmann/Schneider (Anm. 5), S. 76–92. 63 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen ‹Kein Wohlstand ohne Tourismus›, keine Strategie ohne Strateg*innen? Wenig konkret und ohne Theoriefragmenten den Rang einer Methode zuzuweisen, beschreibt Foucault urgence als Matrix des Dispositivs Es ist diese «Prävalenz einer strategischen Zielsetzung», über die sich ein Dispositiv konstituiert Für meine Forschung zeichnete sich bereits im Zuge von Vorerhebungen eine urgence ab, die ich mit ‹Kein Wohlstand ohne Tourismus› benannte: Zum einen zeigten Ge- spräche mit Bereisten, wie einig diese sich in Bezug darauf waren, dass Tirol ohne Tourismus nicht lebensfähig sei Zum anderen spiegelten auch zum Z wecke der Rekonstruktion tourismusgeschichtlicher Verläufe herangezogene Materialien auf diese Problematisierung rekurrierende Argumentationsweisen wider Das Narrativ einer vergangenen, vor allem aber auch überwundenen Armut – der 2008 verstor- bene Geograf und Klimaforscher Franz Fliri sprach hier etwa von der «Ideologie von der Urarmut Westtirols»15 – bildet den Sinnhintergrund, vor dem Tourismus- geschichte als ‹Erfolgsgeschichte› gelingt – und das Funktionalhalten des Touris- mus alternativlos scheint Von der theoretischen Seite her betrachtet bleibt ein Dispositiv intakt beziehungsweise stabil, solange ein mit urgence korrespondieren- der doppelter Prozess, nämlich funktionelle Überdeterminierung und die ständige strategische Wiederauffüllung, in Kraft sind 16 So markierte es ‹Kein Wohlstand ohne Tourismus› zum Beispiel zunächst als uneingeschränkt ‹vernünftig›, massiv in Freizeitinfrastruktur zu investieren, ab Mitte der 1980er-Jahre erfolgt insofern eine Umdeutung oder eben ‹Wiederauffüllung›, als die Notwendigkeit des Erhalts einer gesunden Umwelt mit unter den Schirm dieser urgence rückt und sich Um- weltbewusstsein als touristische Strategie etabliert Mit funktioneller Überdeter- minierung und strategischer Wiederauffüllung gerät urgence also als historisch veränderliche Kategorie in den Blick, die Beschäftigung mit ihrem Wandel ist Teil der Analyse Und zur Identifikation von urgencies ist ganz generell zu sagen, dass sie stets über die Folien des Bruchs und der Diskontinuität führt, immerhin fällt für Michel Foucault das «Konstatieren eines zu lösenden Problems» mit dem Auffinden einer Diskontinuität zusammen 17 Hier klingt bereits an, dass die Verschränkung von archäologischer (For- men der Problematisierung) und genealogischer Dimension (Formierung der Problematisierungen), auf die aus der Perspektive des Dispositivs gesetzt ist, in urgence kumuliert Bei als urgencies verstandenen Dringlichkeiten ansetzend ist so auf ein Betrachtungsmodell oder ‹Analyse-Tool› hinauszukommen, mit dem sich histo rische Dimensionierung und die Dimension der Macht18 als unmittelbar aufein ander bezogen verfolgen lassen Dies eröffnet erstens die grundsätzliche Möglichkeit, den dispositivtheoretischen Zugang gezielt im Hinblick auf die Re- 15 Vgl. Röthl (Anm. 1), S. 75. 16 Foucault (Anm. 4), S. 120 f.; Röthl (Anm. 1), S. 43 und 46 f. 17 Foucault, Michel: Diskussion vom 20. Mai 1978. In: ders.: Schriften 4, hg. von Daniel Defert, François Ewald. Frankfurt am Main 2005, S. 25–43, hier S. 29. 18 Hinsichtlich des Machtbegriffs ist auf die Notwendigkeit der reflektierten Abgrenzung vom Herr-r schaftsbegriff hinzuweisen, darüber hinaus auf die Auslegung im Sinne eines ‹auf Handeln gerichteten Handelns›, vgl. Röthl (Anm. 1), zum Beispiel S. 131 und 567. 64 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen konstruktion von ‹Gewordenheit› zu operationalisieren Zweitens: Da das Ver- hältnis zwischen urgence und Dispositivelementen als strategisches Verhältnis definiert ist, sind Letztere über die strategischen Eigenschaften identifizierbar, die sie per se oder im Zusammenspiel mit anderen Elementen entfalten In meiner Untersuchung wurden als Stuben gestaltete Frühstücksräume, die Butterdose mit Edelweiss und der obligatorische Blumenschmuck ebenso als Dispositivelemente greifbar wie das Dirndl und der Putzmittelschrank der Vermieterin – und ausser- dem die Tourismusforscherin Auch die touristische Innenwerbung (Feldbegriff: ‹Tourismusgesinnung›) zielt auf das Funktionieren von Tourismus, sodass auf sie gerichtete Massnahmen – entsprechende Diskurse, Praktiken und alle durch sol- che hervorgebrachten Sichtbarkeiten und Objektivationen – als Elemente des ‹Dis- positivs Tiroler Tourismus› ausweisbar wurden Wesentlich ist, dass sich der Blick zunächst wohl auf solche Einzelelemente richtet, das Erkenntnisinteresse letztlich aber bei den zwischen diesen Elementen herstellbaren Bezügen, deren Verhält- nis zu einer übergeordneten und gesellschaftlich breit akzeptierten Dringlichkeit und den quasi als analytische Leerstelle gesetzten Subjekten liegt Vergleichende und an Interferenzen interessierte Analysen gewinnen hier insofern, als sich For- schungsfelder konsequent über das sukzessive Abheben dieser relationalen Be- züge erschliessen lassen Solche «Verhältnisbestimmungen» spielen Feldanalyse wie ethnografischer Beschreibung in die Hände 19 Aus Sicht des Dispositivs zielen sie jedoch zunächst auf die Frage, wie es zur Ausprägung bestimmter, zu gewissen Zeiten oder innerhalb bestimmter Gesellschaften vorherrschender Formen von Rationalität kam/kommt Daran anschliessend interessiert, in welcher Weise und vor dem Hintergrund welcher dispositiven Bedingungen entsprechende Prozesse wirklichkeitsstiftend und subjektkonstituierend wurden/werden Von hier aus liesse sich bereits die «Objektivierung des Subjekts» ins Spiel bringen, als welche Foucault Subjektivierung (auch) versteht Diese Spur lässt sich jedoch besser verfolgen, wenn zuvor noch zur Problematik Stellung bezogen wird, dass urgencies im Grunde als nicht auf die Interessen Einzelner beziehbar verhan- delt werden Die Rede ist dann etwa von «der großen anonymen Strategie» oder der «Strategie ohne Subjekt» 20 Dazu ist zu sagen, dass Foucault selbst lediglich die analytische Möglichkeit der Identifikation einer direkten Urheberschaft sowie deren teleologische Begründungen verneint, was zur betreffenden Zeit sicherlich der Absicht geschuldet war, die Vorstellung von einer als an einem bestimmten Ort ‹zentralisierten›, auf Subjekte reduzierten und repressiv gedachten Macht zu unter- laufen Dass Subjekte aber – und in diesem Kontext liesse sich nun tatsächlich von Akteur*innen sprechen – an der Hervorbringung und Stabilisierung übergeordnet wirksamer/wirksam werdender Dringlichkeiten auf ganz unterschiedliche Weise beteiligt sein und von entsprechenden Effekten verschiedentlich tangiert werden 19 «Verhältnisbestimmungen» bildeten den zentralen Teil (Kapitel 4) der hier reflektierten Forschung. Inwieweit sich dispositivtheoretische Positionen mit einem relationalen Feldbegriff in der Lesart Rolf Lindners zusammendenken lassen, wurde ebenfalls diskutiert: Röthl (Anm. 1), S. 20–30. 20 Vgl. zum Beispiel Foucault (Anm. 4), S. 132. 65 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen können, ist hingegen nicht in Abrede gestellt Beispiele, anhand deren Foucault seine Theorieofferten erläutert, machen dies immer wieder konkret 21 Subjektivierungsweisen als ‹tatsächliche› Subjektivierungen? In der Einleitung des wissenssoziologisch orientierten Sammelbandes Diskurs – Macht – Subjekt setzen Rainer Keller et al die Konstitution des modernen Subjekts mit «einer Art Idealtypus oder Angebot des modernen Selbstverhältnisses» gleich und beschreiben sie als «Effekt der Konstellationen zahlreicher gesellschaftlicher Diskurs- und Praxisfelder» Zueinander in Beziehung stehende Diskurs- und Praxis- felder, Selbstverhältnisse betreffende Angebote, das Subjekt als Effekt: All das liesse widerspruchsfrei die Brücke zum Dispositiv schlagen Allerdings habe Foucault, so fahren die Autoren fort, ohne die entsprechende Stelle zu belegen, darauf verwiesen, dass dieser Idealtypus nicht mit tatsächlichen Subjektivierungen zu verwechseln sei und Letztere, «ob man dies nun begrüßt oder nicht, einfach nicht Gegenstand seiner Forschungen» seien Impliziert ist so – die Passage läuft letztlich darauf zu, seinem Forschungsprogramm «hohe Affinität zur Soziologie» zu unterstellen – ein foucaultsches Interesse am Idealtypischen 22 Unbeachtet bleibt hier aber keineswegs nur Foucaults beissende wie fundamentale Kritik an jenen Disziplinen, die sich im Deutschen nicht Human-, sondern eben Sozialwissens chaften23 nennen: Ignoriert werden auch jene Ausführungen, mit denen Foucault über drei ausführliche Punkte verneint, auf eine «Analyse in Begriffen des Idealtypus» zu setzen 24 Nachsichtiger ist nun mit der Behauptung umzugehen, dass tatsächliche Sub- jektivierungen nicht Gegenstand von Foucaults Forschung gewesen seien Der Gehalt der Aussage ist zum einen an die Auslegung dessen geknüpft, was unter ‹tatsächlicher Subjektivierung› überhaupt zu verstehen ist Zum anderen ist ein- zuräumen, dass Foucaults Interesse am ‹Tatsächlichen› – er nimmt ja nicht nur in Bezug auf das Subjekt, sondern auch hinsichtlich aller Formen von Rationalität eine konsequent fragende Haltung ein – relativ leicht in Zweifel zu ziehen ist Der Begriff der Subjektivierungsweisen bietet der Aufklärung nun nur eine bedingt tragfähige Basis: In meiner Untersuchung zu tourismusinduzierten Subjektivie- rungen griff ich auf den Begriff zurück, um die über Praktiken führende Aneig- nung von Subjektivität, in diesem Sinne also ‹tatsächliche Subjektivierungen›, von den auf der Vorgabenseite lediglich adressierten Subjektivierungsangeboten zu unterscheiden Ich folgte diesbezüglich Überlegungen von Andrea D Bührmann und Werner Schneider, die sowohl Selbstdeutung, Selbsterleben und Selbstwahr- 21 Im Gespräch von 1978 etwa die Moralisierung der Arbeiterklasse, die Konstituierung eines medizinisch- rechtlichen Dispositivs, das Auftauchen des Geschlechts im 19. Jahrhundert, biologischer Rassismus und Antisemitismus, vgl. Foucault (Anm. 4). 22 Keller, Reiner; Schneider, Werner; Viehöver, Willy: Theorie und Empirie der Subjektivierung in der Diskursforschung. In: dies. (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung. Wiesbaden 2012, S. 7–20, hier S. 12. 23 Formulierung in Anlehnung an Gehring (Anm. 6), S. 389. 24 Foucault (Anm. 17), S. 34–36. 66 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen nehmung von Individuen als auch deren Selbstverständnis im Sinne einer Identität als Subjektivierungsweise im foucaultschen Sinne verstehen 25 Diese analytische Differenzierung erwies sich als heuristisch lohnend und war auch impulsgebend dafür, die Subjektanalyse als dreiteilige Gegenüberstellung anzulegen, nämlich zwischen (a) dem, was als Subjektvorgabe programmatisch an Menschen heran- getragen wird, (b) dem, was sich diesen aus ihrer Sicht als Subjektvorgabe oder Subjektivierungsangebot darstellt oder aufdrängt, und (c) dem, was sie aus diesem Pool auch tatsächlich aufgreifen und sich tätig aneignen 26 Wenn vorher im Hinblick auf Subjektivierungsweisen von einer bedingt tragfähigen Basis gesprochen worden war, lautete die Bedingung also, solche grundsätzlich als über Subjektformen und Formierungsweisen hinausgehend zu erachten 27 Bei Foucault wäre der Begriff des Subjektivierungsmodus («mode d’assujet tissement») der den Subjektivierungsweisen am nächsten stehende Aller- dings findet sich hier Widersprüchliches: einmal etwa die Definition als die «Art und Weise oder den Modus, wodurch man die Leute dazu einlädt oder anhält, ihre moralischen Verpflichtungen anzuerkennen» (mehr die programmatische Ebene fokussierend); dann geringfügig verändert als «Modus, gemäss dem die Individuen die moralischen Verpflichtungen anzuerkennen haben, die ihnen auferlegt sind» (zumindest anteilig auf die Aneignungsseite bezogen); an anderer Stelle finden wir die Übersetzung «Unterwerfungsweise», was dort für die Art und Weise steht, «wie das Individuum sein Verhältnis zur Regel einrichtet und sich für verpflichtet hält, sie ins Werk zu setzen» (stark auf die Aneignungsseite rekurrierend) 28 Verkürzt lässt sich vielleicht sagen, dass das, was sich 1975 in Überwachen und Strafen durch den Fokus auf an Körpern angewendeten Disziplinartechniken anbahnt, spätestens in der Arbeit an Der Gebrauch der Lüste eingeholt wird: Angesprochen ist die – nach jener zu den Diskurspraktiken und jener der Macht – dritte Verschiebung hin zur Frage, «welches die Formen und die Modalitäten des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt» 29 So lässt sich zumindest dem sogenannten späten Foucault – ob man dies nun begrüsst oder nicht – das Interesse an tatsächlichen, das heisst nun von Individuen ausgehend gedachten Subjektivierungen nicht gänzlich absprechen Ob Subjektivierungs- und Aneignungsweisen streng genommen noch Teil eines Dispositivs sein können oder ob diese ausserhalb oder an den Rändern von Dispositiven zu verorten sind, bleibt jedoch ungeklärt Dasselbe gilt für die Frage, ob für solche tatsächlichen Subjektivierungen die Bezeichnung ‹Subjektivierungsweisen› die angemessenste ist: Einerseits ist der Begriff hinsichtlich seiner Anschlussf ähigkeit an inter- und transdisziplinäre Debatten attraktiv Andererseits wäre aus Sicht der Europäischen Ethnologie mit ‹Aneignungsweisen› oder ‹Aneignung von Subjektivität› besser ge- 25 Bührmann/Schneider (Anm. 5), S. 71. 26 Röthl (Anm. 1), S. 137. 27 Dies lässt sich aber eben auch kritisch bewerten, zum Beispiel im Anschluss an Gehring (Anm. 2). 28 Foucault, Michel: Zur Genealogie der Ethik. Ein Überblick über die laufende Arbeit. In: ders.: Schrif-f ten 4, hg. von Daniel Defert, François Ewald. Frankfurt am Main 2005, S. 461–498, hier S. 477, bezie- hungsweise S. 747–776, hier S. 761; ders.: Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt am Main 1989, S. 38. 29 Foucault, Gebrauch (Anm. 28), S. 12. 67 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen kennzeichnet, inwiefern diese vor dem Hintergrund ihres Subjektinteresses aus dispositivtheoretischen Anleihen heuristischen Mehrwert ziehen kann Die Aneignung von Subjektivität, die Kategorie ‹Dringlichkeit› – und eine kleine hegemonietheoretische Schleife Das Subjekt geriet mit dem an die Perspektive des Alltags gebundenen Paradig- menwechsel in den Fokus der in der Tradition der Falkensteiner Tagung stehen- den Fächer und avancierte zu deren analytischem Zentrum 30 Zumindest «be- helfsweise» dürfe man diese Phase «die Subjekt-Phase» nennen, schreibt Martin Scharfe 1996 Das Verhältnis zwischen einem ersten, objektfokussierten Lager und einem «Subjekt-Lager» beschreibt Scharfe als ein durchwegs antagonistisches: «Behaupteten die Vertreter […] des ersten Lagers in ihrer Hilflosigkeit, wenn sie lang und breit einen Tisch, einen Stuhl, einen Hafen, einen Zauberspruch, ein Votivbild, eine Krippe beschrieben und genealogisch dargestellt hatten, dahinter aber stehe der lebendige Mensch: so fragten die Vertreter des zweiten Lagers [eben des ‹Subjekt-Lagers›, M R ] höhnisch nach: Wo denn? Wir sehen ihn nicht! Wir sehen nur tote Objekte!»31 In Anbetracht dieser fachgeschichtlichen Konstellation verwundert es nicht, dass es in der Folge zu einer gewissen ‹Subjektbeharrung› kam und Fachvertreter*innen sich kritisch positionierten, wo immer ihnen der subjektzentrierte Ansatz ins Hintertreffen zu kommen schien Sabine Kienitz sah durch die Konzentration auf Diskurse und Zeichen etwa die «physische Materialität des Körpers […] weitgehend aus dem Blick geraten» Für Carola Lipp markierte das Verfahren der Diskursanalyse einen «methodischen Grenzbereich, der aus der Subjektzentrierung der Alltagsforschung hinausführt» – und auf deren «möglichen Endpunkt» verweist 32 Nicht Subjektivierungen, aber die dort neben die Objekti- vationen gesetzten «Subjektivationen» kamen in der Fachgeschichte erstmals in der Falkensteiner Formel vor Im oben schon zitierten Aufsatz schreibt Martin Scharfe im Hinblick auf diesen Begriff: «[N]iemand definierte dieses Wort, aber alle wussten was gemeint war »33 Zumal mir zu Beginn meiner Forschung von erfahreneren Fachkolleg*innen zu verstehen gegeben worden war, dass Subjektivierung kein Aspekt sei, den ‹wir› 30 Vgl. zum Beispiel Lipp, Carola: Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte. Aufstieg und Niedergang eines interdisziplinären Forschungskonzepts. In: Zeitschrift für Volkskunde 89 (1993), S. 1–33; Eggmann, Sabine: Dem Subjekt auf der Spur. Kulturwissenschaft- liche Relationierungen. In: Peter Hinrichs, Martina Röthl, Manfred Seifert (Hg.): Theoretische Reflexio- nen – Perspektiven der Europäischen Ethnologie (im Erscheinen). 31 Scharfe, Martin: Rehabilitierung der Dinge. Subjekte und Objekte in der Frömmigkeitsforschung. In: Bayer ische Blätter für Volkskunde 23 (1996), S. 129–141, hier S. 133–135. Den Satz aus der Falkensteiner Formel nennt Scharfe in Anm. 8: «Volkskunde analysiert die Vermittlung (die sie bedingenden Ursachen und die sie begleitenden Prozesse) von kulturalen Werten in Objektivationen und Subjektivationen.» 32 Kienitz, Sabine: Prothesen-Körper. Anmerkungen zu einer kulturwissenschaftlichen Technikforschung. In: Zeitschrift für Volkskunde 106 (2010), S. 137–162, hier S. 159; Lipp (Anm. 30), S. 38. 33 Scharfe (Anm. 31). Dazu sowie zur Differenzierung der Begriffe Subjektivierung und Subjektivation vgl. Röthl (Anm. 1), S. 549 f. 68 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen ins Zentrum unserer Forschung setzen (dürften), amüsierte mich dieser Seitenhieb Martin Scharfes sehr Ein kurzer Blick auf die in den letzten drei Jahrzehnten im Fach abgeschlossenen Examensarbeiten bestätigt aber die vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit: Nur drei der 16 zwischen 1992 und 2018 der dgv gemeldeten Examensarbeiten, die ‹Subjektivierung› im Titel tragen, entstanden vor 2010 und bis 2014 dominierten dabei deutlich die auf ‹Subjektivierung von Arbeit› rekur- rierenden Bearbeitungen 34 ‹Unser› Interesse an prozessualen Subjektivierungen, sprich am Werden des Subjekts und seiner aktiven Beteiligung, etwa im Sinne der ‹Arbeit am Selbst›, steht mittlerweile aber weitgehend ausser Frage Sabine Eggmann spricht in einem neueren Befund von einer Statusänderung «weg von einzelnen, in sich selbst verankerten Seienden hin zu gesellschaftlich akzeptierten Werdenden; weg vom Subjekt als Erklärungsfaktor hin zur Subjektivierung als das, was erklärt werden muss» 35 Diesen wesentlichen Punkt betreffend wählte ich in meiner Arbeit zu den tourismusinduzierten Subjektivierungen das Bild des «Subjekts unterwegs», das quasi wird, indem es sich zu anderen und zu anderem, aber immer auch zu sich selbst ins Verhältnis setzt und darauf angewiesen ist, sich im Rückgriff auf als kulturelle Vorgaben verstandene Subjektivierungsa ngebote zu positionieren und möglichst ideale Selbstentwürfe einzuholen 36 Hier lag nun nahe aufzugreifen, was Michel Foucault mit «Objektivierung des Subjekts» meint: Abgesehen davon, dass seine Kernthese, diskursive Praktiken brächten die Gegen- stände hervor, über die sie sprechen, auf das Subjekt übertragbar wird, merkt Foucault dezidiert an, mit dem Sexualitätsdispositiv dazu übergegangen zu sein, «die Art und Weise, in der ein Mensch sich selber in ein Subjekt verwandelt, zu untersuchen» 37 Er selbst geht dem ausschliesslich in historischer Perspektive nach, dennoch schliesst hier die meinem Dafürhalten nach für die Untersuchung von Subjektivierungsprozessen so zentrale heuristische Setzung an, nach der Herstellung von Selbstverhältnissen, nach entsprechenden Bezugnahmen und anderen konkreten – und so letztlich eben auch empirisch greifbar werdenden – (Aneignungs-)Praktiken und deren Modifikationen zu fragen Wo nun aber vor den Begriff des Selbstentwurfs das Attribut ‹ideal› gesetzt ist, wird unschwer erkennbar, dass Subjektanalysen einer solchen Ausrichtung massgeblich einzubeziehen haben, wie Einzelne zu Vorstellungen eines idealen Selbst kommen Dies setzt eine sorgsame Analyse der Vorgabenseite voraus, die sich auf die Kontextualisierung vieler beziehungsweise möglichst vieler hetero- gener Materialien stützt und sich nicht auf das blosse Durchforsten programma- tischer Diskursebenen beschränkt Davon, dass Dispositivtheorie gleichermassen auf Diskursives und Nichtdiskursives abhebt, lässt sich hier wiederum profitie- ren Analytisch wesentlich ist ausserdem, dass urgence in der genealogischen Di- 34 Als Basis dienten hier die entsprechenden Auflistungen in den dgv Informationen. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, die jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. 35 Eggmann (Anm. 30). 36 Röthl (Anm. 1), S. 501 und S. 135–138. 37 Foucault, Michel: Nachwort von Michel Foucault. Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus/Rabinow (Anm. 14), S. 241–261, hier S. 243. Zur Kernthese vgl. ders.: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main 1981, S. 74. 69 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen mension, also mit dem Fokus auf Macht, die Aufmerksamkeit stark auf die Frage lenkt, welches Wissen in bestimmten gesellschaftlichen Settings legitimiert und als ‹wahr› durchgesetzt ist – und sich hier empirisch im Sinne eines Abgleichs mit der Aneignungsseite anschliessen lässt Auf dieser wird schlagend, dass als solche durch gesetzte Dringlichkeiten bestimmend dafür sind, was Einzelnen als erstrebenswert erscheint und an welchen Prämissen und Werten sich ihre Selbst- entwürfe orientieren Urgencies geben der Selbstoptimierung also erstens Ziel und Richtung vor Zweitens: Ob Einzelne die ihnen begegnenden Subjektivierungs- angebote als vorteilhaft verwertbar und/oder sich ihnen verpflichtend aufdrängend klassifizieren, hängt vom je eigenen Verständnishintergrund ab, der sich jedoch wiederum nicht abseits von Dringlichkeiten denken lässt Immerhin stehen die Deutungen eigener Dispositionen, Möglichkeiten und Wünsche im Verhältnis dazu, was innerhalb einer spezifischen gesellschaftlichen oder sozialen Konstellation als vernünftig, erwünscht oder akzeptiert gilt, also im Verhältnis zu einer bestimmten, historisch gewordenen – und ihrerseits durch urgencies geprägten – Rationalität In die empirische Forschungspraxis mitnehmen lässt sich also zum einen die Frage, unter welchen Voraussetzungen Subjektivierungsangebote als solche erkannt und als Option in Betracht gezogen werden Zum anderen ergibt sich die Möglichkeit – dieser Punkt betrifft jedoch die methodologische Perspektivierung insgesamt –, Makro- und Mikroebenen, Einzelinteressen und überindividuelle Zielsetzungen, längerfristige oder temporäre Kongruenzen respektive Diskrepanzen sowie sich daran knüpfende Subjekteffekte analytisch insofern ‹in den Griff› zu bekommen, als sich (in der Realität natürlich überlappende und ineinandergreifende) Modi der Aneignung näher bestimmen lassen Für die Aneignung von Subjektivität besonders bedeutend sind hier etwa Modi zu erachten, die in die Bereiche des Affektiven oder Emotionalen reichen Solche korrespondieren in hohem Masse mit – und in foucaultscher Lesart liegt hier eben kein Widerspruch vor – in Rekurs auf urgencies hervorgebrachten Rationalitätskon- zepten Lässt man gelten, dass zu solchen auch Emotionskonzepte zu rechnen sind, müsste man Andreas Reckwitz in dem Punkt widersprechen, dass Michel Foucault eine «systematisch antiaffektive Haltung» kennzeichne 38 Und Unterstützung fände man durch Ulrich Bröckling: Als dieser im Frühjahr 2018 bei einem Workshop in Freiburg gefragt wurde, was er im Hinblick auf das Unternehmerische Selbst aus heutiger Sicht anders machen würde, erklärte er zunächst zu bedauern, das Affek- tive «mit Foucault vernachlässigt» zu haben Darauf angesprochen, ob dieser den Aspekt denn tatsächlich ausgespart habe, verneinte Bröckling allerdings – und zwar per direktem Verweis auf «Dringlichkeiten» 39 In Bezug auf die Analysekategorie ‹Dringlichkeit› sind von hier aus die in der Auseinandersetzung mit urgence evident gewordenen Berührungspunkte mit dem Hegemoniekonzept ins Spiel zu bringen Aspekte des Emotionalen (die emotionale 38 Reckwitz, Andreas: Praktiken und ihre Affekte. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 1–2 (2015), S. 27–45, hier S. 32. 39 Treffen der dgv-Kommission Arbeitskulturen am 3. und 4. Mai 2018 in Freiburg. Die genannten Fragen wurden von Stefan Groth und der Autorin gestellt. 70 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen Dimension des Alltagsverstandes) sowie das Verhältnis zwischen übergeordneten Dringlichkeiten und Einzelinteressen (proklamiertes Gemeinwohl) liessen sich überleitend als erste Punkte nennen Angesichts von Foucaults speziellem Verhält- nis zum Marxismus sowie den Anleihen, die Ernesto Laclau und Chantal Mouffe bei ihm machen, um anhand Antonio Gramscis Überlegungen zu Hegemonie eine Dekonstruktion des Marxismus vorzunehmen, überraschen Analogien nicht 40 Ur- gence erscheint hier jedoch gewissermassen als Expansionspunkt: Mit Blick auf das Gemeinwohl41 lässt sich der Bogen zu leeren Signifikanten, mit Rekurs auf funktionelle Überdeterminierung und strategische Wiederauffüllung eventuell gar zu Signifikantenketten spannen Und bei Hegemonie schlicht als «Organisation von Zustimmung»42 ansetzend, wird deutlich: Um zu überindividueller Wirksamkeit zu kommen, bedürfen Dringlichkeiten zunächst breiter Zustimmung, im Wettbewerb um Zustimmung fungieren sie dann quasi als – von Einzelnen und Gruppen frei- lich nur bedingt kontrollierbare – Vehikel Selbst der von Mouffe mit dem Konzept des Politischen als Dimension des Antagonismus eingeführte Begriff des Agonis- mus liesse sich im Sinne zweier oder mehrerer, konträr zueinander stehender ur- gencies begreifen, wobei Foucault hier bereits ähnliche Überlegungen anstellt und den Begriff auch verwendet 43 Für die Forschungspraxis sind Perspektivierungen über gegenläufige urgencies durchaus von Interesse Zentraler ist jedoch, dass die beiden Ansätze – eben auch durch den Fokus auf Dringlichkeit – die analytische Aufmerksamkeit dorthin zu lenken vermögen, wo Macht produktiv wird/geworden ist, ‹etwas› strategisch in eine bestimmte Richtung drängt, verlockt, verleitet sowie den Wunsch nach Teilhabe und Identifikation oder aber nach Abgrenzung hervor- ruft – und bestimmte Formen von Selbstverhältnissen möglich werden Fazit Dispositive Bedingungen sind massgeblich von jenen urgencies bestimmt, über die sich die jeweiligen Dispositive aufspannen Urgence prägt so auch die in einem/ durch ein Dispositiv etablierten Aneignungsweisen Beide Aussagen – wie auch die ganz generelle, dass Dispositive Subjekte hervorbringen – sind lediglich auf der konzeptionellen Ebene des theoretischen Modells gültig Wie Diskurse ‹tun› Dispositive real nämlich nichts Im Rückgriff auf Dispositivtheorie wurde im Fall der hier reflektierten Studie ein Betrachtungsmodell entwickelt, das ‹den Touris- mus› einer stark frequentierten Region als Dispositiv und tourismusinduzierte 40 Sowohl auf die emotionale Dimension als auch auf Parallelen der Ansätze nimmt Ove Sutter unter Angabe der relevanten Literaturen Bezug, vgl. Sutter, Ove: Alltagsverstand. Zu einem hegemonie- theoretischen Verständnis alltäglicher Sichtweisen und Deutungen. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 119 (2016), S. 41–70, hier S. 68 sowie 57–59. 41 Vgl. dazu Foucault, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. 5. Auflage. Frankfurt am Main 2017 [2006], S. 148. 42 Oliver Marchart: Cultural Studies. Konstanz 2008, S. 80. 43 Foucault, Subjekt (Anm. 37), S. 243–261; vgl. Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin 2014. 71 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen Subjektivierungen als Forschungsgegenstand veranschlagt Aber: Tiroler Bereiste greifen natürlich nicht ausschliesslich auf Identitätsangebote des touristischen Dispositivs zurück In ‹tatsächlichen› Subjektivierungsprozessen können die Vorgaben verschiedenster Dispositive kumulieren, Modi der Aneignung können sich überlagern, sich gegenseitig begünstigen oder behindern Mittels Dispositiv- theorie lässt sich der Blick zwar planvoll auf solche Interferenzen richten, auch mit Foucault selbst ist nie von einem «Schema im Reinzustand» auszugehen 44 Gerade in diesem Punkt bestätigten sich aber die Vorteile des zweigleisigen Vorgehens – das sich jedoch nur unter der Bedingung so anlegen liess, dass beide Zugänge, der dispositivtheoretische wie auch der kulturanalytische, als Forschungsstile auf gefasst blieben Grundsätzliche Herangehensweisen wurden unter eklektizis- tischen Vorzeichen entwickelt, konkrete Untersuchungsschritte auf dieser Basis geplant und umgesetzt Für eine anders gelagerte Studie würde es sich eventuell als völlig kontraproduktiv erweisen, die Subjektanalyse in der beschriebenen Form durchzuführen In meinem aktuellen, sich mit dem antagonistischen Verhältnis zwischen Feminismus und Antifeminismus sowie daraus resultierenden Subjek- tivierungspotenzialen beschäftigenden Forschungsprojekt setze ich etwa auf die vorher kurz umrissene Möglichkeit der Identifikation sich widersprechender und Antagonismen bedingender urgencies Mit Blick auf die Konsequenzen dieser Varia- tion, aus der Perspektive interpretativer Analytik wie auch vor dem Hintergrund der Fachprämisse, ‹weichen Methoden› den Vorzug zu geben, ist einmal mehr für möglichst viel Distanz zur Orientierung an standardisierten Verfahrensschritten im Sinne von ‹Forschung nach Rezept› zu plädieren Ausflüge in die Welt des Dispositivs vermögen je nach Forschungsinteresse verschiedene Impulse zu geben Im Hinblick auf eine Subjektanalyse kulturana- lytischer Prägung steht aus meiner Sicht hoch im Kurs, dass die analytische Aufmerksamkeit für ‹Sichtbarkeiten› mit dem Primat des Diskursiven bricht, Forschungsf elder über relationale Bezüge abhebbar werden und es Dispositiv- theorie aufdrängt, Annäherungen an komplexe Verflechtungen zwischen Makro- und Mikroebenen vorzunehmen In Bezug auf Aneignungsweisen bietet sich als gangbarer – weil mit dem Empirischen kompatibler – Weg die Identifikation von Aneignungspraktiken an Inwieweit von der Kategorie ‹Dringlichkeit› zu profitie- ren ist, wurde dargelegt Diesbezüglich hervorzuheben ist noch einmal der analy- tische Mehrwert, auf den im Zuge der Verschränkung von historischer Dimension und Machtdimension hinauszukommen ist, denn aus Sicht einer an Gewordenheit interessierten Disziplin liegt hier besonderes Potenzial Auch aus diesem Grund fiel die Wahl auf diesen Schlusspunkt: Als im März 2020 die Covid-19-Pandemie über Europa herein- und der Tiroler Tourismus zusammenbrach, da das Bundes- land bereits als Corona-Hotspot gehandelt wurde, schickte mir ein Freund und Fachk ollege einen Zeitungsartikel45 zum Sachverhalt: Obwohl Island den Ort Ischgl schon am 5 März zur Hochrisikoregion erklärt hatte, lief der Partybetrieb dort 44 Hier in Bezug auf Institutionen, die bei ihm jedoch als das ‹nichtdiskursive Soziale› zu verstehen sind: Foucault (Anm. 17), S. 35. 45 Korrespondenz vom 23. 3. 2020. Geschickt wurde mir dieser Beitrag: Plaikner, Peter: Corona- 72 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen lange weiter, die Schliessung der entsprechenden Skigebiete erfolgte erst am 14 März Es tauchten Fragen nach (wirtschafts)politischen Ungereimtheiten auf, ausserdem bald Vorwürfe, der Profit sei über die Sorge um die Gesundheit gestellt worden Der Artikel fordert politische Konsequenzen und endet mit dem Satz: «In Tirol genügt es nicht mehr, bloß zu sagen: ‹So sind wir nicht ›» Dem Freund schrieb ich zurück: «[D]anke für den Link – leider ist der Schluss des Beitrags ‹schlecht›: So sind wir nicht? Leider sind ‹wir› eben genau so!» Vor dem Hintergrund, dass Tiro- ler*innen über lange Zeit hinweg lernten, ‹den Tourismus› unter allen Umständen ‹am Laufen› halten zu müssen, die Identifikation mit ihm Tradition im originären Wortsinn hat und sein Funktionieren seit mehreren Generationen für das ‹Gelin- gen des Eigenen› steht, wäre meine Antwort allerdings zu korrigieren Aus Sicht des Dispositivs haben wir es hier nicht mit den Ergebnissen unmittelbarer Inter- essenkalkulationen, sondern mit den Charakteristika einer bestimmten, historisch gewordenen Rationalität zu tun, sodass es heissen muss: ‹Kein Wohlstand ohne Tourismus›, genau so sind ‹wir› – geworden Krise: Das Ende des Systems Tirol. In: Der Standard (online), 23. 3. 2020, www.derstandard.at/ story/2000116039844/corona-krise-das-ende-des-systems-tirol, 6. 8. 2020. 73 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Martina Röthl: Subjektivierungsweisen SCHWEIZERISCHES ARCHIV FÜR VOLKSKUNDE / ARCHIVES SUISSES DES TRADITIONS POPULAIRES 117. JAHRGANG (2021), HEFT 1, S. 75–84, DOI 10.33057/CHRONOS.1655/75-84 Albert Spycher-Gautschi (1932–2020) Kenner alter Handwerke, Gebäckforscher, Regionalkundler DOMINIK WUNDERLIN Wer sich für Schweizer Traditionsgebäcke oder für bestimmte alte Handwerke und Berufe interessiert, kommt selten an Publikationen von Albert Spycher vorbei und gewinnt dann den Eindruck, dass er durch das Vorgelegte oft erschöpfend bedient wird Am 21 November 2020 ist Albert Spycher nach einem reich erfüllten Dasein verstorben Es wäre aber vermessen, seinen Lebensweg als schnurgerade und vor- gezeichnet zu charakterisieren Albert Spycher kam am 12 September 1932 in Basel zur Welt Sein Vater Albert, gelernter Wagner, dann Gefreiter der Basler Berufsfeuerwehr, und seine Mutter Hedwig mit dem Ledigennamen Gerster hatten ihre Wurzeln in der Ostschweiz, vor allem in St Gallen und im Appenzellischen, aber auch ein klein wenig im Bern- biet Zunächst in einer Mietwohnung, dann ab 1940 in einem erworbenen kleinen Ein familienhaus wuchs der Verstorbene mit seiner Schwester in den westlich des Basler Stadtrings gelegenen Quartieren Iselin und Gotthelf auf In den Kriegsjah- ren, die in der ersten Hälfte auch noch die Zeit der Grundschule waren, wechselten die Klassen aus kriegswirtschaftlichen Gründen oft von einem Quartierschulhaus ins andere Eine Konstante blieb die grosse Nähe (maximal ein Kilometer) zur Landes- grenze zu Frankreich – sowohl bei den Schulstandorten wie beim Wohnort Im Ge- gensatz zu den reicheren Baslern flüchtete die Familie Spycher in Zeiten höchster Bedrohung auch nicht in die Innerschweiz Deshalb wurde Albert als Armeleute- kind gehänselt Dies hielt er in einer biografischen Skizze seiner Jugendjahre fest, der aber auch zu entnehmen ist, dass die Familie nicht ganz unten durch musste: Dank der bäuerlichen Verwandtschaft gelangte trotz kriegswirtschaftlichem Ver- bot immer wieder einmal ein Koffer mit Würsten, Butter, Eiern und vor allem dem würzigen Appenzeller Käse nach Basel 1 Letzterer gab einmal sogar in der Schule Anlass zu einem Schnitzelbankvers: 1 Spycher, Albert: Une enfance bâloise en marge de la Seconde Guerre mondiale. In: Hégenheim et environs. Bulletin d’histoire du piémont jurassien d Bâle à Lucelle 7 (2003), 66. 75 SAVk | ASTP 117:1 (2021) «Der Albärt isch sunscht ganz e Liebe, doch eins duet uns an ihm betrüebe: Schtinggkääs bringt är in d Schuel, dä schmeggt so guet, dass’ fascht s’Schuelhuus abdegge duet!»2 Den rässen «Stinkkäse» genoss er ebenso wie andere Gaumenfreuden jeweils auch als Ferienkind bei seinen St Galler Grosseltern Dort war er zudem auch fern vom Kriegslärm und von den schlimmen Flüchtlingsdramen, von denen man zu Hause und auf der Strasse zu hören bekam Die im Dreiländereck allgegenwärtige Nähe zu Frankreich und Deutschland sollte bei ihm nicht jene Spuren von Ressenti- ments namentlich gegenüber den deutschen Nachbarn hinterlassen, wie sie bei manchen seiner Zeitgenossen zu beobachten waren Doch bis dann die Zeit kam, über Jahrzehnte in der Freizeit regelmässig die Landesgrenze, namentlich in Richtung des benachbarten Sundgaus, zu überque- ren, sollte es noch eine Weile dauern Nach dem Besuch des Realgymnasiums schlug er eine Beamtenlaufbahn ein, die ihn in die Steuerverwaltung führte In der 1950er-Jahren gründete er auch einen eigenen Hausstand: 1958 heiratete er Rosemarie Madeleine Gautschi, eine Berufsfotografin 3 Aus der Verbindung gehen drei Kinder hervor: zwei Töchter, ein Sohn Zwischen 1960 und 1962 benutzte er die Gelegenheit zu einer Umschulung für Berufsleute Nach dem Abschluss des Seminars unterrichtete er bis zu seiner Pensionierung 1991 als Oberlehrer in denselben Schulhäusern, in denen er einmal als Primarschüler war Zeitweilig wirkte er zudem als Seminarübungslehrer, spä- ter auch als Vorsteher in den drei benachbarten Schulhäusern Generationen von Schülerinnen und Schülern erlebten ihn in seinen drei Jahrzehnten im Schuldienst als einen Lehrer, der viel Abwechslung in den Unterricht brachte Gerne baute er nämlich eine Stunde auf Realien auf, die er auf Flohmärkten oder in der Natur in Form von Mineralien, Versteinerungen und prähistorischen Geräten (bei legalen Prospektionen) fand Doch bald sprengte manches den Rahmen des Stoffes, den er in den Neubad- Schulhäusern zu vermitteln hatte So fand er um das Jahr 1967 Zugang zum Schweizer Radio DRS Im Studio Basel realisierte er unter Emanuel Suter und nach dessen Tod (11 März 1969) unter Uller Dubi Sendungen in der damaligen Rubrik «Land und Leute» Er bearbeitete Themen wie Jagd und Weinbau, stellte regional bekannte Dialektdichterinnen und -dichter vor und schuf heimatkundliche Porträts über verschiedene Täler des Locarnese, wo Familie Spycher über viele Jahrzehnte auch die Ferien verbrachte Nicht ohne Stolz brachte er von dort Interviews mit Max Frisch, Alfred Andersch und dem Clown Dimitri nach Basel zurück Seine Tätigkeit als freier Radiomitarbeiter endete 1977 nach der Koproduktion einer 2 Spycher, Albert: Broderies suisses, tout à fait à la main: Mesdames, Messieurs: Leben und Arbeit einer Appenzeller Handstickerin und Ferggerin. In: Innerrhoder Geschichtsfreund 53 (2012), 59. 3 Geboren 18. April 1934 in Basel, gestorben 26. November 2019 ebenda. Lehre als Fotografin bei Foto Hoffmann in der Clarastrasse. Danach tätig im Graphischen Atelier Eidenbenz (Basel), im Fotohaus Gaensslen (Biel) und in der Fotoabteilung des Bürgerspitals Basel. Danach freischaffend. Ihr fotogra- fischer Nachlass befindet sich an folgendem Ort: Schweizerische Nationalbibliothek, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege (EAD): Sammlung Rosmarie Spycher-Gautschi. 76 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Dominik Wunderlin: Albert Spycher-Gautschi (1932–2020) Abb. 1: Albert Spycher auf Recherche in Moghegno (Vallemaggia, Kanton Tessin), Herbst 1991. Foto: Rosemarie Spycher-Gautschi. Schweizerische Nationalbibliothek, Graphische Sammlung / Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, EAD-SPYG. Mundart-Langspielplatte und nach der Erarbeitung des Hörspiels ’Baselfahrt nach einer Erzählung des Mundartschriftsteller Jonas Breitenstein Mitte der 1970er-Jahre hatte sich nämlich für Albert Spycher ein neues Fens- ter aufgetan: Begegnungen mit dem damals noch als Basler Gymnasiallehrer und Universitätsdozent tätigen PD Dr Paul Hugger führten ihn zur volkskundlich- wissenschaftlichen Forschung und Publizistik und dies hiess vorerst Mitarbeit in 77 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Dominik Wunderlin: Albert Spycher-Gautschi (1932–2020) der Abteilung Film der SGV Der nur wenig ältere Hugger wurde zum Mentor von Albert Spycher, der von ihm als Berater des Dokumentarstreifens Kammacherei in Mümliswil (1976/77, Kamera: Peter Horner, Völkerkundemuseum Basel) bei- gezogen wurde Das danach sogleich verfasste Heft 41 der Reihe Altes Handwerk wurde zur ersten von zehn Begleitpublikationen zu volkskundlich-ethnografischen Filmen unserer Gesellschaft aus Spychers Feder In Aufbau und Gestaltung orien- tierte sich die Schrift am bisher verfolgten Konzept, nämlich einerseits einen his- torischen Überblick zum jeweiligen Handwerk zu geben, andererseits nahe am Film das Gezeigte zu beschreiben und Biografisches zum Akteur zu vermitteln Wie bei allen nachfolgenden Heften hatte auch Spychers Frau zu den Illustrationen beigetragen Hingegen blieb es beim Kammmacherheft, was die Nähe des Autors zur Film- realisation betrifft Bei den weiteren Heften übernahm es Spycher nämlich zunächst auch, zu einer längst abgedrehten Dokumentation eine Monografie zu schreiben So stellte er in Heft 51 das Handwerk des Strohdachdeckers auf der Grundlage von vier kurzen Filmen aus dem Jahr 1959 vor Um sich kundig zu machen, wälzte er nicht nur Dokumente und Fachliteratur, sondern er suchte auch den letzten noch traditionell arbeitenden Strohdachdecker auf, beobachtete ihn bei der Arbeit und führte Interviews Diese Arbeitsweise machte er sich zum Prinzip bei seinen weiteren Heften, wo er sich wiederholt mit einem Handwerk auseinandersetzte, das gar nicht filmisch dokumentiert war Erst recht profund gestalteten sich seine Recherchen, er scheute auch nicht vor Reisen und tagelangen Archivstudien zurück, suchte den Zugang zu den Magazinen einschlägiger Museen und reicherte seine Publikationen mit Kapiteln über Bräuche, Glaubensvorstellungen und sagenhafte Geschichten an Treu blieb sich Spycher auch im Stil: Er blieb stets nüchtern in der Darstellung und beschönigte nichts mit falscher Romantik Während der zwanzig Jahre, in denen die zehn Hefte für die SGV erschienen, widmete sich Albert Spycher noch einer ganzen Reihe anderer Handwerke Die Resultate dieser in aller Regel reichlich bebilderten Nachforschungen erschienen nicht selten in Zeitschriften für ein breiteres Publikum, das so auch von seinem Wissen profitieren konnte (vergleiche nachfolgende Bibliografie) Seit den frühen 1980er-Jahren meldete sich Spycher aber immer wieder auch mit eigenen Buchpublikationen zu Wort Er widmete sich, zumeist ausgehend von seinem Wohn- und Wirkungsort Basel, oft Themen, die auf der Strasse lagen, aber noch nie unter die Lupe genommen worden waren Ein Beispiel dafür ist etwa der zu den Basler Besonderheiten gehörende «Lällekönig», ein überdimensionierter Kopf mit einer langen Zunge, die er dank einem Mechanismus in regelmässigen Abständen den Passanten zeigt Spycher arbeitete 1987 nicht bloss die Geschichte dieses im Ancien Régime zu einem Stadtwahrzeichen gewordenen Blechkönig her- aus, sondern er suchte auch in ganz Europa nach seinen Verwandten und Freunden Einen Blick über den Tellerrand zu werfen und den Lesern zu zeigen, was es dort zu sehen und zu entdecken gibt, gehörte übrigens ebenso zu den Prinzipien seines Schaffens und Publizierens wie der oft angestrebte Praxis- und Gegenwarts- 78 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Dominik Wunderlin: Albert Spycher-Gautschi (1932–2020) bezug Das Vorgenannte finden wir schon bei seinem Buch über das Rheingold (1983) Dieser Publikation folgten dann ein Klassenprojekt und eine Ausstellung in einem baselstädtischen Museum Seine intensive Beschäftigung mit Handwerken führte ihn um 1990 zuneh- mend in die Backstuben und an die Arbeitstische von Zuckerbäckern Als grosses Thema erwies sich hier der Lebkuchen Den Zugang suchte er sinnigerweise über eine lokale Variante, das Leckerli aus Basel (1991) So innig dieses Kleingebäck mit der Rheinstadt verbunden ist, so wenig war über seine Geschichte bekannt, bevor sich Spycher ans Studium in den Archiven und der alten Koch- und Backbücher gemacht hatte und die verschiedenen Backstuben besuchte Es gelang ihm, das «Basler Leckerli» der Familie der oberrheinischen Lebkuchen zugehörig zu ver- orten, aber auch auf die europäischen Verwandten zu verweisen Glaubhaft konnte Spycher auch mit dem – wie er formulierte – «Märli» aufräumen, dass das Basler Kleingebäck bereits im 15 Jahrhundert während des Konzils genossen worden sei Dies konnte damals allein schon mangels gewisser Ingredienzen nicht sein Exakte Rezeptanalysen bewogen Albert Spycher später sogar, einen Grossverteiler zur Kreation eines Basler Lebkuchens zu begeistern, wie er bis ins 19 Jahrhundert bekannt war Das dann in der Edellinie «Sélection» angebotene Confiserieprodukt ist allerdings bald wieder aus dem Angebot verschwunden Es war für den Autor nach dem Leckerli-Buch nur ein kleiner Schritt, von den Lebkuchen am Oberrhein den Blick hin auf die Backtraditionen in der Heimat seiner Vorfahren zu lenken: Als Ergebnis der kulinarischen Reise back to the roots legte er das Ostschweizer Lebkuchenbuch (2000) vor Darin wurden Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Lebkuchen (Honigteiggebäcke) aus St Gallen und Appen- zell herausgearbeitet, die Rolle der Frauenklöster dargelegt und die Rolle der Ge- bäcke im Nikolaus- und Weihnachtsbrauchtum augenfällig gemacht Spychers un- gebrochenes Interesse am Handwerk zeigte sich in dieser Monog rafie nicht bloss bei den zahlreichen Besuchen in Backstuben, sondern auch beim Modelstecher Dadurch leistete er einen wichtigen Beitrag zur Gebäckmodelforschung Nur auf den ersten Blick überraschend endet dieses Ostschweizer Buch mit einem Exkurs über die Lebkuchenfabrikation im unterelsässischen Gertwiller Die Parallelen zur Ostschweiz sind aber unübersehbar Zudem scheint es fast, als ob Spycher damit schon ankündigen wollte, dass er sich noch in weiteren Publikationen mit Back- traditionen und mit der Kulinarik am Oberrhein und speziell in Basel befassen werde In der Tat geschah dies mit seinem letzten grösseren wissenschaftlichen Bei- trag, einer längst fällig gewesenen Studie zum Oberrheinischen Kochbuch von 1811 von Margarethe Spoerlin-Baumgartner (2012) und vor allem durch die Sammlung von Backwaren für den Alltag und den Festtag, die namentlich in Basel oft seit Jahrhunderten auf den Tisch kommen In Back es im Öfelin oder in der Tortenpfann (2008) ging Spycher bei allen vor- gestellten Backspezialitäten gleich vor: Nach einem einleitenden Kapitel zu «Wort und Sache» stellte er die Ergebnisse seiner Archiv- und Quellenforschung vor, um sich dann an die Gegenwart heranzutasten und fallweise auch über die Verbindung 79 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Dominik Wunderlin: Albert Spycher-Gautschi (1932–2020) zwischen dem jeweiligen Gebäck und einem Brauch zu berichten Ursprünglich war es Albert Spycher bei diesem Publikationsvorhaben nur um die Fastenwähe gegangen, also um ein brezelartiges Gebäck, das in Basel zwischen der Jahres- wende und der Karwoche gebacken wird Aber eine grössere Verzögerung bei der Drucklegung nutzte der Autor zu einer beträchtlichen Ausweitung des Themas und führte dann auch zur Beantwortung der Fragen, wieso der Osterfladen kein Fla- den, der Flammenkuchen kein Kuchen und die Fastenwähe keine Wähe, also kein flacher Blechkuchen, ist, sondern sich auf ein mittelhochdeutsches Wort «waehe», also auf etwas Zartes, Feines, bezieht Es bleibt unübersehbar, dass der Autor ge- rade diesem Gebäck ein besonderes Augenmerk schenkte Durch seine akribischen Recherchen gelang ihm die Entdeckung der frühesten Erwähnung des Gebäcks als «fastenwegenn» im Stadtarchiv von Rheinfelden, gut hundert Jahre vor dem ers- ten Beleg in Basler Akten Dass beim Namen «Sunnereedli» für eine verkleinerte Fasten wähe, die seit 1925 ein beliebtes Apérogebäck ist, der Basler Volkskunde- professor Eduard Hoffmann-Krayer Gevatter stand, bleibt nicht unerwähnt Bei einem Blick auf die letzten grösseren Veröffentlichungen fällt auf, dass Al- bert Spycher neben Beiträgen zur Gebäckforschung und zur Ernährungsgeschichte sich auch weiterhin dem Handwerk und Berufen widmete Wie schon beim Ost- schweizer Lebkuchenbuch sind es auch hier Themen, die Bezüge zur Heimat sei- ner Vorfahren und ihrer beruflichen Tätigkeiten herstellten Wir denken an seine Mono grafie Die Fergger (2003), aber auch an die Aufsätze «Appenzeller Familien als Ziegenmilchbuden-Betreiber in Basel» (2010) und «Broderies suisses, tout à fait à la main: Mesdames, Messieurs» (2012) In der nachfolgenden Bibliografie bildet sich die ganze Breite seines Interesses ab, das über altes Handwerk und Gebäckforschung hinausging Denken wir hier an «Tessiner Roccoli» (1982), wo Spycher eine Bestandsaufnahme der Vogelfänger- türme knapp fünfzig Jahre nach derjenigen von Giovanni Bianconi vorlegte Den- ken wir auch an die originelle Analyse von Schreibsanden in Basler Archivakten (2005) oder an zwei Arbeiten zur popularen Religiosität im Sundgau (2010 und 2011) Seine besondere Liebe zum Südelsass zeigte sich auch an der auffallend häufigen Platzierung von Aufsätzen in historischen Zeitschriften der französischen Grenzregion Nach der Aufgabe des Schuldienstes im Jahre 1991 engagierte er sich neben der Arbeit an eigenen Projekten mit Begeisterung in der Erwachsenenbildung und als freier wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Bürgerforschungsprojekten «Theo der Pfeifenraucher» und «Die Mumie aus der Barfüsserkirche» Zum erstgenannten Unternehmen steuerte Albert Spycher auch einen Textbeitrag für die gleichnamige Publikation (2010) bei Nachdem seine Gattin Rosmarie im Jahr 2009 an Alzheimer erkrankt war, ent- schied sich Spycher, die Betreuung vor alles andere zu stellen Dass er nichts mehr Neues anpacken werde, teilte er bald auch seinem Umfeld mit Aber ganz löste er sich nicht von seinem Computer So belieferte er ab etwa 2009 jahrelang die private Platt- form brauchtumsseiten de mit reich bebilderten Beiträgen, in d enen er sein Wissen als Gebäckforscher und Volkskundler ausbreitete Zwischen 2017 und 2019 zeich- 80 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Dominik Wunderlin: Albert Spycher-Gautschi (1932–2020) nete er zudem als Autor von dreissig Artikeln zu Schweizer «Brauchtumsgebäck», die in der Verbandszeitung panissimo der Schweizer Bäcker- und Konditormeister ab- gedruckt wurden und auch online abrufbar sind (siehe Bibliografie) Seinem Namen begegnete man schon zuvor oft auf der Website des Vereins Kulinarisches Erbe der Schweiz (patrimoineculinaire ch), ist doch bei der Aufnahme des Inventars zwischen 2004 und 2009 sein Wissen bei vielen Schweizer Backwaren eingeflossen Mit Albert Spycher ist eine Forscherpersönlichkeit nach einem reich erfüll- ten Leben von uns gegangen Er hinterlässt ein weitgehend eigenständiges Werk von grosser Qualität, das viele gerne und mit Gewinn zu Rate ziehen, die sich für altes Handwerk oder Gebäck interessieren Die in seinen gebäckkundlichen Veröffentlichungen oft angestrebte Praxisnähe durch den Abdruck von Rezepten zeugt von einem Menschen, der genussfreudig war und dennoch auf dem Boden des Machbaren blieb Schriftenverzeichnis Albert Spycher-Gautschi D’Baselfahrt Hörspiel in zwei Teilen nach einer Erzählung von Jonas Breiten- stein Literarische Verarbeitung der Posamenterzeit [Basel] 1977 (Typoskript) mit Dubi, Uller: Stadt Basel In: Schweizer Mundart Zürich 1978, Schallplatte Nr 6 Kammacherei in Mümliswil Basel 1977 (Altes Handwerk 41) Der Strohdachdecker Basel 1981 (Altes Handwerk 51) Tessiner Roccoli Bern 1982 Der Strahler Basel, Bonn 1982 (Altes Handwerk 52) Rheingold Basel und das Gold am Oberrhein Basel 1983 Kegeln, Gilihüsine und Volkstheater in Betten VS Basel 1985 (Altes Handwerk 53) «Magnani» Leben und Arbeit der Tessiner Kesselflicker Basel 1986 (Altes Handwerk 55) Projekt Rheingold Katalog zu einer Ausstellung im Stadt- und Münstermuseum, Kleines Klingental (20 2 –26 4 1987) Basel 1987 Zur Kalligraphie in der Schweiz In: Handwerk, Volkskunst, Kunsthandwerk 52/3 (1987), S 30–39 Der Basler Lällenkönig Seine Nachbarn, Freunde und Verwandten Basel 1987 (Neujahrsblatt der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige GGG 166) Il cadregatt di Tegna In: Folklore suisse / Folclore svizzero 78 (1988), S 41–50 Der Seiler In: Heimatkunde des Wiggertals 46 (1988), S 79–98 Der Weidlingbauer Basel 1988 (Altes Handwerk 57) Der Kundenmüller Kundenmüller Ulrich Reinhard in Uerkheim In: Zofinger Neujahrsblatt 73 (1988), S 73–84 Zur Geschichte des Drechslerhandwerks Holzdrechsler Fritz Brägger, Peter Lui- soni, Steindrechsler Herbert Wirz In: Handwerk, Volkskunst, Kunsthand- werk 53/2 (1988), S 2–16 81 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Dominik Wunderlin: Albert Spycher-Gautschi (1932–2020) Le sigaraie di Brissago In: Folklore suisse / Folclore svizzero 79 (1989), S 1–11 (mit französischer Zusammenfassung) Die Appenzeller Handstickerei In: Appenzeller Kalender 268 (1989), [S 78–88] Der Kummetsattler und Schellenriemenmacher Peter Gujan In: Handwerk, Volkskunst, Kunsthandwerk 54/1 (1989), S 14–17 Der Kupferschmied Ein Kaltschmied In: Handwerk, Volkskunst, Kunsthandwerk 54/3 (1989), S 11–19 Der Lebkuchendekorateur In: Handwerk, Volkskunst, Kunsthandwerk 54/4 (1989), S 2–10 Neues von Einsiedler Schafbock-Bäckern Gebäck im weltlichen Wallfahrts- brauch, ein volkskundliches Forschungsgebiet In: Handwerk, Volkskunst, Kunsthandwerk 55/4 (1990), S 21–28 Leckerli aus Basel Ein oberrheinisches Lebkuchenbuch Basel 1991 Der Bronzeguss Ein antikes Kunsthandwerk Basel 1991 (Altes Handwerk 58) Steinschleifen Die Winterarbeit eines Strahlers In: Handwerk, Volkskunst, Kunsthandwerk 56/4 (1991), S 21–24 Das Wachsausschmelzverfahren Jan und Vreni Schossau In: Heimatwerk Kunsthandwerk 57/3 (1992), S 26–35 Küfer aus Leidenschaft Hans Auer In: Heimatwerk Kunsthandwerk 57/3 (1992), S 36–39 Hutmacherei in alter und neuer Zeit Basel 1992 (Altes Handwerk 59) Steinschleifen Die Winterarbeit eines Strahlers / Le polissage de la pierre Activité hivernale d’un cristallier In: Schweizer Strahler 27 (1993), S 558–561, 566 Die Asphaltgrube im Val-de-Travers Ein Kapitel schweizerischer Bergbau- geschichte, Basel 1994 (Altes Handwerk 61) Les mines d’asphalte de la Presta/Val-de-Travers Basel 1994 (Vieux métiers 61a) Strahlen – einmal anders In: Schweizer Strahler 29 (1995), S 310–315 Meine Begegnungen mit der Schriftstellerin Helene Bossert In: Volksstimme von Baselland, 17 Mai 1996, S 6 Mit Kohlestift und Computermaus Von den Entwerfern und technischen Zeich- nern der Ostschweizer Stickereiindustrie Basel 1997 (Altes Handwerk 62) Ostschweizer Lebkuchenbuch St Galler und Appenzeller Biber, Biberfladen und Verwandte Herisau 2000 Das Basler Leckerli Vom «Lebkouchen» zum «verzuckerten Lebküchly» In: Tracht und Brauch 9/3 (2002), S 16 f Die Fergger Zwischen Auftraggebern und Heimatarbeitenden, Herisau 2003 Une enfance bâloise en marge de la Seconde Guerre mondiale In: Hégenheim et environs, Bulletin d’histoire du piémont jurassien de Bâle à Lucelle Riedisheim 7 (2003), S 63–70 Randonnées préhistoriques au pied du Jura alsacien In: Hégenheim et environs, Bulletin d’histoire du piémont jurassien de Bâle à Lucelle Riedisheim 8 (2004), S 85–90 Une impression de sérénité Les crêches de Noël dans les églises du Sundgau In: Annuaire de la Société d’histoire du Sundgau 2004, S 307–312 82 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Dominik Wunderlin: Albert Spycher-Gautschi (1932–2020) mit Milke, Ralf: Naturwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Untersuchun- gen an Schreibsanden in Basler Archivakten In: Mitteilungen der Natur- forschenden Gesellschaften beider Basel 8 (2005), S 198–218 «C’est la vie» Religiöse Andenkenkunst auf Sundgauer Flohmärkten In: A nnuaire de la Société d’histoire du Sundgau 2005, S 317–326 Der Basler Lebkuchen In: Baselbieter Heimatblätter 71 (2006), S 186–193 Rund um das Winzerhaus von Fislis In: Annuaire de la Société d’histoire du Sundgau 2006/07, S 323–328 Back es im Öfelin oder in der Tortenpfann Fladen, Kuchen, Fastenwähen und anderes Gebäck Basel 2008 (Neujahrsblatt der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige GGG 186) Das Basler Leckerli Vom «Lebkuochen» zum «verzuckerten Lebküchly» In: Annuaire de la Société d’histoire du Sundgau 2008, S 113–116 Tulipa sylvestris (Wilde Rebentulpe) Lästiges Unkraut, geschützte Kulturpflanze In: Baselbieter Heimatblätter 73 (2008), S 45–59 Die Wilde Rebentulpe – la tulipe sauvage – in der Dreiländerecke In: Annuaire de la Société d’histoire du Sundgau 2008, S 297–310 Wilde Rebentulpen am Riehener Schlipf In: z’Rieche Ein heimatliches Jahrbuch 48 (2008), S 23–27 Der Dreikönigskuchen In: Baselbieter Heimatblätter 73 (2008), S 105–114 Weinleitern – Himmelsleitern «Wy-Leiterli», ein vergessener Gebäckname In: Baselbieter Heimatblätter 74 (2009), S 161–169 Feldställe – abris de pâturage – im Südzipfel des Sundgaus In: Annuaire de la Société d’histoire du Sundgau 2009, S 317–325 Les banquets des tuteurs mulhousiens au Livre de cuisine de l’Oberrhein In: Annuaire historique de Mulhouse 20 (2009), S 27–42; 21 (2010), S 9–28 Appenzeller Familien als Ziegenmilchbuden-Betreiber in Basel von 1875 bis 1918 In: Innerrhoder Geschichtsfreund 51 (2010), S 181–198 Die Berufe der Theo-Kandidaten In: Gerhard Hotz, Kaspar von Greyerz, Lukas Burkart (Hg ) Theo der Pfeifenraucher Leben in Kleinbasel um 1800 Basel 2010, S 132–139 Das Fest der Vierzehn Nothelfer in Oberlarg In: Annuaire de la Société d’histoire du Sundgau 2010, S 217–236 Sundgauer Wallfahrten nach Mariastein In: Baselbieter Heimatblätter 76 (2011), S 49–78 Die Goldwäscher am Oberrhein – Les orpailleurs de Haute-Alsace In: Annuaire de la Société d’histoire du Sundgau 2011, S 49–74 Broderies suisses, tout à fait à la main: Mesdames, Messieurs Leben und Arbeit einer Appenzeller Handstickerin und Ferggerin In: Innerrhoder Geschichts- freund 53 (2012), S 46–60 Das Oberrheinische Kochbuch (1811) Fakten und Strukturen im Werk von M argarethe Spoerlin In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 108 (2012), S 1–32 83 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Dominik Wunderlin: Albert Spycher-Gautschi (1932–2020) Brauchtumsgebäck (Serie in 30 lose erschienenen Teilen) In: panissimo (Verbandszeitung der Schweizerischen Bäcker- und Konditorenmeister) zwischen Nr vom 14 10 2016 (Zur Geschichte des St Galler Bibers) und Nr 24, 6 12 2019 (Neues von Mailänderli, Leckerli & Co ), www swissbaker ch/inhalte/02_news/PDF-Dateien/Serie_Brauchtumsgebaecke_Albert_ Spycher pdf www brauchtumsseiten de/autoren/s/spycher-gautschi/home html Viele Arbeitsunterlagen obiger Veröffentlichungen sind in zahlreichen Ordnern ab- gelegt und im Archiv des Schweizerischen Instituts für Volkskunde, Basel, dauer- haft deponiert 84 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Dominik Wunderlin: Albert Spycher-Gautschi (1932–2020) SCHWEIZERISCHES ARCHIV FÜR VOLKSKUNDE / ARCHIVES SUISSES DES TRADITIONS POPULAIRES 117. Jahrgang (2021), Heft 1, S. 85–108, DOI 10.33057/CHRONOS.1655/85-108 Buchbesprechungen Comptes rendus de livres Barton, Gregory A.: The Global History Beitrag von Spieker et al darauf, dass der of Organic Farming. Ökolandbau eine Geschichte hat, und zwar Oxford: Oxford University Press, 2018, 256 S. nicht nur eine deutschsprachige, sondern eine internationale Tatsächlich wurde die Wiewohl in Debatten über die ‹Agrar- Ökolandwirtschaft, die sich in unterschied- wende› ins Licht der Aufmerksamkeit ge- liche Konzepte gliedert, nicht an einem Ort rückt, kommen Ökolandbau, Bioland- ‹erfunden›, sondern von unterschiedlichen wirt*innen und -konsument*innen als Akteur*innen an verschiedenen Orten Gegenstände der Europäischen Ethnologie angedacht, proklamiert, experimentell nicht allzu oft vor Wird ‹Bio› thematisiert, ausgelotet, verwissenschaftlicht und pro- dann zuletzt etwa mit Blick auf die Bedeu- fessionalisiert Diese Einsicht hat bereits tung des Bodens bei Identitätskonstruktio- vor Jahren zu Ansätzen einer internationa- nen von Landwirt*innen,1 unter dem Ge- len Historiografie alternativen Landbaus sichtspunkt von «Assembling ‹Good Food›»2 geführt – etwa in Gestalt eines Sammel- oder mit Fokus auf die Pionierinnen der bandes,4 der die globale Dimension des Ökolandwirtschaft 3 Dabei verweist der Phänomens (Ideenaustausch, Kolonial- geschichte, Netzwerke) allerdings eher 1 Wahlhütter, Sebastian; Vogl, Christian R.; erahnen lässt als systematisch herausar- Eberhart, Helmut: Soil as a key criteria in the construction of farmers’ identities: The ex- beitet Vor diesem Hintergrund hat eine ample of farming in the Austrian province of Monografie zur globalen Geschichte der Burgenland. In: Geoderma. The Global Journal organischen Landwirtschaft, wie sie der of Soil Science 269 (2016), S. 39–53. 2 Richter, Marcus: Imagination and Beyond: Assembling ‹Good Food› in Biodynamic Nikola Langreiter et al. (Hg.): Wissen und Agriculture. In: Silke Bartsch, Patricia Lysaght Geschlecht. Beiträge der 11. Arbeitstagung (Hg.): Places of Food Production. Origin, der Kommission für Frauen- und Geschlech- Identity, Imagination. Frankfurt am Main terforschung der Deutschen Gesellschaft für 2017, S. 157–168. Volkskunde. Wien 2008, S. 64–82. 3 Spieker, Ira; Inhetveen, Heide; Schmitt, 4 Lockeritz, William (Hg.): Organic Farming. Mathilde: Der andere Landbau – das andere An International History. Wallingford, Cam- Denken – das andere Geschlecht. In: bridge, MA 2007. 85 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Titel von Bartons Buch verspricht, noch zeichnet sei (S 5) Geschickt werden dabei gefehlt Des Rezensenten Misstrauen unterschiedliche Ebenen historischer Ent- keimte jedoch auf, als er des relativ gerin- wicklungsgänge in verschiedenen Region en gen Textumfangs des Buches (diesseits von verknüpft – Stadtwachstum, steigende Bibliografie und Index bleiben 203 Seiten) Nachfrage nach Lebensmitteln, agrarprak- gewärtig wurde Und so viel schon jetzt: tische Strategien der Ertragssteigerung, Die Lektüre sollte Irritationen auslösen Struktur des Landbesitzes, Entwicklung Eingangs definiert Barton – Historiker der Geldwirtschaft und Geschichte agro- an der Western Sydney University – ‹orga- technischer Innovationen So wird auf nic farming› als Wirtschaftsweise, die auf wenigen Seiten (S 6–9) klar, wie im Zusam- ökologische Prozesse vertraue, um den menwirken verschiedener Faktoren jene Einsatz chemischer Dünge- und Schädlings- Agroindustrie entstanden ist, der Agrarre- bekämpfungsmittel zu minimieren oder zu former*innen schliesslich Alternativen ge- ersetzen Eine Wirtschaftsweise, getragen genüberstellten Letzteres geschah freilich von einer Bewegung, die es kritisch zu nicht eruptiv, sondern auf Basis eines aus würdigen gelte – von ihren Anfängen bis in verschiedenen Denktraditionen errichteten die jüngste Vergangenheit Angelegt wird Fundaments Zu Recht verweist Barton auf eine Erfolgsgeschichte, in deren Verlauf die Philosophie des «law of return», die sich die Akteur*innen vom «outsider»-Status zu in Guano- und Poudrettedüngung abbildete «mainstream acceptance in the 1980–90s» (S 9–12) Zu Recht widmet er Ökologie, gelangt seien (S 1 f ) Holismus und «desiccation theory»5 Auf- Richtig erkennt Barton, dass sich die merksamkeit (S 12–18) Zu Recht wird «the Entstehung organischer Landwirtschaft cultural soil of organic farming» verhandelt: nicht auf eine einzige Einsicht zurückfüh- Agrarismus, Agrarromantik und Diskurse ren lässt, weshalb sich die Geschichte der über gesunde Ernährung (S 20–39) ‹organics› als verknäultes Gebinde inter- Irritierend wird es, wenn Barton agierender Kräfte darstelle (S 2) Dies hält auf Rudolf Steiner als Vordenker der den Autor aber nicht davon ab, die ‹globale› biologisch-dynamischen Landwirtschaft zu Geschichte der organischen Landwirtschaft sprechen kommt (S 39–45) Weniger weil im Sinne eines ‹Stammbaums› zu erzählen, Koberwitz (heute Kobierzyce), der Ort, an dessen Wurzelstock der britische Kompost- dem Steiner 1924 seine agrarprogrammati- pionier Sir Albert Howard (1873–1947) schen Vorträge hielt, von Niederschlesien bildet Entsprechend wird deren «main (Dolny Śląsk) nach Westfalen verlegt wird trunk» in Grossbritannien «and its imperial (40)6 und nicht weil Barton Steiner kritisch outposts» verortet, wohingegen vergleich- sieht (wofür es gute Gründe gibt) Vielmehr baren Ansätzen in der Restwelt lediglich weil Steiner wie auch das im folgenden die Rolle von «offshoots» zugeschrieben Kapitel verhandelte lebensreformerische wird (ebd ) Knapp skizziert Barton Landwirt- 5 Theorie, wonach es infolge von Austrocknung schaftsweisen vorindustrieller Epochen, zur Schrumpfung der Böden komme. verdeutlicht, dass diese, wenn überhaupt, 6 Steiner, Rudolf: Geisteswissenschaftliche eher zufällig ‹nachhaltig› angelegt gewesen Grundlagen zum Gedeihen der Landwirt- schaft. Landwirtschaftlicher Kurs. Acht Vor- seien (S 3 f ), und kommt dann auf die träge, eine Ansprache und vier Fragenbeant- «agricultural revolution» zu sprechen, die wortungen, gehalten in Koberwitz bei Breslau in England, Flandern und Deutschland im vom 7. bis 16. Juni 1924, und ein Vortrag in 18 Jahrhundert in Gang gekommen und Dornach am 20. Juni 1924. 8. Auflage, Dor- nach 1999 (Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe von anhaltender Ertragssteigerung gekenn- 327), Titelei (Hervorhebung P. H.) 86 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres «German biological farming» (S 45–48) diese Wirtschaftsweise (wie die der ‹Bios›) der Vorgeschichte von «organic farming» im ‹grünen Flügel› der NSDAP Anklang zugeordnet werden und damit eine bislang fand (S 43) Insofern sich hieraus Gründe unüblich ‹harte› Grenze zwischen ‹organic› für eine scharfe Trennung zwischen ‹bio- und ‹biologisch› gezogen wird, für die der logisch› und ‹organisch› ableiten lassen, Autor lediglich die auf einem (!) Literatur- würden diese vielleicht nicht alle Lesenden verweis fussende Begründung parat hat: überzeugen, wohl aber könnte die Tren- «Biological farming […] connotes less a nung nachvollzogen werden – würde sie precise protocol for the organic method nur entsprechend erklärt Im Ergebnis and signals instead life found in the soil ist es jedenfalls schade, dass sich Barton that should be cultivated in a sustainable mit der Aussonderung deutschsprachiger fashion» (S 47) 7 Bedenkt man, dass Stei- ‹Bio›-Pionier*innen die Chance vergibt, die ner (wie etliche der frühen ‹Bios›) exakt facettenreiche globale Geschichte der Alter- forderte,8 was der Autor eingangs als defi- nativlandwirtschaften in ihren Wegen und nitorisches Kriterium für ‹organic farming› Irrwegen, Korrespondenzen, Vernetzungen dartut, so drängt sich der Eindruck einer und Rivalitäten synthetisiert zur Darstel- willkürlichen Ausgemeindung auf Und lung zu bringen dieser Eindruck erhärtet sich, weil man Schliesslich kommt der Autor zu sei- feststellt, dass sich Barton unkritisch auf nem eigentlichen Anliegen: der Hommage Autor*innen (zum Beispiel Paull, Treitel) an Howard, dessen Werdegang auf mehr bezieht, die diese Ausgemeindung nicht als 70 Seiten facettenreich ausgebreitet vornehmen, ohne darzulegen, weshalb er wird: Howard, Sohn eines Landwirts, deren Sicht des Naheverhältnisses von Bio- «grew up with a romantic attachment to dynamie, lebensreformerischem ‹Bio› und folkways» (S 50) in Shropshire und sei in ‹organics› nicht teilt seinen Vorstellungen vom idealen Bauern- Richtig ist, dass sich Steiner nicht hof durch Kindheitserfahrungen geprägt ‹naturwissenschaftlich›, sondern esoterisch worden, ehe er, agrarwissenschaftlich mit Landwirtschaft befasste (S 41 f ) Rich- qualifiziert, akademische Positionen in tig ist, dass die biodynamische Wirtschafts- Mykologie und Botanik bekleidet habe, weise erst von Steiners Epigon*innen zur unter anderem am Harrison College in praktikablen ‹Methode› entwickelt wurde Barbados und am Imperial Department of Richtig ist, dass sich diese auf Howard Agriculture for the West Indies Seinen bezogen und den esoterischen Überbau eigentlichen Platz jedoch sollte Howard am der biodynamischen Landwirtschaft auf Institute of Plant Industry in Indore (In- die Basis der ‹naturwissenschaftlich fun- dien) finden, wo er gemeinsam mit seiner dierten› Idee vom Stoffkreislauf (Kompost) ersten Frau Gabrielle (1875–1930) forschte stellten (S 44) Unstrittig ist auch, dass und experimentierte und die «Indore me- thod» der Kompostbereitung entwickelte 7 Barton verweist auf Treitel, Corinna: Artificial Letzteres aber nicht aus ökologischen oder or Biological? Nature, Fertilizer, and the gesundheitlichen Motiven, sondern um German Origins of Organic Agriculture. In: der finanzschwachen Landbevölkerung Denise Philips, Sharon Kingsland (Hg.): New kompostbasierte Düngung als kosten- Perspectives on the History of Life Sciences and Agriculture. Cham 2015, S. 183–203. günstige Alternative zu synthetischem Richtig tragfähig scheint der Verweis nicht. Dünger aufzuzeigen (S 92) Dass Howard 8 Paull, John: Attending the first organic agri-i gleichwohl zum Pionier organischer Land- culture course: Rudolf Steiner’s Agriculture wirtschaft geraten sollte, liege primär an Course at Koberwitz 1924. In: European Jour- nal of Social Sciences 21/1 (2011), S. 64–70. seiner im und nach dem Zweiten Weltkrieg 87 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres erfolgten Reinterpretation seines Wirkens ren Literatur etwas ausführlicher und dort und an der Öffentlichkeitsarbeit seiner abgehandelt wird, wo die Vorgeschichte der zweiten Frau Louise (1880–1969) (S 99) organischen Landwirtschaft dargetan wird Die Lektüre der Würdigung Howards, die Die weitere Geschichte, wie sie über bisher Bekanntes hinausführt und Barton erzählt, ist die einer Diffusion die von Spieker et al 9 beleuchteten Rollen organischer Landwirtschaft in weiten seiner beiden Frauen nicht unterschlägt, Teilen der Welt vor dem Hintergrund von ist erhellend, zumal deutlich wird, dass Diskussionen über DDT10 und Carsons auch der Naturwissenschaftler Howard Silent Spring,11 einer Professionalisierung nicht frei von agrarromantischen Einflüs- der Anbaumethoden und der Anerkennung sen war und seine Rolle erst spät als die der Alternativlandwirtschaften im Kontext eines Pioniers der Alternativlandwirtschaft der Gesetzgebung in verschiedenen Wirt- interpretierte Allzu gerne würde man hier schaftsräumen (S 156–201) Diese Ent- auch etwas darüber lesen, wie die kolo- wicklung konnte zwar schon vor Bartons niale Agrarbevölkerung auf Howard und Buch nachvollzogen werden, wenn auch die von ihm propagierte Kompostwirtschaft nicht unbedingt in einer unterschiedliche reagierte, bezog sich diese doch auf deren Weltregionen integrierenden Zusammen- Alltagswirklichkeiten und sollte diese schau Leider unterlässt es Barton, danach ‹optimieren› helfen zu fragen, wie sich die Globalisierung der Als erhellend erweist sich auch die Ökolandwirtschaft im Zusammenwirken Lektüre des Kapitels, in dem Barton die unterschiedlicher Faktoren – Landbesitz, verbreitete Vorstellung hinterfragt, wonach Wissenstransfer, Welthandel, sozialer Wan- vormodernem fernöstlichem Wissen del etc – in unterschiedlichen Teilen der zentrale Bedeutung in der Geschichte der Welt in den letzten Jahrzehnten abbildete Ökolandwirtschaft zukomme (S 80–85) Dergleichen im Detail auszuarbeiten, Kul- Hier verhandelt der Autor auch die Rolle turkontakte und Kulturkonflikte in diesem des Bodenforschers Franklin H King Zusammenhang zu diskutieren, mag keine (1848–1911) und seine durch Fernostreisen originär historiografische Aufgabenstellung inspirierte Idealvorstellung von einem sein; dies jedoch zumindest anzusprechen Stoffkreislauf auf Basis aller organischen durchaus Schliesslich hat der Bioboom in Abfälle (S 83 f ) Dabei stimmt der Rezen- Wohlstandsregionen des globalen Westens sent mit Barton darin überein, dass Kings und Nordens dazu geführt, dass auch Einfluss auf spätere Agrarreformer*innen Akteur*innen der Alternativlandwirtschaft kaum überschätzt werden kann und man in Verbindung mit fragwürdigen Praxen über Kings Reiseerfahrungen, naiv-roman- von ‹land grabbing› gebracht worden sind 12 tische Asienbegeisterung und deren Ein- Dies aufzugreifen wäre schon deshalb fluss auf seine als ‹naturwissenschaftlich› geboten, weil Barton Kehrseiten des Erfolgs anerkannte Arbeit gerne mehr wüsste als alternativer Landwirtschaften zu erahnen bisher bekannt (S 83) Zugleich stellt sich scheint, wenn er in einem Ausblick auf jedoch die Frage, weshalb King, der Anfang die Zukunft Konzentrationen beklagt, die des 20 Jahrhunderts die später einge- weniger Raum für kleine Produzent*innen tretenen Probleme der ‹konventionellen› US-Landwirtschaft – ‹Erschöpfung› und 10 Dichlordiphenyltrichlorethan: seit den 1940er- Erosion der Böden – prognostizierte, nicht Jahren eingesetztes und in den 1970er-Jahren entlang seiner Schriften und der verfügba- in vielen Ländern verbotenes Insektizid. 11 Carson, Rachel: Silent Spring. Boston 1962. 12 Jentzsch, Christian: Die Bio-Illusion – Massen- 9 Spieker/Inhetveen/Schmitt (Anm. 3). ware Ökosiegel. Dokumentation, Arte TV, 2014. 88 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres liessen, und feststellt, dass «the cultural «chemical farming» in Look to the Land13 ethics that gave birth to the movement may benutzt hat und von Paull als Schöpfer continue to fade or, worse, increasingly be des Begriffs dargestellt wird 14 Der nähere manufactured into slogans and images that Blick jedoch offenbart: Spräche Barton have reality only in marketing» (S 202) über Northbourne, so müsste er auch über Wie eingangs festgestellt ist Bartons Querverbindungen zwischen ‹organics› Buch ein kompaktes Dies hat den Vorteil, und ‹biodynamics› sprechen: Paull zufolge dass man es, Interesse an der Sache besuchte Northbourne nämlich 1939 vorausgesetzt, nicht nur ‹quer›, sondern den ‹Biodynamiker› Ehrenfried Pfeiffer ganz liest und dabei den ‹roten Faden› nie (1899–1961) in der Schweiz und organi- verliert Allerdings hat dies den Nachteil, sierte wenige Wochen vor Kriegsausbruch dass einzelne Aspekte zu kurz kommen auf seinem eigenen Gut die Betteshanger oder ausgeblendet bleiben Welche dies Summer School, in deren Verlauf Pfeiffer sind, lässt sich erahnen, wenn man die britischen Landwirt*innen die Biodynamie beiläufigen Bemerkungen über den von vermittelte 15 Und: Wenn Northbourne ‹westlicher› Agrarromantik beeinflussten Urheber des Begriffs «organic farming» ist, Gandhi und seine Parteinahme für die dann ist die Begriffsschöpfung eingefasst «rural economy» in ihrem Verhältnis zu in eine ins Englische übertragene von Stei- den Denkweisen anderer Bevölkerungs- ner geprägte Rhetorik: Letzterer sprach in gruppen im Indien zu Gandhis Zeiten liest Koberwitz unter anderem vom Bauernhof (S 48) und sich fragt, ob dieser Aspekt als «Organismus»,16 Northbourne unter nicht der Vertiefung bedurft hätte, um die anderem von der Farm als «living whole» mutmasslich komplexe soziale Gemenge- und von «balanced organic life» 17 lage rund um Howards Wirkungsstätte Wie schreibt Barton doch am Anfang: in Britisch-Indien zu verdeutlichen Aber «It is not possible to identify any single in- vielleicht ist dies zu viel der Erwartung tellectual cause of organic farming Instead Vielleicht ist überhaupt die Erwartung its roots reveal a tangled skein of interacting einer synthetisierenden «global history» forces » (S 2, Hervorhebung P H ) Diese in der Alternativlandwirtschaft zu hoch die Metapher des ‹verknäulten Gebindes› Diese Erwartung jedoch weckt der Titel gefasste Einsicht, wonach innerhalb der Ge- «The global history of organic farming» schichte der Alternativlandwirtschaft viele (Hervorhebung P H ) Dass die Würdigung mit vielen in vielschichtigen Beziehungen Howards bereits «A global history» ergeben standen, hätte zu mehr führen können als hätte, ist angesichts von Howards Mobilität zu einem ‹Heldenepos› über Albert Howard unstrittig, und einem Buch, dessen (Unter-) PETER F. N. HÖRZ Titel signalisiert, primär Howard würdigen zu wollen, könnte man verzeihen, dass andere Aspekte unterbelichtet bleiben Un- 13 Northbourne, Walter E.: Look to the Land. verständlich bleibt, dass Barton, der Kings London 1940, S. 103. Bedeutung für die Vorgeschichte der Alter- 14 Paull, John: Lord Northbourne, the man nativlandwirtschaften für unüberschätzbar who invented organic farming, a biography. hält, den asienbegeisterten Bodenforscher In: Journal of Organic Systems 9/1 (2014), S. 27–41. nur randständig thematisiert Auf den 15 Paull, John: The Betteshanger Summer ersten Blick noch unverständlicher ist, dass School: Missing link between biodynamic Baron Walter Northbourne (1896–1982) agriculture and organic farming. In: Journal of nicht erwähnt wird, der den Terminus Organic Systems 6/2 (2011), S. 13–26. 16 Steiner (Anm. 6), S. 202. «organic farming» 1940 als Antonym zu 17 Northbourne (Anm. 13), S. 99 und 97. 89 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Georget, Jean-Louis, Christine Hämmerling, gelegenheit, die das sogenannte Lawinen- Richard Kuba und Bernhard Tschofen wissen der Dorfbevölkerung voraussetzt (Hg.): Wissensmedien des Raums. Raum und Wissen ergänzen sich Interdisziplinäre Perspektiven. Der Sprachatlas der deutschen Schweiz Zürich: Chronos, 2019 (Zürcher Beiträge zur (SDS, 1939–1977), Rudolf Hotzenköcherles Alltagskultur 23), 304 S., Ill. epochales Werk, verzeichnet auf den Karten die Beispielwörter der Gewährsleute in Es ist die zweite Buchpublikation des Form von Symbolen, um die Übersicht zu deutsch-französischsprachigen Netzwerkes wahren So entstehen dialektale Räume Saisir le terrain / Terrain und Kultur von Die heutige Mobilität verändert nicht nur Forschenden aus Ethnologie, Soziologie, den Inhalt (die Ausdrücke), sondern auch Geografie und Kulturwissenschaft Füh- den Raum, wo die dialektalen Ausdrücke rend ist Jean-Louis Georget, der auch gleich vorkommen Dieser Veränderung von Raum den ersten Aufsatz beisteuerte, und es ist und Wissen trägt das SNF-Projekt Länder Bernhard Tschofen, der die Einleitung zu (2012–2017) Rechnung Beide Kartenwerke diesem 23 Band der Zürcher Beiträge zur zeigen: Sprache lässt sich sichtbar machen Alltagskultur schrieb Er holt zu einem Ein weiteres Beispiel dafür, wie Raum weiten Bogen aus, um die insgesamt drei- und Wissen zusammenspielen, ist der zehn Studien in ihrem thematischen Zu- Beitrag über das Museum Europäischer sammenhang zu zeigen Es geht um Raum Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin und Wissen oder Wissen und Raum, und Er zeigt, wie Inventarbücher und Kataloge dies innerhalb verschiedener Fächer und auf Papier Raum schaffen Es entstehen Studienfelder Zwar spielen ältere Vorstel- Regionen, repräsentiert durch Trachten lungen eine wichtige Rolle, aber es geht Während im 19 Jahrhundert nach dem vor allem um den technischen Fortschritt Prinzip der Herkunft (Bayern, Thüringen in den letzten dreissig Jahren, seit Medien etc ) inventarisiert wurde und man Einzel- eine allgegenwärtige Präsenz entwickelten teile durch Nummern und Buchstaben als und unsere Wahrnehmung von Raum zusammengehörig kennzeichnete, wurde grundlegend veränderten Raum ist hier 1935 das Trachtenensemble aufgelöst und nicht im Wortsinn eine Räumlichkeit, son- nach Kategorien abgelegt: Schürzen zu dern eine mentale Grösse, die auf verschie- Schürzen, Schuhe zu Schuhen etc Da das dene Weise konkretisiert werden kann Museum aber weiterhin regionale Trachten Eine Karte ist ein zweidimensionales ausstellen wollte, entstanden aus den vielen Medium, auf das zum Beispiel ein drei- Einzelkarten mit Büroklammern zusam- dimensionales Objekt wie ein Dorf inmitten mengeheftete Karteikartengruppen, die die der österreichischen Alpenlandschaft benötigten Einzelstücke zusammenzuführen eingetragen wird Dabei geht es darum, die und so eine Trachtengruppe zusammen- Gefährdung durch Lawinenabgänge auf den zustellen erlaubten Gemeint ist, dass erst umliegenden Hängen im «Gefahrenzonen- der spezifische Umgang mit der Inventur plan» (GZP) durch rote und gelbe Linien dem Wissen um Herkunft, Ort und Zeit zu markieren Grüne Linien für ungefähr- Raum gab für das Sichtbarmachen der für detes Gebiet gibt es nicht Ausserhalb der das Museum relevanten Regionen Heute markierten Gebiete sind auch Lawinen sind Querverbindungen am Computer ein möglich, die nur alle paar Jahrhunderte Kinderspiel, aber interessanterweise halten zu Tal donnern, aber umso zerstörerischer sich auch in der digitalen Abspeicherung sind Der GZP liefert die Grundlage für die Liste, Katalog und Karteikarte als mentale Erschliessung von Bauland: eine heikle An- Ordnungsgrössen, die es zu vernetzen gilt 90 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Landkarten aus Asien waren ganz Groth, Stefan, Sarah May und Johannes anders zentriert als Landkarten aus Müske (Hg.): Vernetzt, entgrenzt, prekär? Europa Landkarten spiegeln die Welt Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf aus der Sicht ihrer Schöpfer Eigentlich Arbeit im Wandel. eine Selbstverständlichkeit und doch eine Frankfurt am Main: campus, 2020 (Arbeit und schöne Überraschung, wie der Beitrag von Alltag), 304 S. Jean-Louis Georget zeigt Fotografien waren das Medium, mit welchem die Ethnologie Der Sammelband Vernetzt, entgrenzt, pre- sich Wissen und Raum schuf Fremde Völ- kär?, der auf die 18 Tagung der dgv-Kom- ker und ihre Sitten und Gebräuche wurden mission Arbeitskulturen im September 2018 dokumentiert, handwerkliche Skills im zurückgeht, hat zum Ziel, die vielfältigen Arbeitsprozess festgehalten, damit ihr Verhandlungen zu Prozessen der Vernet- Lebensraum sichtbar gemacht Die Fotogra- zung, Entgrenzung und Prekarisierung von fie löste die Malerei ab, die fotografische Arbeit aus empirisch-kulturwissenschaftli- Ausstellung in Museen galt als glaubwürdig cher Sicht aufzuzeigen Der Schwerpunkt und erlaubte den Betrachtenden, sich in der Tagung und des Bandes liegt auf den ferne Welten zu versetzen, ohne selber tiefgreifenden Wandlungsprozessen in der unbedingt hinreisen zu müssen Heute alltäglichen Arbeitswelt (S 9), mit speziel- wird der Zusammenhang mit der Kolonial- lem Fokus auf Arbeit im Wandel und in zeit sehr viel bewusster und kritischer gesellschaftlicher Diskussion (S 10) Dies betrachtet als zur Zeit der Aufnahmen geschieht entlang aktueller Forschungsinter- Nachbarschaft im städtischen Raum essen des Faches, auch in Reflexion der wird mithilfe von Erving Goffman un- thematischen Entwicklungen der dgv- tersucht, dessen Werk aus der Mitte des Kommission Arbeiterkultur respektive Ar- 20 Jahrhunderts spannende Einblicke beitskulturen vor dem Hintergrund der in zwischenmenschliche Beziehungen in Kommissionsjubiläen 2018 und 2019 (S 10) einem dualen Raum erlaubt Die Unter- Die Perspektiven von AlltagsakteurInnen suchung betrifft das Quartier Klarendal auf die Veränderungen von Arbeit und die in Arnheim (NL) und ist auf Englisch gesellschaftlichen Verhandlungen von Pro- geschrieben Zum Schluss müssen wir uns zessen des Wandels ziehen sich durch jeden der brutalen Wirklichkeit stellen, welche Beitrag des Sammelbandes (S 12) Im Zen- das Mittelmeer für Flüchtlinge bedeutet trum stehen Fragen nach Leitbildern, Bedeu- Ein Flüchtlingsboot verliert neunzig Pro- tungen, Wissensaushandlung und Zukunfts- zent seiner menschlichen Fracht, weil das szenarien der AkteurInnen Gesetz der unbedingten Hilfeleistung für Wie genau aber Arbeitskulturen im Schiffe in Seenot nicht befolgt wird Und Wandel sichtbar werden, wie der Wandel es ist nicht das einzige Beispiel Nur Skla- produziert und repräsentiert wird, sind venschiffe vom 17 bis zum 19 Jahrhundert Fragen, denen sich die AutorInnen aus hatten ähnliche Verluste zu verzeichnen, verschiedenen Perspektiven in dem hier wenn Kapitän und Mannschaft sich in eine vorliegenden knapp 300 Seiten starken prekäre Lage ohne Trinkwasser manövriert Sammelband widmen Die Beiträge sind hatten thematisch geordnet Die fünf Teile des Das Buch schliesst mit Abstracts in Bandes beschäftigen sich mit den Themen Französisch und in Englisch sowie mit «Entgrenzte und prekäre Arbeit», «Orga- einem kurzen Porträt der namhaften Auto- nisation von Arbeit», «Musealisierung von rinnen und Autoren Arbeit», «Musse, Balance und Glück» und PAULA KÜNG-HEFTI «Erwartungen und Zukunft» 91 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Im ersten Teil, «Entgrenzte und die Kalkulationswelten von LandwirtInnen prekäre Arbeit», macht Lina Franken den und ArbeitnehmerInnen auf, die von Anfang mit einem Beitrag über Entgren- inneren und äusseren Faktoren, enormem zungsprozesse im Berufsfeld LehrerIn Druck, Verlustängsten, Risikoabwägung, Franken zeigt auf, wie LehrerInnen im Gewinnoptimierung oder emotionalen Rahmen einer stark abgesicherten, nicht- und wirtschaftlichen Motiven geprägt prekären Beschäftigung unterschiedlich sind (S 70) Der Beitrag zeigt auf, wie mit den an sie gestellten Anforderungen LandwirtInnen und migrantische Saisonar- umgehen und dabei über das Mass an beitskräfte kalkulieren müssen und dabei Entgrenzung wie auch über ihr kreatives auf unterschiedlichen Formen des Wissens Engagement im Beruf selbst entscheiden zurückgreifen, um Risiken abzuwägen Dabei entwickeln die in ihrer beruflichen und diese auszuhandeln Einerseits geht Absicherung privilegierten AkteurInnen es seitens der LandwirtInnen darum, den im Spannungsfeld zwischen individuellen Ertrag zu kalkulieren und zu planen, der Idealvorstellungen und vorhandenen Res- mit klimatischen Bedingungen, Mindest- sourcen sowie gesellschaftlichen Normen, lohnverordnungen und der Marktsituation staatlichen Regulationen und gesetzlichen zusammenhängt, andererseits aufseiten Vorgaben unterschiedliche Strategien aus, der SaisonarbeiterInnen um den zu die einen Mittelweg darstellen und sich am erwartenden Lohn in Abwägung gegen persönlichen Interesse der Lehrkraft sowie die Reise- und Aufenthaltskosten und die pragmatisch an Vorwissen und Vorarbeiten Entbehrungen infolge der Abwesenheit von orientieren (S 40) der Familie Eine andere Form der Privilegierung Der zweite Teil des Bandes, «Orga- greift Linda M Mülli auf Die Autorin nisation von Arbeit», zentriert Fragen zu verdeutlicht, dass eine zunehmende Pre- Organisationsformen und Veränderungs- karisierung nicht nur auf gesellschaftlich prozessen von Arbeitskulturen Michael schwache Gruppen, sondern ebenso auf Maile thematisiert die Praktiken und privilegierte AkteurInnen zutreffen kann Inhalte des «change management» Über Privilegierung in Verschränkung mit narrative Interviews erarbeitet Maile Prekarisierung zeigt vielmehr ein Span- die Positionierungen, Involviertheit und nungsfeld der sozialen Praktiken, Diskurse Gestaltungsoptionen von Führungskräften und insbesondere der Subjektivierungs- mit Schwerpunkt auf der prozessualen mechanismen rund um das prekarisierte Transformation von Arbeitskulturen Arbeiten im UN-Kontext auf (S 62) Mülli sowie den Deutungen, Intentionen und stellt dar, dass junge ArbeitnehmerInnen Handlungen der AkteurInnen (S 106) Ins- in den Vereinten Nationen prekäre besondere geht es ihm um die Perspektive Beschäftigungen in Kauf nehmen in der der Führungskräfte, ihre Gestaltung von Hoffnung, eine gut bezahlte Stelle in der Veränderungsprozessen und das Span- internationalen Organisation zu erreichen nungsverhältnis zwischen eigenem Verän- Durch diese Form privilegierter Prekarisie- derungswillen und den Vorstellungen der rung sind diese Stellen von vornherein nur betroffenen MitarbeiterInnen Sein Beitrag Gruppen mit hohem sozioökonomischem zeigt einen reflektierten Umgang der Ak- Kapital zugänglich (S 62) teurInnen mit tradierten Ordnungen sowie Mit einer etwas anderen Ausrichtung die Vorbereitung von neuen Ordnungen von Entgrenzung und Prekarisierung im Arbeitsumfeld Mailes Forschung gibt beschäftigt sich Judith Schmidt Die Autorin dabei Einblicke in die Kulturen der Trans- zeigt entlang ihrer Dissertationsforschung formation der Arbeitswelten, offenbart aber 92 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres auch die individuellen Anstrengungen der Der dritte Teil des Bandes beschäftigt Selbstoptimierung und Selbststeuerung der sich mit der «Musealisierung von Arbeit» beforschten Führungskräfte (S 106) Zwei Beiträge stellen Museumsprojekte und Auf eine andere Perspektive der damit historische Perspektiven auf Arbeit Arbeitsorganisation verweist Roman ins Zentrum Nathalie Feldmann, Ophelia Tischberger in seinem Beitrag Tischberger Gartze, Katharina Löw, Catharina Rische zeigt auf, wie SoftwareprogrammiererIn- und Tim Schaffarczik berichten über ein nen mit der Alltäglichkeit von Fehlern gemeinsames Ausstellungsprojekt in Wal- umgehen und wie diese die Praxis der denbuch und Freiburg Die Ausstellungen Softwarearbeit prägt (S 125) Bei diesem waren Ergebnis eines Studienprojekts zur Umgang spielen sowohl individuelle Alltagskultur der Arbeit der empirisch- Interpretationen, die Möglichkeiten und kulturwissenschaftlichen Institute in Funktionsweisen der Software wie auch Freiburg und Tübingen Im Mittelpunkt des die betriebliche Arbeitsorganisation eine Projekts stand die Vielseitigkeit von Arbeit, Rolle bei der Entwicklung von Strategien, vor allem die verschiedenen Perspektiven die Fehler zwar als Makel definieren, aber auf Arbeitskulturen im Wandel Anhand bei der Verhandlung von Konzepten der von vier Objekten beziehungsweise Inven- Fehlervermeidung unterstützen Dabei tarien aus Sammlungsbeständen aus den handelt es sich laut Maile um den Versuch, beiden Ausstellungen werden Deutungen den Dualismus zwischen Unerwünschtheit des Wandels von Arbeit dargestellt (S 154) von Fehlern und Allgegenwärtigkeit Die AutorInnen zeigen auf, dass Arbeit den aufzulösen, indem Strategien angewendet sozialen Alltag prägt und ihrerseits durch werden, die diese Fehler positiv wenden bestimmte Imaginationen, Deutungen und und kultivieren (S 125) Bewertungen geprägt ist, Perspektiven, die Der Beitrag über logistische Arbeitsor- auch über Zeugnisse aus alltagskulturellen ganisation von Clément Barbier und Cécile Sammlungen und Archiven untersucht Cuny zeigt Effekte der veränderten Orga- werden können (S 155) nisationsformen für die Logistikbranche Simone Egger berichtet über das von In einem deutsch-französischen Vergleich ihr massgeblich mitgestaltete Museum kontrastieren die AutorInnen sowohl Wattens in Tirol Der Ort ist von einem die Rahmenbedingungen der Arbeit in ansässigen grossen österreichischen Unter- Lagerhallen wie auch die subjektiven und nehmen geprägt Das Museum und seine kritischen Deutungen von ArbeiterInnen neue Dauerausstellung können laut Egger und deren individuellen Widerstandstra- als Spiegel der Alltags- und Industriege- tegien (S 148) Prekarität wird dabei als schichte und als Ort des Wissens und des eigene Logik der Arbeitsorganisation Austauschs verstanden werden, indem das definiert (S 147) Diese Gegenüberstellung Lokale als Aushängeschild dient (S 187) macht einerseits deutlich, wie verschieden Thema der Ausstellung ist der historische prekäre und flexible Arbeitsverhältnisse Alltag der Menschen in Wechselwirkung gedacht werden, unter anderem als mit der Geschichte des ortsansässigen Spannungsfeld zwischen Arbeitslosigkeit Unternehmens (S 187) Dabei steht aber und begrenzten Arbeitsverhältnissen, als nicht nur die Musealisierung der (histo- Kontrast zu stabilen Arbeitsverhältnissen, rischen) Arbeit im Zentrum Analog zur als bestimmte Wahl oder als Notsituation Musealisierung der fordistischen Arbeit, Andererseits stellen Barbier und Cuny die die soziale und kulturelle Entwicklung fest, dass es ähnliche Deutungsmuster in des Ortes massgeblich geprägt hat, wurde Deutschland und Frankreich gibt (S 148) mit der Werkstätte Wattens ein Zentrum in 93 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres der Marktgemeinde eingerichtet, das Arbeit bei der individuellen Deutung und subjek- im postfordistischen Sinne weiterdenkt tiven Aushandlung des Verhältnisses von (S 186 f ) Arbeit und Freizeit nicht stehen bleiben Das Themenfeld «Musse, Balance und darf (S 227) Vielmehr zeigt die skizzierte Glück» ist im vierten Teil des Sammelban- Diskussion das Autonomiepotenzial und des zentral Das Spannungsverhältnis von die Heteronomiegefahr im Zusammenhang Arbeit und Nichtarbeit thematisiert Inga mit der Entgrenzungsdebatte und dass die Wilke am Beispiel von sogenannten Musse- individuell-narrative Konstruktion positiver kursen, in denen TeilnehmerInnen sich mit Bezugnahmen auf aktuelle Phänomene Entspannungstechniken auseina ndersetzen, diesbezüglich hinterfragt werden muss um Überforderungen im Zusammenhang (S 227) mit der Erwerbstätigkeit zu begegnen Da- Im letzten Beitrag des vierten Teils bei nehmen die AkteurInnen verschiedene zeigen Dorothee Hemme und Ann-Kathrin Abgrenzungen zwischen Musse, Freizeit Blankenberg, dass erfahrungsbasiertes und Arbeit vor Wilke stellt dar, dass die Können in handwerklichen Arbeitsfeldern Idee getrennter Sphären der Arbeit und der im Hinblick nicht nur auf technische Nichtarbeit analytisch nicht haltbar ist, da Innovation, sondern auch auf individuelles in ihnen gemeinsame übergeordnete Logi- Glück als massgeblich für die Zukunfts- ken wirken Allerdings wird die Tendenz fähigkeit dieses Wirtschaftsbereichs zur Entgrenzung von Arbeit von den Ak- angesehen werden kann (S 244) Die teurInnen aufgedeckt und pro blematisiert, Autorinnen diskutieren sowohl das subjek- indem das Bedürfnis, zwischen Arbeit tive Wohlbefinden mit sozialen Aspekten und Nichtarbeit klar zu trennen, kommu- handwerklicher Tätigkeit als auch die niziert wird (S 208) Musse wird dabei materiellen Resultate der Arbeit als zusam- als Potenzial definiert, das in den von den menhängende Faktoren des Handwerks- AkteurInnen vorgenommenen Ab- und stolzes Im Zentrum steht die Bedeutung, Entgrenzungen von Arbeit und Nichtarbeit welche der monetäre und nichtmonetäre analytisch greifbar wird (S 208) Wert handwerklicher Tätigkeit für das Indi- Eine weitere Form des Spannungs- viduum hat, und der übergeordnete volks- verhältnisses von Arbeit und Nichtarbeit wirtschaftliche Nutzen, der daraus gezogen beziehungsweise Arbeit und Freizeit analy- werden kann (S 243) Die Aushandlung siert Stefan Groth am Beispiel von Debatten von kreativen Lösungsansätzen, die die über «Work-Life-Balance» im Sinne eines Langlebigkeit von handwerklichen Produk- Selbst- und Fremdmanagements des ten garantiert und Zeichen für die erfolgrei- Verhältnisses zwischen unterschiedlichen che Bewältigung neuer Herausforderungen Sphären von Arbeit und Nichtarbeit und in dem sich wandelnden Berufsalltags ist, der Zugehörigkeit und Orientierung zu trägt, so Hemme und Blankenberg, zur einer (gesellschaftlichen) Mitte (S 226 f ) Identifikation mit dem Beruf bei (S 244) Modelle wie Teilzeit, Gleitzeit oder Der letzte Teil des Sammelbandes Home-Office-Arrangements werden in die- beschäftigt sich mit Fragen zu «Erwartun- sem Kontext einerseits als Anforderung an gen und Zukunft» von Arbeitskulturen die ArbeitnehmerInnen definiert, mit der Manfred Seiferts Studie über die Werte von Beanspruchung durch das Berufsleben gut Professionals im Zuge von Bewerbungsab- umzugehen Andererseits werden sie als läufen und persönlichen Neuorientierungs- Versprechen verstanden, ein zufriedeneres prozessen entwickelt Idealtypen hinsicht- und ausgeglicheneres Leben zu führen lich der Wünsche und Erwartungen an eine Dabei hebt Groth hervor, dass die Analyse sinnhafte und qualitätsvolle Arbeit Der 94 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Beitrag gibt Einblick in die Sicht jüngerer Hinrichsen, Jan: Unsicheres Ordnen. Berufstätiger auf das Themenfeld Arbeit, Lawinenabwehr, Galtür 1884–2014. die sie während der Bewerbung um einen Diss. Tübingen 2019. Tübingen: Mohr Siebeck, (Folge-)Arbeitsplatz in Interviews darleg- 2020, 305 S. ten (S 252) Monika Litschers Studie über die Ein- Was macht eine Katastrophe zu einer Kata- stellungen von liechtensteinischen jungen strophe? Wie gehen Menschen mit Krisen Erwachsenen zur Arbeitswelt zeigt ähnliche um? Wie sind Ordnung und Bedrohung Ergebnisse Das Beispiel zeigt, wie globale voneinander abhängig? Wie entsteht und Prozesse, Verflechtungen und konkrete vergeht (Un-)Sicherheit? – Diese Fragen, Arbeitskulturen im Spannungsfeld von die angesichts der weltweiten Covid-19- Zukunftsängsten und Bewertungen der Zu- Pandemie aktueller nicht sein könnten, kunftsfähigkeit zusammenspielen (S 295) stehen im Mittelpunkt der 2020 erschiene- Fähigkeiten wie Offenheit, kritisches und nen Dissertation von Jan Hinrichsen Am vernetztes Denken, Berücksichtigung von Beispiel der Lawinenabwehr der Tiroler Kontexten und Zusammenhängen, Flexibi- Gemeinde Galtür erkundet er den Wandel lität und Kreativität als Zeichen der Qualifi- der dort angewandten Sicherheitstechnolo- kation sind in diesem Spannungsverhältnis gien und beschreibt, wie Wissensordnun- zentral (S 295) und zeigen auf, wie die gen Katastrophen hervorbringen und wie jungen Erwachsenen nach dem Ideal einer Katastrophen Wissensordnungen bedingen sinnvollen und nützlichen Beschäftigung Mit kulturwissenschaftlicher Scharfsicht streben und einem passgenauen theoretischen Der Band bietet eine differenzierte Instrumentarium verfasst Hinrichsen eine und durchaus diverse Annäherung an Ar- wissensanthropologische Analyse, deren beitskulturen im Spannungsfeld von Ver- Aussagekraft weit über die Grenzen seines netzung, Entgrenzung und Prekarisierung Forschungsfeldes hinausweist und gerade und öffnet einen Diskussionsraum für theo- für die Untersuchung von Alltagen in der retische und methodische Zugriffe auf das Pandemie ein gutes begriffliches und ana- Thema Zwar fokussiert ein Grossteil der lytisches Angebot bereithält Beiträge vorwiegend auf Aspekte der Ent- Am 23 Februar 1999 riss eine Lawine grenzung und Prekarisierung, Vernetzung in der Gemeinde Galtür 31 Menschen aus wird weniger thematisiert Mit Vernetzt, dem Leben, übersprang Geländegrenzen entgrenzt, prekär? liegt ein lesenswerter und Schutzvorrichtungen, zerstörte Stras- Sammelband vor, der den Fokus auf Arbeit sen und Gebäude und brach mit den bis im Wandel und in der gesellschaftlichen dato gültigen Gewohnheiten und Erfahrun- Diskussion um Fragen nach Organisations- gen der lawinenerprobten Bewohner*innen formen, Wissensaushandlung, Zukunfts- des Ortes Drei Ordner im Gemeindearchiv praktiken und emotionalen Erwartungen bezeugen den Versuch, die Katastrophe und Erfahrungen erweitert, aber auch rückblickend zu ordnen und sie sinnhaft zahlreiche theoretische und thematische in den Galtürer Alltag einzubinden Diese Impulse setzt drei Ordner nimmt Hinrichsen zum Aus- VALESKA FLOR gangspunkt seiner Untersuchung: In ihnen findet sich das Erfahrungswissen, vor dessen Hintergrund sich die Katastrophe als unvorhersehbar formierte; sie enthalten ausserdem die nach der Zäsur neu ausge- handelten Umgangsformen mit der nun 95 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres anders eingeschätzten Lawinenbedrohung Natur und Kultur) infrage (S 51) Die durch Hinrichsen fragt nach «den Wechselwirkun- Katastrophen fraglich gewordenen und neu gen zwischen der Katastrophe und ihrer verhandelten Ordnungen materialisieren Verarbeitung, zwischen ihrem Wesen und sich beispielsweise in Sicherheitstechno- dem Umgang mit ihr, zwischen der ‹alten logien, denen sich Hinrichsen vermittels Erfahrung› und deren Ungültigkeitser- des «Vokabular[s] der Assemblage» (S 55) klärung» (S 6) und fokussiert sowohl das nähert (Kapitel 3) Assemblages versteht Davor als auch das Danach der Katastrophe er mit Rabinow und Foucault als «fluide, Als empirische Basis dienen neben den im dynamische und vorläufige Dispositive» Archiv vorgefundenen Plänen, Gutachten (S 62), die es ermöglichen, «Macht-Wissen- und Dokumenten auch Interviews Komplexe als resolut heterogene, mithin In zwei der Analyse vorgeschalteten materiell verfasste und dynamische Gefüge Kapiteln widmet sich Hinrichsen vor allem zu beschreiben, die in einem Wechselbezug der begrifflichen Schärfung seines analy- zu historischen Problemen und momenta- tischen Instrumentariums Er orientiert nen Destabilisierungen stehen» (S 71) sich dabei am Theorieangebot des Tübinger Basierend auf diesen Vorüberlegungen Sonderforschungsbereichs (SFB) 923 «Be- entwirft Hinrichsen eine Genealogie der drohte Ordnungen», in dessen Zusammen- Sicherheitstechnologien der Galtürer Lawi- hang die Forschung entstand Die Begriffe nenabwehr (Kapitel 4) und zeigt auf, «wel- und Arbeitsdefinitionen des SFB bettet der ches Ensemble von Diskursen, Praktiken Autor in eine breitere kulturtheoretische und Dingen die Bedrohung durch Lawinen Landschaft ein 18 In einem Überblick jeweils diagnostizierbar und bearbeitbar über Katastrophen als Gegenstände der gemacht hat» (S 88) Anhand von drei Kulturwissenschaft (Kapitel 2) skizziert Zeitschnitten verfolgt er den Wandel dieser Hinrichsen den multidimensionalen Ordnungspraktiken und zeigt, wie sich der Zusammenhang von Kultur – verstanden Umgang mit der Bedrohung durch Lawinen als Ordnung, die Selbstverständlichkeit in Galtür veränderte, um zu verstehen, vor erzeugt – und Katastrophe, die erst vor welchem Hintergrund sich die Katastrophe dem Hintergrund dieser Ordnung zur von 1999 formierte Mit der Einrichtung Katastrophe werden kann (S 45 f ) 19 Kata- der kaiserlich-königlichen forsttechnischen strophen perpetuieren (Neu-)Verhandlun- Abteilung für Wildbachverbauung im Jahr gen von Ordnungen und deuten auf deren 1884 datiert der Autor einen entscheiden- Verwundbarkeit (S 46) Sie sind dabei den Wendepunkt im Umgang mit alpinen weder reine Konstrukte noch vorkulturelle Gefahren – nämlich deren «Verstaatli- Gegebenheiten, sie materialisieren sich als chung» (S 97), durch die Lawinen zum Zeichen und Zerstörung – und stellen damit «Objekt gouvernementaler Regierungs- Dichotomisierungen (beispielsweise von praktiken» (S 98) werden Im Zeitraum von 1884 bis 1935, dem ersten Zeitschnitt, 18 Zum SFB 923 siehe beispielsweise Frie, richteten sich die Sicherheitstechnolo- Ewald; Meier, Mischa: Aufruhr – Katastrophe – gien vor allem auf den Schutz einzelner Konkurrenz – Zerfall. Bedrohte Ordnungen Häuser und besonders exponierte Lagen als Thema der Kulturwissenschaft. Tübingen Unter dem Eindruck eines katastrophalen 2014. 19 Siehe dazu Hinrichsen, Jan; Johler, Reinhard; Lawinenabgangs in Galtür im Winter 1919 Ratt, Sandro: Vorwort: Katastrophen/Kultur. verstärkte man ab 1920 Schutzmauern und Eine Begriffswerkstatt. In: dies. (Hg.): Kata- traf individuelle Vorkehrungen Die sich so strophen/Kultur. Beiträge zu einer interdis- formierende «Objektschutz-Assemblage» ziplinären Begriffswerkstatt. Tübingen 2019, S. 7–10. basierte auf dem Erfahrungswissen, das 96 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres den Bewohner*innen von Galtür beispiels- geschützt beziehungsweise verwaltet wer- weise in Form der Lawinenchronik zur den mussten Darüber hinaus gab es nicht- Verfügung stand, und suchte vor allem markierte Zonen, über deren Gefährdung den Schaden potenzieller Lawinenabgänge der Plan keine Aussage machte Die Pläne zu begrenzen Mit einem 1935 startenden basierten auf Erfahrungswissen und wis- Grossprojekt erweiterte sich der Fokus der senschaftlichen Berechnungen sowie Kal- Sicherheitstechnologie: Neue Schutzmass- kulationen und bildeten eine Raumordnung nahmen bezogen sich auf den gesamten ab, die Räume nicht als sicher, sondern als Gemeinderaum Hinrichsen erkennt darin mehr oder weniger unsicher konstituierte ein Anzeichen für die «Vergesellschaftung» Die Assemblage der Gefahrenzonenplanung von Sicherheit, die sich nunmehr nicht nur veranschaulichte eine Ordnung von Raum auf Einzelne bezog, sondern sich eine Ge- und Wissen und machte diese zur Grund- meinschaft zum Horizont setzte (S 109) Im lage der Galtürer Lebensführung Zeitraum von 1950 bis 1980, dem zweiten Die Katastrophe vom 23 Februar 1999 Zeitschnitt, verstärkte sich diese Tendenz lag ausserhalb der «Bemessungs- und Dar- Unter dem Eindruck des Lawinenwinters stellungsgrundlagen» (S 198), wie sie etwa 1950/51 und vor dem Hintergrund des mas- der Gefahrenzonenplan abbildete Sie brach siv ansteigenden Fremdenverkehrs richtete mit allen Erfahrungen und Berechnungen sich die Sicherheitstechnologie nicht mehr und erforderte nicht nur eine Revision nur auf individuelle Schadensbegrenzung der Wissensbestände, sondern zog eine möglicher Lawinenabgänge, sondern Neuordnung des Galtürer Alltags nach sich setzte bei der Prävention von Schaden (Kapitel 5) Hinrichsen beschreibt, wie die an (S 118) Mit dem 1958 projektierten Katastrophe durch verschiedene Praktiken Bauvorhaben «Lawinenvorbeugung Galtür» «in Ordnung» gebracht wurde und wie sich rückte der Wald als Schutz vor Lawinen, daraus eine neue Sicherheitstechnologie den es selbst zu schützen galt, ins Zentrum als «Assemblage der Unsicherheit» (S 255) der Aufmerksamkeit Die «Vorbeugungs- formierte: Das Ermittlungsverfahren Assemblage» fokussierte vor allem eine gegen Unbekannt der Staatsanwaltschaft gezielte Aufforstung und wollte damit auch befasste sich mit der Vorhersehbarkeit der die Erschliessung neuer Siedlungsgebiete Katastrophe und fand letztlich keine Schul- und das Wachstum der Gemeinde ermög- digen, denn das Ausmass der Lawine hatte lichen Der Wald als Schutz vor Lawinen sich als nicht wissbar erwiesen Ein neu wurde zur Existenzgrundlage von Galtür ausgearbeiteter Katastrophenschutzplan und die Sicherheitstechnologie zielte auf regelt die Praxis nach dem Eintritt einer eine Lebens weise, die diese erhielt Lawi- potenziellen Katastrophe, verteilt Aufgaben nengefahr wurde zu einem «Problem der und Zuständigkeiten und plant die Erreich- Lebensweise und Kultur» (S 130), Regieren barkeit und Versorgung aller Menschen in zur «kulturellen Aufgabe» (S 133) Der Galtür Damit entwirft er «eine Ordnung, in dritte Zeitschnitt von 1975 bis 1999 wird der sich die Lawine aktualisieren kann – durch die Reform des Landesforstgesetzes aber eben nicht als Katastrophe, sondern im Jahr 1975 begrenzt, welche Gefahren- als erwartbares und regierbares Ereignis» zonenpläne verordnete und damit «Gefah- (S 218) Ein neu errichteter Schutzbau renzonierung» zur neuen «Leittechnologie fungiert nicht nur als Barriere für die der Lawinensicherheit» (S 125) machte Die Schneemassen, sondern beherbergt auch Gefahrenzonenp läne zeigten gelbe und rote das Alpinarium, ein Hybrid aus Erinne- Zonen, die bei potenziellen Lawinenabgän- rungsstätte, Ausstellung und Forschungs- gen Gefahr verhiessen und entsprechend institut, mit dem sich die Galtürer*innen 97 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres einen Raum der Selbstver(un)sicherung ist ein guter Ausgangspunkt für weitere schufen und es gleichzeitig schafften, die Erkundungen des Zusammenspiels von Katastrophe in Wert zu setzen (S 233) Im Ordnung und Bedrohung und bietet gerade Alpinarium wird das Leben im hochalpinen auch für die Analyse des Alltags in der ge- Raum als Leben mit der Bedrohung durch genwärtigen Pandemie viel Inspiration und Lawinen dargestellt und nach einer Lebens- zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten weise gefragt, die «die Verwundbarkeit der HELEN AHNER menschlichen Existenz» (S 256) integriert Im Alpinarium und durch die «Assemblage der Unsicherheit» wird der Umgang mit Imeri, Sabine: Wissenschaft in Netzwerken. der Lawinengefahr endgültig zu einer Volkskundliche Arbeit in Berlin um 1900. Frage der Kultur: «Nach 1999 sind die Diss. Universität Berlin 2015. Berlin: Panama, Sicherheitstechnologien immer noch Tech- 2019, 424 S. nologien, aber solche der Regierung der Praktiken des Lebens, und sie zielen immer Geschichtsschreibung produziert Bilder des noch auf Wissen, aber auf ein anderes, Vergangenen, konstruiert dabei aber immer kulturelles, und damit auf eines, das sich auch Gegenwart – das ist eine Binsenwahr- nicht gegen die Unsicherheit in Stellung heit Dass dies nicht nur für die Herstellung bringt, sondern in dem diese Unsicherheit von historischem Wissen gilt, sondern auch aufgehoben ist, ein Wissen, dessen Ort für dessen Rezeption, wird beim Lesen der der Alltag der Gemeinde Galtür darstellt: anregenden Studie Sabine Imeris zur volks- Nach 1999 wird der Alltag der Ort der kundlichen Arbeit in Berlin um 1900 ein- Problematisierung von Naturgefahr und zur mal mehr bewusst Sie eröffnet mit ihrer Zielscheibe von Regierung und profunder wissenshistorischen Perspektive gegenwär- Regulierung » (S 255) tigen Leser*innen, die selber verstrickt Hinrichsen zeichnet den Wandel von sind in Fragen der (digitalen) Vernetzung Sicherheitstechnologien nach und zeigt die und von Modi der Zusammenarbeit aus Wechselwirkung von Ordnungen und Be- dem Home-Office, erhellende Einsichten in drohung, Alltag und Katastrophe Er zeigt, den Netzwerk charakter von Wissenschaft welche Rolle Wissen dafür spielt, wie es Die Studie wurde 2015 als Dissertation an zustande kommt, sich materialisiert und in der Humboldt- Universität Berlin einge- Ordnungen manifestiert Er zeigt auch, dass reicht und liegt nun als umfangreiche Pu- diese Ordnungen verwundbar sind und blikation vor dass es gerade ihre Verwundbarkeit ist, die Im Zentrum der Arbeit stehen vier sie kontingent und dynamisch macht Vereine, die um 1900 massgeblich an der Die Arbeit ist theoretisch und empi- Produktion und der Zirkulation volkskund- risch fundiert, argumentiert klar und birgt lichen Wissens in Berlin beteiligt waren: sowohl Erkenntnisse über die Galtürer die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Lawinenabwehr als auch über den Umgang Ethnologie und Urgeschichte, der Verein mit Katastrophen und Bedrohung im des Museums für deutsche Volkstrachten Allgemeinen sowie als Gegenstand der und Erzeugnisse des Hausgewerbes, der Kulturwissenschaft Ganz besonders in der Verein für Volkskunde sowie die Bran- Analyse der Genealogie der Sicherheitstech- denburgia, Gesellschaft für Heimatkunde nologien entfaltet Hinrichsens Ansatz sein der Provinz Brandenburg Ihre Forschung Potenzial in ganzer Breite, kommen empi- möchte die Autorin jedoch explizit nicht risches Material und kulturtheoretische als Vereinsgeschichten im traditionellen Rahmung zu ihrer vollen Geltung Das Buch Sinn verstanden wissen, sondern sie will 98 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Einblicke gewähren in die «Komplexität bedienten und innerhalb deren sie ihr und die Dynamiken spezifischer, lokal Milieu stabilisierten Dieser Teil entwickelt kontextualisierter Akteurskonstellationen, seine Argumentation nun nicht mehr Netzwerke und Beziehungen» inner- und entlang der Vereine, sondern zieht vier ausserhalb akademischer Wissenschafts- Querschnitte entlang kommunikativer institutionen (S 8 f ) Die Studie vollzieht Milieupraktiken Diesen Begriff verwendet damit einen Perspektivenwechsel von einer Imeri in Abgrenzung und Erweiterung der wissenschaftsgeschichtlichen zu einem Wissenspraktiken Sie steht damit dezidiert wissensgeschichtlichen Ansatz und trägt für ein Kommunikationsmodell ein, wel- so zur Historisierung der gegenwärtigen ches die sozialen Strukturen mitdenkt, in «Wissensgesellschaft» bei die Wissensproduktion und -vermittlung Für ihre Forschung hat sich Imeri eingebunden sind, die diese erzeugen und durch eine sehr grosse Zahl heterogener tradieren Quellenbestände durchgearbeitet Ihre Verhandelt werden erstens die äusserst detaillierte und mitunter «kleintei- «materiellen Bedingungen der Vereins- lige» (S 25) Recherche lässt den Leser, die arbeit», worunter Imeri konkrete Orte Leserin tief eintauchen ins Berliner volks- wie Versammlungsorte und Bibliotheken kundliche Milieu, was es zuweilen etwas subsumiert Zudem thematisiert sie Bücher schwer macht, den Überblick zu behalten und den Umgang damit Doch ist dieses Vorgehen Programm: Erst Zweitens beschreibt Imeri detailliert durch die akribische Ausbreitung konkreter die Vereinssitzung als kommunikative Verbindungen, Orte und Ereignisse wird Praxis mit wiederkehrenden, ritualisierten klar, wie vielschichtig und verästelt die Handlungsschemen, einem ausgefeilten Beziehungsnetze waren Apparat zur Fixierung flüchtiger kommu- Die Arbeit Imeris ist in zwei grosse nikativer Akte (Protokolle, Berichte etc ), Kapitel gegliedert Im ersten Teil stehen zugleich aber auch als gesellige Struktur, die beteiligten Akteure im Zentrum, wobei was die Autorin letztlich zum Schluss Imeri die einzelnen personellen Konstel- bringt, Vereinssitzungen als Events zu lationen und institutionellen Kontexte in charakterisieren Berlin um 1900 als spezifisches «volks- Ein dritter Fokus ist auf «zirkulierende kundliches Wissensmilieu» charakterisiert Objekte» gerichtet Die Vereine bemühten Dabei zeigen sich viele der beteiligten sich, Sitzungen und Treffen interessanter, Personen als regelrechte «Multivereinsmen- «anschaulicher» zu machen durch Vorlage, schen» (S 41), die in verschiedenen gemeinsame Diskussion und das Einholen Organisationen aktiv waren und diese auch von Expertise von Objekten beziehungs- untereinander vernetzten Entlang der vier weise von Fotografien davon Sie dienten Vereine stellt die Autorin solche Vernet- dem Einüben eines «wissenschaftlichen zungen detailliert dar und charakterisiert Blicks» und der Schulung von spezifischen jeweils zentrale Akteure Sie macht damit Darstellungs- und Wahrnehmungsformen, ein weitverzweigtes, disziplinär und sozial zudem ermöglichten sie partizipative heterogenes Netzwerk sichtbar Wichtig Kommunikationsformen Damit kam den erscheint überdies die Verortung in Berlin, Objekten stabilisierende und integrierende da die Grossstadt als gemeinsamer Erfah- Funktion für das volkskundliche Wissens- rungs- und Handlungsraum fungierte milieu zu Der zweite Teil des Buches widmet Schliesslich wendet sich Imeri noch sich sodann den spezifischen Praktiken einem ganz spezifischen, um 1900 sehr und Infrastrukturen, derer sich die Akteure populären Format zu, den sogenannten 99 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Projektionsabenden, an denen fotogra- testen Soziologen Deutschlands geworden fische Bilder (Dias) gezeigt, kommentiert ist Wobei der Vergleich mit Reckwitz nicht und diskutiert wurden Sie vereinigten zuletzt deswegen bedenkenswert ist, weil Wissensvermittlung und Unterhaltung und beide sehr unterschiedlichen Theoriepro- können als Orte der Medialisierung von grammen folgen: Reckwitz einer subjekt- Wissenschaft verstanden werden zentrierten Handlungstheorie, Nassehi Imeris Arbeit ist eine wesentliche einer funktionalistischen Systemtheorie Stimme in der aktuellen wissenshisto- Letzteres Theorieprogramm erklärt rischen Diskussion Sie charakterisiert auch, weshalb Nassehi, anders als Reck- die Berliner Volkskunde um 1900 als «öf- witz, kulturanthropologisch kaum rezipiert fentliche Wissenschaft», die mitten in der wird, und auch sein neues Buch, formal ein stadtbürgerlichen Gesellschaft situiert war Grossessay, eher auf wenig Verständnis in Dabei überzeugt die Studie gerade deshalb, einem Fach stossen wird, das eine eigene weil sie nie nur als Lokalstudie verstanden Protestforschung herausgebildet hat Bei werden will, sondern als Forschung, die Nassehi gibt es entsprechend all das, das regionale, lokale Setting thematisiert, was Kulturanthropolog*innen am Protest um daran grundlegende Fragen nach der interessiert, nicht: keine politische Welt- gesellschaftlichen Einbettung von Wissen- aneignung durch Praxis, kein Aufbegehren schaft anzuschliessen Das reicht weit über subalterner Subjekte gegen die Macht, auch Berlin um 1900 und die Volkskunde hinaus keine individuellen Strategien, Utopien und Deshalb ist das Buch allen zu empfehlen, Fantasien, die die Protestierenden leiten, die sich für aktuelle wissenshistorische motivieren und affizieren Fragestellungen interessieren Gut systemtheoretisch sieht Nassehi MISCHA GALLATI Protest stattdessen, um es in dem ihm eigenen Sound zu formulieren, als Mög- lichkeit der Bearbeitung kommunikativer Nassehi, Armin: Das grosse Nein. Anschlussprobleme, die sich über die Logik Eigendynamik und Tragik des kommunikativer Funktionsregeln ergeben gesellschaftlichen Protests. Nassehis Buch ist entsprechend, wie übri- Hamburg: Kursbuch.edition, 2. Auflage, 2020, gens all seine populäreren Texte, eine Ein- 150 S. führung in die luhmannsche Systemtheorie Folglich sind die bekannten Zauberformeln Wozu Protest? «Protest löst das Bezugspro- Luhmanns auch hier enthalten: Gesellschaft blem, Themen in der Gesellschaft sichtbar als synchrone Unterscheidungskommuni- zu machen, die durch die etablierten In- kation, funktionale Ausdifferenzierung, stanzen und ihre Verfahren zwar bearbeitet, System-Umwelt-Differenz, Medienevolution aber letztlich nicht sichtbar gemacht wer- treten genauso auf wie die einschlägigen den können, beziehungswiese nach Auffas- Lieblingswörter Bielefelder Provenienz; sung der Protestierenden nicht genügend permanent wird etwas – vornehmlich Aufmerksamkeit oder Durchschlagskraft Kommunikation – bearbeitet, erwartet, erhalten Exakt das ist die Funktion des beobachtet, entschieden, enttäuscht Nassehi Protests: Themen so zu setzen, dass man an versteht es ausgesprochen gut, diese For- ihnen nicht vorbeikommt » (S 81 f ) Und meln und Begriffe so zu integrieren, dass exakt das ist der Sound, den man aus er dem Leser, der Leserin den Eindruck Nassehis Bestsellern und publizistischen vermittelt, recht schwere Theoriehappen Beiträgen kennt, mit denen er, neben verdauen zu müssen, Happen, die aber auf Andreas Reckwitz, zum derzeit prominen- mundgerechte Art zubereitet sind 100 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Dies erreicht Nassehi durch pointierte testpartei demnach entstanden, weil keine Formulierungen, über die man auch Oppositionspartei im deutschen Bundestag deswegen gerne nachdenkt – sofern einem die Flüchtlingspolitik der schwarz-roten nicht grundsätzlich alles sauer aufstösst, Koalition entschieden abgelehnt habe; und was nur nach Systemtheorie riecht –, weil deswegen habe sich auch Fridays-for-Future man sie nach einigem Rätseln doch recht gegründet, neben dem Rechtspopulismus bald auflöst Etwa wenn er zu seiner Aus- Nassehis zweites Beispiel, an dem er seine gangsannahme schreibt: «Kommunikation Überlegungen darlegt: Die etablierten Par- ist das Management von Nicht-Kausalität in teien würden klimapolitische Kompromisse dem Sinne, dass wir alle kausalen Bewir- schliessen, wodurch es unmöglich sei, dass kungsformen eben nicht Kommunikation ein politischer Akteur, worunter im Grunde nennen würden » (S 15 f ) Oder, gleichsam nur Parteien fallen, entschieden «Nein» als Kondensat des systemtheoretischen zum Klimawandel sagen könne; auch nicht Katechismus: «Information selbst ist nichts die Grünen, deren Parteiräson auf dieser anderes als Abweichung, etwas, das einen Position eigentlich aufbaue Unterschied macht, Erwartung enttäuscht Tatsächlich erhalten diese zunächst oder schlicht ein Nein in die Welt bringt, äus serst erwartbaren und enttäuschungs- wo man zuvor mit unproblematischem armen Erklärungen erst dadurch eine Anschluss gerechnet hätte » (S 20 f ) intellektuelle Flughöhe, dass Nassehi sie in Woraus dann, bezogen auf sein eigentliches seinen radikalen Systemfunktionalismus Thema, folgt: «Es ist das Protestpotenzial einfügt Fridays-for-Future und Pegida – von Kommunikation, das dafür gesorgt hat, mithin alle Protestbewegungen – bearbeiten dass der kommunikative Haushalt der AfD das beobachtungstheoretische Problem, heute als radikal gelten kann und muss, dass die Systeme, auf denen Gesellschaft wobei der Erfolg der AfD und ihrer Begleit- funktional aufbaue, diese Gesellschaft nie- semantik – oder ist sie nur die Begleitpartei mals in ihrer Gesamtheit beobachten könn- einer inzwischen etablierten Semantik? – ten: Politik kann nur Politik sehen, Religion selbst wiederum Ausdruck symmetrischer nur Religion, Wirtschaft nur Wirtschaft, Nein-Stellungnahmen ist » (S 60) Familie nur Familie, bis hinunter – so Luh- Nassehis Argumentation, die mit Blick manns berühmtes Beispiel – zum Skatspie- auf die politische Kultur der Schweiz einen ler, der in dem Moment aufhört, Skatspieler besonderen Dreh erhält, geht folgender- zu sein, in dem er andere Probleme erkennt massen: Weil (politische) Kommunikation als die drängende Frage, welches Blatt die schnell ermüde, wenn sie nur aus Konsens Mitspielerin wohl auf der Hand trägt So bestehe, brauche sie Widerworte, Ableh- lautet schliesslich das systemtheoretische nung, Negation In politischen Entschei- Ausgangsparadox: In der Moderne beginnt dungsverfahren, insbesondere in jenen, die man überhaupt erst, die Welt als Ganzes zu deliberativ-konsensual ausgerichtet sind, beobachten, kann aber dieses Ganze nur seien solche Neinstellungnahmen indes nur noch als imaginäre Menge ausdifferenzier- sehr begrenzt möglich Deshalb tauchten ter Systeme erkennen, wodurch das Ganze dann Akteure ausserhalb der Verfahren seine Ganzheit verliert auf, die dieses «Nein» formulieren, was Protestbewegungen simulieren nun, wiederum die Kommunikation innerhalb folgt man Nassehi, die Möglichkeit, dass der Verfahren antreibe Liest man dies so, man die Welt aus einem Guss jenseits dann ist das Argument weder besonders von Systemgrenzen beobachten könne: neu noch besonders ambitioniert: Die AfD Während die Grünen im Bundestag nur sei, befeuert von Pegida-Protesten als Pro- im Modus Zustimmung beziehungsweise 101 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Ablehnung operierten, etwa ob man ein grosse Ganze zu betrachten, worauf sich Gesetz zur CO2-Bepreisung annehme oder Politik wiederum beziehen kann, um sich nicht, könne Fridays-for-Future ökologische zu legitimieren, indem sie sich als für das Fragen semantisch auch als moralische grosse Ganze verantwortlich erklärt Fragen, als ökonomische Fragen, als gene- Bereits diese kurze Skizze muss rationelle Fragen etc adressieren Protest Kritiker*innen der Systemtheorie in ihrem erreiche dies durch die Kommunikation Hauptvorwurf bestätigen: Systemtheorie mittels «Chiffren», in denen diese ganze sei wie eine unsichtbare Hand, die alle Welt zusammenfalle: «Kapitalismus», Konflikte, alle Widersprüche, alles Chaos in «Klima», «Volk», «Gerechtigkeit» seien, so ein homöostatisch perfekt ausbalanciertes Nassehi, deswegen in Protestbewegungen Gefüge integrieren könne; mithin, so zentrale Begriffe, weil man sich über diese der Vorwurf weiter, meine diese ihrem Begriffe integrativ auf alle gesellschaftli- Selbstanspruch nach Supertheorie sogar, auf chen Subsysteme zugleich beziehen könne alles anwendbar zu sein und alles erklären Protest komme daher in besonderer Weise zu können Diesen Vorwurf teilt der Rezen- die Funktion zu, holistische Selbstbeschrei- sent zwar nicht, weil eine Theorie, die alles bungen von Gesellschaft zu ermöglichen: erklären kann – von der globalen Wirt- Pegida und Fridays-for-Future rekurrierten schaftswelt über die Skatspielrunde bis hin weniger auf die Frage, wie Migrations- oder zum Funktionieren von Gehirnströmen –, Klimapolitik ablaufen solle, als auf die ja nicht per se schlecht sein muss Es wäre, Frage, was wir für eine Gesellschaft sind – im Gegenteil, geradezu komisch, wenn wozu eben auch die Frage gehört, wer die Leistungsfähigkeit einer Theorie darin dieses wir eigentlich sei bestehen würde, wenig zu erklären bezie- Daraus entstehen wiederum Feedback- hungsweise statt im scheinbaren Chaos der effekte in Richtung der Politik, nämlich Empirie eine Ordnung zu erkennen, dieses indem erfolgreiche Proteste Entschei- Chaos noch zu vergrössern Liest man dungsträger*innen dazu zwingen, ihre Nassehis Buch mit kulturanthropologischen Entscheidungen mit Blick auf die vom Augen – und einer grossen Sympathie für Protest dominant vorgebrachten Chiffren sein Theorieprogramm – muss man einen und Semantiken zu begründen So sei es anderen Vorwurf geltend machen: Das Buch nicht möglich, Klimapolitik zu betreiben, ist nicht geeignet, Zweifel auszuräumen, ohne Fridays-for-Future zu beachten, noch weil Nassehi zu sehr von theoretischen könne Migrationspolitik nach Pegida Setzungen ausgeht, diese aber nicht em- ohne – ablehnende oder zustimmende – pirisch-deduktiv herleitet, was die Stärke Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus anwendungsbezogener Systemtheorie ist – gestaltet werden Politik brauche nämlich, etwa in den Arbeiten von Maren Lehmann, und das ist Nassehis Pointe, den Protest André Kieserling und nicht zuletzt in und vor allem die sozialen Ganzheitsfik- Nassehis eigenen qualitativ-methodischen tionen, die Protest produziert, um operieren Erhebungen etwa im Feld der Medizinethik zu können Schliesslich werde Politik nur Viel zu häufig haben Nassehis Sätze die so dem Anspruch gerecht, für alles verant- Form eines: «Kommunikation ist dies», wortlich zu sein, obgleich Politik funktional «Politik tut das», «Protest will jenes», ohne letztlich nur für Politik verantwortlich diese Propositionen überzeugend herzu- sei Das ist die Dialektik, die Nassehi im leiten Teilt man diese Setzungen nicht, Protest erkennt: Der Protest delegitimiert dann fällt seine Argumentation zusammen die Politik mit dem Vorwurf, nur kleintei- Gerade um argwöhnische Leser*innen, lige Kompromisse zu machen, anstatt das etwa kulturanthropologische Protestfor- 102 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres scher*innen, einzuladen, wäre es hilfreich sein Selbstbewusstsein, ja, seine Grossspu- gewesen, stärker von der positiv-empiri- rigkeit heraus schen Protestkommunikation auszugehen, Nicht zuletzt, und damit komme ich um daraus die theoretischen Annahmen zum Anfang der Rezension zurück, ist das zu entwickeln Doch auch für den system- Buch selbst als kulturanalytischer Gegen- theoretisch bereits Bekehrten ist Nassehis stand interessant, weil man sich doch fra- Buchs nicht gänzlich gelungen: Wer sich gen muss, weshalb gerade Nassehi – neben mit Systemtheorie ein wenig auskennt, Reckwitz – mit seiner Art, Soziologie zu wird nämlich viele der Überlegungen, die betreiben, derart einflussreich ist, mithin Nassehi vorträgt, aus Luhmanns Die Politik so sehr, dass er als wichtigster Vordenker der Gesellschaft bereits kennen und nur eines grünen Regierungsprojekts in der wenig Neues erfahren Post-Merkel-Ära gilt Dieser Frage kann an Trotzdem sei das Buch empfohlen, dieser Stelle nicht weiter nachgegangen insbesondere skeptischen Kulturanthro- werden, sollte aber bei der Lektüre des polog*innen Schliesslich kann man Buches unbedingt gestellt werden In der von Nassehi eine gewisse Chuzpe, ja Antwort müsste dann, um überzeugend zu Selbstbewusstsein – um nicht zu sagen: sein, nicht nur starkgemacht werden, dass Grossspurigkeit lernen, die einem Fach, das Nassehis selbstkritischer Liberalismus sehr sich für die scheinbar kleinen Dinge des gut in die Zeit passt, sondern auch, dass Alltags interessiert, mitunter nicht schaden Nassehi es versteht, kluge und herausfor- könnte Nassehi kennt nämlich keinen ana- dernde Bücher zu schreiben, die gerade lytischen Skrupel, empirische small sites, dann besonders lohnend sind, wenn man etwa eine recht marginale Dresdner Mon- sich über sie aufregt und ihnen widerspre- tagsdemo oder ökologiebewegte Jugend- chen will liche, mit ziemlich grossen Perspektiven SEBASTIAN DÜMLING zusammenzubringen, wie dem Medien-, Wissens- und Institutionenumbau der Mo- derne, einer neuzeitlichen Ideengeschichte Mould, Tom: Overthrowing the Queen. des Politischen oder der Phänomenologie Telling Stories of Welfare in America. interpersonaler Kommunikation Nassehi Bloomington: Indiana University Press, 2020, 384 betreibt diese Verknüpfungen aus Kleinem S., Ill. und Grossem mühelos, wie man sich dies als Kulturanthropologe wohl kaum trauen So narrativ unfertig sie oft daher kommt, würde, weil man als solcher bereits genug ist die Sage doch wirkmächtiger als jede damit zu tun hätte, die empirischen Daten andere Erzählgattung der Gegenwart Sie kritisch aufzubereiten Insofern kann man verdankt dies ihrer Nähe zum Gerücht, das leicht die Nase rümpfen, wie beziehungs- kommunikativ besonders wendig und weise dass Nassehi all die auf gerade mal multim edial reist; die Sage verleiht diesem 160 Seiten zusammenbringt Man kann noch etwas mehr Kontur und bietet er- sich auch fragen, ob das alles so aufgehe, kennbare Örtlichkeiten und verbürgende wenn man tiefer ins empirische Material Gewährspersonen (in der Sagenforschung eintauchte Und genau das war für den FOAF, von «friend of a friend», genannt), Rezensenten der grösste Lektüregewinn: die ihren Rezipienten den Sprung von Nassehi permanent kritische Fragen zu Zweifel zu Glauben (und Weiterverbrei- stellen, eigene Gegenpositionen zu formu- tung) erleichtern Die letzten Jahre der lieren, widersprechen zu wollen – dies medialen Auseinandersetzung um Fakten fordert Nassehi gerade durch seine Chuzpe, haben diese Macht besonders deutlich 103 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres gezeigt So projizieren die übelsten, leider kanisches Phänomen und deshalb lohnt oft auch mächtigsten Gerüchteverbreiter die Lektüre dieses Buches: Auch in euro- gerne das Label «fake news» auf die Aufklä- päischen Gesellschaften grassiert der stete renden, seien es Journalist:innen oder Wis- Verdacht, dass Arbeitslose, Geringverdie- senschaftler:innen, und gewinnen damit nende, Flüchtende und andere Menschen noch mehr Aufmerksamkeit für ihre verun- in Not das «System» ruchlos ausnutzen sichernden Geschichten – und gleichzeitig würden Diese Sagen sind manchen Steuer- sind die Aufklärenden selbst gelegentlich zahlenden, insbesondere jenen, die selbst nicht gefeit gegen die Überzeugungsschlei- nicht zu den Grossverdiener:innen gehören, fen einer guten Geschichte Auch Letzteres willkommene, gar einleuchtende Legiti- verfolgt der amerikanische Erzählforscher mation ihrer Unzufriedenheit im e igenen Tom Mould in seinem jüngsten Buch Over- Daseinskampf Die Frustration, dass man throwing the Queen, worin er einen Sagen- sich selbst manches immer noch nicht komplex bis zu seiner letzten Konsequenz leisten kann, schürt den Glauben, dass durchleuchtet: die Figur der schwarzen andere mit unlauteren Mitteln zu beeindru- Sozialhilfebetrügerin, deren narrative Ge- ckenden Autos und Pelzmänteln gekommen nese und Verankerung im Land der unbe- seien Auch dass ein Topverdiener wie grenzten Möglichkeiten (für nur eine be- Reagan solches Erzählmaterial nutzte, um grenzte Anzahl von Menschen), deren die Solidarität unter Menschen niedriger Einfluss auf und Widersprüche in der ökonomischer Lage zu brechen, ist eine Sozial hilfegesetzgebung und Verarbeitung politisch weitverbreitete Taktik Reagans in der Lebenswelt sowohl von Wohl- Pressesprecher gab sogar zu, dass die fahrtsempfänger:innen wie Angestellten Geschichten nicht wahr seien, aber dass sie von Wohlfartsinstitutionen, und die Not- das auch nicht zu sein bräuchten, solange wendigkeit, diesem Narrativ ein Ende zu die symbolische Wahrheit nicht anfechtbar bereiten sei (S 245) Diese fatalen Mechanismen Die Geschichte der «Welfare Queen» aus der Perspektive der Erzählforschung wurde in verschiedenen Permutationen zu betrachten und fruchtbar zu machen für vom Hollywood-Schauspieler und späteren den gesellschaftspolitischen Diskurs, ist US-Präsidenten Ronald Reagan sehr effek- das Verdienst des vorliegenden Buches tiv zurechtgeschneidert für verschiedene Nicht nur unterhaltsame Sammlun- politische Kampagnen In einer Rede gen moderner Sagentexte, sondern auch zeichnete er das Bild einer Frau, die über beeindruckende Analysen moderner Sagen mehrere Sozialversicherungsnummern in ihrer techno- und ethnophoben bis und Namen und verstorbene Ehemänner rassistischen und Diskriminierung schü- massiven Wohlfartsbetrug betreibe – renden Auswirkung sind seit den frühen Veteranenwitwenrente, Essensmarken, 1990er-Jahren von Erzählforscher:innen Gesundheitsversorgung etc , was alles zu vorgelegt worden, Gary Alan Fine, Patricia einem steuerfreien Einkommen von über Turner, Diane Goldstein oder Andrea Kitta 150 000 Dollar beitrage (S 43) Reagan gehören unter anderen zu den amerikani- hat eine Sage dieser Art von den frühen schen Beispielen Was Tom Mould, welcher 1960er-Jahren bis zu seiner Präsidentschaft Kulturanthropologie und Folklore an der 1980–1988 eingesetzt Während dieser Butler University in Indianapolis unter- Zeit wurde die Sage mit weiteren Motiven, richtet, auszeichnet, ist die Ausweitung der die gesellschaftlich dicht zirkulier(t)en, Fragestellung auf die gesamtgesellschaft- angereichert Der narrative «Erfolg» der liche und politische Wirkung sagenhafter Sozialhilfekönigin ist kein rein US-ameri- Geschichten und seine Bemühung darum, 104 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Strategien zu entwickeln, um sie zu eine gewinnbringende Stärkung des Ansat- bekämpfen Sein in vier Teile gegliedertes zes für interdisziplinäre Zusammenarbeit Buch wechselt die Pers pektive zwischen ebenso wie politische Aufklärung öffentlichem Diskurs und erzählender Hierzu gehört auch das feldforschende Erfahrung und Dynamik und rückt sie Interview, das ein wesentliches Standbein einander immer näher So lässt sich der genutzten Methodik darstellt und es auch zeigen, wie dicht verschränkt die Mould erlaubt, weit über sagentypische Seiten sind und wie schwer es ist, die zur Erzählfragmente hinauszugehen Die Sage verdichteten Halbwahrheiten über Ergebnisse hiervon werden im zweiten Teil gelebte Armut und Notlagen aus dem fruchtbar gemacht Gemeinsam mit Studie- politisch-moralischen Diskurs zu entfernen renden hat Mould zwischen 2012 und 2016 und gleichzeitig die politisch-moralische über 150 Gewährspersonen interviewt, die Notwendigkeit, in einem gesellschaftlichen meist temporär von dieser oder jener Form Ganzen Notleidende zu unterstützen, von Sozialhilfe abhängig waren oder die als anzuerkennen Der erste Teil erklärt Angestellte oder Betreuende Wohlfahrtsfälle unter anderem das (eigentlich dürftige) unterschiedlichster Art begleiten Zugang amerikanische Wohlfahrtssystem in seinen und Vertrauen der Gewährspersonen wurde vielen unterschiedlichen Programmen dadurch gewonnen, dass das Projekt ge- und Akronymen, gestützt von Statistiken, meinsam mit Akteur:innen in öffentlichen die bereits verdeutlichen, wie stereotype und privaten Wohlfahrtsinstitutionen – von Wahrnehmungen durch Zahlen hinterfragt Gratiskliniken, öffentlichen Wohnbauver- werden können In diesem Teil hebt Mould waltungen bis zu kirchlichen Wohlfahrts- hervor, was die erzählforschende Fokussie- organisationen – Kontakte aufbauen rung auf Genres an analytischem Gewinn konnte Diesen Institutionen lag gleicher- bringt in einem sozialwissenschaftlichen massen daran, die Sagen über die «Welfare Feld, wo der Begriff des Narrativs heute Queen» auszuhebeln und die Alltagspro- undifferenziert genutzt wird «For some blematiken ebenso wie die tatsächlichen social scientists», so Mould, «narrative ana- sozialstatistischen Fakten dargestellt zu lysis need not be grounded in specific past sehen So wurde es möglich, ausführ liche events but instead [they] can find actors, Gespräche mit Menschen zu führen, die das settings, complications, and resolutions in Stigma erfahren, meist temporär auf Ar- ideology rather than action» (S 33) Für die beitslosengeld, Essensmarken, unterschied- kulturanthropologische Erzählforschung lichste Hilfsversicherungen und Ähnliches dagegen sind Erzählende und deren Posi- zugreifen zu müssen, und dies oft über tionaliät, Erzählsituationen und Medium lange Zeit nicht tun, um nicht stigmatisiert zentral, ebenso wie deren Wahl von Erzähl- zu werden Durch Elternschaft, Krankheit genres: «Form impacts function and vice und vor allem Arbeitsverlust müssen sie versa It is the formal qualities of narrative sich dann doch in die Warteschlange vor that makes it so compelling, recognizable, Sozialämtern eingliedern, und im Rückblick and memorable and provide clear bounda- wiegt oft das Stigma – verstärkt nicht ries so it can be decontextualized from one zuletzt durch die eigene Vertrautheit mit setting and retold in another » (S 33 f ) «Welfare Queen»-Sagenmotiven – genauso Diesen Ansatz und seine Werkzeuge für schwer wie die Notlage Diese persönlichen eine breitere (und auch studentische) Alltagsgeschichten sind die zweite Erzähl- Leserschaft zu verdeutlichen und ihn mit gattung, die das Buch analysiert Der dritte weiteren wissenschaftlichen Nutzungen des Teil untersucht wiederum Geschichten Narrativbegriffs zusammenzuführen, ist und andere Vermittlungsformen wie Car- 105 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres toons und Wahlwerbung im öffentlichen hoheit gerade bei Sagenstoffen sieht und im Bereich, die in oft gegensätzlicher Weise vorliegenden Werk überzeugend darstellt Unterstützung aus der öffentlichen Hand Moulds Anliegen ist eine offene statt und deren Empfängerinnen thematisieren einer narrativ-ablenkenden, unterhaltenden Wie tief angelegt auch die Zeitungs- und Auseinandersetzung um Sozialhilfe und Social-Media-Recherche ist, sei hier nur deren Verankerung in der Demokratie erwähnt – sie gehört zu der hier prakti- Die analysierten Sagen ebenso wie die zierten holistischen Sagenanalyse, die, Alltagsgeschichten der Interviewten, gerade was die digitale Verbreitung betrifft, die hier verwoben werden, kreisen um auch eine empirische Herausforderung Fragen, die jede Gesellschaft und jedes darstellt Der vierte Teil verdeutlicht gewählte Parlament immer wieder aufs erneut den erzählforschenden Beitrag der Neue diskutieren müssen (gelistet wird Studie, diesmal im interpretierenden statt hier die amerikanische Variante auf S 20) formalen Sinn Besonders beeindruckt das Sozialhilfebetrugsgeschichten als Sagen Kapitel «Truth and Doubt in Contemporary zu entlarven – selbst oder gerade wenn sie Legend» Hier schlägt Mould vor, statt die von einem Präsidenten propagiert werden – Überzeugungsarbeit für die Wahrheit einer und an ihre Seite die Lebenserfahrung und Sage, wie Erzähler:innen dies oft praktizie- den Kampf gegen Stigma von zeitweiligen ren, zu fokussieren, die Zweifel in den Blick Sozialhilfeempfänger:innen zu stellen, ist zu nehmen, die seitens der Rezipient:innen eine lohnende, wenn auch mühselige Ar- generiert werden (S 246) Sagen(weiter) beit Im medial verdichteten Erzählgewebe erzählende haben oft wenig Hemmung, der Gegenwart reisen Sagen nach wie vor aus einer FOAF-Geschichte, eine ISIM- geschmeidiger Aber der Aufwand, sie zu (I-saw-it-myself-)Geschichte zu machen, hinterfragen, lohnt gerade weil dieser generische Wechsel REGINA F. BENDIX vom «Fabulat» zum «Memorat» nicht nur performativ wahrhaftiger klingt, sondern auch weil der Inhalt kongruent ist mit der Clalüna-Zbinden, Ruth und Peter Zbinden eigenen Weltsicht, in diesem Fall was die (Hg.): Photo Zbinden. Drei Generationen Wohlfahrtsleistungsproblematik und den Fotografie in Schwarzenburg, 1916–2016. Sozialhilfeschwindel betrifft Mould legt Bern: Stämpfli, 2019. 176 S., Ill. diese konversationelle Erzähldynamik of- fen, auch um auf eines der wenigen Schar- Das grossformatige Fotobuch zeigt die niere hinzuarbeiten, die einem Zuhörenden 100-jährige Geschichte einer Fotografen- Gelegenheit geben, Zweifel zu äussern dynastie, die das Leben in und um Schwar- Wird aus einer ISIM- wieder eine FOAF- zenburg, Kanton Bern, im 20 Jahrhundert Geschichte, ergibt sich Diskussionsraum, festhielt und deren Name Zbinden auch in welchem die stereotypen Motive, aus nach der Aufgabe des Geschäfts weiterlebt welchen sich Sagen um Wohlfahrtsschwin- Der Fundus umfasst rund eine halbe Mil- del speisen, zu durchleuchten Eine aktive lion Fotografien, Filme und Abzüge und Bekämpfung von schädigenden Sagen wird soll aus dem Fotohaus an der Thunstrasse zumindest im Bereich von Industriesagen von Schwarzenburg ins Staatsarchiv nach seitens der betroffenen Konzerne betrieben; Bern transferiert werden Bei den Vorberei- Mould sieht darin eine Möglichkeit, dem tungen dieser Übergabe entstand die Idee, Sagenkomplex der Sozialhilfekönigin diesen Schatz der Region zugänglich zu entgegenzuwirken – wiewohl er die queck- machen, schliesslich waren die Bilder Zeit- silbrige Qualität, das Entgleiten der Erzähl- zeugen der BewohnerInnen von Schwar- 106 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres zenburg und der umliegenden Dörfer Da- und Berichte verkaufte Nach seinem Tod niel Jaun von der Stiftung Schloss 1963 übernahmen seine Kinder Peter und Schwarzenburg, grosszügige SponsorInnen die um sieben jüngere Ruth das Geschäft und die Fotohistorikerin Nora Mathys er- Sie hatten beide im Ausland studiert, die möglichten 2018 die Ausstellung «Archiv Welt gesehen, und sie verwandelten das Photo Zbinden» Ruth Clalüna-Zbinden und Fotoatelier in ein Fotostudio Ihr Anspruch ihr Bruder Peter wählten zweihundert aus- an die ästhetische Qualität der Fotografien sagekräftige und repräsentative Fotos aus, stieg, und es kamen neue Erwerbszweige ordneten sie sowohl chronologisch als auch und technisches Know-how hinzu thematisch und haben damit die Kultur- Die ordnende Hand, die aus der geschichte von Schwarzenburg in unser enormen Fülle von Material ein stimmiges Bewusstsein gerückt Übrigens wurde die Porträt der hundert Jahre schuf, gehörte Dissertation von Nora Mathys 2014 im Ruth Clalüna-Zbinden Der Begleittext SAVk, Nr 1, rezensiert beschränkt sich auf das Wesentliche Das Erinnerungswerk ist kein Katalog Doch hier und da hilft ein Kommentar der Ausstellung – die Initianten führten die zu einem Bild, es richtig einzuschätzen: interessierten BesucherInnen persönlich ein armer Knecht, ein selbstbewusstes durch die Ausstellung –, sondern eine Trachtenmädchen, die schönsten Kühe der liebevolle Hommage der dritten Generation stolzen Grossbauern … KonfirmandInnen, an die Vorgänger Rudolf Zbinden gründete fein säuberlich getrennt in Arm und Reich, zusammen mit seiner Frau Lisi 1916 das den Hinweis auf Verdingkinder, die nicht Geschäft in Schwarzenburg Ein Selbst- nur ärmlich gekleidet sind, sondern auch porträt zeigt das Paar, das viel Energie mit verhärmten Gesichtern wie alte Frauen ausstrahlt Die Tuberkulose suchte die aussehen Familie heim, und Rudolf starb in jungen Solche Fotobücher sind wertvoll, weil Jahren Seine Witwe führte das Geschäft sie den Alltag in all seinen Facetten als Bild weiter, 1934 übernahm der jüngere Bruder, festhalten und damit eine alte Zeit, die gar Robert Zbinden, den Fotohandel Er hatte nicht so weit zurückliegt, dokumentieren seine Lehre bei Rudolf gemacht, da es an und uns zugänglich machen Das Gedächt- Lehrstellen mangelte Er baute nun seine nis der Bilder ist unserem Gedächtnis oft Arbeit als Fotograf aus An der Thunstrasse überlegen und somit eine unschätzbare richtete er ein Fotoatelier ein Buch und Hilfe Photo Zbinden schreibt Geschichte Ausstellung zeigen sehr schön, wie er es und ist selber zu Geschichte geworden verstand, die Menschen von Schwarzenburg Schwarzenburg hat sich sehr verändert, und Umgebung lebensnah zu porträtieren vor allem das bäuerliche Element ist stark Die Themen reichten von der Geburt bis zurückgegangen Die Fotografie wandelt zum Tod und erfassten jeden Einzelnen Na- sich mit dem Smartphone zur Momentauf- türlich ging es um Auftragsarbeiten, aber nahme; diese wird ganz neu und anders er war auch interessiert an der Arbeitswelt, eingeordnet werden müssen am Gewerbe, an Freizeitbeschäftigungen im PAULA KÜNG-HEFTI Rahmen von Vereinen, an kirchlichen und anderen festlichen Anlässen, überhaupt am Leben auf dem Dorf Seine Preise waren im Übrigen recht bescheiden Aus eigenem Antrieb machte er auch Serien, die er zu Reportagen verarbeitete und an Zeitschriften als journalistische Beiträge 107 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres Eingesandte Bücher EgE, Moritz und Johannes MosEr (Hg ): Ur- VEx lEg xi cPF und Claudia MagErl (Hg ): ban Ethics Conflicts over the Good Das Schwert von Vindonissa Hones- and Proper Life in Cities London: tus – Die Geschichte eines Legionärs Routledge, 2020, 304 S , Ill Baden: hier + jetzt, 2020, 164 S , Ill HänEl, Dagmar et al (Hg ): Planen Hoffen WilkE, Inga et al (Hg ): Produktive Unpro- Fürchten Zur Gegenwart der Zukunft duktivität Zum Verhältnis von Arbeit im Alltag Münster: Waxmann, 2021 und Muße Tübingen: Mohr Siebeck (Bonner Beiträge zur Alltagskultur- (Otium Studien zur Theorie und forschung), 240 S K ulturgeschichte der Muße 14), 314 S HEiMErdingEr, Timo und Markus TauscHEk (Hg ): Kulturtheoretisch argumentie- ren Ein Arbeitsbuch Münster: UTB, Stand, 28 Februar 2021 Waxmann 2020, 554 S , Ill JoacHiM, Valerie: Care Macht Arbeit Lebenswelten von Alleinerziehenden Campus, 2020 (Arbeit und Alltag) 314 S lauTErbacH, Burkhard: Die Ferien sind vor- bei Überlegungen zur Kulturanalyse touristischer Reisefolgen Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 2021 (Kulturtransfer – Alltagskultu- relle Beiträge 11), 301 S May, Sarah (Hg ): Alltag findet Stadt Müns- ter: Waxmann, 2020 (Freiburger Studien zur Kulturanthropologie, S onderband 4), 176 S , Ill Mould, Tom: Overthrowing the Queen Telling Stories of Welfare in America Bloomington: Indiana University Press, 2020, 384 S , Ill siMon, Michael (Hg ): Audiovisionen des Alltags Quellenwert und mediale Weiternutzung Münster: Waxmann, 2020 (Mainzer Beiträge zur Kultur- anthropologie/Volkskunde 20), 187 S uHlig, Mirko und Dominique conTE (Hg ): Recht gläubig? Kulturwissenschaft- liche Perspektiven auf das Verhältnis von Religion und rechtlicher Normie- rung im Alltag Münster: Waxmann, 2020 (Mainzer Beiträge zur Kultur- anthropologie/Volkskunde 19), 186 S 108 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Buchbesprechungen / Comptes rendus de livres AutorInnen Tabea Buri, M A , Museum der Kulturen Basel, Münsterplatz 20, CH-4001 Basel tabea buri@bs ch Benedikt Hassler, Dr des , Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für S oziale Arbeit, Institut Integration und Partizipation, Von-Roll-Strasse 10, C H-4600 Olten benedikt hassler@fhnw ch Nikolaus Heinzer, Dr , Universität Zürich, Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft – Populäre Kulturen, Affolternstrasse 56, CH-8050 Zürich nico heinzer@t-online de Karin Kaufmann, M A , Fellowship Museum der Kulturen Basel, Münsterplatz 20, CH-4001 Basel kaufmann karin@icloud com Martina Röthl, PhD, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Seminar für E uropäische Ethnologie/Volkskunde, Olshausenstrasse 40, D-24098 Kiel roethl@volkskunde uni-kiel de Christophe Roulin, Dr des , Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für S oziale Arbeit, Institut Integration und Partizipation, Von-Roll-Strasse 10, C H-4600 Olten christophe roulin@fhnw ch Dominik Wunderlin, lic phil , Hardstrasse 122, CH-4052 Basel dominikwunderlin@gmx ch 109 SAVk | ASTP 117:1 (2021) Richtlinien für die AutorInnen Die wissenschaftliche Zeitschrift Schweizerisches Archiv für Volkskunde (SAVk) veröffent- licht Originalarbeiten (Abhandlungen, Debatten, Forschungsberichte und Miszellen) zu volkskundlich-alltagskulturellen, kulturanthropologischen, regionalethnografischen und kulturwissenschaftlichen Themen und diesbezügliche Besprechungen über Neuerschei- nungen Die Abhandlungen erscheinen auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch und umfassen maximal 45 000 Zeichen (inklusive Leerzeichen und Abstract) Originalarbeiten sind in digitalisierter Form an das Herausgeberteam Dr Sabine Eggmann (sabine eggmann@unibas ch) und Ass -Prof PD Dr Konrad J Kuhn (konrad kuhn@uibk ac at) ein zureichen Buchbesprechungen sind direkt an die Verantwortliche für die Rezen- sionen, Dr Meret Fehlmann (fehlmann@isek uzh ch), einzureichen Richtlinien zur formalen Gestaltung der Beiträge finden sich unter www volkskunde ch/ sgv/publikationen/zeitschriften/schweizerisches-archiv-fuer-volkskunde Die Auswahl der Beiträge erfolgt durch das Herausgeberteam nach einem anonymisierten Begutachtungsverfahren (double-blind peer-review) Die Redaktionskommission sowie der wissenschaftliche Beirat des SAVk wirken an diesem Auswahl- und Begutachtungsverfah- ren mit Instructions aux auteur-e-s La revue scientifique Archives suisses des traditions populaires (ASTP) publie des travaux originaux (thèses scientifiques, débats, comptes rendus de recherche ou billets) sur des sujets du folklore et de la culture du quotidien, d’anthropologie culturelle, d’ethnographie régionale et des sciences de la culture ainsi que des critiques de parutions dans ces do- maines Les textes sont publiés en allemand, français, italien ou anglais et n’excèdent pas les 45 000 signes (espaces et abstracts inclus) Les textes originaux sont à envoyer par mail à l’équipe éditoriale: Dr Sabine Eggmann (sabine eggmann@unibas ch) et Ass -Prof PD Dr Konrad J Kuhn (konrad kuhn@uibk ac at) Les comptes rendus de lecture sont à envoyer directement à la personne en charge des critiques, Dr Meret Fehlmann (fehlmann@isek uzh ch) Vous trouverez les instructions pour la mise en pages sous www volkskunde ch/sgv/pu- blikationen/zeitschriften/schweizerisches-archiv-fuer-volkskunde La sélection se fera par l’équipe éditoriale selon une évaluation anonyme (double évalua- tion anonyme par les pairs) Le comité de rédaction ainsi que le comité scientifique des ASTP participent à ce processus de sélection et d’évaluation 110 SAVk | ASTP 117:1 (2021)