Gedanken zur Schuldenprävention. Was kann man aus anderen Handlungsfeldern der Prävention lernen? Fachtagung Schuldenprävention - „Gesundheitsförderung durch Schuldenprävention“ 30. November 2022, Zürich Prof. Carlo Fabian Institut Soziale Arbeit und Gesundheit, FHNW-HSA Wie es zu dieser Fragestellung kam • Lange Tradition der Prävention den Kontexten Sucht oder Gewalt -> meine Expertise • Schuldenprävention ist neuer, hat weniger Modelle, präventive Interventionen, Erfahrungen und wissenschaftliche Evidenz -> Kann die Schuldenprävention allenfalls von der der Sucht- oder Gewaltprävention profitieren? • Beitrag an der Tagung «Armutsbekämpfung durch Schuldenprävention», 2017 in Olten • Buchbeitrag: Fabian Carlo (2019). Ein Blick aus der Sucht- und Gewaltprävention auf die Schuldenprävention: Was kann man lernen? In: Mattes Christoph, Knöpfel Carlo (Hrsg.) Armutsbekämpfung durch Schuldenprävention. Wiesbaden: Springer VS. S. 119 – 144. • Oktober 2021: Anfrage für dieses Referat 2 Agenda Referat • Risiko- und Schutzfaktoren • Begrifflichkeiten / Klassifikationen • Erklärende Modelle / Entstehung und Ursachen • Der Setting-Ansatz in der Prävention • Früherkennung und Frühintervention • Schlussfolgerungen 3 Was ist Prävention? • Funktion -> Verhinderung oder Reduzierung von bestimmten unerwünschten Verhaltensweisen (Risikoverhalten) und Zuständen • Ziele Schutzfaktoren stärken und Risikofaktoren reduzieren • Methoden / Massnahmen -> «… unübersehbare Menge von Massnahmen …» (Hafen 2001) • -> Prävention ist ein komplexes Handlungsfeld 4 Was Prävention nicht ist! • «Präventionsarbeit ist vielfach durch Verbotshaltungen und Abschreckungen gekennzeichnet und es wird Kindern vermittelt, was alles nicht sein darf.» (Baier 2013). • «… wenn die Fachpersonen in ihren Projekten den Fokus einseitig auf die Gefahren der digitalen Medien legen und damit einzig das Ziel verfolgen, ihre Präventionsbotschaften an die Jugendlichen zu bringen.» (Späni & Petrus 2016) 5 Begriffe, Systematiken und Modelle 6 Risiko- und Schutzfaktoren • Risikofaktoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Personen Problem- und Risikoverhalten zeigen. • Schutzfaktoren können die Wirkung von Risikofaktoren vermindern. • Risiko- und Schutzfaktoren können in der Gesellschaft, in der Gemeinde, in der Schule, in der Familie, bei den Peers und in der Person selbst liegen. (infodrog.ch) 7 Risiko- und Schutzfaktoren - Schulden Eigene Darstellung Risikofaktoren Schutzfaktoren •Arbeitslosigkeit (in der Familie) •Einstellungen (Sparsamkeit lohnt sich / •Kritischer Lebensereignisse Kredite sind ein Risiko) •Aufwachsen in schuldenbelastender Familie •Financial Literacy •Armut •Selbstwirksamkeit •Einelternfamilien/Alleinerziehende •Selbstvertrauen •Konsumgüter (v.a. junge Erwachsene) •Fähigkeit Belohnungen aufzuschieben •Peers / Umgang mit Stress / Belastung •Gute soziale Unterstützung – Soziales •Bei Jugendlichen / jungen Erwachsenen: Netzwerk (bei Bewältigung von Schulden) Entwicklungsaufgaben / -situation •… •Niedrige Schulbildung •Sucht •… (verschiedene Quellen, v.a. Meier Magistretti & Arnold, 2013b, Högger, 2014) 8 Ätiologie (Ursachen) & Intervention (Prävention) Theoretische Grundlagen der Suchtprävention (in Anlehnung an Hüttemann, Schmid & Rösch, 2010) -> http://www.suchtschweiz.ch/fileadmin/user_upload/DocUpload/Theoretische-Grundlagen-der-SuchtPraevention.pdf 9 Wirkmodelle Ätiologie Wirkungsmodelle Ätiologie (Ursachen / Entstehung) Achtung, in der Regel keine linearen, sondern komplexe Modelle! Fiktive Beispiele: • psychische Belastung -> Alkoholmissbrauch -> Arbeitslosigkeit -> Schulden • Glücksspiel aus Spass/kontrolliert -> Glücksspielsucht (keine Kontrolle) -> Schulden • Wenig Geld -> Erwartungsdruck richtig gekleidet zu sein / richtiges Auto zu haben -> Schulden • Mobbing -> Ausgrenzung -> Depression -> Schulden -> Suizidalität • Schulden -> Alkoholmissbrauch -> psychische Belastung -> Suizidalität 10 Trias der Suchtentstehung Anpassung auf das Thema Schulden möglich? Persönlichkeit Mensch DGroegled Gesellschaft Mittel Milieu (vgl. auch Sting& Blum 2003) 11 Ökologisches Erklärungsmodell der Entstehung von Gewalt: Basis der «Good Pracitce Gewaltprävention» (WHO, 2002, zit. nach Fabian et al., 2014) 12 Interventionsmodelle / -theorie 13 Wirkmodell der Schuldenprävention Aargau–Solothurn Xx Theorie und Praxis – Budget- und Schuldenberatung Aargau–Solothurn (schulden-ag-so.ch) -> Download: 29.11.22 14 Wirkmodell Schuldenberatung Zürich: Betriebe Xx PowerPoint-Präsentation (schulden-zh.ch) -> Download: 29.11.22 15 Klassifikation von Prävention 16 Präventionsmodell (BSV 2013) Xx 17 Verhaltens- und Verhältnisprävention Verhaltensprävention Massnahmen, die sich an den einzelne Menschen (auch Gruppen) richten. Ziel: Vermittlung von Wissen, Kenntnisse, Erfahrungen, Ressourcen, Skills etc., die direkt das Verhalten beeinflussen sollen. Z.B.: Informationen, Sensibilisierungen, Trainings etc. Verhältnisprävention Massnahmen, die auf die Strukturen, die Umwelt, die Verhältnisse, die Entstehungsbedingungen wirken. (-> Schutz- und Risikofaktoren) Z.B.: Lebens- und Arbeitsbedingungen, Gesetze (Alters- und Werbebeschränkungen etc.), Verfügbarkeit, Preisegestaltung, Gesundheits-, Sozial- und Bildungspolitik, Schulung von Personal, Wertedebatten, pos. Lebensbedingungen schaffen, Abläufe bei Problemen definieren, etc. 18 Setting und Setting-Ansatz Definition Setting „Ein Setting ist ein Sozialzusammenhang, der relativ dauerhaft und seinen Mitgliedern auch subjektiv bewusst ist. Dieser Zusammenhang drückt sich aus durch formale Organisation (z.B. Betrieb, Schule), regionale Situation (z.B. Kommune, Stadtteil, Quartier), gleiche Lebenslage (z.B. Rentner/Rentnerinnen), gemeinsame Werte bzw. Präferenzen (z.B. Religion, sexuelle Orientierung) bzw. durch eine Kombination dieser Merkmale.“ (Rosenbrock & Hartung 2011) 19 Setting-Ansatz: Setting als Gegenstand der Intervention (Kilian, Geene & Philippi, 2004) 20 Partizipation Partizipation stärkt Empowerment und Selbstwirksamkeit Partizipation: Erfahrung machen, dass man eine Stimme hat, gehört wird, sich einbringen kann, ernst genommen wird, seine Umwelt mitgestalten kann. Empowerment: Abwendung von paternalistischer Ausrichtung (Individuelle Vorsorge etc.) hin zu zielgruppen- und lebensweltspezifische Aktivierung der Menschen. Selbstwirksamkeit: „Selbstwirksamkeitserwartung wird definiert als die subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungssituationen aufgrund eigener Kompetenzen bewältigen zu können.” (Schwarzer 2004). • Kompetenzerwartung: Erwartung an sich selbst, für das Verhalten kompetent zu sein • Konsequenzerwartung: Überzeugung, dass das Verhalten zum Erfolg führt 21 Früherkennung und Frühintervention F+F «Früherkennung und Frühintervention Harmonisierte Definition» (BAG 2022) -> Download: Früherkennung und Frühintervention (F+F) (admin.ch) 22 Definition und Ziel (Auszug) Früherkennung und Frühintervention (F+F) hat zum Ziel, die ersten Anzeichen eines Problems möglichst früh zu erkennen und den Handlungsbedarf abzuklären, um geeignete Massnahmen zu finden, und die Betroffenen zu unterstützen. Dieser Ansatz lässt sich in jedem Lebensalter zur Bewältigung verschiedener Gesundheitsprobleme wie Risikoverhalten oder -konsum, Sucht, psychische Probleme usw. anwenden. Kontextualisierung und Ablauf eines F+F-Prozesses Vorbereiten – Gestaltung der Rahmenbedingungen - Mandat - Ressourcen - Ziele, Rollen, Aufgaben, Schnittstellen - Prozesse und Arbeitsinstrumente - Gemeinsame Haltung, ethischer Rahmen (Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, keine Stigmatisierung) Hinschauen – Früherkennung - Wohlwollende Haltung - Kriterien für Beobachtungen / Problemindikatoren - systemischer Ansatz: abgestimmte, abgewogene und kontextbezogene Beobachtungen - beziehungsorientiert, mit Gehör für die Bedürfnisse der Betroffenen Analysieren – Situation einschätzen - Orientierung am bio-psycho-sozialen Modell von Gesundheit und Krankheit (Ressourcen und Risikofaktoren) - Berücksichtigung der gesundheits- fördernden bzw. -schädlichen Rahmenbedingungen - Identifikation von zu fördernden Ressourcen / Aspekten etc. Handeln – Frühintervention - Individuell: Handlungsfähigkeit stärken: Empowerment & Selbstbestimmung - Kollektiv: Interventionen, die die Entwicklung von Kompetenzen, Ressourcen und Handlungsfähigkeiten der betroffenen Personen fördern - Institutionell: Schaffung gesundheits- fördernder Rahmenbedingungen Evaluieren – Auswerten und Empfehlungen abgeben - Zentrale Frage: Abschluss des Prozesses oder Weiterführung der Massnahmen oder Neubeurteilung der Situation? - auf individueller, kollektiver und institutioneller Ebene überprüfen Handlungsplan F+F für Volksschulen Kanton Zürich (Suchtprävention in der Volksschule - unsere Angebote (suchtpraevention-zh.ch)) 30 Hilfe vs. Kontrolle F&F ist immer auch ein Eingreifen von aussen. → Drittpersonen und Organisationen erkennen Belastungen und Probleme. →Spannungsfeld zwischen stärkerem Eingreifen (es wird über die Betroffenen bestimmt) und einer soft power practice (Unterstützung steht im Vordergrund, Macht wird zurückhaltender ausgeübt). Schlussfolgerungen für die (Schulden-)Prävention • Schuldenprävention kann nicht das Ziel «komplette Schuldenfreiheit» haben (wie bei Gewalt und Sucht). • Individuelle Ebene: Zielgruppen von Schuldenprävention befähigen, reflektiert mit Verschuldung und deren Risiken umzugehen, eigene Standpunkte zu Verschuldung zu klären, Sensibilität für drohende Überschuldung zu entwickeln und bei Bedarf rechtzeitig Beratung und anderweitige Hilfen in Anspruch nehmen zu können. • Strukturelle Ebene: Entwicklung von Strukturmassnamen und Systeme / Settings, so dass sie einerseits präventiv wirken (z.B. Werte und Haltungen in Settings) sowie präventiv handeln können, also z.B. Systeme der Früherkennung und Frühintervention. (Fabian 2019) 32 Schlussfolgerungen für die (Schulden-)Prävention • Nur unter Würdigung der Komplexität kann Prävention gelingen. • Risikofaktoren sowie Schutzfaktoren müssen bekannt sein. • Prävention muss situativ entwickelt resp. angepasst werden. • Der Setting-Ansatz hier bietet wertvolle Unterstützung: Verhältnis- & Verhaltensorientierung, Partizipation, Empowerment, Kooperation. • Es braucht wissenschaftliche Forschung und Evaluation -> Evidenz! 33 Literatur Baier, F. (2013). Neue Orientierungen für die Praxis: Von der Prävention zur Bildungsarbeit. Special. Abgerufen am 11. Juli 2017 unter www.schulsozialarbeit.ch/cms/content/uploaddocuments/Special-012013PraeventionundBildung[1].pdf Fabian, C. (2017). Der Setting-Ansatz. Der umfassende Ansatz in der Gesundheitsförderung und Prävention. SozialAktuell(9), 14-17. Fabian Carlo (2019). Ein Blick aus der Sucht- und Gewaltprävention auf die Schuldenprävention: Was kann man lernen? In: Mattes Christoph, Knöpfel Carlo (Hrsg.) Armutsbekämpfung durch Schuldenprävention. Wiesbaden: Springer VS. S. 119 – 144. doi: https://doi.org/10.1007/978-3-658-23934- 3_8 Fabian, Carlo/Käser, Nadine/Klöti, Tanja/Bachmann, Nicole (2014). Leitfaden. Good-Practice-Kriterien Prävention von Jugendgewalt in Familie, Schule und Sozialraum. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen. Hafen, Martin (2014): ‚Better Together‘ - Prävention durch Frühe Förderung. Präventionstheoretische Verortung der Förderung von Kindern zwischen 0 und 4 Jahren. Luzern: Hochschule Luzern - Soziale Arbeit. Hafen, Martin (2001). Die Funktion der Prävention für die Gesellschaft. In: Prävention&Prophylaxe 1/2001: 28-32 Högger, D. (2014). Du bist was du hast! Geld, Konsum und Schulden Jugendlicher. Windisch: FHNW - Pädagogische Hochschule. Infodrog – Lexikon: -> http://www.infodrog.ch/risiko-schutzfaktoren.html Meier Magistretti, C., & Arnold, C. (2013a). Wirkt Schuldenprävention? Empirische Grundlagen für die Praxis mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Schlussbericht. Luzern: Hochschule Luzern - Soziale Arbeit. Meier Magistretti, C., & Arnold, C. (2013b). Wirkt Schuldenprävention? Grundlagen für die praktische Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Luzern: Hochschule Luzern - Soziale Arbeit. Späni, Martina & Petrus, Klaus (2016). MEDIENKOMPETENZEN UND PEER-EDUCATION / -TUTORING. PROJEKTBEISPIELE UND QUALITÄTSKRITERIEN. Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen Sting, S., & Blum, C. (2003). Soziale Arbeit in der Suchtprävention. München: Reinhardt. 34