Michael Kunkel · „… dire cela, sans savoir quoi …“ PFAU Michael Kunkel „… dire cela, sans savoir quoi …“ Samuel Beckett in der Musik von György Kurtág und Heinz Holliger PFAU für Anna und Werner ISBN 978-3-89727-394-8 © 2008 by PFAU-Verlag, Saarbrücken Alle Rechte vorbehalten. Umschlaggestaltung: Sigrid Konrad Umschlagabbildung: ????? Notensatz: Christian Grün Satz: PFAU-Verlag Printed in Germany PFAU-Verlag · Postfach 102314 · D 66023 Saarbrücken www.pfau-verlag.de · info@pfau-verlag.de Inhalt Vorwort 9 Teil I Notiz für den Anfang 1. Samuel Beckett in der Musik? 12 2. Zur Methode 17 Teil II Samuel Beckett in der Musik von György Kurtág 1. Samuel Beckett: Comment dire (1988)/What is the Word (1989) – Zur „Literatur des Unworts“ 22 1.2. Die Texte 26 1.3. Übertragungsprobleme 28 1.4. Inventar und Echos 30 1.5. Exkurs: „folly“/„folie“ 32 1.6. Frage der Gattung 36 1.7. Form 38 1.8. Exkurs: Beckett und Joyce 42 1.9. Zuflucht zur Arithmetik 46 1.10. Fazit 48 2. György Kurtág: Samuel Beckett: Mi is a szó op. 30 (1990–91) 49 2.1. Erste Begegnungen mit Beckett 49 2.1.1. Das Footfalls-Fragment 52 2.1.2. Andere Spuren und Vermutungen (Die „Grabstein-Gruppe“) 59 2.2. Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval (Samuel Beckett: mi is a szó) op. 30a (1990) 68 2.2.1. Drei Begegnungen 68 2.2.2. „Stottern, wie Beckett es verlangt.“ 69 2.2.3. István Siklós’ ungarische Übertragung 73 2.2.4. Analytische Bemerkungen zu op. 30a 76 2.2.4.1. Monodie auf Krücken (Takt 1–8) 77 2.2.4.2. Viele Stimmen (Takt 9–17) 79 2.2.4.3. Verdichtung der Stimmen (Takt 18–38) 82 2.2.4.4. Unschlüssigkeiten und „Reprise“ (Takt 39–63) 86 2.2.4.5. Bartóks Auftritt und Abgang (Takt 64–68) 88 2.2.4.6. Zusammenbruch (Takt 69–73) 92 2.2.5. Form 945 2.2.6. Kurtágs Beckett 96 2.3. Expansion und Verdeutlichung in der Fassung op. 30b 98 2.3.1. Ein anderer Anlass 98 2.3.2. Prolog und Epilog 101 2.3.3. Musik im Raum 115 2.3.4. Neue Stimmen 127 2.3.5. Kurtágs Kurtág 132 3. Drei Bemerkungen zu … pas à pas – nulle part … op. 36 135 3.1. Lichtenberg, Chamfort, Beckett 135 3.2. Neue Monodien 141 3.3. Ein „komponiertes Programm“ 152 Teil III Samuel Beckett in der Musik von Heinz Holliger 1. Samuel Beckett: Not I (1972) 158 1.1. Prosa, Drama 158 1.2. Unnennbares Ich 161 1.3. Suche nach Form I: Kilcool 164 1.4. Suche nach Form II: Not I 169 1.5. Form 175 2. Heinz Holliger: Not I (1978/80) 180 2.1. Drei Voraussetzungen 180 2.1.1. Kontext 180 2.1.2. Der dichterische Impuls 184 2.1.3. Cardiophonie für einen Bläser und drei Magnetophone (1971) 196 2.1.3.1. Aktion … 198 2.1.3.2. … Komposition 200 2.1.3.3. Unform 214 2.2. Not I für Sopran und Tonband (1978/80) 217 2.2.1. Kalte Katastrophe: Streichquartett (1973) und Come and Go / va et vient / Kommen und Gehen – Kurzoper in 3 Akten (1976–77) 217 2.2.2. Ende und Unende: Cardiophonie und Not I 229 2.2.3. Schattenform I: Deklamation, Melos 233 2.2.4. Schattenform II: Monodie, Polyphonie 241 2.2.5. Schattenform III: Originale, falsche Zitate 248 2.2.6. Schattenform IV: Tonbänder, Interpolationen 262 2.2.7. Ein anderer Vernehmer 268 Teil IV Schluss … Kurtág ← Beckett → Holliger …? 2746 Anhang Deklamationstypen in György Kurtágs Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval (Samuel Beckett: mi is a szó) op. 30a 278 Die Quellen von György Kurtágs Samuel Beckett: What is the Word (Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval) op. 30b lalalalala 279 Die Quellen von Heinz Holligers Not I 281 Bibliographie 2827 Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die geringfügig überarbeitete Fassung einer Disserta- tion, die im Sommersemester 2006 von der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Basel angenommen wurde. Die für diese Arbeit verwendeten Hilfsmittel sind in den Fussnoten und in der Bibliographie vollständig ange- führt. Darüber hinaus sind einige Personen zu nennen, die mir mit Auskünften und Ratschlägen geholfen oder das Manuskript gelesen und kommentiert ha- ben: Dr. Rachel Beckles Willson (London), János P. Demény (Budapest), Tho- mas Gerlich (Basel), Matthias Kassel (Basel), Thomas Kessler (Basel), Sigrid Konrad (Saarbrücken), Roland Moser (Allschwil), Prof. Dr. Andreas Traub (Bie- tigheim), Matthias Würsch (Basel), Jürg Wyttenbach (Basel). Ihnen allen danke ich sehr herzlich. Besonderer Dank gilt Heinz Holliger, der bereitwillig für Aus- künfte zur Verfügung stand, sowie der Kuratorin, den Kuratoren und der Biblio- thekarin der entsprechenden Sammlungen in der Paul Sacher Stiftung, Basel: Christina Dreier, Dr. Ulrich Mosch, Robert Piencikowski (György Kurtág) und Dr. Heidy Zimmermann (Heinz Holliger). Prof. Dr. Anne C. Shreffler sei ge- dankt für die intensive Betreuung dieser Studie, Prof. Dr. Max Haas für die Be- reitschaft, das Zweitgutachten zu übernehmen. Die Arbeit wurde durch ein mehrjähriges Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes im Rahmen des Hochschul-Sonderprogramms HSP III und durch ein Forschungs- stipendium der Paul Sacher Stiftung, Basel, gefördert; grosszügige Druckkosten- zuschüsse wurden gewährt durch den Dissertationsfonds der Universität Basel und durch den Max Geldner-Fonds. Michael Kunkel 9 Teil I Notiz für den Anfang11 1. Samuel Beckett in der Musik? „Simply cannot sing … Not a note“ (Samuel Beckett) Sofern es nicht auf seine eigene Initiative zurückging, mochte Samuel Beckett auf die musikalische Verwertung seiner Texte am liebsten vollkommen verzich- ten. Marcel Mihalovicis Bitte um die Fertigung einer zu vertonenden dichteri- schen Vorlage wehrte er lakonisch ab: „Je n’ai pas envie de chanter ce soir.“1 Morton Feldmans Opern-Vorhaben begegnete Beckett zunächst skeptisch: „Ich habe es nicht gern, wenn meine Worte vertont werden.“2 Auch Heinz Holliger hatte beträchtliche Mühe, Becketts Erlaubnis für seine Pläne einzuholen, die dann mit dem Beigeschmack widerwilliger Diplomatie erfolgte: „Feel obliged fi- nally to authorize Heinz Holliger and his publisher Schott-Mainz to use texts of Not I and Come and Go for his musical settings of these works.“3 György Kur- tág blieb solches erspart, weil er sein erstes Beckett-Projekt erst nach Becketts Tod und zunächst auf ungarisch realisierte. Natürlich haben Dichter, die ihre Kunstwerke als integral artikulierte und in sich abgeschlossene Gebilde ansehen, kaum Veranlassung, begeistert zu sein, wenn ihre Texte auf irgendeine Weise zurechtgemacht werden sollen. Für Komponi- sten ist das selbstverständlich kein Grund, von musikalischer Arbeit am Text Ab- stand zu nehmen. Bei ihnen erfreut Becketts Literatur sich ausserordentlicher Beliebtheit. Nach ersten Annährungen von Komponisten aus dem persönlichen Umfeld – Marcel Mihalovici sowie John Beckett, ein Cousin des Dichters – sind seit Ende der fünfziger Jahre weit über 100 Werke entstanden, in denen Becketts Dichtung mit den verschiedensten Arten von Musik bedacht worden ist.4 Das komponierende Exegetentum erstreckt sich über alle Schulen: Mit Philip Glass, Wolfgang Fortner, Sandro Gorli, Mark-Anthony Turnage, Humphrey Searle oder Detlev Müller-Siemens seien nur einige bekannte Namen genannt. Selbst- verständlich kann bei all diesen von einer einheitlichen Motivationslage keine Rede sein. Becketts Dichtung provoziert eine Fülle individueller musikalischer Identifikationen und Interpretationen. 1 James Knowlson, Damned to Fame – The Life of Samuel Beckett, New York: Touchstone 1997, S. 400. 2 Samuel Beckett zitiert nach Gottfried Meyer-Thoss, Facetten des Transluziden, in: Mor- ton Feldman, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (= Musik-Konzepte 48/49), München: edition text + kritik 1986, S. 126. 3 James Knowlson, Damned to Fame, S. 737. 4 Vgl. die – sehr lückenhafte und ungenaue – Aufzählung in: Samuel Beckett and Music, hrsg. von Mary Bryden, Oxford: diClarendon Press 1998, S. 261ff.12 Becketts Aversion gegen die musikalische Verwertung seiner Texte paart sich nicht mit Un- oder gar Antimusikalität. Im Gegenteil: Er war Liebhaber und Kenner des klassischen und romantischen Repertoires, spielte selber passabel Klavier und sang gerne. Beckett hat kaum eine Gelegenheit ausgelassen, seiner Liebe zur Musik Ludwig van Beethovens und vor allem Franz Schuberts in sei- nem Werk Ausdruck zu verleihen. Als junger Mann pflegte er überdies eine gros- se Sympathie zur ästhetischen Anschauung Arthur Schopenhauers, in der Musik bekanntlich zum vornehmsten Erkenntnismittel avanciert5; Ulrich Pothast hat nachgewiesen, wie konsequent sich diese „musikalische“ Frühprägung auf Becketts Schaffensweg ausgewirkt hat.6 Als evidente Problematik im „realen“ musikalischen Umgang mit Becketts Tex- ten kann ein besonderer Umstand geltend gemacht werden: Die Ursache einer wenigstens latenten Vertonungsallergie liegt womöglich nicht zuletzt in der poe- tischen Ausrichtung einer Literatur, deren Wortklang einem imaginären Schwei- gen verpflichtet ist. Becketts Kunst ist imprägniert von tiefem Misstrauen gegen sprachlich aufgenötigte Sinnkonstitution, die noch jedes faktische Schweigen durchdringt. Dieser Sprach-Nötigung, seiner „Trug-Garantie“ begegnet Beckett in konstruktiver Misshandlung von Sprache. Was den Worten dabei widerfahren kann, soll in Einzelbetrachtungen der Werke Not I (1972) und What is the Word (1989) aufgezeigt werden. Es ist jene von Andrea Merger systematisch erforsch- te „Rhetorik des Sprachmissbrauchs“7, die die Literaturwissenschaft dazu veran- lasst, Becketts Kunstspracherzeugnisse immer wieder als „musikalisch“ oder „musikähnlich“ zu beschreiben. Auch Luciano Berio misst Becketts Musikalität am Ungenügen von Sprache: „Like music, Beckett’s writing seems to say what cannot be spoken.“8 Eine auf nicht einholbare Wortlosigkeit berechnete Wortkunst – eine „Literatur des Unworts“9, wie Beckett sagte – sperrt sich gegen die blosse klangliche Adap- tion. Ihre konventionelle Vertonung wäre kaum mehr als ein klingendes Abzäh- len der Lexeme, das eine wesentliche Charakteristik vernachlässigen würde. Gibt es einen Weg, im Medium der Musik zu ihr vorzudringen? 5 Vgl. Peter Niedermüller, Schopenhauers Überlegungen zur Asemantik der Musik, in: Mu- sik & Ästhetik 9, Januar 1999, S. 40ff. 6 Ulrich Pothast, Die eigentlich metaphysische Tätigkeit – Über Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. 7 Andrea Merger, Becketts Rhetorik des Sprachmissbrauchs, Heidelberg: Winter 1993. 8 Luciano Berio zitiert nach Beckett and Music – An interview with Luciano Berio, in: Mary Bryden (Hrsg.), Samuel Beckett and Music, S. 189. 9 Disjecta, S. 54; vollständige Angaben zu zitierten Werken Samuel Becketts werden in der Bibliographie (siehe Anhang) mitgeteilt.13 In manchen Kompositionen äussert sich solches Problembewusstsein in einer auffälligen Scheu davor, die Literatur Becketts landläufigen musikalischen De- klamationsarten zu unterziehen. Im dritten Satz („In ruhig fliessender Bewe- gung“) seiner Sinfonia (1968–69) bemächtigt sich Berio Becketts Worten, indem er sie zitiert wie Musik: Die Basis der Komposition bilden bekanntlich zusam- men mit dem Scherzo aus Gustav Mahlers Zweiter Symphonie Teile aus The Un- namable, die nicht vertont, sondern rezitiert werden. In „… die Stimme, die al- te, schwächer werdende Stimme …“ (1973–74) instrumentalisiert Jacques Wildberger Passagen aus den Texten um Nichts als „dichterische Gestaltung des Verstummens“10: In einer auskomponierten Dokumentkonstellation wird expli- ziert, was „sprechen“ nicht mehr vermag, wobei Dichtung bei Wildberger keine poetische, sondern eine ethische Defiziens dokumentiert. Der textuelle Zusam- menhang entwickelt eine negative Dynamik, die die musikalischen Äusserungen förmlich erstickt und über Prediger, Hiob, Camus, Hölderlin und Celan endlich bei Beckett ankommt: Am Ende von „… die Stimme …“ bildet das 13. Stück aus den Texten um Nichts zusammen mit Passagen aus Heideggers Sein und Zeit ei- nen pleonastischen Kontrapunkt nicht-referentieller Rede, dem die Funktion weissen Rauschens – in das Wildberger die Musik seines Double Refrain (1972) führt – in sprachlicher Hinsicht zukommt. Beckett, von dem Pothast sagt, er sei sprechend ins Schweigen eingegangen11, wird von Wildberger nicht vertont – seine Worte haben die Musik „ent-tont“.12 Was geschieht aber, wenn Becketts Dichtung nicht als Rezitationselement, das als „Gegenmusik“ mit musikalischen Zitaten enggeführt wird (Berio) oder das Ende musikalischen Ausdrucksvermögens anzeigen soll (Wildberger), figuriert, sondern wenn musikalische Komposition direkt am Wort ansetzt? Was passiert, wenn man es singen will? Innerhalb der fraktionsübergreifenden musikalischen Beckett-Rezeption ist eine Gruppe von Autoren erkennbar, die sich offenbar ge- rade von der Vertonungsresistenz der Literatur Becketts verführen lässt. Paul- Heinz Dittrich fand 1972 zu seiner von ihm so genannten „phonetisch-instru- mentalen Poesie“ über die Lektüre von Becketts Texten: „Das ist mit herkömmlichen Mitteln nicht mehr zu vertonen. Es muss ein anderer Weg gefunden werden, um den Text von Beckett sozusagen in die Musik einzubringen.“13 10 Jacques Wildberger, „… die Stimme, die alte, schwächer werdende Stimme …“, in: SMZ 177 (1977), Heft 6, S. 348. 11 Vgl. Ulrich Pothast, Die eigentlich metaphysische Tätigkeit, S. 302ff. 12 Vgl. auch Michael Kunkel, Der Komponist Jacques Wildberger. Eine Portraitskizze – Aus- sagen und Dokumente, zum 80. Geburtstag zusammengestellt von Michael Kunkel, in: Disso- nanz 73, Februar 2002, S. 20ff. 13 Paul-Heinz Dittrich zitiert nach Stefan Amzoll, „Glückloser Engel“. Der Zeuthener Kom- ponist Paul-Heinz Dittrich, in: MusikTexte 85, August 2000, S. 24; vgl. auch Paul-Heinz Dit- trich, Nie vollendbare poetische Anstrengung. Texte zur Musik 1957–1999, Saarbrücken: Pfau 2003 (= Quellentexte zur Musik des 20. Jahrhunderts 10.1).14 Giacomo Manzoni hat Beckett in ganz grossem Stil in die Musik eingebracht, in- dem er alle musikalischen Ereignisse seiner Komposition Parole da Beckett für Orchester, Chöre und Tonband (1970–71) aus dessen Dichtung – die durch ein auskomponiertes, alle Gattungen und Schaffensperioden berücksichtigendes Collage-Libretto repräsentiert ist – unmittelbar ableitet.14 Roman Haubenstock- Ramati nutzt in Credentials or „Think, Think Lucky“ für Stimme und acht In- strumente (1961) und Comédie – Anti-Opéra en un Acte für drei Schauspieler oder Sänger und drei Schlagzeuger (1968) die parataktische Disposition der Textvorlagen (Luckys Monolog aus Waiting for Godot, Comédie) zur Realisie- rung seines Konzeptes einer „dynamisch offenen Form“; in Luckys Schlusswort „unfinished“ findet Haubenstock-Ramati seine eigene Idee wieder.15 Beide Komponisten erkunden neue Möglichkeiten musikalischer Formung und ein sehr weites vokales und instrumentales Artikulationsspektrum, indem sie die Texte musikalischen Extrem-Rezitationen unterziehen. Von solcher im engeren Sinn textgebundener kompositorischer Arbeit löst sich Morton Feldman. Er desavouiert gebräuchliche Singweisen in seiner Oper Neither (1976–77), indem er sie ihrer syntaktischen Gerichtetheit wie ihrer Funktion als Wortträger zwar entbindet, traditionelle Artikulation von Gesang aber beibehält. In einem Brief an Beckett hebt Feldman hervor, dass, obwohl „schön“ gesungen werde, er in Neither den Text durchaus nicht vertone: „The tone [g2] is sung beautifully and there will be no feeling of a parlando-like approach. She is singing, yet it is not directional. Time makes the line, the connection. Time itself becomes what is lyrical. It would be as if she is singing a tune but it’s not there.“16 Das Zusammentreffen von „tune“ und Wort ist in hohem Mass kontingent. Becketts Text liefert Lautmaterial, Vokalfarbe zu Feldmans Musik: „Ich hatte so lange in Einsamkeit für mich alleine gearbeitet, dass ich mich sogar auf einen Micky-Maus-Text gestürzt hätte. An diesem Punkt bin ich Beckett begegnet, und zum ersten Mal in meinem Leben als Musiker fand ich mich in ein Abenteuer verwick- elt, das sich ausserhalb meiner selbst abspielte.“17 14 Vgl. Giacomo Manzoni, Towards Parole da Beckett, in: Mary Bryden (Hrsg.), Samuel Beckett and Music, S. 213ff. 15 Vgl. Eun-Ha Kim, „Unfinished“ – eine Geschichte geht nie zu Ende. Roman Haubenstock- Ramatis „Credentials or ‚Think, Think Lucky‘“, in: Mitteilungen der Paul Sacher Stiftung 14, April 2001, S. 34ff. 16 Brief von Morton Feldman an Samuel Beckett, zitiert nach Guy Debrock, The Word Man and the Note Man: Morton Feldman and Beckett’s Virtual Music, in: Samuel Beckett and the Arts – Music, Visual Arts and Non-Print Media, New York, hrsg. von Lois Oppenheim, London: Garland 1999, S. 72. 17 Morton Feldman zitiert nach Sebastian Claren, Neither – Die Musik Morton Feldmans, Berlin: Wolke 2000, S. 17.15 Das Abenteuer wirkt sich aus in der planvollen Suspension relationaler Zusam- menhänge infolge einer „Begegnung mit Beckett“. Auch Richard Barrett, der sich als Komponist auf Beckett spezialisiert hat, versichert, es sei „no question of a direct ‚translation‘ of formal or expressive attributes from Beckett’s words into the music I was writing [I open and I close], even if that were possible.“18 In Bar- retts elfteiligem Beckett-Zyklus Fictions (1986–95) herrscht Vokalabstinenz. Dies sind nur wenige Beispiele für markante Arten, Beckett in Musik zu setzen. Sie sollten in einer eigenen Studie einmal genau untersucht und verglichen wer- den. Eine wesentliche Prämisse für meine Überlegungen liegt in der vorläufigen Einsicht, dass alle genannten Musiken – so unterschiedlich, zum Teil gegensätz- lich die kompositorischen Ansätze von Berio, Wildberger, Dittrich, Manzoni, Haubenstock-Ramati, Feldman oder Barrett im einzelnen sich auch ausnehmen mögen – mit einem Wort der Winnie aus Happy Days überschrieben sein könn- ten: „One cannot sing … just like that, no.“19 18 Mary Bryden, Reflection on Beckett and Music, with a Case Study: Paul Rhys’s Not I, in: Lois Oppenheim (Hrsg.), Samuel Beckett and the Arts, S. 88. 19 Glückliche Tage – Happy Days – Oh les beaux jours, S. 88.16 2. Zur Methode Eine Studie, die musikalische Beckett-Lektüren in der Gesamtheit erfassen woll- te, wäre entweder von extrem ausuferndem Umfang und wohl nur in philologi- scher Arbeitsgemeinschaft sinnvoll zu bewältigen, oder aber eine Art kommen- tierter Katalog. Beides ist die vorliegende Arbeit nicht. Welche Wege wurden gefunden, um Becketts Texte in die Musik einzubringen? Es läge nahe, die Ten- denzen zur Entsprachlichung in der Neuen Musik durch ein Beckett-Prisma hin- durch zu betrachten. Den Reizen auch solcher Rundschau widersteht diese Stu- die. Stattdessen greift sie Beckett-Musiken von György Kurtág und Heinz Holliger heraus, die ebenso wie die eingangs erwähnten Stücke von Winnies Diktum gezeichnet sind: Kurtágs Singversuche kreisen um ein „Ungenügen an der Begrifflichkeit jeder Sprache“20; Holliger weist die Klassifizierung seiner Tä- tigkeit als einer vertonenden leicht gereizt von sich – wenn überhaupt, so hande- le es sich um „Verstummungen“.21 Kurtág und Holliger stellen sich dem Wort- Ton-Problem unter besonders harten Bedingungen, weil sie monodische Vokali- tät als primären Lektüremodus von Becketts Texten wählen, um sie unter kom- positorischen Sonderbedingungen zu inszenieren. Beide begegnen damit der Schwierigkeit, Becketts Worte zu singen, auf besondere Weise: Wie ist das ange- nommene Problem der „Unvertonbarkeit der Worte“ bzw. der „Vertonung von Unworten“ zu lösen, wenn doch gesungen wird? Ist es überhaupt eines? Zur Diskussion stehen: György Kurtágs Werkkomplex Mi is a szó op. 30 (beste- hend aus Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval [Samuel Beckett: mi is a szó] op. 30a [1990] für Singstimme und Klavier und Sa- muel Beckett: What is the Word [Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval] op. 30b für Alt solo [„Rezitation“], Stimmen und im Raum verteilte Kammerensembles [1991]) und Heinz Holligers Monodrama Not I für Sopran und Tonband (1978/80). Entscheidend für die Auswahl dieser als Bühnenmusik konzipierten Werke ist vor allem anderen ihr monodischer Zu- griff auf Becketts Texte – weswegen Holligers anders motivierte Beckett-Inter- pretation in der Kammeroper What Where (1988) für Bariton und drei Bass-Ba- ritone, Tonband und Ensemble hier nicht berücksichtigt wird. Exkurse über Kurtágs Footfalls-Fragment (1978) und … pas à pas – nulle part … op. 36 (1993–98) für Bariton solo (ad libitum Instrumente) hingegen bieten wichtige Aufschlüsse zur Monodie der Werkgruppe op. 30. Im Gegensatz zu Kurtág wer- den Holligers Beckett-Musiken nicht vollständig erfasst; es sei darauf hingewie- 20 György Kurtág zitiert nach Ligeti und Kurtág in Salzburg, hrsg. von Ulrich Dibelius, Zü- rich: Residenz 1993, S. 76. 21 Heinz Holliger im Gespräch mit dem Autor, Stuttgart, 1. April 1998.17 sen, dass über Holligers What Where bereits zuverlässig gearbeitet wurde,22 Kur- tágs op. 36 aber bislang nicht einmal ansatzweise erschlossen worden ist. Selbst wenn es zutreffen sollte, dass kompositorische Auseinandersetzungen mit Beckett als ein Problem dargestellt werden können: Bei Kurtág und Holliger er- eignen sich Begegnungen mit Beckett nicht aus kompositorischem Sportsgeist, sondern aus einer Empathie, die über die eigentlichen Beckett-Kompositionen hinausführt. Diese werden hier nicht nur in Hinblick auf die Problematik des kompositorischen Umgangs mit den Texten untersucht, sondern auch als beson- deres Merkmal der künstlerischen Physiognomieen von Kurtág und Holliger, die sich sozusagen in Zuspitzung auf Beckett äussern. Die Frage lautet daher nicht bloss: Wie knacken Kurtág und Holliger Beckett-Nüsse? Vielmehr soll das Charakteristische ihrer Schreibweise am gewählten Exempel erhellt werden. Um darüber Aussagen zu machen, genügen nicht allein Einzelanalysen der Beckett- Kompositionen – auch die Darstellung werk-, musikgeschichtlicher und teilwei- se aussermusikalischer Kontexte, im Fall Kurtágs Überlegungen zur Biographie, werden erforderlich; dann erst kann plausibel werden, welcher Art Kurtágs und Holligers Schreibmotivation in den Beckett-Musiken ist. Bei beiden führt eine „Beckett-Spur“ bis zu den Anfängen ihres Komponierens. Ein gewisser Teil der musikalischen Analyse stützt sich auf die Philologie der Musikmanuskripte von Kurtág und Holliger, die in den Sammlungen der Paul Sacher Stiftung Basel zugänglich sind. Skizzenforschung hat hier allerdings kein Ende in sich selbst und liefert auch keinerlei Passepartout für die Kompositio- nen. Die Handschriften sind vielmehr ein Hilfsmittel wie jedes andere und wer- den nicht prinzipiell herangezogen, sondern nur dann, wenn sie Aufschlüsse för- dern. Der Leser, der eine autonome, „systematische“ Manuskriptauswertung vermisst, kann auf das Verzeichnis der Musikmanuskripte zu Kurtágs op. 30 und Holligers Not I zurückgreifen, das im Anhang mitgeteilt wird. Während der Recherche ergab sich reichlich Gelegenheit zum Gespräch mit Heinz Holliger, dessen Bemerkungen und Hinweise natürlich in meinen Text eingeflossen sind. Das gilt auch für Äusserungen György Kurtágs, die in öffentli- chen Veranstaltungen wie Schauproben, Diskussionen oder in Seminaren abge- geben wurden. Auch persönliche Äusserungen Kurtágs, die sich in Briefentwür- fen der Sammlung György Kurtág in der Paul Sacher Stiftung Basel finden oder auf andere Mitteilungen von Personen aus seinem Umfeld stützen, wurden be- rücksichtigt. All dies ist, wie bei „herkömmlichen“ Quellen, in Nachweisen er- fasst. Der Umgang mit solchen Kommentaren ist nicht frei von einer gewissen Problematik, da man argwöhnen mag, dass sich die Komponisten als historische Quellen quasi selber erfinden. Andererseits liefern sie selbst dadurch eine Fülle von Informationen, die Hintergrundperspektiven zu erhellen vermögen. Die Komponisten sind daher wichtige Zeugen, deren Aussagen (die zum grossen Teil 22 Peter Szendy, Endspiele, in: Heinz Holliger – Komponist, Oboist, Dirigent, hrsg. von An- nette Landau, Gümligen: Zytglogge 1996, S. 77ff.18 hier erstmals veröffentlicht sind) mit der nötigen quellenkritischen Sorgfalt zu erwägen sind. Im Gegensatz zur teils ausholenden Betrachtungsweise der Musik sollen die je- weils vorausgehenden Analysen von Becketts Texten sich vornehmlich auf Fra- gen konzentrieren, die zum Verständnis der Beckett-Musik von zentraler Bedeu- tung sind und bisher nur als Hypothese formuliert werden konnten: Wie sucht Beckett sich als Sprachkünstler aus seinem Medium von Bedeutung und Klang zu entfernen? Welche Strategien und Techniken entwickelt er, um eine solche Entfernung ins Werk zu setzen? Dieser Aspekt der asphyxischen Text-Konstitu- tion steht im Vordergrund und wird ganz bewusst überbetont. Er wird in einer Ausschliesslichkeit herausgearbeitet, die jeden verantwortlichen Beckettphilolo- gen entsetzen dürfte. Die vorliegende Studie hat sich nicht primär zum Ziel ge- setzt, die Beckett-Forschung um neue Erkenntnisse zu bereichern. Sie instru- mentalisiert vorhandenes Wissen und beschreibt die Artikulation von Dichtung lediglich als Voraussetzung zur Diskussion der Musik. Ein wichtiger Aspekt liegt dabei in der Beschreibung der formalen bi-zyklischen Eigenschaft der Texte. Die Textinterpretation wird damit bewusst in einer Art Tunnelperspektive vollzo- gen, die sich zur Interpretation der Musik hin öffnen soll. Solche ist immer eine Doppelinterpretation: Denn die Komponisten ihrerseits liefern Beckett-Inter- pretationen. Becketts Werk ist von der Besonderheit geprägt, dass es gewissermassen dreifach vorliegt: Der Dichter verfasste die meisten Texte auf englisch wie auf franzö- sisch und Elmar Tophovens deutsche Übertragungen geniessen mindestens den Status des Semi-Authentischen, weil sie zum grossen Teil unter Becketts Aufsicht „nachgedichtet“, die Ergebnisse mit dessen ausdrücklichem Einverständnis pu- bliziert wurden. Auf welche Fassungen soll sich die Lektüre, die Analyse bezie- hen? Die komponierten Lektüren von Kurtágs op. 30b und op. 36 sowie Holli- gers Come and Go, dem Schwesterstück zu Not I, zielen nicht auf Einsprachigkeit. Diesem Beispiel möchte ich folgen und nicht bei nur einer, je- weils nur englischen, nur französischen oder nur deutschen Lesart bleiben. Massgeblich sind die Textfassungen, auf die sich die zu diskutierenden Musiken beziehen. Zitate aus Becketts Werken folgen grundsätzlich der Sprache der Werkfassung, die zuerst niedergeschrieben wurde – von begründeten Ausnah- men abgesehen, wenn etwa der Text im Vergleich verschiedener Fassungen oder in Hinblick auf Übertragungsprobleme diskutiert wird.19 20 Teil II Samuel Beckett in der Musik von György Kurtág21 1. Samuel Beckett: Comment dire (1988)/What is the Word (1989) – Zur „Literatur des Unworts“ „… the obligation to express.“ (Samuel Beckett) Samuel Becketts Comment dire ist in gewissem Sinn erst nach seinen letzten Tex- ten entstanden. Nach Vollendung des dritten Teils seiner sogenannten zweiten Prosa-Trilogie (Company [1980], Mal vu mal dit [1981] und Worstward Ho [1981–82]) hatte er erklärt: „The writing is over, […] [f]inally one no longer knows who is speaking. The subject disappears completely. That’s where the crisis of identity ends.“23 Doch die Beckettsche Gleichung ist nicht ganz so einfach. Eine Auflösung der „crisis of identity“ kann durch sie nicht geleistet werden, weil das „over“ nicht absoluter, sondern durchweg asymptotischer Natur ist. Ein entscheidender Im- puls für Becketts Schreibweise resultiert aus dem Bewusstsein, dass das Ende, das Schweigen, das endgültige Verstummen des sprechenden Subjekts als absolu- te Grösse nicht einholbar ist. Im Sprachkunstwerk kann der Rückzug in einen subjektfreien Bezirk jenseits der Sprache nie gänzlich vollzogen werden, da die Einheit des Subjekts bloss sprachlich begründet erscheint. Ein Ende im Sinne ei- ner (Auf-)Lösung der „crisis of identity“ ist nicht denkbar, weil es sich dabei um ein Problem sprachlicher Sinnkonstitution handelt, das zwar erkannt werden kann, aber, mangels einer Alternative zum Medium der Sprache, durch Worte nicht hintergehbar ist. Aus dieser Aporie schlägt Beckett den entscheidenden dichterischen Funken: Seine literarische Produktion ist stigmatisiert von perma- nentem Oszillieren zwischen der Sprachgebundenheit der Kunstform und ihrer Desavouierung.24 Nicht erreichbarer Fluchtpunkt ist Stille, Schweigen. „The writing is over“ – das bezeichnet die Situation, in die Beckett sich späte- stens seit Mitte der vierziger Jahre mehrfach systematisch einzuschreiben suchte. In der Romantrilogie Molloy (1948), Malone meurt (1948) und L’Innommable (1949) vollzieht sich die zunehmende planvolle Suspension gebräuchlicher er- zählerischer Kategorien, die auf den Ausschluss sprachlichen Verweisens hin an- gelegt ist: Im L’Innommable wird durch Erzählen schliesslich nichts mehr mitge- teilt, vielmehr ist die zu erzählende Sache das forttreibende Sprechen selbst – aus dem es am Ende des Romans kein Entkommen mehr gibt: „[…] ça va être le silence, là où je suis, je ne sait pas, je ne le saurai jamais, dans le silence on ne sait pas, il faut continuer, je ne peux pas continuer, je vais continuer.“25 23 Zitiert nach Enoch Brater, The Drama in the Text – Beckett’s Late Fiction, Oxford: Ox- ford University Press 1994, S. 145. 24 Vgl. Andrea Merger, Becketts Rhetorik des Sprachmissbrauchs.22 Die konstruktiven Verstösse gegen sprachliche Kausalität gipfeln in diesem letz- ten nicht mehr auflösbaren Paradoxon, das die Voraussetzung für alle folgenden Schreibversuche abgeben soll. Der Trugcharakter der Sprache hat sich offenbart, nicht so das anvisierte Schweigen: Die Worte können sich noch und noch gegen sich selbst wenden, der stille Fluchtpunkt bleibt unzugänglich („dans le silence on ne sait pas“). Fortan beginnt Becketts Dichtung, wo das Schreiben gewöhn- lich aufhört. Es möchte von der künstlerischen „Ebene des Machbaren“ („plane of the feasible“) abheben. Welche Alternative gibt es zu dieser Ebene? Auf Georges Duthuits kurz nach Ab- schluss der Romantrilogie gestellte Frage antwortet Beckett in Variierung des L’Innommable-Fazits: „The expression that there is nothing to express, nothing from which to express, no power to express, no desire to express, together with the obligation to express.“26 Wie aber konnte diese Verpflichtung, nachdem Beckett seiner Ausdrucksform jegliche herkömmliche Grundlage entzogen hatte, eingelöst werden? Auf dem Weg zur „zweiten Trilogie“ enstanden mehrere Prosasammlungen, in denen die Bewegung hin zu einer „Literatur des Unworts“27 auf immer radikalere Weise vollzogen wird, indem konventioneller Sprachgebrauch stärker und stärker be- schädigt wird, „bis das Dahinterkauernde, sei es etwas oder nichts, durchzusik- kern anfängt“.28 „The artistic tendency is not expansive, but a contraction.“29 Diese Erkenntnis aus Becketts früher ars poetica über Marcel Proust erhält für das Spätwerk eine leitende Bedeutung. Beckett sah sich gezwungen, sich in kon- struktiv prekäre Lagen erst hineinzuschreiben, die „contraction“ als Qualität im- mer neu zu vollziehen. Auch scheinbar starre Gebilde wie Comment c’est (1960) oder Sans (1969) bergen ein diskursives Moment im Vollzug solchen „Zusam- menziehens“, das sich als Qualität nicht aus sich heraus speist, sondern auf frü- here Schreiberfahrung bezogen werden kann. Vergleiche mit Minimal- oder Konzeptkunst greifen zu kurz.30 Nicht unähnlich den Textes pour rien – dem „Nachlass des Namenlosen“31 – sind auch die allerspätesten Texte Stirrings Still (1986–87) und Comment dire „Nachgeburten“, die auf frühere Texte gründen, 25 L’Innommable, S. 213. 26 Proust – Three Dialogues, S. 103. 27 Beckett in einem auf deutsch verfassten Brief vom 9. Juli 1937 an Axel Kaun, in: Disjec- ta, S. 54. 28 Beckett an Axel Kaun, Disjecta, S. 52. 29 Proust, S. 64. 30 Vgl. etwa: Martin Smuda, Kunst im Kopf – Becketts spätere Prosa und das Imaginäre, in: Samuel Beckett, hrsg. von Hartmut Engelhardt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 211ff.23 ohne dass grössere Werkausdehnungen noch möglich wären. Die leitende litera- rische Maxime des Unworts holt sich in den letzten Schreibversuchen selbst ein. Zum allerletzten Mal charakterisieren die Paralipomena Stirrings Still und Com- ment dire das zenrale Beckettsche Dilemma: Nicht enden können. Die beiden letzten publizierten literarischen Äusserungen Becketts wurden von aussen impulsiert.32 Als er im April 1986 von der Entlassung seines amerikani- schen Herausgebers und Freundes Barney Rosset erfuhr, dachte Beckett über Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung nach. Nachdem er den Gedanken einer Veröffentlichung der damals noch gesperrten frühen Werke Dream of Fair to Middling Women (1932) oder Eleutheria (1947) bald verworfen hatte, besann er sich darauf, zwei schon geschriebene Prosafragmente durch ein drittes zu ei- nem neuen Werk zu ergänzen. Das kurze Manuskript wurde erst Ende 1987 fer- tiggestellt und erschien 1988 mit der Widmung „For Barney Rosset“ in einer lu- xuriösen Ausgabe von 2000 Exemplaren unter dem Titel Stirrings Still. In den letzten Lebensjahren verschlechterte sich Becketts Gesundheitszustand rapide. Als Folge der Parkinsonschen Krankheit hatte er immer häufiger unter Stürzen zu leiden. Ende Juli 1988 verunglückte er in seiner Pariser Wohnung und fiel ins Koma. Er wurde in das Krankenhaus bei Courbevoie eingeliefert, später ins Hôpital Pasteur überstellt. Die letzte Zeit seines Lebens verbrachte er in einem Pflegeheim, dem Hôtel et maison de retraite médicalisée Le Tiers Temps. Unmittelbar nachdem er im Sommer 1988 aus dem Koma wiederer- wacht war, begann Beckett noch im Krankenbett mit der Niederschrift von Comment dire. Schreibimpuls war der Versuch einer Wiedererinnerung an eine Sprache, deren konstruktive Auslöschung er sein Dichterleben lang verfolgt hat- te. Die Qualität fragmentarischer Erinnerung, die er in zahlreichen Werken um der Auflösung der „fürchterlich willkürliche[n] Materialität der Wortfläche“33 willen inszeniert hatte, wird nun realer Ausgangspunkt seines letzten dichteri- schen Exerzitiums. Obwohl diese spezifische Situation den Anstoss für die Entstehung von Com- ment dire gab, ist die Bedeutung des biographischen Kontextes für eine detail- lierte Lektüre des Textes nicht wesentlich; eine Verhandlung der pathologischen Natur des Anlasses findet dort nicht statt. Beckett pflegte zu Recht ein gründli- ches Misstrauen gegen die Bedeutung äusserer Anlässe für die Entstehung von Kunst – mit einer Ausnahme: „I know that all that is required now […] is to make of […] this fidelity of failure […] a new occasion, a new term of relation and of the act which, unable to act, obliged to 31 Vgl. Klaus Birkenhauers Anmerkung zu Elmar Tophovens Übertragung Texte um Nichts, in: Erzählungen, S. 255. 32 Vgl. auch das letzte Kapitel Winter Journey 1983–89 in James Knowlsons Biographie Damned to Fame – The Life of Samuel Beckett, S. 601ff. 33 Beckett an Axel Kaun, Disjecta, S. 53.24 act, he [Bram van Velde] makes, an expressive act, even if only of itself, of its impossi- bility, of its obligation.“34 Die letzten Texte fielen nicht sehr zu Becketts Zufriedenheit aus35; er schloss das Typoskript von Comment dire am 29. Oktober 1988 „ruefully“36 ab. Er hatte es in beiden Texten nicht mehr vermocht, sich noch weiter in die fruchtbare Enge der zweiten Trilogie zu schreiben; die Errungenschaften zumal von Worstward Ho waren in der gegebenen Situation nicht mehr zu über-, besser: zu unterbie- ten. * Meine Konzentration auf messbare „Resultate“, auf Werk-Kontinuität und der- gleichen entspricht fürderhin einer bloss äusseren Werkansicht, einer Skizzie- rung grober Diachronie, die eine Basis abgeben kann für eine analytische Fein- einstellung. Aus der teils vergleichenden Betrachtungsweise folgt allerdings kein Zweifel an der Eigenständigkeit und Geschlossenheit der Texte. Die Untersu- chung werkübergreifender Merkmale dient allein der vorbereitenden Annähe- rung an die Situation, in der Becketts letzte Texte entstanden sind. Alsdann er- folgt der Versuch einer ersten Lektüre von Comment dire bzw. What is the Word. Lesen heisst hier Buchstabieren, um die Verdunklungsverfahren ein kleines Stück in umgekehrter Richtung zu verfolgen – nicht um Licht ins Dunkel zu tra- gen, sondern um eine etwas genauere Kenntnis der Trübe des Textes zu gewin- nen: Ihn „zu verstehen kann nichts anderes heissen, als seine Unverständlichkeit verstehen, konkret den Sinnzusammenhang dessen nachkonstruieren, dass [er] keinen hat.“37 Zuvor erfolgt ein kurzer Vergleich der Fassungen. 34 Three Dialogues, S. 125. 35 Zu Becketts genereller Schreibfrustration nach Worstward Ho vgl. James Knowlson, Damned to Fame, S. 601ff.: „[S]uch inertia and void as never before. I remember an entry in Kafka’s diary. ‚Gardening. No hope for the future.‘ At least he could garden. There must be words for it. I don’t expect ever to find them.“ 36 Samuel Beckett zitiert nach Enoch Brater, The Drama in the Text, S. 165. 37 Theodor W. Adorno, Versuch, das Endspiel zu verstehen, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 61994, S. 283.25 1.2. Die Texte COMMENT DIRE WHAT IS THE WORD 1 folie – 1 folly – 2 folie que de – 2 folly for to – 3 que de – 3 for to – 4 comment dire – 4 what is the word – 5 folie que de ce – 5 folly from this – 6 depuis – 6 all this – 7 folie depuis ce – 7 folly from all this – 8 donné – 8 given – 9 folie donné ce que de – 9 folly given all this – 10 vu – 10 seeing – 11 folie vu ce – 11 folly seeing all this – 12 ce – 12 this – 13 comment dire – 13 what is the word – 14 ceci – 14 this this – 15 ce ceci – 15 this this here – 16 ceci-ci – 16 all this this here – 17 tout ce ceci-ci 17 folly given all this – 18 folie donné tout ce – 18 seeing – 19 vu – 19 folly seeing all this this here – 20 folie vu tout ce ceci-ci que de – 20 for to – 21 que de – 21 what is the word – 22 comment dire – 22 see – 23 voir – 23 glimpse – 24 entrevoir – 24 seem to glimpse – 25 croire entrevoir – 25 need to seem to glimpse – 26 vouloir croire entrevoir – 26 folly for to need to seem to glimpse – 27 folie que de vouloir croire entrevoir 27 what – quoi – 28 quoi – 28 what is the word –26 29 comment dire – 29 and where – 30 et où – 30 folly for to need to seem to glimpse what where – 31 que de vouloir croire entrevoir quoi où 31 where – – 32 où – 32 what is the word – 33 comment dire – 33 there – 34 là – 34 over there – 35 là-bas – 35 away over there – 36 loin – 36 afar – 37 loin là là-bas – 37 afar away over there – 38 à pleine – 38 afaint – 39 loin là là-bas à peine quoi – 39 afaint afar away over there what – 40 quoi – 40 what – 41 comment dire – 41 what is the word – 42 vu tout ceci – 42 seeing all this – 43 tout ce ceci-ci – 43 all this this – 44 folie que de voir quoi – 44 all this this here – 45 entrevoir – 45 folly for to see what – 46 croire entrevoir – 46 glimpse – 47 vouloir croire entrevoir – 47 seem to glimpse – 48 loin là là-bas à peine quoi – 48 need to seem to glimpse – 49 folie que d’y vouloir croire entrevoir 49 afaint afar away over there what – quoi – 50 quoi – 50 folly for to need to seem to glimpse afaint afar away over there what – 51 comment dire – 51 what – 52 comment dire 52 what is the word – 53 what is the word 27 1.3. Übertragungsprobleme Soweit bekannt, war die Übertragung von Comment dire ins Englische Becketts letzte literarische Tat; What is the Word lag im April 1989 vor. Es ist schwierig, den Übertragungsvorgang genau zu verstehen, weil die einzige zugängliche Ver- öffentlichung von Comment dire im bei Minuit erschienenen Gedichtbändchen offenbar fehlerhaft ist. Eine dort erwähnte, auf Mai 1989 datierte private Re- produktion des Manuskripts konnte bislang nicht eruiert werden.38 Jedenfalls verdienten einige Stellen genauere Überprüfung: Comment dire, v. 16: Nach dem hier wirksamen Prinzip einer einfachen, silben- weisen adiectio müsste der Vers lauten: „ce ceci-ci –“. Der darauffolgende Vers knüpft an diese Gestalt an. Auch die englische Übertragung spricht gegen die bei Minuit abgedruckte Formulierung. Eine ähnlich auffällige Stelle erscheint in What is the Word, v. 19: Die dem Fran- zösischen entsprechende Lesart wäre „folly seeing all this this here for to –“. Dies liegt im Bereich der licentiae. In einer auf Widersprüchlichkeit fussenden und sprachliche Logizität in Zweifel ziehenden Dichtung ist eine sture Perpetu- ierung erkennbarer Muster selbstverständlich nicht immer zu erwarten. Die Un- regelmässigkeit in Comment dire v. 38 aber ist gravierender, weil sie die anzu- nehmende Implikation des Verses in ihr genaues Gegenteil verkehrt. Die Fortsetzung in v. 39 sowie der Vergleich mit What is the Word schliesst die Mög- lichkeit von „à pleine –“ (= reichlich!) fast vollständig aus. Auch der gegebene Kontext äusserster Ephemierung legt eine Berichtigung in „à peine –“ (= kaum) nahe. Diese und andere Auffälligkeiten lassen an der Zuverlässigkeit zumal der franzö- sischen Ausgabe zweifeln. Aussagen darüber, ob Inkongruenzen „künstlerisch“ zu bewerten oder einer mangelhaften Ausgabe anzulasten sind, können mit letz- ter Sicherheit nicht gemacht werden. Alle vergleichenden Betrachtungen stehen unter diesem Vorbehalt. Die Versionen divergieren in ihrer Verssumme um einen Vers: Comment dire be- sitzt 52, What is the Word 53 Verse. Die französischen Verse 16 und 17 „ceci-ci – / tout ce ceci-ci –“ gehen im englischen 16. Vers „all this this here –“ auf; die englischen Verse 35 „away over there –“ und 43 „all this this –“ besitzen keine französischen Entsprechungen. Die wesentliche Differenz am Schluss der Texte (Comment dire v. 49 und What is the Word v. 50) entzieht sich der vorläufigen, bloss konstatierenden Textkritik; sie kann erst in einem späteren Argumenta- tionsstadium sinnvoll diskutiert werden. Selbst eingedenk aller Unregelmässigkeiten handelt es sich bei What is the Word um eine für Becketts Verhältnisse noch relativ getreue Übertragung. Andere Tex- te erfahren bisweilen ihre komplette Umdichtung: Die englische Version Some- thing There des Gedichtes Hors crâne seul dedans (beide 1974) zum Beispiel ist 38 Poèmes suivi de mirlitonnades, S. 31.28 keine herkömmliche Übertragung, sondern ein neuer englischer Text auf der Ba- sis der französischen Erstfassung. Aber auch andere, weniger divergierende Fas- sungen beanspruchen als Kunstwerke einen prinzipiell autonomen Status, und zwar unabhängig von der Frage der Urfassung. Ein Hauptproblem der Übertragung resultiert aus einer wesentlichen Tendenz der Kunstsprache Becketts: Eine Balance zwischen Sinn und Klang der Worte muss in der jeweils anderen Sprache neu gefunden werden. Das folgende Bei- spiel aus Comment dire (v. 23–26) verdeutlicht, wie die semantische Implikation schwindender Wahrnehmung in homophoner adiectio klanglich realisiert wird: „voire – entrevoire – croire entrevoire – vouloire croire entrevoire –“ Im Englischen muss die Paronomasie auf andere Lautwerte transponiert werden (v. 22–25): „see – glimpse – seem to glimpse – need to seem to glimpse –“ Dieser Vergleich liefert zudem eine mögliche Erklärung für die Abweichung von Comment dire v. 27 gegenüber What is the Word v. 26: „folie que de vouloir croire entrevoir quoi –“ „folly for to need to seem to glimpse [what] –“ Eine vermeintlich getreuere Übertragung würde „what“ nicht unterschlagen und dadurch die englische [u:]/[i:]-Lautreihe empfindlich stören. Das scheinbare De- fizit wird im nachfolgenden Vers und Kehrvers (v. 27/28) allerdings von selbst wieder ausgeglichen – was auf andere Art schon in der Alliteration von „quoi“ und „comment“ angelegt ist. An dieser Stelle wird deutlich, dass klangliche Aus- gestaltung den Vorzug vor anderen Gestaltungsfragen geniessen kann. Für die nachfolgende Betrachtung ist die englische Version des Werkes wichtiger als die französische, weil ihre Überlieferung zuverlässiger erscheint – und nicht zuletzt auch deswegen, weil sie als Grundlage für die Arbeiten von István Siklós und György Kurtág dient.29 1.4. Inventar und Echos „I love the words, words have been my only love, not many.“ (Samuel Beckett) What is the Word besteht aus einem Inventar von 24 maximal zweisilbigen Wör- tern. Es sind dies, in der Reihenfolge ihres ersten Erscheinens, folgende: what, is, the, word, folly, for, to, from, this, all, given, seeing, here, see, glimpse, seem, need, and, where, there, over, away, afar, afaint Das Klangprofil des Wortmaterials beschränkt sich auf wenige Signalgruppen: what – word – where; the – this – there – where – here; folly – for – from; given – glimpse; seeing – see – seem – need; and – away – afar – afaint. „Word“ und „folly“ sind die letzten Substantiva; Adjektiva und Personalprono- mina sind vollständig aus dem Wortschatz verbannt – „For the first personal and a forteriori plural pronoun had never any place in your vocabulary“.39 In den 53 Zeilen des Textes wird der Restwortschatz nicht ausgebreitet, sondern förmlich eingezirkelt. Es ist die extreme Spielart eines Fokusverfahrens, dessen Beckett sich häufig bedient: Einzelne Objekte, seien es solche der Bühnenwirk- lichkeit oder Wörter, werden so lange intensiv fokussiert, bis ihr vormals sicher geglaubter Sinngehalt ins Wanken gerät. Innerhalb eines fast völlig entleerten Text-Raums können banalste Gegenstände in ihrer übermässigen Konkretion Entstellungen erleiden oder sich der Wahrnehmung – dem „sale œil de chair“40 – zunehmend entziehen. In Mal vu mal dit wird diese Technik unerbittlichen Blickens genau beschrieben: „Calme et vide se soir comme toujours. Soir et nuit. Il n’est que de fixer l’herbe. Comme elle ploit immobile. Jusqu’au moment où sous l’œil qui s’acharne elle fris- sonne. D’un frisson infime venu de son profond.“41 Einige Aufschlüsse über die Beschaffenheit – nicht Bedeutung! – des Restinven- tars liefern Vergleiche mit anderen Texten und Äusserungen Becketts. Intertex- tuellen Echos soll nachgelauscht werden – nicht mit dem Anspruch auf fixe Ein- ordnung der Einzelelemente in das Inventar, sondern aus einem Bedürfnis nach Orientierung. Bei Beckett kann Textauslöschung darauf beruhen, das Dekompo- sitionspotential eines Textes in einem anderen wuchern zu lassen, wie in einem Palimpsest, das nach jeder neuen Schreibschicht zunehmend verblassen würde. Das trifft für What is the Word in besonderem Masse zu. Könnte Stirrings Still als 39 Company, S. 86f. „Les mots aussi, lents, lents, le sujet meurt avant d’atteindre le verbe, les mots s’arrêtent aussi.“ (Textes pour rien [II], S. 125). 40 Mal vu mal dit, S. 37. 41 Ebd., S. 36.30 eine Art Resümee der zweiten Trilogie gelesen werden, isoliert What is the Word Mittel der Sprachzersetzung, die für die kontraktive Dynamik des grösseren Zy- klus verantwortlich sind. Noch mehr als sonst arbeitet Beckett mit dem Wortab- fall früherer Texte.42 Auffällig ist zumal die Häufung von Fernvokabeln wie „over there, away, afar, afaint, where“; sie rücken die ohnedies unbestimmten Implikationen von „all this“ und „here“ in eine nahezu unendliche Perspektive. „Given“ und „seeing/ see“ sind die letzten Verbformen, die auf eine latente Verbindung zu empiri- schen Orientierungsformen hinweisen könnten; sie werden durch die Relativie- rung „glimpse“, die Modalformen „seem“ und „need“ entkräftet. Der Gebrauch von Wortfeldern vager und verdunkelnder Beschaffenheit ist für Beckett nicht ungewöhnlich. Ihre Wucherung tendiert gewöhnlich zur Auslö- schung residualer Bildgehalte. Die Mesquinerie der fragmentarischen Grund- konstellationen von Worstward Ho zum Beispiel verliert sich fast vollständig in einem Sog, der von der Häufung trübender Valeurs wie „dim“, „void“, „worse“, „lose“, „wrong“, „faint“ etc. ausgeht. Nach der radikalen Extrapolierung des dunklen Wortfeldes in What is the Word hat sich die Situation allerdings zuge- spitzt: Infolge des Mangels an noch auszulöschenden Entitäten greift der Prozess der Verstummung fast schon ins Leere. Beckett eröffnet den Zugang zu dieser Problematik auf wenig hochtrabende Weise. Der Titel signalisiert zuerst eine bekannte Art sprachlichen Scheiterns: Die alltägliche Verlegenheitsgeste „comment dire …“ bzw. „what is the word …“ liesse sich übersetzen mit „wie soll man sagen …“, oder „wie heisst das Wort …“. Die Möglichkeit einer platonischen Wendung des pun („WAS IST das Wort?“) ist daher durch den Doppelsinn von Beginn an relativiert, eine Balance zwischen banaler Sprechtücke und Sprachphilosophie installiert – zudem ist die Frage durch das Fehlen des Fragezeichens als Aussage enttarnt. Titel der früheren grossen Projekte Watt und Comment c’est klingen hier an. Ein Bezug substantiellerer Art lässt sich zu Mal vu mal dit herstellen: Dort kommt der Zweifel der sprechenden Instanz, des ‚Erzählers‘, an der eigenen Erzählkom- petenz in der regelmässig intermittierenden Kadenz der Leitfrage „– comment dire? Comment mal dire?“ bzw. „– what is the word? What the wrong word?“ zum Ausdruck.43 Gleichzeitig gibt die Formulierung einen Hinweis auf die mög- liche Erzählabsicht einer permanenten Erzählsubversion, eines „Falsch-Sagens“. Vielleicht liegt in der Rücknahme des „mal“ aus der Formel ihre Potenzierung und markiert die dichterische Grenzsituation von What is the Word: Auch das Vertrauen in eine ars male dicendi scheint nun nachhaltig gestört. „Comment di- re“ stellt „mal dire“ nochmals in Frage. „Nicht nur die totale Verständlichkeit, sondern auch die totale Unverständlichkeit misslingt der Sprache, aufgrund der 42 Diese Vorliebe schlägt sich nicht selten in der Titelwahl nieder, z.B.: Echo’s Bones and Other Precipitates, Têtes-mortes, Pour finir encore et autres foirades, Fizzles, Mirlitonnades. 43 Erstmals Mal vu mal dit, S. 20; Ill seen ill said, S. 17.31 ‚absolute absence of the Absolute‘.“44 Ist jeder neue Versuch, zu misslingen, nun endgültig zum Scheitern verurteilt? 1.5. Exkurs: „folly“/„folie“ Ein Textelement, das eine ähnlich hartnäckige wie formbildende Konsistenz wie der Titelvers aufweist, ist das Wort „folly“. Wie ein Bannspruch sucht es die ge- fährliche Rückentwicklung der Worte in den Bereich des Trugs, der „plane of the feasible“45 – wie sich zeigen wird: vergeblich – zu verhindern. In konzen- triertester Form übernimmt „folly“ die Funktion der sich widersprechenden Ar- gumentationsmuster früherer Texte. Die Diskreditierung elementarer Sprachlo- gik ist spätestens seit der „Lügner-Antinomie“46 des L’Innommable Grundvoraussetzung allen Schreibens bei Beckett. Im folgenden Beispiel wäre die funktionale Entsprechung zu „folly“ das Wort „sans“. „Où maintenant? Quand maintenant? Qui maintenant? Sans me le demander. Dire je. Sans le penser. Appeler ça des questions, des hypothèses.“ (L’Innommable, S. 7) Die nachhaltige fallacische Verstrickung ist Bedingung für die Erschütterung personaler und situativer Konturen. Der Trugschluss als auslösendes Moment ei- ner fast leeren Textbewegung resultiert aus der willentlichen Einschränkung der Sprech- bzw. Schreibkompetenz. Gleichzeitig gründet planvolles Falschsagen auf einem notwendigen Rest von Urteilsvermögen, das im dichterischen Irresein von Company offen installiert ist. „So with what reasons remains he reasons and reasons ill.“ (Company, erstmals S. 14) In der 28. Redeportion von Mal vu mal dit mischt der Wahn sich ein und gibt sich erstmals unverblümt als entscheidende Triebkraft der Textbewegung zu er- kennen. „A force de – faillite à force de faillite la folie s’en mêle. A force de débris. Vus n’importe comment n’importe comment dits. […] Qu’elle disparaisse. […] Vide. Rien d’autre. Contempler cela. Plus un mot. Rendu enfin. Du calme.“ (Mal vu mal dit, S. 37f.) Dies gleicht einem Irrewerden an den trügerischen Spiegelungen des Textes. Aus diesem Blickwinkel kann What is the Word wie eine Demonstration von Becketts konstruktiver poetischer Narrheit erscheinen. Das deutet auf einen wichtigen 44 Andrea Merger, Becketts Rhetorik des Sprachmissbrauchs, S. 291. 45 Three Dialogues, S. 103. 46 Ulrich Pothast, Die eigentlich metaphysische Tätigkeit – Über Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett, S. 288.32 Punkt seiner schriftstellerischen Entwicklung hin. Offenbar bot erst das voll- ständige Vertrauen in die Qualität „folly“ die wesentliche Voraussetzung für die Entstehung seiner Nachkriegsdichtung: „Molloy and the others came to me the day I became aware of my own folly.“47 Diese Aussage bezieht sich auf eine entscheidende Phase von Becketts Schrift- stellerlaufbahn, die gerne als Wende aufgefasst wird. Ungefähr seit der Nieder- schrift des letzten englischen Romans Watt, spätestens aber mit dem Wechsel ins Französische avancierte das Ausloten dichterischer Unschärferelationen zur Hauptsache von Becketts Poetik. In Krapp’s Last Tape erscheint, autobiogra- phisch oder nicht, der wesentliche Einschnitt in der berühmten Szene über künstlerische Erleuchtung: „Spiritually a year of profound gloom and indigence until that memorable night in March, at the end of the jetty, in the howling wind, never to be forgotten, when sud- denly I saw the whole thing. The vision at last. This I fancy is what I have chiefly to record that evening, against the day when my work will be done and perhaps no place left in my memory, warm or cold, for the miracle that … [hesitates] … for the fire that set it alight. What I suddenly saw then was this, that the belief I had been going on all my life, namely – [KRAPP switches off impatiently, winds tape forward, switches on again] – great granite rocks the foam flying up in the light of the lighthouse and the wind-gauge spinning like a propeller, clear to me at last that the dark I have always struggled to keep under is in reality my most – [KRAPP curses, switches off, winds tape forward, switches on again] – unshatterable association until my dissolution of storm and night with the light of the understanding and the fire –[KRAPP curses louder, switches off, winds tape forward, switches on again] […]“48 Krapps idiosynkratische Reaktion auf seine eigenen, in früherer Zeit auf Band gesprochenen Worte verdeutlicht symptomatisch Becketts neue Position: Nach- dem die aus dem ersten Impuls gezogene Energie nach wenigen Jahren ver- braucht war, musste jeder neue Schreibansatz offenbar mühsam errungen wer- den. „‚Your novels are rather difficult reading. Were they hard to write?‘ ‚Oh, yes, but they came in one great spurt of enthusiasm.‘ ‚Enthusiasm?‘ ‚Malone grew out of Molloy, The Unnamable out of Malone, but afterwards – and for a long time – I wasn’t at all sure what I had left to say. I’d hemmed myself in.‘“49 47 Beckett in einem Gespräch mit Gabriel D’Aubarede (16. Februar 1961), zitiert nach Sa- muel Beckett – The Critical Heritage, hrsg. von Raymond Federman und Lawrence Graver, London u.a.: Routledge & Kegan Paul 1977, S. 217. 48 Krapp’s Last Tape, S. 60. 49 Samuel Beckett 1956 in einem Interview mit Israel Shenker, zitiert nach The Critical He- ritage, S. 216.33 Das Wort „folly“ hat noch einen anderen Geschmack. Als Knabe pflegte Beckett eine Zufluchtsstätte in der Nähe des im Dubliner Vorort Foxrock gelegenen El- ternhauses „Cooldrinagh“ aufzusuchen: Die Ruine des Barrington’s Tower, die auch Foley’s Folly genannt wurde.50 Es handelt sich dabei um eines der topogra- phischen Details aus Becketts Kindheitserinnerung, das in seiner Dichtung im- mer wieder erscheint; bevor es von Eoin O’Brien identifiziert wurde, fühlte sich die Beckettforschung zu manch abenteuerlicher Deutung ermuntert.51 Es ist bezeichnend, dass ein direkter Bezug zu Becketts frühem Refugium im Werk der Vorkriegszeit bislang nicht nachgewiesen werden konnte. Der erste Fundort stammt aus der Zeit des französischen Neuansatzes, gewissermassen des ersten Einzugs in das Refugium der Nicht-Muttersprache. „Je vois une sorte d’antre, au sol jonché de boîtes de conserves. Cependant ce n’est pas la campagne. C’est peut-être de simples ruines, c’est peut-être les ruines d’une folie, aux abords de la ville, dans un champ, car les champs venaient jusque sous nos murs, leurs murs, et la nuit les vaches se couchaient à l’abri des fortifications. J’ai telement changé de refuge […]“52 Die direkte Übersetzung der Ortsbezeichnung verschleiert den konkreten Zu- sammenhang und evoziert ein enigmatisches Bild von Ruinen der Torheit bzw. einer Zuflucht zu ihr. Dieser Kurzschluss wird in Sans extrapoliert: „Ruines vrai refuge […]“.53 In Becketts Kommentar zum deterministischen Aufbau des Textes (hier der eng- lischen Version Lessness) entspricht die Klassifizierung unter eine spezifische „statement group“ der in den vierziger Jahren aufgestellten ästhetischen „Glei- chung“: „Group A – Collapse of refuge – Sign: ‚true refuge‘.“54 50 Auch Thomas Steiert macht auf diesen Zusammenhang aufmerksam: „Erweitert man die Bedeutung des Wortes also entsprechend, so bekommt ‚folly‘ in What is the word eine doppelte Funktion als Zustands- und Raumbegriff, wodurch eine ‚innere‘ und eine ‚äußere‘ Lokalisie- rung der imaginären Stimme vorstellbar wird.“ (Thomas Steiert, György Kurtágs Vertonung von Samuel Becketts „What is the Word“ (Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval) op. 30b, in: Das Gedichtete behauptet sein Recht – Festschrift für Walter Ge- bhard zum 65. Geburtstag, hrsg. von Klaus H. Kiefer u.a., Frankfurt am Main etc.: Lang 2001, S. 584). 51 Vgl. Eoin O’Brien, The Beckett Country, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 52ff. 52 Le Calmant, in: Nouvelles, S. 40. 53 Têtes-mortes, u.a. S. 69. 54 Samuel Beckett zitiert nach Martin Esslin, Samuel Beckett – Infinity, Eternity, in: Beckett at 80 / Beckett in Context, hrsg. von Enoch Brater, New York – Oxford: Oxford University Press 1986, S. 118.34 Im Bühnenstück That Time wirkt die topographische Obskurität schwächer, weil die entsprechende Textschicht eindeutig als Kindheitserinnerung ausgewie- sen ist. Obwohl die Verrätselung des Namens unter der Hand rückgängig ge- macht wird („someone’s folly“ –„Foley was it Foley’s Folly“), resultiert die Irri- tation aus der unvermittelt starken Fokussierung des Wortes. „[…] all gone long ago that time you went back that last time to look was the ruin still there where you hid as a child someone’s folly. […] Foley was it Foley’s Folly bit of a tower still standing all the rest rubble and nettles […]“55 Der Rätselcharakter des Überkonkreten stimuliert die Deutungsinitiative des Beckettlesers. Dies bestätigt Elmar Tophoven in seiner deutschen Übertragung von „folly“ durch „Tuskulum“. Sein Kommentar lautet: „Becketts Neigung, die auf der Bühne gegenwärtige Situation zu relativieren, indem er darin historische Dimensionen anklingen lässt […], führte hier zur Einführung des Begriffs ‚Tuskulum‘. Die Ruine, ‚wo du dich verstecktest als Kind jemandes Tuskulum‘ […], heisst nämlich im englischen Original nur schlicht ‚someone’s folly‘. Aber kurz darauf wird sie genauer erklärt: ‚Folley was it Foley’s Folly bit of a tower‘ – und nun brauchte nur noch der Name angepasst zu werden, damit sich im Deutschen ‚Tusku- lum‘ als Inbegriff des Landsitzes beschwören liess: ‚Tuohy war es Tuohys Tuskulum ein Turmstumpf‘.“56 In den späteren Texten sind solche Bezüge eher mittelbar enthalten und entspre- chend schwierig zu greifen. Obwohl die Turmruine nirgends mehr explizit in Er- scheinung tritt, wird eine Erinnerung aus der Erzählschicht der Fabel Company mit O’Briens intimer Ortskenntnis lokalisierbar: „Von seinem Versteck aus in ‚Foley’s Folly‘ hatte Beckett eine beherrschende Aussicht auf das Panorama der Wicklow-Berge und nach Osten hin auf die Meeresküste von Killiney; an klaren Tagen konnte man bis nach Wales hinübersehen.“57 „You slip away at break of day and climb to your hiding place on the hillside. A nook on the gorse. East beyond the sea the faint shape of high mountain. Seventy miles away according to your Longman.“58 Sind Bildlichkeiten, greifbare Konturen von Realität aus What is the Word wirk- lich gänzlich verbannt? Gerade im Bannwort „folly“, das zunächst eher für die generelle Unterdrückung der Verweise verantwortlich schien, liegt die Möglich- keit einer gewissen situativen Option, einer über blosse Lokalität hinausgreifen- den Raumvorstellung – die wiederum selbst mit der Vorstellung des Rückzugs aus einer beschreibbaren vordergründigen Wirklichkeit verbunden erscheint. 55 That Time, in: Collected Shorter Plays, S. 229. 56 Elmar Tophoven zitiert nach Samuel Beckett, Szenen, Prosa, Verse, S. 262f. 57 Eoin O’Brien, The Beckett Country, S. 54. 58 Company, S. 32f.35 1.6. Frage der Gattung „Call it Dichtungen … “ (Samuel Beckett) Die äussere Versdisposition scheint What is the Word als lyrisches Erzeugnis aus- zuweisen. Gemäss den Erfordernissen einer aufs Verstummen ausgerichteten Wortkunst sind die Verse durch Gedankenstriche als Anakoluthe kenntlich ge- macht. In gewissem Sinn wird Gottfried Benns Wort auf den Kopf gestellt: „Nur der Lyriker, der wahrhaft grosse Lyriker weiss, was das Wort wirklich ist.“59 Diese Lyrik ist offen für Dramatik. Eine versprengte Referenz des Gedichts kann in Vers 29 wahrgenommen werden: Hier zitiert Beckett den Titel seines letzten dramatischen Werks What Where (1983). „BEM: What must he confess? BAM: That he said where to him. BEM: Is that all? BAM: And where.“60 Der diskursive Gegenstand bleibt in What where unbestimmt. Wie Stirrings Still und What is the Word kreist auch Becketts letztes Bühnenstück um die nicht aus- füllbare Leerstelle –„that missing word.“61 Indessen ist What is the Word auch auf die wirkliche Bühne gekommen, in gewissem Sinn sogar als szenische Arbeit konzipiert. Ruby Cohn hatte eine englische Version von Comment dire angeregt, um sie als Spielvorlage für den amerikanischen Regisseur und Schauspieler Jo- seph Chaikin zu verwenden. Chaikin war mit Becketts Werk bestens vertraut, so dass Beckett der Anregung zur Übersetzung folgte und What is the Word mit ei- ner Widmung an Chaikin versah – vielleicht schien ihm Chaikin nicht zuletzt wegen dessen nie ganz überwundener Aphasie für das Vorhaben geeignet.62 Auch unabhängig von entstehungsgeschichtlichen Übereinstimmungen wird das dramatische Potential von What is the Word evident zumal in Hinblick auf Becketts szenische Monologe der siebziger Jahre. Wie in der chronischen Logor- rhöe von Not I (1972) bewegt sich der Text um immer dieselben elliptischen Partikel. Mouths Redeflucht ist in What is the Word allerdings erheblich erlahmt und auf nur wenige Vokabeln eingeschränkt. 59 Gottfried Benn, Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. VII, Wiesbaden: Limes 1960–75, S. 1719. 60 What Where, S. 315 61 Stirrings Still, S. 26. 62 Vgl. Enoch Brater, The Drama in the Text, S. 165 u. 204f.; Eileen Blumenthal, Joseph Chaikin – Exploring the Boundaries of Theater, Cambridge u.a.: Cambridge University Press 1984.36 Gleichzeitig ist die Textgestalt von What is the Word in unmittelbarer Nähe zur spätesten Prosa angesiedelt. Ansatzpunkt sind vor allem solche Passagen, die dem Klangspiel zuneigen. Bereits in seiner frühen Joyce-Apologie Dante … Bruno . Vico .. Joyce (1929) hatte Beckett für eine neue, adäquate Sinn-Klang- Liaison plädiert, die vom Schreiben „über etwas“ weg führen solle und muster- gültig bei Joyce realisiert sei: „His writing is not about something; it is that something itself. […] When the sense is sleeping, the words go to sleep. (See the end of Anna Livia.) When the sense is danc- ing, the words dance.“63 Beckett selbst gibt in seinen späten Werken dem Klangprofil der Worte bisweilen den Vorzug vor der Semantik, um eine grösstmögliche Ambiguisierung von Wortsinn zu verursachen. Er folgt damit der bei Joyce beobachteten Kongruenz, die sich in einer Schweigen beschwörenden Sprachkunst allerdings nicht zu Ende führen lässt, denn: Wenn der Sinn Schweigen ist, schweigen die Worte, und das Blatt bliebe leer. Die späte Prosaarbeit an dieser zentralen Aporie stellt eine wichtige Grundlage für die Textgestalt von What is the Word dar. Das kann anhand der Verunstal- tung einer Passage aus Worstward Ho demonstriert werden: Etwa im 79. Ab- schnitt erfolgt der Versuch einer homomorphen Eintrübung der Worte. Meine graphische Umwandlung in eine „versweise“ angeordnete Gruppierung nach Art des letzten „Gedichts“ verdeutlicht das auf Repetition und Paronomasie ba- sierende Konstruktionsprinzip des Textes. „Less – Less seen – Less seeing – Less seen and seeing when with words than when not – When somehow than when not – Stare by words dimmed – Shades dimmed – Void dimmed – Dim dimmed – All there as when no words – As when nohow – Only all dimmed – Till blank again – No words again – Nohow again – Then all undimmed – Stare undimmed – That words had dimmed –“64 63 Dante … Bruno . Vico .. Joyce, S. 27. 64 Nach Worstward Ho, S. 50.37 Diese Prosa ist ein homophones Perpetuieren von Worten. Von hier aus ist es kein weiter Weg zu What is the Word. Der lose syntaktische Zusammenhalt der Prosa bricht endgültig auf, die Redefragmente zerfallen zu anakoluthischen Ver- sen. Die im leidlichen Schreibfluss der Prosa noch zusammengehaltenen Bruch- stücke diktieren noch die vermeintlich lyrische Disposition. Die Versordnung markiert daher einen Grad des äussersten textuellen Verschleisses: Die Segmente aus Worstward Ho erfahren Subsegmentierung. In seiner gattungsmässigen Resistenz ist What is the Word kein Sonderfall. Die Vorstellungen einer „lyrischen“ Verdichtung des späten Prosastils oder einer Episierung des Dramas sind längst zu Gemeinplätzen der Beckettforschung ge- worden.65 Ein anderes Indiz für die Permeabilität der Gattungen liefern die zahl- reichen Inszenierungen von Prosastücken, die nicht selten auf Becketts eigene Initiative zurückzuführen sind: Die Problematik der scheinbar ortlosen Stimmen hat sich in szenischen Aufführungen von u.a. From an Abandonned Work, Enough, Le Dépeupleur und Company sowie weiteren Hörspielfassungen von u.a. Lessness noch weiter zugespitzt: Vormals nur imaginierte Stimmen erfahren mithin ihre physische Konkretion.66 Ob im Gedicht, in der Prosa, im Drama: Im fortgeschrittenen Stadium umfas- sender Schreibagonie ist kaum noch zu erkennen, in welchem literarischen „Ge- fäss“ Worte, gar Un-Worte versagen. Nach der „contraction“ gattungsmässiger Spezifika lassen sich Unterschiede kaum mehr ausmachen. What is the Word zieht insofern einen besonderen Nutzen aus der Situation verschwommener Gattungsgrenzen, als nun eine neue „Form“ artikuliert werden kann. 1.7. Form „Plod on and never recede.“ (Samuel Beckett) In What is the Word realisiert Beckett zum letzten Mal eine (bi-)zyklische forma- le Anlage, wie sie sein Formdenken seit spätestens Watt entscheidend geprägt hatte.67 Es ist das formale Modell eines potentiell unendlichen Zirkels, eines un- ablässigen Auf-der-Stelle-Tretens. Das Prinzip ist an keine bestimmte „Gattung“ gebunden: En attendant Godot (1948), Fin de partie oder Happy Days (1961), 65 Vgl. etwa Oliver Sturm, Der letzte Satz der letzten Seite ein letztes Mal – Der alte Beckett, Hamburg: EVA 1994, S. 133ff. 66 Ein Beispiel für die recht sorglose Art, in der der sonst ausgesprochen skrupulöse, auch vor wenig aussichtsreichen Gerichtsverhandlungen nicht zurückschreckende Beckett seine Pro- satexte für die Bühne einzurichten pflegte, liefert die szenische Konzeption der Texts for Not- hing. Auf Chaikins Anfrage von 1980 schlug Beckett ein Modell vor, in dem die Kohärenz des Textes durch eine von Pausen durchsetzten Aufteilung auf die Figuren „speechless author (A)“ und „recorded voice (V)“ aufgelöst wird. 38 Molloy oder Sans können nicht schliessen, bis das Wortmaterial in seiner Wie- derholung verschlissen ist. In Roundelay (1976) führt Beckett die formale Dia- lektik eines endlosen, nicht vom Fleck führenden Kreisens in ungewöhnlicher Regelmässigkeit vor: Verspaare aus insgesamt 18 Wörtern gruppieren sich spie- gelsymmetrisch um den mittleren siebten Vers, der vom Gegensatzpaar „unbid- den stay“ – „unbidden go“, gleichsam das Paradoxon der Formidee verkör- pernd, eingeschlossen ist. Roundelay 1 on all that strand 2 at end of day 3 steps sole sound 4 long sole sound 5 until unbidden stay 6 then no sound 7 on all that strand 8 long no sound 9 until unbidden go 10 steps sole sound 11 long sole sound 12 on all that strand 13 at end of day68 Diese ausbalancierte, regelmässige Formdisposition ist bei Beckett eine seltene Ausnahme und erfährt in What is the Word massive Erschütterung. Die 53 Zei- len umfassende Perpetuierung der 24 Wörter ist hier durch die refrainartige achtfache Wiederkehr der Titelzeile gegliedert. Dieses Rundgericht entfaltet sich, indem die Worte innerhalb der Refrains schwinden. In einem ersten Zyklus (v. 1–41) formieren sich die einzelnen Worte wie mnesti- sche Splitter zu drei strophenartigen Zusammenhängen; in ihnen werden die Bestandteile bestimmter Wortfelder syntaxlos aufgesagt, als handele es sich um eine fast völlig vergessene dichterische Übung. Solche Scherbenstrophen resul- tieren aus der Perpetuierung des gegebenen Wortmaterials, dessen semantische Implikation sich im Fokus der Repetitionen verändert. Der Vorgang wird schliesslich jeweils in einem einzigen Vers zusammengefasst; dieser mutet an wie ein Resultat, ein lokaler Wortniederschlag innerhalb eines Exerzitiums, das ins Stocken gerät und nach dem Refrain „what is the word –“ abbricht, um noch einmal neu anzusetzen. 67 Eine Alternative zu der von mir vorgeschlagenen Gliederung bietet Thomas Steiert: Zwei Teile „A“ und „B“ gruppieren sich demnach um die Konjunktion „and“ von v. 29; vgl. Thomas Steiert, György Kurtágs Vertonung von Samuel Becketts „What is the Word“ (Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval) op. 30b, S. 581ff. 68 Collected Poems in English and French, S. 35.39 „Strophen“: 1. Vers 1–20; Wortfeld: folly, for, to, from, this, all, given, seeing, here Resultat (v. 19): „folly seeing all this this here –“ 2. Vers 22–31; Wortfeld: see, glimpse, seem, to, need, folly, for, what, and, where Resultat (v. 30): „folly for to need to seem to glimpse what where –“ 3. Vers 33–40; Wortfeld: there, over, away, afar, afaint, what Resultat (v. 39): „afaint afar away over there what –“ Der Aufbau der strophenartigen Gruppen wird durch interne Einschaltungen der Titelzeile (vv. 4, 13, 28) zusätzlich verschleiert. Die dritte Gruppe bleibt zwar ununterbrochen, erscheint aber dennoch unvollständig, weil die obligate Relativierung des Resultats durch das Bannwort „folly“ ausfällt; sie führt die kontraktive Qualität der formalen Entwicklung zu einem vorläufigen Endpunkt: Mit „afaint“ ist das Wortinventar des gesamten Textes in Zeile 38 erschöpft, der erste Zyklus nach der Kadenz in Zeile 39/40 und dem anschliessenden Refrain beendet. Das Wort „afaint“ bewirkt am ersten Erschöpfungspunkt des Wortin- ventars eine maximale Weitung der Raumperspektive. Der zweite Zyklus (v. 42–52) wird durch den retrospektiven Vers „seeing all this –“ eröffnet: In ihm erscheint eine gestauchte Reprise des ersten Zyklus. Der ge- samte bisherige Text ist im zweiten Zyklus auf das Format einer vorherigen Stro- phe zusammengeschoben, wobei die Reihenfolge der früheren ‚Strophen‘ exakt eingehalten wird. (Reste der 1. Strophe:) 42 seeing all this – (=̂v. 11) 43 all this this – (=̂v. 16) 44 all this this here – (= v. 16) (Reste der 2. Strophe:) 45 folly for to see what – (=̂v. 30) 46 glimpse – (= v. 23) 47 seem to glimpse – (= v. 24) 48 need to seem to glimpse – (= v. 25) (Reste der 3. Strophe:) 49 afaint afar away over there what – (= v. 39) 50 folly for to need to seem to glimpse afaint afar away over there what – (= v. 26 + v. 39) 51 what – (= vv. 27 u. 40) In der Reprise werden Fragmente aus dem Trümmerfeld des ersten Zyklus zu- sammengetragen. Vers 50 fasst die Resultate der zweiten und dritten Strophe in einfacher Addition nochmals zusammen. Die maximale Anhäufung des Wortma- terials verstärkt, ähnlich der sieben Seiten umfassenden letzten Hypotaxe des L’Innommable, die Hinfälligkeit der Redesituation. Dem durch Ausweitung der40 Lücken verursachten Textverschleiss fallen fünf Positionen zum Opfer: from, gi- ven, see, and, where. Soweit lässt sich für What is the Word die modifizierte Anwendung eines sich selbst erschöpfenden formalen Doppelzyklus konstatieren, wie er auch sehr vie- len anderen Werken Becketts zugrunde liegt. Die für diesen Text entscheidende perspektivische Wendung kommt allerdings erst durch das letzte abgesetzte, durch den fehlenden Gedankenstrich als final ausgewiesene „what is the word“ zustande. Der leere Raum zwischen den letzten Wiederholungen markiert den imaginären Fluchtpunkt des dichterischen Exzerzitiums als dessen virtuelle Ver- längerung: Schweigen. Das Spatium zwischen Zeile 52 und 53 ist kein blosses Innehalten, sondern aktiver Nullvers, in dem die potentiellen Zyklen evaporie- ren. In dieser Leerstelle liegt die latente Kontinuität des Gebildes verborgen. Ginge der Text in ihr irgendwann auf, wenn seine selbstauslöschende Dynamik fortgeführt, Wort um Wort weiteren Schwundreprisen geopfert werden könnte? Die Leerstelle kann Stille nur simulieren, als Absenz von Wörtern bloss in einem negativen Verhältnis abbilden. Hier zeigt sich nochmals, dass ein Endpunkt im unauflöslichen Konflikt zwischen „nicht sprechen können“ und „sprechen müs- sen“ nicht erreicht werden kann: „[…] dans le silence on ne sait pas […]“.69 Vor allem in Becketts späten Werken ist die Vorstellung einer unaufhörlichen, sich selbst einkreisenden Bewegung, eines „stirring still“, nicht nur in formaler Hinsicht präsent, sondern kann insgesamt als wesentlicher Artikulationsmodus angesehen werden. Es sind vor allem Company und Mal vu mal dit, in denen das Prinzip statischer Zirkulation häufig evoziert wird: „[…] le tire-bouton. En argent terni il pend pisciforme par le crochet à un clou. Il oscille sans cesse à peine.“70 „But instead of reading the hour of night they follow round and round the second hand now followed and now preceded by its shadow. […] More might have been observed on the subject of this second hand and its shadow in their seemingly endless parallel rotation round and round the dial.“71 Das als Auffang komplexer erzählerischer Form dienende Bildelement ist in Mal vu mal dit auf nur noch einen Zeiger reduziert72, im Klanglabyrinth von Worst- ward Ho vollends in die Sprachsphäre hineinverlegt. Ein pun wie „That almost ring!“73 zum Beispiel schwingt zwischen verschiedenen Bedeutungen: Der eines semantischen Oszillierens von Wörtern, deren Sinngehalt sich niemals gänzlich 69 L’Innommable, S. 213. 70 Mal vu mal dit, S. 21. 71 Company, S. 81ff. 72 Vgl. Mal vu mal dit, S. 57.41 in blossen Sprachklang auflösen lässt („dieses beinah sinnfreie Klingen“), und der einer mit den Mitteln des Sprachkunstwerks nicht vollständig herstellbaren, sondern nur andeutbaren unaufhörlichen Zirkulation („dieser beinah geschlos- sene Ring“). Infolge des sehr weit fortgeschrittenen Schwunds an Sprachgegenständen tritt der aufs Verstummen ausgerichtete Doppelzyklus auch in What is the Word nicht nur als rein formales Phänomen hervor: Die Grenzen zwischen Formbildung, Material und Gehalt sind nicht klar zu ziehen. Als Kombinationselement erfüllt jedes einzelne Wort eine eminent formale Funktion. Als fast leeres Gefäss ist die zyklische Form nicht mehr, wie noch früher, diskrete Gerüstkonstruktion, son- dern erscheint als Formskelett mit wenig Wortresten. Es entspricht als Ergebnis einem wesentlichen Gehalt des Textes: Der dichterisch verursachten Asphyxie. Nochmals löst Beckett sein frühes Postulat ein, das in What is the Word die Grenzen des künstlerisch Machbaren sichtbar werden lässt: „Here form is content, content is form.“74 1.8. Exkurs: Beckett und Joyce „Sam knows miles bettern me how to work the miracle. And I see by his diarrhio he’s dropping the stammer out of his silenced bladder“ (James Joyce) Die gravierendste Divergenz von What is the Word gegenüber Comment dire liegt in der Dehnung des 49. Verses „folie que d’y vouloir croire entrevoir quoi –“ (Comment dire, v. 49) auf „folly for to need to seem to glimpse afaint afar away over there what –“ (What is the Word, v. 50). In Comment dire wird lediglich der vormals längste 27. Vers wiederholt, wobei sich die geringe Modifikation „d’y“ auf die Reihung der Fernwörter aus v. 48 beziehen lässt. Obschon nur im kleinsten, wirkt die Einführung eines neuen 73 Worstward Ho, S. 40; im engeren Sinn beschreibt der Satz den Ring zweier sich an den Händen haltenden Menschen: „The twain. The hands. Held holding hands. That almost ring!“ Es handelt sich um eine Selbstreferenz: „VI: […] Shall we hold hands in the old way? […] FLO: I can feel the rings.“ (Come and Go, S. 195). 74 Dante … Bruno . Vico .. Joyce, in: Disjecta, S. 26.42 Wortes (bzw. eines neuen Buchstabens) der formalen Kontraktion der Zyklen prinzipiell entgegen – mit entscheidender Konsequenz: Auf die englische Versi- on schlägt das „y“ („dort“) als Aufforderung zum Anschluss des in die Ferne weisenden 39. Verses durch. Damit erfüllt die 50. Zeile von What is the Word eine neue Funktion: Als nunmehr absolutes Maximum, das exakt die Hälfte (12) aller vorkommenden Wörter enthält, ist sie formaler Auffang nicht nur des zweiten Zyklus, sondern des gesamten Textes – allerdings kein sicherer Auffang, sondern einer, der zum Wortkollaps führt. Die Expansion des elfsilbigen französischen Verses auf die 19 Silben des engli- schen wirkt sich nicht nur quantitativ aus. Die freie metrische Gestalt des fran- zösischen verhärtet sich zum monotonen Pochen der englischen Jamben, die eine auffällige Ähnlichkeit mit der Schlusszeile von James Joyces Finnegans Wake (1922–39) aufweisen.75 „Given! A way a lone a last a loved a long the“76 Diese Allusion ist möglicherweise nicht ganz zufällig. Nachdem Beckett 1928 sein Englisch-Lektorat an der École Normale Supérieure in Paris angetreten hat- te, machte er die Bekanntschaft von Joyce und gehörte bald zu dessen engstem Freundes- und Helferkreis. Die Enstehung von Joyces Finnegans Wake, damals noch Work in progress betitelt, konnte er aus nächster Nähe beobachten: Nicht nur diktierte der fast vollständig erblindete Joyce ihm einige Teile des Romans; gemeinsam mit Alfred Péron übersetzte Beckett das Kapitel Anna Livia Plurabel- le ins Französische und war auch an den Recherchen für Work in progress betei- ligt.77 Beckett hat seine dichterische Laufbahn unter Joyces Protektorat begonnen, dem kaum entgangen sein wird, welch starken Einfluss er auf gewisse früheste Erzeugnisse ausübte („He has talent, I think.“78). Zumal in Text (1932) und Se- dendo et Quiescendo (1932) hatte Beckett gezeigt, dass er das Handwerk des Wake beherrschte. Gleichgültig, ob man solche Frühwerke als glänzende Parodi- en schätzen oder als bloss epigonal verwerfen möchte, nimmt Beckett von hier aus seinen Weg auf, um der Joyceschen Apotheose des Wortes schliesslich dessen völlige Agonie entgegenzusetzen. Wie früh Beckett tatsächlich damit begann, wird gerne übersehen. Ein Blick auf sein erstes veröffentlichtes dichterisches Werk Assumption (1929) zeigt, dass der 23jährige der Joyceschen Sprachfülle nicht gänzlich ergeben war. Schon 75 Auf dieses leise Joyce-Echo weist auch Friedhelm Rathjen hin: Beckett zur Einführung, Hamburg: Junius 1995, S. 41. 76 James Joyce, Finnegans Wake, London: Penguin 1992, S. 628. 77 Vgl. etwa Becketts Postkarte an Joyce, in: Klaus Birkenhauer, Samuel Beckett, Reinbek: Rowohlt 1971, S. 45. 78 James Joyce, Letters, Bd. III, hrsg. von Richard Ellmann, London 1966, S. 316. 43 Becketts erster gedruckter Satz ist jenem Falsifikationsmuster unterworfen, das als wesentliches Agens späterer Textformen wirkt: „He could have shouted and could not.“79 Assumption liefert zuhauf Huldigungen an die Figur der Aposiopese im Joyce- schen Stil: „[…] and occasionally, when he chanced to be interested in a discussion whose noisy violence would have been proof against most resonant interruption of the beautifully banal kind, he would exercise his remarkable faculty of whispering the turmoil down. This whispering down, like all explosive feats of the kind, was as the apogee of a Vimy Light’s parabola, commanding undeserved attention because of its sudden bril- liance.“80 Einer der leitenden ästhetischen Grundsätze Becketts wie jener, dass die künstle- rische Tendenz nicht expansiv, sondern ein Zusammenziehen sei81, kündigt sich an: „To avoid the expansion of the commonplace is not enough; the highest art reduces significance in order to obtain that bombshell perfection.“82 Dies sind Spuren, die später von Belacqua, Murphy und anderen aufgenommen und weitergeführt werden – nicht zuletzt zum Zweck eines „whispering down Joyce“. Beckett selbst sah sich methodisch geradezu als Joyces Antipode. „With Joyce the difference is that Joyce is a superb manipulator of material – perhaps the greatest. He was making words do the absolute maximum of the work. There isn’t a syllable that’s superfluous. The kind of work I do is one in which I’m not master of my material. The more Joyce knew, the more he could. He’s tending toward omnis- cience and omnipotence as an artist. I’m working with impotence, ignorance.“83 „Mit einem solchen Programm [einer Literatur des Unworts] hat meiner Ansicht nach die allerletzte Arbeit von Joyce [Finnegans Wake] gar nichts zu tun. Dort scheint es sich viel mehr um eine Apotheose des Wortes zu handeln. Es sei denn, Himmelfahrt und Höllensturz sind eins und dasselbe. Wie schön wäre es glauben zu können, es sei in der Tat so.“84 Kaum etwas wäre allerdings verfehlter, als Becketts Frühwerk bloss unter dem Gesichtspunkt des „Vatermords“ zu betrachten. Viel eher als von einem besin- 79 Assumption, S. 3. 80 Ebd. 81 Vgl. Proust, S. 46. 82 Assumption, S. 4. 83 Samuel Beckett zitiert nach The Critical Heritage, S. 148. 84 Brief an Axel Kaun, in: Disjecta, S. 53.44 nungslosen Bildersturm lässt sich hier – mit einem Wort Harald Kaufmanns – von einer „kritischen Durchdringung der Vergangenheitsleistung“ sprechen, „die selber gefährdet ist und dadurch Grundlage der Bemühung um ein neues authentisches Kunstwerk sein kann.“85 Joyces wie Becketts Methoden zielen ab auf das Einreissen der Sprachfassade, um aus geradezu entgegengesetzten Per- spektiven einen Blick dahinter zu riskieren. Dies betont Friedhelm Rathjen: „Freilich führen beide Konzepte zu einer meisterlichen Virtuosität dem Wort gegen- über, und so unterschiedlich diese Virtuosität auch realisiert wird: wenn Himmelfahrt und Höllensturz schon nicht eins sind, so sind sie doch zwei Seiten derselben Medaille.“86 Wie virtuos Beckett seine „Apotheose der Wortlosigkeit“87 ins Werk setzen konnte, zeigt sich in der leisen Wake-Allusion am Schluss von What is the Word: Das Wort „given“ zählt zu den wenigen Positionen, die im zweiten Zyklus scheinbar ausfallen, erscheint aber als stummes Echo, als Paenultima der letzten offenen Kadenz von Finnegans Wake. Der Verweis liegt nicht mehr im real per- zipierbaren Wort, sondern in seinem Verschweigen. Der Bezug zu Joyces Sprach- fülle ist vermittelt durch – Stille. Beckett demonstriert poetische Diskursfähigkeit noch in der Coda seines letzten work in regress; dabei streift er noch einmal Giordano Brunos Prinzip der Iden- tität von Gegensätzen, das er in seiner frühesten Joyce-Apologie bemüht hatte: „Minimal heat equals minimal cold. Consequently transmutations are circular. The principle (minimum) of one contrary takes its movement from the principle (maxi- mum) of one another.“88 An der Schwelle zum totalen poetischen Vakuum im Nullvers vor dem letzten Refrain glimmt noch einmal das Maximalprogramm des Joyceschen Sprachuni- versums auf. Auf eigentümliche Weise schliessen sich in Becketts allerletzter Pointe die Kreise seines Lebens- wie seines Schaffenswegs. 85 Harald Kaufmann, Zur Wertung des Epigonentums in der Musik, in: ders., Spurlinien – Analytische Aufsätze über Sprache und Musik, Wien: Lafite 1969, S. 202. 86 Friedhelm Rathjen, .schmidt ← JOYCE → beckett. Abstrakta und Konkreta einer Dreier- beziehung, in: Arno Schmidt am Pazifik. Deutschamerikanische Blicke auf sein Werk, hrsg. von Timm Menke, München: edition text + kritik 1992, S. 87. 87 Ebd. 88 Disjecta, S. 21.45 1.9. Zuflucht zur Arithmetik „Oui, c’est pythagoréen“ (Samuel Beckett) Ein anderer Berührungspunkt mit Joyce liegt in Becketts Vorliebe für enigmati- sche Zahlenspiele. Es gibt kaum einen Text, dessen Proportionen nicht genau austariert worden wären oder dessen Inhalte nicht bald in einer rätselhaften Lo- gik versiegen würden. Bei Beckett sind numerische Systeme immer nur scheinbar zuverlässig. Von Beginn an stehen rationale Zuwendungen im Zeichen der grössten Verwirrung: Berühmte Beispiele sind die merkwürdige Differenz zwi- schen den nominalen (7) und realen (6) Schals Murphys89, die kombinatori- schen Exzesse und das falsche Kopfrechnen des Nackybal in Watt90, auch die 16 Lutschsteine des Molloy91. Die zahlenmässigen Bezugspunkte weisen in Becketts Werk eine erstaunliche In- varianz auf. Die virtuose Artikulation eines extrem komplexen Gebildes auf der schmalen Basis der Stammzahlen 3 und 4 lässt sich besonders gut an Fin de par- tie nachvollziehen.92 Andere wichtige Werte sind neben der Sieben (Murphys Schals) vor allem die Dreizehn: Dies lässt sich in Sonderheit am bevorzugten dreizehnten Buchstaben als Initiale der meisten Beckett-Figuren ablesen (Mur- phy, Mercier, Molloy, Moran, Malone, Macmann, Mahood etc.), die sich um 180 (Watt, Worm, Wladimir) oder 90 Grad (Σ: Sam, Saposcat) drehen oder die Namen beschliessen kann (Hamm, Pim, Bim). Auch unterteilt Beckett, der am 13. 4. (1907) geboren wurde, grössere Werke gerne in dreizehn Teile (Echo’s Bones, Murphy, Mercier et Camier, Textes pour rien). Wie in der zweiten Trilogie und Stirrings Still spielen solche Leitzahlen auch in What is the Word eine wichtige Rolle. Ohne die Frage nach einer möglichen Im- plikation der Zahlen hier näher beantworten zu können, seien die auffälligsten Zusammenhänge vorerst nur konstatiert. Auch an der Spekulation, ob solche Texte am Reissbrett entworfen werden oder den Gesetzen einer verinnerlichten Privatmystik folgen, sei nicht teilgenommen. Bemerkenswert erscheint zunächst die offenbar gemessene Artikulationsweise auch dieser letzten, an Dunkelheit kaum überbietbaren Äusserung. 89 Murphy, S. 5. 90 Watt, S. 169ff. Der Proband Thomas Nackybal, geboren in Burren, soll den hinreichen- den Beweis für die Richtigkeit der von Ernest Louit in seiner Dissertation The Mathematical Intuitions of the Visicelts aufgestellten Thesen liefern. 91 Molloy, S. 105ff. 92 Vgl. The Theatrical Notebooks of Samuel Beckett, Bd. II: Endgame, hrsg. von Stanley E. Gontarski, London: Faber & Faber 1992; Michael Haerdter, Samuel Beckett inszeniert das „Endspiel“, in: Materialien zu Becketts „Endspiel“, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, S. 36ff.; Michael Kunkel, „Wandlungen der musikalischen Form“ – Über György Ligetis Form- artikulation, Saarbrücken: Pfau 1998, S. 65ff.46 Wichtigste Ordnungszahlen sind wieder die für Becketts „Kabbalistik“ wesentli- chen Werte 3, 4 und 13. Die meisten Dispositionen können als einfache Ablei- tungen auf sie bezogen werden. In der französischen Version Comment dire lässt sich die Gesamtsumme der Verse darstellen als 13×4 = 52, die in What is the Word um eine Position überboten ist. Wortinventar und Anzahl der Repetitionen sind in auffälliger Weise durch die Werte 3 und 4 reguliert: Insgesamt 24 (= 3×4×2) Wörter; der ‚Refrain‘ aus 4 Wörtern „what is the word“ erscheint, unter Berücksichtigung des Titels, neunfach (= 3²). Ähnliches kann bei der Häu- figkeit einzelner Wörter, die sich in der bisherigen Betrachtung als wesentlich erwiesen haben, beobachtet werden: „what“: 16 (= 4²); „folly“: 12 (= 3×4); „glimpse“: 9; „afaint“: 4; „where“, „given“: 3. Dies gilt auch für Summen von Wörtern, die sich zu „thematischen“ Gruppen verdichten, wie zum Beispiel die der Verben fortschreitenden Wahrnehmungsschwundes: „seeing“ (5) + „see“ (2) + „glimpse“ (9) = 16 Ähnliche Werte bestimmen die Zusammensetzung der oben beschriebenen Scherbenstrophen; unter Vernachlässigung der stropheninternen Refrains kom- men im ersten Zyklus Gruppen von 18 (= 3²×2), 9 und 8 (= 4×2) Versen zu- stande. Strophe I: 3 (R) 8 (R) 7 (R) Σ 18 Strophe II: 6 (R) 3 (R) Σ 9 Strophe III: 8 (R) Entsprechend umfasst der zweite Zyklus insgesamt 12, unter Berücksichtigung des Nullverses 13 Verse. Weitere, verborgene Ableitungen liessen sich auffinden. Die Feststellung solcher Auffälligkeiten zeigt möglicherweise mehr, als dass Beckett die Grundrechenarten beherrschte. Gibt die Präsenz einfacher arithme- tischer Zusammenhänge einen Hinweis darauf, dass Beckett, der pathologischen Entstehungsbedingung des Textes zum Trotz, sprachlicher Hinfälligkeit mögli- cherweise nicht vollkommen ausgeliefert war, sondern den Prozess scheiternder Sprachfindung wie in seinen früheren Texten organisieren konnte? Oder waren die Zahlen Becketts einzige Möglichkeit, noch als „Wortkranker“ zu dichten? Je- denfalls ist die Kontrolle über die detaillierte Beschaffenheit des Materials offen- bar nicht preisgegeben; die metrischen und anderen Regelmässigkeiten bestäti- gen den Eindruck einer bis zuletzt distanzierten Haltung des Dichters zum Artefakt, die sich in Hinblick auf die Kunst eines „whispering down“ höchst vir- tuos ausnimmt. Die zahlenmässige Durchformung des Textes markiert einen sehr weit fortgeschrittenen Grad der umfassenden Desavouierung konventionel- len Sprachgebrauchs – sozusagen auf dem Niveau einer „bombshell perfection“. Ähnlich wie in Sans sind die einzelnen Wörter mittels Organisation zu Kalkula- tionselementen diskreditiert. Auf seiner poetisch motivierten Wortflucht waren Beckett als homo mensura93 die metrischen Systeme freilich schon immer eine geschätzte „folly“, ein Zufluchtsort:47 „Simple sums you find a help in times of trouble. A haven. […] Even still in the time- less dark you find figures a comfort.“94 1.10. Fazit Mit What is the Word artikuliert Beckett ein Kunstwerk, in dem er sich die De- kompositionsstrategien früherer Werke nicht nur besonders nützlich macht, sondern sich fast ausschliesslich auf sie konzentriert. Die Resonanzfähigkeit des Gebildes aber zeigt, dass die Mittel der Annäherung an ein poetisches Vakuum nicht eindimensional angelegt, sondern dialektisch vermittelt sind: Der Rückzug erfolgt auf äusserst hohem diskursivem Niveau, der Dichter pflegt zu seinem Objekt die vornehme Distanz des Virtuosen. Naturalistische Imitation äusserli- cher Symptome des Sprachverlustes ist Becketts Sache nicht. Das Verstummen folgt als Qualität grösster Beredtsamkeit dem Regelwerk eines durchorganisier- ten Sprachlabyrinths. In Hinblick auf konventionelle Kategorien wie Gattung, Form etc. konnten sinnvolle Zuordnungen nicht mehr gemacht werden. Und zwar nicht, weil Beckett sie a limine ablehnt, sondern weil sie nach ihrer systematischen Er- schöpfung in einer neuen Kunstform aufgehen. Als solche steht der Text als be- wusst entworfenes Paradoxon in der offenen Luft, hält „sich frei in einem lo- gisch und ontologisch unbefestigten und normalerweise für unmöglich erachteten Nirgendwo und Überall.“95 Mit Schopenhauer traute der junge Beckett die Erforschung dieses Bereichs nur einer Kunstform zu: Der Musik. Welche Widerstände eine reale musikalische Annäherung an Worte, die ins Stille fliehen, mit sich bringt, zeigt György Kurtág. 93 Molloy, S. 95. 94 Company, S. 54f. 95 Ulrich Pothast, Die eigentlich metaphysische Tätigkeit, S. 377.48 2. György Kurtág: Samuel Beckett: Mi is a szó op. 30 (1990–91) 2.1. Erste Begegnungen mit Beckett „Ich habe kein Wort verstanden.“ (György Kurtág) In den neunziger Jahren sind Samuel Becketts Texte für die Musik von György Kurtág von grosser Wichtigkeit. Neben Vokalwerken über Texte von Friedrich Hölderlin, Georg Christoph Lichtenberg, Sappho, Péter Esterházy und anderen entstanden drei für Kurtágs Verhältnisse weit dimensionierte Kompositionen, die auf Becketts Dichtung bezogen sind. Dabei wandte er sich Texten zu, die zum Lyrischen tendieren und weder in der keineswegs müssigen Disziplin der Beckettolgie noch in den zahlreichen Beckett-Musiken übermässig rezipiert worden sind. Ähnlich wie in der Textauswahl der József-Fragmente op. 20 lenkt Kurtág die Perspektive auf relativ randständige Texte eines bekannten Dichters und entspricht dadurch nicht dem gängigen Rezeptionswesen. Die beiden Stük- ke der hier näher zu betrachtenden Werkgruppe Mi is a szó op. 30 (1990–91)96 enthalten eine von István Siklós hergestellte ungarische Übertragung von What is the Word (Mi is a szó), die im Falle der zweiten Fassung op. 30b mit dem eng- lischen Original (rück-)tropiert wird. Eine dritte Fassung über die französische Version Comment dire scheint zwar geplant, ist bisher allerdings ohne greifbare Ergebnisse geblieben.97 Die 34 Gesänge von … pas à pas – nulle part … op. 36 (1993–98) für Bariton solo (Streichtrio und Schlagzeug ad lib.) basieren auf den französischen Kurztexten der Mirlitonnades (1976–78), weiteren französischen Gedichten aus früherer Zeit (Elle viennent [1936], Dieppe [1937]) sowie einigen Maximes von Sébastien-Roch Nicolas Chamfort im Original sowie in Becketts englischer Übertragung.98 96 Diese nicht von Kurtág stammende, sondern der vereinfachten Darstellung halber von mir gewählte Bezeichnung umfasst die Werke: Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval (Samuel Beckett: mi is a szó) op. 30a (1990), für Stimme und Klavier; Samuel Beckett: What is the Word – Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval op. 30b (1991), für Alt solo („Rezitation“), Stimmen und im Raum verteilte Kammerensembles. Das Aufführungsrecht der Solostimme ist bis auf weiteres für Ildikó Monyók reserviert. Alle Kurtágs Werke betreffenden Angaben folgen, soweit nicht anders ver- merkt, dem von Editio Musica Budapest herausgegebenen Werkverzeichnis oder den Manu- skripten in der SGyK. 97 Nach Informationen der Kurtág-Forscherin Rachel Beckles Willson und János P. Demény, Kurtágs Verleger bei der Editio Musica Budapest.49 Kurtág hat sich damit fast über den gesamten Zeitraum von 1990 bis 1998 kom- ponierend mit Beckett auseinandergesetzt. Dass die Aneignung von Becketts Dichtung zu einem viel früheren Zeitpunkt einsetzte, ist aus den Entstehungsda- ten abgeschlossener Werke hingegen nicht ablesbar. Ein erster Impuls könnte von György Ligeti ausgegangen zu sein. In der gemeinsamen Studienzeit im Nachkriegs-Budapest bei Sándor Veress und Ferenc Farkas zählte Ligeti nicht nur zu Kurtágs besten Freunden, sondern spielte für ihn auch als Mentor eine wichtigere Rolle als die eigentlichen Lehrer. „Ich war mit allem immer sehr spät dran, und hauptsächlich habe ich die Komposi- tionsstunden geschwänzt. Aber György Ligeti war in dieser Zeit schon sehr wichtig für mich. Als ich fühlte, dass ich Veress und später auch Farkas nicht richtig verstehen konnte, betrachtete ich Ligeti als meinen eigentlichen Lehrer. Er sah mich allerdings nicht als seinen Schüler. Aber für mich war er die einzige Instanz. Er zeigte mir alles mögliche …“99 Für Kurtág behielt Ligeti die Bedeutung einer geistigen Leitfigur weit über die Studienzeit hinaus. Becketts Literatur war nur ein Teil des umfassenden Bil- dungsprogramms, das Kurtág durch Ligeti zuteil wurde. „[…] ich verdanke ihm [Ligeti] so vieles, was ich nur durch ihn kennenlernte – Weöres, Kafka, Webern, Stockhausen, Frescobaldi, Boulez, Csontváry, Beckett, Bosch, den Joyce des Finnegans Wake, Helms, Nancarrow, Musil, Klee, den Nono des Canto sospeso, Robert Walser, Lewis Carroll, sogar Alain Fourniers Le Grand Meaulnes erzählte er mir in Paris so wunderbar, dass ich enttäuscht war, als ich es gelesen habe.“100 Kurtág nahm Beckett wohl erstmals in der für seine künstlerische Entwicklung entscheidenden Pariser Zeit von 1957 bis 1958 zur Kenntnis, nur wenige Jahre nach dessen öffentlichem Durchbruch mit En attendant Godot. Neben Ligetis Einfluss war damals auch die Bekanntschaft mit dem Philosophen, Historiker 98 Soweit ich sehe, ist Becketts What is the Word ausser bei Kurtág keiner kompositorischen Lektüre unterzogen worden; die Mirlitonnades werden zumal in jüngerer Zeit als Komposi- tionsgegenstand beliebt: in Antonio Giacomettis Reliqua (1971), Hans-Jürg Meiers par le mur- mure déchiré für Stimme (Sopran), 3 Renaissanceblockflöten, Schlagzeug und Tonband (1997/ 98) sowie Mischa Käsers Mirliton für 8 Stimmen und 4 Gitarren (1998); Hans Ulrich Lehmann benennt ein Flötensolo Mirlitonnades (1983); das Gedicht Dieppe liefert Wortmaterial für Gia- como Manzonis Parole di Beckett für zwei Chöre, drei Instrumentengruppen und Tonband (1971) und für das zweite der Trois poèmes de Samuel Beckett für Stimmen (1989) von Pelle Gudmundsen-Holgreen. 99 Friedrich Spangemacher, Mit möglichst wenig Tönen möglichst viel sagen. Ein Gespräch mit dem Komponisten György Kurtág, in: Neue Zürcher Zeitung, 13./14. Juni 1998, S. 65. 100 György Kurtág, Laudatio für György Ligeti (anlässlich der Verleihung des Siemens-Preises 1993), in: Die Musik und ihr Preis. Die Internationale Ernst von Siemens Stiftung. Eine Doku- mentation über 20 Jahre Ernst von Siemens Musikpreis, hrsg. von Rüdiger von Canal und Gün- ther Weiss, Regensburg: ConBrio 1994 (= ConBrio Dokument 6), S. 371f.50 und Renaissance-Experten Robert Klein dafür entscheidend – wenn auch zu- nächst noch ohne besondere Konsequenz. „Klein hat mich jeden Sonntag in ein anderes Museum geführt und schliesslich auch zu Becketts Endspiel gebracht. Ich habe kein Wort verstanden. Ich fragte ihn: ‚Was ist das?‘ Er sagte: ‚Ein sehr starkes Stück.‘ Und dann habe ich mir das Stück gekauft. Damals hatte Ligeti mir auch geschrieben, dass Warten auf Godot etwas ganz Wichti- ges sei. Beide Stücke habe ich erst viel später verstanden.“101 Ungefähr 20 Jahre nach dieser Erfahrung unternahm Kurtág die ersten nach- weisbaren kompositorischen Versuche mit Beckett-Stoffen, die infolge einer ten- denziellen kulturpolitischen Öffnung im Ungarn der siebziger Jahre auch ein wachsendes öffentliches Interesse finden konnten. Der Zugang war nun be- stimmt von einem Problem, das Kurtág bis heute begleitet: Der Suche nach ei- nem Opernsujet. Auf seinem Schaffensweg sind bislang viele Opernprojekte un- fertig liegengeblieben.102 Einige Versuche gingen in anderen Gattungen auf. Der Plan einer Oper nach Péter Bornemiszas ungarischer Elektra-Übersetzung Magy- ar Elektra lieferte den Rohstoff zur Komposition von Kurtágs erstem grossen Vokalzyklus Bornemisza Péter mondásai op. 7 (1963–68, rev. 1976). Die ur- sprüngliche Intention bleibt in diesem Werk sichtbar; die Dynamik des Vokalzy- klus ist noch wesentlich von einer dramatischen Konzeption geprägt103, wie auch spätere Vokalzyklen oft die Grenze zum Monodrama überschreiten.104 Den Plan eines echten Musiktheaters konnte Kurtág indessen nicht verwirkli- chen, weil seine Fixierung auf kleine und kleinste musikalische Formen, wie sie letztendlich auch den grossdimensionierten Vokalzyklen zugrunde liegen, mit den Erfordernissen der Oper allzu unvereinbar ist. Gleichwohl liegt die eigentli- che Energie aller musikalischen Äusserungen Kurtágs in der Artikulation von Gebärden, die als schauspielerisches Element in den Bühnenraum drängen. Sei- ne Opern- bzw. Musiktheater-Neigung liegt daher weniger in der blossen gat- tungsmässigen Herausforderung als vielmehr in der Grundmotivation seines Schreibens begründet. 101 Friedrich Spangemacher, Mit möglichst wenig Tönen möglichst viel sagen, S. 65. In einem Brief vom 13. Mai 1964 an Ove Nordwall erklärt Ligeti Beckett neben Kafka zu seinem „Lieb- lingsautor“. Typoskript in der Sammlung György Ligeti, PSS; vgl. auch Peter von Seherr-Thoss, György Ligetis Oper „Le Grand Macabre“, Eisenach: Karl Dieter Wagner 1998 (= Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft 47), S. 25. 102 In der SGyK der Paul Sacher Stiftung Basel finden sich Bühnenmusiken unter anderem zu Shakespeares Schauspielen Hamlet (1956) und Der Sturm (Vihar zene [Sturm Musik], 1961). 103 Vgl. Rachel Beckles Willson, An analytical study of György Kurtág’s The sayings of Péter Bornemisza opus 7, Ph.D. Diss, London: University of London 1998. 104 Vgl. etwa István Balázs, Im Gefängnis des Privatlebens. Über zwei neue Werke von György Kurtág, in: SMZ 123 (1983), S. 287ff.51 Wie die Interpretin Adrienne Csengery berichtet, schien die Entdeckung von Becketts kleinen dramatischen Formen einen Ausweg aus dem Dilemma der Su- che nach einer mit Kurtágs Schreibweise konvergierenden, genuin dramatischen Konzeption zu weisen. „Ausserdem sind Becketts Stücke von sehr grosser Wirkung auf ihn. Auf unseren Aus- landsreisen forschen wir (mein Gatte, Domokos Moldován, der Filmregisseur, und ich) geradezu nach Texten, die wir Kurtág liefern könnten mit der Hoffnung, sie würden ihm zu Opern Anregung geben; von denen wir also vermuten, Kurtág würde auf sie reagieren. Solche waren zum Beispiel Becketts short plays. Eben wegen ihrer Kürze, wegen der gesamten Problematik, die eine grosse Ähnlichkeit mit der von Kurtágs Stücken aufweist, schienen diese besonders anziehungsvoll. Eine Zeit lang haben wir mit Recht vermutet, nun endlich hätten wir den Text der Kurtág-Opern gefunden.“105 2.1.1. Das Footfalls-Fragment „… an image which develops gradually.“ (Samuel Beckett) In der Tat begann Kurtág eine Komposition über ein short play von Beckett: Footfalls (1975). Der einzige erhaltene Entwurf kommt über das Fragmentari- sche nicht hinaus. Neben einer kurzen instrumentalen Einleitung skizzierte Kur- tág am 4. Februar 1978 nur den Beginn des Dialogs Mays mit ihrer unsichtbaren Mutter.106 Zentrales Element in Becketts 1975 entstandenem Spiel ist das gleichförmige Auf- und Abgehen der Protagonistin May. Walter D. Asmus teilt mit, dass Beckett in den Theaterproben auf die leeren Zyklen der genau abgemessenen Schritte grössten Wert legte: „The walking up and down is the central image, he [Samuel Beckett] says. This was his basic conception of the play. The text, the words, were only built up around this pic- ture. […] ‚If the play is full of repetitions, then it is because of these life-long stretches of walking. That is the center of the play; everything else is secondary.‘“107 105 Porträt eines Komponisten, aus der Sicht der Sängerin – Gespräch mit Adrienne Csengery über Persönlichkeit und Kunst von György Kurtág von István Balázs [Budapest, 1. Juli 1985], in: György Kurtág, hrsg. von Friedrich Spangemacher, Bonn: Boosey & Hawkes 1986 (= Mu- sik der Zeit 5), S. 60f. 106 In Skizzenbuch 45 in der SGyK; die einzelnen Datierungen dieses Skizzenbuchs entbeh- ren durchweg der Jahresangabe, da sich die eingangs notierte Jahreszahl „1978“ auf alle Auf- zeichnungen zu beziehen scheint. 107 Walter D. Asmus, Rehearsal Notes for the German Premiere of Beckett’s „That Time“ and „Footfalls“, in: On Beckett, hrsg. von Stanley E. Gontarski, New York: Grove Press 1986, S. 337f.52 Abbildung 1: György Kurtág, Footfalls-Fragment (© by Paul Sacher Stiftung, Basel) Becketts Stück gliedert sich in vier Abschnitte, die wie in einem Ritual jeweils von einem Gongschlag und dem Aufblenden des Bühnenlichts eingeleitet wer- den. Auch diese Form kann auf ihre „Entsprachlichung“ hin betrachtet werden:53 Der schon von Beginn an reduzierte dramatische Dialog Mays mit einer verbor- genen Gesprächspartnerin wird von Monologen abgelöst, in denen das residuale Bühnengeschehen zuerst von aussen, durch die Stimme der Mutter, reflektiert, schliesslich in Mays Erzählversuchen neu imaginiert wird. Die Rücknahme der dramatischen Form resultiert aus ihrer zunehmenden Episierung, bis die Per- spektiven im Imaginären aufgehen: Die Bühnensituation erweist sich als von der Darstellerin bloss erträumt. Die Footfalls-Erzählungen kreisen um das zentrale Bild des Schreitens. Nach- dem die rituellen Eröffnungssignale nach jedem Einsatz schwächer geworden sind, endet das Spiel, wie What is the Word, in einem „Nullzyklus“: In ihm zeigt sich der Fluchtpunkt der inszenierten Schwundform. „Chime even a little fainter still. Pause for echoes. Fade up to even a little less still on strip. No trace of MAY. Hold ten seconds. Fade out. CURTAIN“108 Gestischer Ausgangspunkt für Kurtágs Cimbalom-Einleitung sind Mays von der Stimme der Mutter abgezählte sieben Schritte, die den sieben Stufen einer auf- steigenden C-Dur-Skala entsprechen.109 Kurtág folgt damit seiner Vorliebe für die Verwendung elementarer, künstlerisch noch nicht durchgeformter Ordnun- gen, die er gerne als „Objets trouvés“ bezeichnet.110 Gleichwohl ist dieser Gang in seiner lagenmässigen Verteilung als Bogen strukturiert: Die ersten drei Schrit- te steigen oktavversetzt aufwärts, auf den Sekundschritt f2–g2 folgen die letzten beiden Schritte oktavversetzt abwärts. Diese, dem Modell der schrittweise auf- wärts gerichteten Skala opponierende Kontur ist mit blauem Kugelschreiber auf- gezeichnet und entspricht der ersten Schicht des Entwurfs. Eine mit Bleistift vor- genommene Korrektur zieht die ursprüngliche Bogengestalt weiter auseinander, indem g2 um eine Oktave höhergelegt und h um das gleiche Intervall herabge- 108 Footfalls, S. 243. 109 Diese zu allen folgenden Zählungen inkongruente erste Siebener-Zählung ist offenbar ei- nem Fehler in den Druckfassungen zuzuschreiben: „In Footfalls (London: Faber and Faber 1976), May paces seven steps across the stage, but this was corrected in the Royal Court per- formance to nine steps, to give greater width. The Faber text was set before the production in May 1976. In Ends and Odds (London: Faber and Faber 1977), the text is amended to nine, although an error has crept in on page 33, where the steps are mistakenly left as seven.“ (James Knowlson, „Footfalls“, in: Stanley E. Gontarski [Hrsg.], On Beckett, S. 359). Die korrupte Textversion kommt dem musikalischen Korrelat einer siebenstufigen diatonischen Tonleiter natürlich entgegen. 110 Vgl. Ulrich Dibelius (Hrsg.), Ligeti und Kurtág in Salzburg, S. 79f.54 setzt wird. Eine Möglichkeit klangfarblicher Differenzierung des Gebildes ist in der Harfen-Option für die abwärtsgerichteten Doppeloktaven angedacht. Als Übergang zur Wiederholung des skalaren Komplexes werden die Spitzentö- ne des konvexen Gebildes in der Reihenfolge g1–a1–f1 in einer mittels space-no- tation festgehaltenen Phrase wiederholt. In einer umseitigen verbalen Notiz vom 5. Februar, die sich offenbar auf das Footfalls-Fragment bezieht, erscheint der Plan eines Kanons für Zither, Cimbalom und Geige („Ahogy elkezdtem – rögtön duett citera-cimbalom [esetleg Vlo] kánon“ – „Sobald ich begonnen habe gleich Duett Zither-Cimbalom [eventuell Vlo] Kanon“), der jedoch nicht über den Ansatz der vibrato molto-Figur hinausführt. Die folgenden zwei Wiederholungen des C-Dur-Komplexes werden durch je ei- nen „leiterfremden“ Ton erweitert. Im Hinzufügen der Töne B und as2 zeichnet sich ein allmähliches Ertasten des chromatischen Tonraums ab, das nicht nur für die Konzeption des folgenden Vokaldialogs massgeblich ist, sondern auch auf das für Kurtágs Beckett-Musiken insgesamt wesentliche Prinzip einer komposi- torischen „Tonsuche“ hinweist. Die letzte Erweiterung entspricht mit neun Stu- fen der endgültigen Schrittlänge von Mays Gehstreifen, die gleichermassen Vor- aussetzung wie auch Endpunkt des Spiels darstellen.111 Ausgehend vom Halbton d-cis vollzieht sich im Vokaldialog ein chromatisches Nachgestalten der diatonischen Bögen der Instrumentaleinleitung. Die initiale Anrufung entspricht einem Palindrom, das die ersten beiden Tonstufen lagenge- nau und in insgesamt nicht umkehrbarer Dauernfolge spiegelt. Der Dialog ent- faltet sich in zunehmender Zersetzung der Ausgangsgestalt, was mit dem schritt- weise sich vollziehenden Aufsuchen weiterer Halbtöne im Tonraum112 einher geht. Wenn andere symmetrische Tongruppen artikuliert werden, verhalten sich diese schon indifferent gegen Lage und Dauer: Die erste Replik von „V“ („Woman’s Voice“) spiegelt die Tonstufen der Anrufung (… cis-d: d-cis), die in Mays zweitem Einsatz zur Phrase cis-d-d-cis zusammenkommen. Die bogenmäs- sige Verteilung der Lagen der zweiten Replik entspricht der Dialogsituation die- ser Stelle; ihre Stufen sind noch immer palindromisch gekoppelt, auch wenn die äusseren Töne sich durch die Einführung des Tons es um keinen fixen Tonort, sondern um das neu gefundende Intervall des Ganztons gruppieren: cis-d←cis- es→d-cis.113 Nach der Einführung eines weiteren Intervalls, der Kleinterz mit dem Ton e, ist die symmetrische Anlage in der Lagenverteilung bloss noch unge- fähr enthalten; im übrigen ist sie lediglich auf der Ebene von Intervallklassen zu 111 Auf diese Weise vermittelt Kurtág – unfreiwillig? – zwischen den beiden Footfalls-Versio- nen. 112 Vor allem freilich als grosse Septime oder kleine None; zur Verdeutlichung des Modells werden hier besonders Tonstufen beachtet, ohne dass hiermit die Reduktion des Entwurfs auf ein registerloses Pitch-class-Schema beabsichtigt wäre. 113 Die über Mays Frage notierte Option verwischt die bogenförmige Gestalt zwar ein we- nig, bringt aber keine durchgreifende Änderung des Intervallprofils.55 erkennen, die sich halbtönig um die zentrale Terz cis-e gruppieren. In den fol- genden Gruppen ist das Prinzip einer erkennbaren Überformung aufgegeben: Die aus der Ouvertüre bezogenen Spiegelgestalten entwickeln sich zu individu- ellen Vokalphrasen. Bis hierhin hat Kurtág das Intervallpotential des Tritonus b-e (der wiederum sie- ben chromatische Stufen umfasst) ausgehend von der Septime d-cis im Tonraum „halbtönig“ ausbuchstabiert. Auf diese Weise wurden die Intervallklassen des Halb- und Ganztons sowie der Klein- und Grossterz einschliesslich ihrer Um- kehrungen in individueller Oktavlage Schritt für Schritt erschlossen. Im konkreten Abzählen der Schritte Mays erfolgt ein variierter Rekurs auf das Skalenmodell der Einleitung, bei dem die diatonisch aufsteigende Skala vom vo- kalen Ansatzton d ausgeht und bald in eine Ganztonfolge übergeht, wobei die bogenmässige Überformung der Tonleiter zurückgenommen ist. Mit dem bild- haften Melisma auf „wheel“ hat der Gang mit seinem Abschluss auf des die Ok- tave knapp verfehlt. Auch das chromatische Total ist bloss annähernd ausgefüllt: Kurtág notiert den einzigen fehlenden Ton g als Option auf „there“ über dem Zielton b, der nachher als „six“ (b = ais) erscheint. Das für Becketts Footfalls zentrale Bild materialisiert sich so im Abschreiten des chromatischen Tonraums. Das Fragment bricht mit der Bemerkung „és vissza“ („und zurück“) ab, die viel- leicht auf eine angedachte rückläufige Wendung des Entworfenen hinweist. Kur- tág nahm offenbar davon Abstand, einen über diesen Komplex hinausgehenden formalen Zusammenhang zu artikulieren. In dieser fragmentarischen Skizze kommt der für Kurtág charakteristische Pro- zess einer allmählich fortschreitenden Suche nach musikalischer Gestalt auf be- sonders einfache Art zur Geltung. Diese Methode, die vor allem für die formale Entfaltung der Beckett-Monodie von op. 30 entscheidend sein wird, ist nicht deduktiv motiviert, keine äussere Vorgabe. Musikalische Formfindung geht von der Einzelgestalt aus. Das Verfahren orientiert sich an gestischen Grundeinhei- ten, aus denen Form sehr zögerlich artikuliert wird – oder die, wie im Fall des Entwurfs über Footfalls, im Versuchsstadium stecken bleiben. Kurtágs Kompo- nierweise entspricht erstaunlich genau einer Bemerkung, die Beckett während einer Probe zu Footfalls gemacht hat: „You [die May-Darstellerin Hildegard Schmahl] are composing. It is not a story, but an improvisation. You are looking for the words, you correct yourself constantly. […] Above all, it is important that the narrative shouldn’t be too flowing and matter-of- course. It shouldn’t give the impression of something already written down. May is inventing her story while she is speaking. She is creating and seeing it gradually before her. It is an invention from beginning to end. The picture emerges gradually with hes- itation, uncertainly – details are always being added […] it is an image which develops gradually.“114 114 Walter D. Asmus, Rehearsal Notes for the German Premiere of Beckett’s „That Time“ and „Footfalls“, S. 340ff.56 Auch der „Titel“ von Mays Erzählversuchen ist ein pun in durchaus Kurtág- schem Sinn: „Sequel“ = seek well. Die Warnung „Figyelem!!!“ („Achtung!!!“) deutet hin auf den insgesamt gefährdeten Status des Footfalls-Projekts und wird durch einen Verweis auf die Wichtigkeit („fontos“ – „wichtig“) umseitig notier- ter verbaler Aufzeichnungen vom 5. Februar ergänzt. Dies sind unter der Über- schrift „3 lehetőség“ („3 Möglichkeiten“) angestellte Überlegungen zu Proble- men von Tonsatz, Form, Material und Instrumentation, die zu einer weiteren Entwicklung des Plans zwar offenbar nichts mehr beitrugen, aber als instruktives Beispiel für Kurtágs weitschweifig assoziative Arbeitsweise vollständig wiederge- geben seien. „5 II 3 lehetőség: 1) Én kezdek C-ről. után F-fisz a két énekes 2) Gáti – egyedül – egy strófát – (esetleg ehhez lehetne ad lib. 2–3 Ligeti szövőszólamot) aztán 1 hanggal arrébb (feljebb!) Pászthyval [?] 3) Ahogy elkezdtem – rögtön duett citera-cimbalom – (esetleg Vlo) kánon. Meztelenséget!!! De visszatalálni ahhoz a jó ostinato strukturához – ami C 6/4nél volt – de már az is túl civilizált. Tibeti zenéket nézni!“115 („5 II 3 Möglichkeiten: 1) Ich beginne von C aus. nachher von F-fis aus die beiden Sängerinnen 2) Gáti – allein – eine Strophe – (dazu eventuell ad lib. 2–3 Ligeti Stimmgewebe) dan- ach um 1 Ton verschoben (höher!) mit Pászthy [?] 3) Sobald ich begonnen habe gleich Duett Zither-Cimbalom (eventuell Vlo) Kanon. Nacktheit!!! [Akkusativ] Doch zu einer guten Ostinatostruktur zurückfinden – was bei C 6/4 war – aber auch das ist zu zivilisiert. Tibetische Musik anschauen!“) 115 Skizzenbuch 45, SGyK; bei der Entzifferung und Übersetzung der Skizze war ich auf die freundliche Hilfe von Rachel Beckles Willson angewiesen. Einzig das hier mit „Pászthyval“ wiedergegebene, im Manuskript schwer leserliche Wort bleibt rätselhaft.57 Manches erstaunt in Hinblick auf Becketts Textvorlage. Die Erwähnung eines Solos des ungarischen Bass-Baritons István Gáti, der sich schon als Interpret von Kurtágs Pilinszky-Liedern op. 11 (1975) bewährt hatte, womöglich auch die ab- schliessende Notiz zur tibetanischen Musik (Kurtág mag an den rituellen Tiefge- sang tibetanischer Mönche gedacht haben) deuten auf tiefen Männergesang hin. Welche Funktion solcher, womöglich auch nach Art von Ligetis mikropolypho- nen Texturen wie etwa zu Beginn von dessen Requiem (1963–65) zu behandeln- der Gesang haben sollte, bleibt unklar. Eine zentrale Qualität von Kurtágs Musik ist durch den Ausruf „Meztelenséget!!!“ ausgedrückt. Die Suche nach einem in- timen, schutzlosen Bereich, wo sich die komponierte Gebärde in ihrer radikal- sten Verknappung und stärksten Intensität zeigt, ist in diesem musikalischen Entblössungsversuch offenbar noch nicht geglückt.116 Nur selten steht eine Komposition von Kurtág völlig einzeln da. Auch der Foot- falls-Entwurf befindet sich im Kontext anderer Stücke, die im gleichen Zeitraum konzipiert worden sind. Auf einige Verbindungen wird in den Manuskripten ex- plizit hingewiesen. So scheint beispielsweise der personale Bezug einer Wid- mung für Kurtágs Schaffensweise derart initial, dass sich dies, wie hier, bereits im ersten Entwurfsstadium konkretisiert. Die unbekannte Trägerin der wohl in Anlehnung an Becketts bekanntestes Stück vorgenommenen Zueignung „(Praying for Sarah)“ erscheint auch in der Überschrift „consolation for Sarah mourning [sic!] her beloved father“ zur wenige Tage später entworfenen Hom- mage à Schubert für Klavier.117 Während das Klavierstück von einem vierstim- migen Choralsatz ausgeht, lässt sich in der Widmung des szenischen Entwurfs ein Bezug zu den religiösen Andeutungen in Footfalls vermuten. „MAY: Would you like me to inject you again? […] Pray with you? (Pause) For you? (Pause) Again.“118 Andere Zusammenhänge werden in Skizzenbuch 45 angedeutet in der Bemer- kung „citera-zene – Grabstein vagy máshoz!!! (Kyrie?)“ („Zither-Musik – zu Grabstein oder zu etwas anderem!!! [Kyrie?]“). Sollten diese Stücke in das Foot- falls-Fragment integriert werden? Wird frei assoziiert? Die Art der Bezugnahme bleibt völlig offen. Entscheidend ist die Einbindung des Fragments in einen grös- seren, werkübergreifenden Zusammenhang. Hier können jedoch nur noch Ver- mutungen angestellt werden. Mehrere in der Zeit vom 7. bis 12. Februar ent- standene Entwürfe zur Vertonung des Kyrie eleison korrelieren vielleicht 116 Vgl. auch den Text Nackt des zentralen Gesangs der Szenen aus einem Roman op. 19 (1979–82) von Rimma Dalos: „Ich bedecke meine Seele / mit einem Feigenblatt / und flüchte aus dem Paradies.“ Das Lied verzichtet als einziges auf eine Instrumentalbegleitung und mar- kiert das Zentrum des Zyklus. 117 Skizzenbuch 45; siehe auch Játékok, Bd. III, S. 26. Die dortige Widmung lautet nur noch: „Consolation for Sarah“. 118 Footfalls, S. 240.58 wiederum mit der religiösen Sphäre von Becketts Spiel.119 Alle skizzierten Ge- sänge zeichnen sich aus durch extrem enge, mikrotonale Stimmführung in tief- ster Lage und stehen möglicherweise in Zusammenhang mit den Hinweisen auf den Bass-Bariton István Gáti und das „Ligeti Stimmgewebe“ der verbalen Skizze. Vergleiche mit der Kyrie-Stimmführung oder mit dem in tiefster Lage einsetzen- den Introitus aus Ligetis Requiem sind möglich. Die Begleitung mancher Kyrie- Entwürfe aus Cimbalom, Zither und Klavier rekurriert selbst auf die Skizzen zur „citera-zene“ für Zither und Cimbalom vom 6. Februar.120 Ob der dortige Kom- mentar „eleje: Ritornell?“ („Beginn: Ritornell?“) mit der Planung der Footfalls- Musik, etwa im Sinn eines Zwischenspiels, zusammenhängt, ist ebenfalls unklar. 2.1.2. Andere Spuren und Vermutungen (Die „Grabstein-Gruppe“) „… an der Grenze des Nichtgeschehens.“ (György Kurtág) „Grabstein vagy máshoz!!!“: Dieser Querverweis in Richtung der Grabstein- Stücke ist aufschlussreich vielleicht weniger in Hinblick auf den Footfalls-Ent- wurf als auf Kurtágs Ende der siebziger Jahre wachsende Sensibilität für eine sta- tische, zyklische Formkonzeption. Gibt es einen Berührungspunkt zu Becketts zyklischen Formen? Direkte Einflussnahme, zweifelsfrei nachprüfbare Kongru- enzen erscheinen nicht, doch lassen gewisse Ähnlichkeiten Kurtágs zunehmende Affinität zu Beckett auf implizite Weise plausibel erscheinen. Das erste zugängliche Glied der Werkgruppe, die im folgenden vereinfacht als Grabstein-Gruppe bezeichnet wird, ist ein unveröffentlichtes kurzes Stück für Gitarre solo mit dem Titel … lassan szállj és hosszan énekelj, haldokló hattyúm, szép emlékezet! … (… langsam fliege und lange singe, mein sterbender Schwan, schöne Erinnerung! …), das auf den 12. Dezember 1976 datiert ist und am 23. August 1992 – in der zwischen den neuen Beckett-Kompositionen op. 30 und op. 36 liegenden Zeit – revidiert wurde.121 Der Tonsatz des Stücks, das nur aus einer Folge arpeggierter Gitarrenakkorde besteht, entfaltet sich, ausgehend von den leeren Gitarrensaiten, sehr allmäh- lich. Die bogenförmige Anlage lässt sich etwa an der Oberstimme ablesen, die von e zum tritonusdistanten b und wieder zurück – „és vissza“ – führt. Der Bo- gen führt indes nicht zur leeren Gitarrenstimmung zurück: Das Stück endet auf 119 Vgl. Skizzenbuch 45, SGyK. Ähnliche Kyrie-Entwürfe datieren auf den 17. Oktober 1972 (Skizzenbuch 23); ihre Instrumentalbegleitung ist der Ausgangspunkt für die Komposition Ky- rie für zwei Klaviere, Játékok, Bd.IV, S. 10. 120 Vgl. Skizzenbuch 45, SGyK; das aufsteigende Motiv der Zither erscheint am Beginn von Kurtágs Herdecker Eurythmie II op. 14b in der Leier. 121 Reinschrift in der SGyK.59 Abbildung 2: György Kurtág, … lassan szállj és hosszan énekelj, haldokló hattyúm, szép emlékezet! … , Reinschrift (© by Paul Sacher Stiftung, Basel)60 dem dritten Akkord des Beginns, nachdem die immer weiter ins Stocken gerate- ne Abfolge der Arpeggi in den gedehnten letzten Impulsen vollends erstarrt. Dieses Modell liefert die Basis für die zahlreichen vollendeten oder im Ent- wurfsstadium liegengebliebenen Stücke der Grabstein-Gruppe, deren äusserst komplizierte genetische wie strukturelle Zusammenhänge hier nicht umfassend aufgezeigt werden können.122 Die folgenden publizierten Kompositionen stellen die für eine angenommene Beckett-Latenz wichtigsten Formulierungen des Mo- dells dar: Der im Oktober und November 1978 entstandene Finalsatz Nacht- stück der Gelegenheitskomposition A kis csáva op. 15b für Piccolo, Posaune und Gitarre; der im Dezember 1978 begonnene, am 12. April 1979 vorläufig abge- schlossene und im Januar 1990 revidierte Finalsatz Abschied der Hommage à R. Sch. op. 15d für Klarinette (auch grosse Trommel), Bratsche und Klavier; und, vor allem, Grabstein für Stephan op. 15c für Gitarre und im Raum verteilte In- strumentengruppen, komponiert von Oktober 1978 bis Januar 1979 als Eröff- nungssatz Ligatura I einer ersten, verworfenen Fassung Grabstein für Stephan op. 15a in sechs Sätzen123, der nach seiner zwischen 22. Juni und 2. November 1989 erfolgten Revision den Status eines selbständigen Werkes erhielt. Diese Sätze teilen gewisse in der Konzeption des Gitarrensolos virulente Merk- male eines insgesamt neuen Tonfalls, der sich in Kurtágs Musik Ende der siebzi- ger Jahre auszubilden begann. Die epitaphe Thematik der frühen Komposition („… sterbender Schwan …“) wird im personalen Bezug des Titels von op. 15c („Grabstein für Stephan“) konkretisiert: Es ist Musik zum Tod von Stephan Stein, des Gatten der Psychologin Marianne Stein, die Kurtág während seines Parisaufenthaltes 1957 bis 1958 konsultiert hatte. Nachtstück und Abschied, die beide vorläufig mit Sirató (Klagegesang) betitelt waren, artikulieren einen melo- dischen Klage-Gestus. Geeignetes tertium comparationis ist zum Beispiel das chromatische parlando von Kurtágs Sirató (2) im dritten Band der Játékok (Seite 38). Während dieser melodische Topos in den Figurationen des Nachtstücks teilweise auch kanonisch entfaltet wird, spitzt sich die Steigerung zum Höhe- punkt von Abschied durch mikrotonal verdichtete Sirató-Einwürfe zu. Zudem weist die durch das „objet trouvé“ der Gitarrenstimmung bedingte Zentrierung der Tonhöhe e in op. 15c und Nachtstück in den Bereich des Phrygischen, den Kurtág traditionell als Klage- bzw. Trauer-Ton auffasst. Ein anderes wesentliches Merkmal innerhalb dieser Charakterkonstellation ist eine träge, kontinuierliche Impulsfolge, die vielleicht auf Kurtágs Notiz über die Suche „a jó ostinato strukturához“ („nach einer guten Ostinato-Struktur“) bezo- gen werden kann. In op. 15c ist sie durch direkt auf die Solo-Version zurückge- henden Gitarrenarpeggi gegeben, die im Nachtstück durch allseitige Sirató-Figu- 122 Vgl. Friedemann Sallis, The Genealogy of György Kurtág’s „Hommage à R. Sch“ [sic!], op. 15d, in: StMl 43 (2002), S. 311ff. 123 Als Finalsatz von op. 15a war eine frühe Fassung der Abschied-Passacaglia vorgesehen; vgl. die Mappe Grabstein für Stephan, SGyK.61 ration halbtönig affiziert sind, so dass das Element der leeren Stimmung nicht mehr erscheint. In der Passacaglia von Abschied ist die Bedingung einer kontinu- ierlich fortlaufenden Schicht durch die isorhythmische Gestalt im Klavier er- füllt, auf deren historische Dimension der Untertitel „(Meister Raro entdeckt Guillaume de Mauchaut)“ hinweist. Eine latente Beckett-Affinität äussert sich möglicherweise in der Überformung jener Impulsfolgen. In allen Fällen artikuliert sich der Formverlauf als Bogen, in dem das Material von einem ostinaten Minimum ausgehend gesteigert wird, um nach erreichtem Höhepunkt wieder zu verlöschen, ohne zu Ende zu kommen. Ein solches bogenformales Konzept geniesst nur noch äusserlich Bartóksche Provenienz. Innerhalb der brückenförmigen Anlage ist bei Kurtág jegliche kon- struktive Energie erloschen. Bartóks Architektur ist nun entkernt, übrig bleibt ein leeres Gefäss. Das wenige, was an musikalischem Material noch da ist, wird einem konsequenten formalen Verschleiss überantwortet, dessen Ergebnis sich an den jeweils letzten, buchstäblich leergespulten Takten, die zu keiner gültigen Schlussbildung finden können, ablesen lässt: In Abschied folgt auf die letzten Ta- lea-Fragmente nur noch ein diastematisch indifferenter, bleierner Schlag der grossen Trommel. Die ausschwingenden Gongklänge von Grabstein werden von einer ersterbenden Stimme ergänzt, deren h eine halbschlüssige Wirkung er- zeugt. Bevor die Posaune am Ende der Nachtstück in zittrigem Glissando in ei- nen nicht näher bestimmten Tonhöhenraum abgleitet, hat Kurtág sein „Beckett- Tempo“ gefunden: In der Bezeichnung il più lento possibile ist das Tempo I Un- erträglich langsam von op. 30 bereits vorgebildet. Das einfache konvexe Zyklusmodell erscheint in Grabstein op. 15c in besonde- rer Form, weil es räumlich und episodisch dissoziiert wird. Als paroxysmale Vor- aussetzung zur Erschöpfung der Materialien werden äussere Katastrophen mit- tels hinter der Bühne postierter alltäglicher Lärmerzeuger wie Hupen und Trillerpfeifen inszeniert.124 Die Statik des Modells tritt im Kontrast umso deutli- cher hervor. In einem Brief an seine Interpreten gibt Kurtág einen Kommentar, der die gestische Konzentration des Stücks in eine interessante Perspektive rückt. „[…] Diese Komposition [Grabstein für Stephan] ist an der Grenze des Nichtgesche- hens. Die Giutarre [sic!] spielt fortwährend dieselbe primitive Harmoniefolge vom quasi e moll der leeren Saiten bis Cis-dur, häufig sogar ohne das Cis zu erreichen; ein jeder von Ihnen hat höchstens 2–3 Melodie-Solo zu spielen und auch diese nur 3 bis 5tönig. 124 Wie Jürg Wyttenbach berichtet, handelt es sich bei der Verwendung dieser „Instrumente“ um ein autobiographisch situiertes „Objet trouvé“: Als Kurtág vom Tod seines Freundes Ste- phan Stein erfuhr, habe er sich in einer Mailänder Cafeteria befunden, um die lärmende Fuss- ballfans umherzogen. Jürg Wyttenbach in einem Gespräch mit dem Autor, Basel, 18. Mai 2002.62 Es geschieht nichts, das Werk kann absolut unbedeutend oder auch sehr erschütternd sein. Erschütternd kann es nur sein wenn jeder von Ihnen daran glaubt und seinen scheinbar unbedeutenden Melodie-Floskeln das Gewicht langer, grosser Melodien gibt – und die anderen Spieler es mit Tönen und Geräuschen so umgeben, wie ich es bei den Proben und Konzerten der Philharmonie so oft im klassischen Repertoire hören und erleben durfte.“125 Kurtág realisiert sein Projekt einer Musik „an der Grenze des Nichtgeschehens“ auf eine Weise, die mit Becketts Ästhetik einer umfassenden künstlerischen „contraction“126 adäquat beschrieben werden könnte. Selbstverständlich erweist sich Kurtág in seiner Bemerkung über das „klassische Repertoire“ als erfahrener Pädagoge. Kurtág knüpft – wie Beckett – an Traditionszusammenhänge bewusst an. Mit Kontraktion treibt Kurtág Geschichte nicht aus. Sein Ziel ist die expres- sive Verdichtung geschichtlicher Erfahrung von Zeit in der Einzelgeste. Nachtstück und Abschied orientieren sich an Musik von Machaut bis Bartók und entsprechen damit einem ausserordentlich weitgefassten Verständnis von „klas- sischem Repertoire“. Als Finalsätze erfüllen sie zudem satzübergreifende Funk- tion. Beide entsprechen in ihrer Dauer der Summe der vorherigen Einzelstücke von Zyklen, die in unterschiedlicher Ausprägung Parodien darstellen: Gleicht die Gelegenheitskomposition A kis csáva op. 15b einer grotesken Portraitfolge nach dem Vorbild von Mussorgskis Bildern einer Austellung, so spielen die Sätze der Hommage à R. Sch. op. 15d mit den Schumann-Figuren Florestan, Eusebius und Meister Raro. In Nachtstück und Abschied erschöpfen sich die Möglichkei- ten solchen Maskenspiels. Über Abschied sagt Kurtág: „Vorbei ist es mit theatralischer Kostümierung, der Satz steigert sich vielmehr bis zu tragischer Verzweiflung, ehe er in finstere Nacht zurücksinkt.“127 Im Finale ereignet sich keine apotheotische Zuspitzung, sondern ein Ablegen der Kostüme, ein Verstummen der vormals redseligen Figuren. Die Mittel der Parodie sind verbraucht. Übrig bleibt weniger die von Beckett letztlich anvisierte Leere als vielmehr die musikalische Gebärde in ihrer elementarsten Reduktion. Genau dies entspricht Kurtágs im Ausruf des verbalen Kommentars zur Foot- falls-Skizze angemeldetem Anspruch auf künstlerische Entblössung. In A kis csáva wird „Entblössung“ ins Werk gesetzt in einer zyklischen Bewe- gung, die vom „klassischen Repertoire“ zum autobiographischen „Früh-Ich“ führt. Wie aus einer Skizze zum Nachtstück hervorgeht, war es nach den musi- kalischen Portraits der aus zeitlicher wie persönlicher Sicht immer näher rücken- den Komponisten Mussorgski, Strawinsky und Ligeti als eine Art Selbstportrait vorgesehen. Die Überschrift des Nachstücks „Mintha valaki jönne (Ady) (Ifj. 125 Briefentwurf vom 8. Mai 1994, vermutlich an die Mitglieder der Berliner Philharmoni- ker; Korrespondenz, SGyK. 126 Proust, S. 64. 127 Zitiert nach Ulrich Dibelius (Hrsg.), Ligeti und Kurtág in Salzburg, S. 85.63 Kurtág György / az ifjú Kurtág György?)“ („Als ob jemand käme [Ady] [György Kurtág jun. / der junge György Kurtág?“]) verweist auf den ersten Satz der an- geblich frühesten Komposition Kurtágs aus dem Jahr 1943.128 „Meine erste Komposition, zu der ich immer stehen kann, ist die Suite für Klavier. Ich weiss selbst nicht genau, wann ich das wohl geschrieben habe – ich mag 16/17 Jahre gewesen sein. Ihr erster Satz – als ob jemand käme – ist eine Antwort auf eine Verto- nung eines Ady-Gedichts von Max Eisikovits, meines Kompositionslehrers [in Temes- vár]. Ihr Grunderlebnis – ich warte, und es kommt niemand – war mir schmerzlich vertraut und wurde so zum ersten Satz der Suite.“129 Abbildung 3: György Kurtág, op. 15b/IV, Skizze (© by Paul Sacher Stiftung, Basel) Im ersten Satz der Suite (siehe ,Abb. 4, Seite 66) komponiert Kurtág das durch Ady130 vermittelte „Grunderlebnis“ aus: Formulierungsversuche eines ersten punktierten „Themas“ brechen nach wenigen Takten ab. Ein zweites, in Imita- tion abwärts gleitendes131, wird ebenfalls nicht voll entfaltet, der Zusammen- hang setzt nach drei Takten wiederum unvermittelt aus. Was folgt, sind Teil- 128 Im Untertitel der Druckausgabe hat Kurtág das Selbstportrait um einen Hinweis auf Do- stojewski erweitert: „w podpole s Fjedorom Michailovitschem“ („im Keller/Untergrund mit Fjodor Michailowitsch“); für eine ausführliche Betrachtung von op. 15b vgl. Michael Kunkel, György Kurtág – „A kis csáva“ (1978), Saarbrücken: Pfau 1998 (= fragmen 25). 129 György Kurtág in einem Gespräch mit Bálint András Varga, in: Komponistenportrait György Kurtág. Programmheft der 38. Berliner Festwochen, Berlin 1988, S. 36f. 130 Das Zitat „Mintha valaki jönne“ ist im Manuskript ausgestrichen; im Original lautet der Vers: „Mintha jönne valaki“; vgl. Endre Ady, Nem jön senki, in: ders., Összes Versei I, Buda- pest: Szépirodalmi könyvkiadó 1971, S. 221. 131 Vielleicht ist dieses Motiv in die Gestalten der Posaune und der Piccolo-Flöte des Nacht- stücks von op. 15b eingegangen.64 Echos dieser unvollständig artikulierten Gebilde – wie in … lassan szállj és hoss- zan énekelj, haldokló hattyúm, szép emlékezet! … kann auf die anfänglichen Ak- korde nicht zurückgekommen werden, bevor der Satz verlöscht. Das ganze Stück ist mit den Harmonien h-moll (mit grosser Septime) und es-moll (in Quart-Sext-Position mit grosser None) von traditionellen Trauer- oder Todes- tonarten umschlossen. Die Charakterkonstellation der Grabstein-Gruppe ist hier mehr als nur keimhaft enthalten. Jegliche „Erwartung“ eines stabilen tänzerischen Eröffnungssatzes einer Klavier- suite, wie er sich nur in den ersten beiden Takten ganz ohne Schwung andeutet, erfüllt sich nicht. Die konstruktive Arbeit liegt in der Dekomposition bloss halb artikulierter Materialien. Kurtág findet im Nachtstück zu einer neuen Gestal- tung der Situation nicht eingelöster Erwartungen mit den in der Grabstein- Gruppe erworbenen Mitteln. Der bewusste Rekurs auf eine durch persönliche Erfahrung vermittelte Zerfallsform, die den Ausgangspunkt seiner kompositori- schen Entwicklung markiert, findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem Kurtágs musikalisches Denken mit Becketts Konzepten zumindest lose koinzidiert. In seltsamer Antizipation spiegelt das Ady-Zitat wie die Charakterisierung der „Grundsituation“ die populärste aller Beckett-Erfahrungen vor.132 Als Kurtág sich in den achtziger Jahren neuen Vokalprojekten zuwandte, die vor allem durch die Bekanntschaft mit der russischen Dichterin Rimma Dalos ange- regt wurden, blieben mit Ausnahme des vom Komponisten nicht hochgeschätz- ten op. 15b die Stücke der Grabstein-Gruppe zunächst unvollendet liegen. An- dere Gesänge nach weiteren russischen Texten und Dichtungen von Attila József, Dezső Tandori und Franz Kafka beschäftigten ihn fast während der ge- samten achtziger Jahre. Obwohl der erste explizite musikalische Annäherungs- versuch an Becketts Dichtung in diesem Zeitraum offenbar keine Fortsetzung fand, gibt der Untertitel des den vierten Teil der Kafka-Fragmente op. 24 eröff- nenden Stücks Zu spät einen Hinweis auf eine subkutane Präsenz von Beckett- Stoffen: „(Prófécia Krappról)“ („[Prophezeihung über Krapp]“). Kurtág schreibt Musik über einen Tagebucheintrag Kafkas vom 22. Oktober 1913, worin sich Kafka möglicherweise auf seine Liebesaffaire zu Gertrud Wasner bezieht, die sich kurz vorher im Sanatorium „Dr. von Hartungen“ im österreichischen Riva am Gardasee ereignet hatte.133 „zu spät. Die Süssigkeit der Trauer und der Liebe. Von ihr angelächelt werden im Boot. Das war das Allerschönste. Immer nur das Verlangen zu sterben und das Sich-noch- halten, das allein ist Liebe.“134 132 Unlängst kreuzten sich in Kurtágs Musik wieder die Beckett- und Ady-Spuren: Der zwei- te Satz der 6 Moments musicaux op. 44 für Streichquartett (2005) trägt den Titel „Footfalls … mintha valaki jönne …“. 133 Vgl. Franz Kafka – eine Chronik, hrsg. von Roger Hermes u.a., Berlin: Wagenbach 1999, S. 108f. 134 Franz Kafka, Tagebücher 1912–1914, Frankfurt am Main: Fischer 1994, S. 199.65 Abbildung 4: György Kurtág, Suite, 1. Satz, Reinschrift (© by Paul Sacher Stiftung, Basel)66 Offenbar liest Kurtág diese Notiz als „Prophezeihung“ jener Bootstour, die Krapp in seinem Tonband-Tagebuch festhält. „-upper lake, with the punt, bathes off the bank, then pushed out into the stream and drifted. She lay stretched out on the floorboards with her hands under her head and her eyes closed. Sun blazing down, bit of a breeze, water nice and lively. […] I lay down across her with my face in her breasts and my hand on her. We lay there without moving. But under us all moved, and moved us, gently, up and down, and from side to side.“135 Gibt es weitere mögliche Berührungspunkte? Manche gestischen Zerdehnungen wie der zweite Teil von Der wahre Weg aus den Kafka-Fragmenten136 (der mit Zu spät zusammenhängt), sowie A kerten …, Nr. 17 aus den Attila-József-Fragmen- ten op. 20, besitzen eine gewisse „Beckett-Qualität“. A kerten … stellt den abso- luten motionalen Nullpunkt innerhalb des Zyklus dar. Augenblickhafte Be- schleunigungen lassen Silbenzerdehnungen umso spürbarer werden. Hier tritt die Aussage jener beiden Gesänge, die op. 20 umschliessen, ins Werk: „Kásasodik a víz, kialakul a jég“ („Breiig wird das Wasser, es bildet sich das Eis“137). Es ist dieser Bereich der eingefrorenen Gebärde und des impotenten Mittei- lungsversuchs, der sich als affektives Zentrum von Kurtágs erster ausgeführter musikalischer Beckett-Lektüre erweisen soll. Dass diese unmittelbar nach der späten Vollendung der Stücke aus op. 15, der Grabstein-Gruppe, stattfand, sei nur am Rande vermerkt. 135 Krapp’s Last Tape, S. 61. 136 „Es sollte ja ein Gegengewicht sein und unerträglich langsam ablaufen, wofür ich mir ei- gens viel Geduld nehmen musste. Das ‚unerträglich langsam‘ kommt dann nochmals in der Beckett-Komposition [op. 30] wieder, dort ist es Ausdruck kreisender Sprachbefragung.“ (György Kurtág zitiert nach Ulrich Dibelius [Hrsg.], Ligeti und Kurtág in Salzburg, S. 94). 137 Übertragung nach Claudia Stahl, Botschaften in Fragmenten – Die grossen Vokalzyklen von György Kurtág, Saarbrücken: Pfau 1998, S. 111.67 2.2. Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval (Samuel Beckett: mi is a szó) op. 30a (1990) „Das Stottern ist ebenso meine Muttersprache wie Bartók meine Muttersprache ist.“ (György Kurtág) 2.2.1. Drei Begegnungen Der Titel von op. 30a macht deutlich, dass sich die erste vollendete Beckett-Mu- sik einer umwegigen Lektüre verdankt; Kurtág, der Komponist zahlloser Hom- mages und In memoriam-Stücke, tritt gleich dreifach hinter seine Protagonisten zurück: Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval (Samuel Beckett: mi is a szó) (Samuel Beckett lässt in der Übersetzung von István Siklós durch Ildikó Monyók sagen [Samuel Beckett: what is the word]) op. 30a. Für die Entstehung des Werks gleichermassen entscheidend waren die Begeg- nungen mit der Schauspielerin und Sängerin Ildikó Monyók sowie mit István Siklós’ Übertragung von Becketts What is the Word ins Ungarische. Das für Kur- tág ungewöhnlich rasche Schreibtempo zeigt, wie anregend diese Begegnungen gewesen sein müssen: Folgt man der Partiturdatierung, hat er in nur drei Tagen, in der Zeit vom 13. bis 15. März 1990 seinen bisher längsten zusammenhängen- den Satz komponiert. Monyóks physisches Handicap gab einen wesentlichen Schaffensimpuls. „Das ganze Beckett-Stück wäre aber undenkbar ohne die Rezitatorin, ohne Ildikó Monyók. Sie hatte einen Auto-Unfall [1982], Nachwirkungen davon sind ihr bis heute geblieben. Und nach diesem Unfall verstummte sie für sieben Jahre. Endlich hat sie dann mit äusserster Energie all ihren Willen zusammengenommen, hat sich mithilfe [sic!] irgendwelcher östlichen Meditationsverfahren – sie ist barfuss durchs Feuer gegangen, sogar mehrmals – tatsächlich wieder so weit gebracht, dass sie auf der Bühne auftreten konnte. Sie hat sich selbst gespielt, wir haben sie erstmals in einem Avantgarde-Stück gesehen, wo sie stottern musste. Sie war phantastisch. Ich kam mit ihr in Kontakt und später hat sie mir zwei meiner Lieder für Stimme allein vorgesun- gen. Am meisten fasziniert haben mich dabei ihre spannungsvollen Pausen. Und wenige Tage später erhielt ich den Beckett-Text What is the Word in ungarischer Über- setzung. Im allgemeinen vertone ich keine Übersetzungen, aber in diesem Fall machte ich mich sogleich an die Arbeit. Und der Ungarische Untertitel in der Partitur [von op. 30b, entspricht dem Titel von op. 30a] verdeutlicht, wie sehr ich das Stück für sie geschrieben habe […]“138 Auch in einem unveröffentlichten Brief von Kurtág an vermutlich Claudio Abba- do wird der Konnex zwischen Text und Interpretin deutlich: 138 György Kurtág zitiert nach Ulrich Dibelius (Hrsg.), Ligeti und Kurtág in Salzburg, S. 76.68 „[…] Es [op. 30a] ist geschrieben für eine ver behinderte Schauspielerin, die nach einem Autounfall jahrelang nicht reden konnte – nicht als Folge der Beschädigung, sondern weil sie nachher von ihrem Regisseur brutal behandelt wurde sogar heute stottert wie Beckett es verlangt. Die Komposition ist mir sehr wert – ich möchte sie in einem begrenzten/geschlossenen Kreis mit Ildikó Monyók (so heisst sie) aufführen.“139 Die Äusserungen geben Hinweise auf die Grundkonzeption des Stücks wie auch auf Kurtágs Beckett-Auffassung: Dass die Interpretin nicht nur musikalische, sondern auch schauspielerische Fähigkeiten besitzt, ist von Bedeutung. Kurtág verbindet den in What is the Word geübten Prozess einer dichterischen Auslö- schung von Wörtern mit der konkreten Darstellung eines Stotterns – und zwar nicht irgendeines Stotterns: Ausgangspunkt der Komposition ist Monyóks reales Artikulationsdefizit; wieder spielt sie „sich selbst“. In gewissem Sinn erfüllt Monyók in ihrer pathologischen Verfassung die Bedingung eines Kurtágschen objet trouvé. Wie aus der brieflichen Bemerkung über den Aufführungsrahmen hervorgeht, scheint für den Gesang von op. 30a eine ausgesprochen intime Dar- stellungsweise entscheidend – Kurtágs Vorstellungen von Kafkas „begrenztem Kreis“140 und „Meztelenség“ kommen zusammen. Aus dieser besonderen Situation resultiert als „Sujet“ für op. 30a ein Sprachfin- dungsprozess, wie er in früheren „Beckettspuren“ in der Musik Kurtágs schon ansatzweise erkennbar wurde. Er ist nicht allein durch Kurtágs persönliche Les- art von Becketts Texten gegeben, sondern zentraler Schreibimpuls im allgemei- nen. Für viele Kompositionen ist eine sprachlich motivierte Ausformung von Rohmaterial von besonderer Bedeutung. Dass dies als Voraussetzung zum „gül- tigen“ Werk angesehen werden kann, mag folgende kurze Abschweifung deut- lich machen. 2.2.2. „Stottern, wie Beckett es verlangt.“ Nachdem Kurtág sich nach der gescheiterten ungarischen Revolution des Herb- stes 1956 in einer schweren Lebens- und Schaffenskrise und zu keiner für ihn gültigen künstlerischen Äusserung mehr fähig fand, führte ihn während seines Paris-Aufenthaltes 1957–58 die Psychologin Marianne Stein zum Eingeständnis der Situation einer sprachlichen wie musikalischen Legasthenie. Der schwer er- rungene Neuansatz des programmatisch als opus 1 bezeichneten Ersten Streich- quartetts (1959) erfolgte nach einer Neubestimmung der künstlerischen Per- spektive des 33-jährigen, schon zuvor nicht müssigen Komponisten. Fortan 139 Undatierter Briefentwurf, aus der Entstehungszeit von op. 30b, also ca. Sommer 1991; Korrespondenz, SGyK. 140 „Der begrenzte Kreis ist rein.“ Kurtág vertonte diesen Kafka-Aphorismus in den Kafka- Fragmenten op. 24 (III/6) in einem Dreitakter, den er für die Hommage à R. Sch. op. 15d wie- der verwendet.69 Abbildung 5: György Kurtág, Acht Klavierstücke op. 3, Nr. 1 (Beginn) (© by Universal Edition, Wien)70 Abbildung 6: György Kurtág, Bornemisza Péter Mondásai op. 7 (Beginn) (© by Universal Edition, Wien)71 stellten sich kompositionstechnische Probleme als Erkundungsversuche im Be- reich elementarster musikalischer Zusammenhänge. Kurtágs musikalische Sprachschwäche wurde so zu seinem künstlerischen Kapital. Seither ist die Figur des Stotterns eine wichtige Kurtág-Vokabel. Oft nimmt die Suche nach gültigen musikalischen Gestalten ihren Ausgang von repetitiven Impulsfolgen, die mit dieser Figur assoziiert werden können (vgl. Abb. 5 und 6). Solche in Kurtágs Musik häufig erscheinenden Ostinatoketten gerinnen nicht zur sich auflösenden Summe einzelner Mikroimpulse, wie sie zum Beispiel bei Ligeti als Einzelsignale zum illusorischen Supersignal verschmelzen, sondern sind „gestotterte“ Initialformeln. Auch die obsessiven repetitiven Gestalten des zweiten und fünften Satzes des Ersten Streichquartetts können in diesem Kon- text genannt werden. Einige Kompositionen konzentrieren sich ganz auf diesen Gestus: Das Viola-Stück Hommage à John Cage – Elakadó szavak (Stockende Worte) (1987, rev. 1991) und In memoriam Joannis Pilinszky aus den Kafka- Fragmenten sind musikalische Ausformungen versagender Sprache. Letzteres Stück, das Kurtág als seine ars poetica bezeichnet, ist die komponierte Inszenie- rung von Kafkas Eingeständnis einer sprachlichen Impotenz. „Ich kann … nicht eigentlich erzählen, ja fast nicht einmal reden; wenn ich erzähle, habe ich meistens ein Gefühl wie es kleine Kinder haben könnten, die die ersten Geh- versuche machen.“141 Kurtágs musikalisches Stottern und Stammeln ist kein Regressionsspektakel, sondern hängt mit seiner Schreibproblematik ursächlich zusammen. Die Musik gerät ins Stocken, weil der Komponist in der zum op. 1 führenden Schreibkrise erfahren hat, dass Mittel der Klangrede nicht einfach zur Verfügung stehen, son- dern komponierend aufgefunden werden müssen. Damit verbundene Artikula- tionswiderstände rufen die Dissoziation der Einzelgeste, der „Grundeinheit in Kurtágs musikalischem Denken“142, hervor. Ihre Formulierungsversuche kön- nen formzeugende Wirkung entfalten. Aufschlussreich ist ein Hinweis zur Phra- sierung der Textwiederholungen von Hölderlin: An … op. 29 (1988–89). „Alle Textwiederholungen – stotternd – das ist: zielgerichtet. Man sucht nach Fortset- zung – aber kann es, darf es nicht gleich aussprechen. Immer durch Pausen phrasieren! Nur die neue [sic!] Strukturen sollen getrennt werden.“ In einer Schauprobe mit Bartóks Drittem Streichquartett kommentierte Kurtág die fragmentierte Artikulation des Themas im ersten Satz (Takt 36–42) entspre- chend: „Wer stottert, möchte die Phrase zu Ende bringen.“143 141 Zitiert nach Kurtág, op. 24; vgl. auch Franz Kafka, Briefe an Felice, Frankfurt am Main: S. Fischer 1986, S. 400. 142 István Balázs, György Kurtág, Attila József-Fragmente, in: Melos 48 (1986), Heft 1, S. 36.72 In einer ungewöhnlichen Konstellation von Begegnungen avanciert in op. 30a dieser Impuls zur wesentlichen formbildenden Kraft. 2.2.3. István Siklós’ ungarische Übertragung Die Untersuchung der von István Siklós (1936–1991) hergestellten ungarischen Textvorlage zu op. 30 stösst auf verschiedene Schwierigkeiten. Die ungünstige Quellenlage hierfür hängt mit der besonderen Entstehungsgeschichte der Musik zusammen: Kurtág lag für seine Komposition eine Photokopie der Handschrift des unveröffentlichten Textes vor, die er von Siklós persönlich erhalten hatte.144 Siklós hatte seine Übertragung unmittelbar nach Becketts Tod angefertigt und verstarb bald darauf.145 Siklós’ Text mi is a szó bezieht sich auf Becketts engli- sche Fassung What is the Word und ist nur in Kurtágs Partituren der Werkgruppe op. 30 publiziert.146 Der auf Seite 3 der Partitur von op. 30b abgedruckte Text (= Quelle T) ist nicht identisch mit dem in der Partitur von op. 30a enthaltenen Text (= Quelle M). Einige Wiederholungen und Interpolationen von M gegen- über T sind Kurtágs Kompositionsarbeit zuzurechnen. Auffällig ist die versmäs- sige Inkongruenz: Während Vers 6 von Quelle T in M fehlt, erscheint in Takt 11 der Vers „hiábavaló mindettől –“, der mit Vers 7 „folly from all this –“ aus Becketts What is the Word korreliert, jedoch in Quelle T ausfällt. Diese Uneben- heit wird hier in Hinblick auf Becketts Text getilgt, indem beide Lesarten be- rücksichtigt werden. Meine Textwiedergabe ist daher ein heuristisches Kon- strukt, das nicht mit einer zuverlässigen Wiederherstellung der nicht zugänglichen, ursprünglichen Textgestalt von István Siklós verwechselt werden darf. Eine weitere Schwierigkeit liegt in meiner mangelnden Kompetenz zur verant- wortlichen Beurteilung ungarischer Texte. Mein Kommentar liefert deshalb nur vorläufige Hinweise und Überlegungen zur Beschaffenheit des ungarischen Fil- ters der Kurtágschen Beckett-Lektüre. Eine kritische Betrachtung muss Fachleu- 143 In einem Kammermusikkurs an der Musik-Akademie Basel am 22. Januar 1999. 144 Nach einer mündlichen Mitteilung von János P. Demény, Budapest, März 2000. 145 István Siklós starb am 27. August 1991 in London, wohin er 1956 aus Budapest geflüch- tet war; er wird gerne als Aussenseiter-Literat beschrieben: „Istvan Siklós […] is a lonely poet who stands aloof from his contemporaries. Influenced by Buddhist thought, his vision of pri- meval destruction is expressed in an imagery both awe-inspiring and grandiose, he uses sono- rous and solemn language and a type of lettrisme to underline units of delivery.“ (Lóránt Czigány, The Oxford History of Hungarian Literature – From the Earliest Times to the Present, Oxford: Clarendon 1984, S. 483). Als Hauptwerke nennt das Új magyar irodalmi lexikon, Bu- dapest: Akadémiai Kiadó 1992, S. 1942: ember5húrral (1968), Csönd erdeje előtt (1969), A vi- lág világossága mögöttem (1992). 146 Andere Quellen wie CD-Booklets oder Programmhefte sind tertiär, da sie sich auf den in der Partitur veröffentlichten Text beziehen und meist fehlerhaft sind.73 ten der ungarischen Literaturwissenschaft überlassen bleiben. Für die wenigen grundsätzlichen Beobachtungen waren noch einmal die Kenntnisse der Kurtág- Forscherin Rachel Beckles Willson hilfreich. Siklós István: MI IS A SZÓ 0 mi is a szó 1 hiábavaló – 2 hiábavalo nak hoz – 3 nak hoz – 4 mi is a szó – 5 hiábavaló ettől – 6 [mindettől –]147 7 [hiábavaló mindettől –]148 8 adott – 9 hiábavaló adva mindettől [–]149 10 látnivaló – 11 hiábavaló látni mindezt [–] 12 ezt – 13 mi is a szó – 14 ez ez – 15 ez ez itt – 16 mindez ez itt – 17 hiábavaló adva mindettől [–] 18 látva – 19 hiábavaló látni, mindezt itt – 20 nak hoz – 21 mi is a szó – 22 látni – 23 pillantani – 24 pillantani tűnni – 25 szükség pillantani tűnni – 26 hiábavaló szükség pillantani tűnni – 27 mi – 28 mi is a szó – 29 és hol – 30 hiábavalónak hoz szükség pillantani tűnni mi hol [–] 31 hol – 32 mi is a szó – 33 ott – 34 odaát – 35 odébb odaát – 36 távol – 37 távol odébb odaát – 147 Fehlt in Quelle M. 148 Fehlt in Quelle T. 149 In beiden Quellen fehlende Gedankenstriche.74 38 eltűnő – 39 eltűnő távol odább odaát mi – 40 mi – 41 mi is a szó – 42 látni mindezt [–] 43 mindezt ezt150 – 44 mindezt ezt151 itt – 45 hiábavalónak hoz látni mi [–] 46 pillantani – 47 pillantani tűnni – 48 szükség pillantani tűnni – 49 eltűnő távol odább odaát mi – 50 hiábavalónak hoz152 szükség pillantani tűnni eltűnő távol odább odaát mi [–] 51 mi – 52 mi is a szó – 53 mi is a szó Vor allem aufgrund der sehr verschiedenen grammatikalischen Strukturen des agglutinierenden Ungarischen und des flektierenden Englischen sind Übertra- gungen zwischen diesen Sprachen gewöhnlich äusserst problematisch. Parado- xerweise begünstigt Becketts in What is the Word organisierte Sprachflucht eine ungarische Fassung, weil seine aus dem konstruktiven Missbrauch des Engli- schen bzw. Französischen resultierende Kunstsprache Merkmale aufweist, die auch der ungarischen Idiomatik eigen sind. Das betrifft zum einen die Tendenz zur Isolierung einsilbiger Worte, die zu neuen, parataktischen Konstellationen „agglutinieren“, zum anderen den stark ausgeprägten Hang zur Homophonisie- rung dieser Silben mit den Mitteln der Paronomasie. Dies entspricht dem we- sentlichen Prinzip der Vokalharmonie im Ungarischen, nach dem in den meisten ungarischen Wörtern entweder nur dunkle (a, á, o, ó, u, ú), oder nur helle Voka- le (e, é, i, í, ö, ő, ü, ű) enthalten sein dürfen. Der Vokalharmonie kommt im Pro- zess der Agglutinierung eine zentrale Bedeutung zu. So richtet sich die Vokalfar- be der Suffixe immer nach dem Klangwert des Stammwortes, zum Beispiel: Kurtágnak (für Kurtág), aber: Ligetinek (für Ligeti). Solche Mittel, die Beckett unter Aufbringung einer nicht geringen dichterischen Virtuosität erst finden musste, waren Siklós selbsverständliche Merkmale seiner Muttersprache. Dabei verwandelt sich die englische Ein- bis Zweisilbigkeit zu ungarischen Vielsilblern. Entsprechend wachsen zum Beispiel die 19 Silben des englischen Maximalverses (v. 50) auf 26 an. Obschon Siklós’ Übertragung sich insgesamt nicht weit vom Original entfernt, sondern die Einzelelemente des Beckettschen Textes offenbar ohne den Anspruch einer umfassenden Nach- oder 150 In Quelle T als „mind ezt ezt“. 151 In Quelle T als „mind ezt ezt“. 152 In Quelle M (op. 30a, Takt 64, op. 30b, Takt ooo) als „nek“.75 Neudichtung in ihrer meist direkten ungarischen Entsprechung neu zusammen- setzt, fallen in der Übertragung einige Besonderheiten auf. In Siklós’ Übertragung des Titels, der nun die erste Gedichtzeile abgibt, geht der Doppelsinn von „what is the word“ fast verloren. „Mi is a szó“ ist weniger die verlegene mündliche Floskel, sondern legt viel eher die „platonische“ Lesart na- he. Eine allzu wörtliche deutsche Übersetzung würde „was auch das Wort“ lau- ten – was im Ungarischen keine Ellipse ist, da dort auf die Formen des Verbs sein regulär verzichtet werden kann. Der Vers liesse sich ziemlich genau als „Was ist das Wort überhaupt“ wiedergeben. Da eine Übertragung des Doppelsinns im Ungarischen offenbar schwer möglich ist, musste Siklós sich für eine Lesart ent- scheiden, und er hat der genannten den Vorzug vor der Alltagsfloskel „Mi az a szó“ (wörtlich: „was jenes Wort“, entspricht: „wie heisst das Wort“) gegeben. Auch in anderen Fällen hat Siklós die Janusnatur von Becketts Worten auf eine Bedeutung festgelegt. Als Binnenreim zu „hiábavaló“ mutiert Becketts „seeing“ (v. 10) zum sight seeing: Das ungarische „látnivaló“ bedeutet „Sehenswürdig- keit“. Becketts letzte Vokabel „afaint“ wird von Siklós mit dem Wort „eltűnő“ beantwortet, das sich nicht auf eine örtliche Bestimmung, sondern auf den Vor- gang des Verschwindens bezieht. Eine weitere, nur im Ungarischen vorhandene Konotation kommt durch die Ähnlichkeit mit „eltűnődik“ („nachsinnen“) zu- stande. 2.2.4. Analytische Bemerkungen zu op. 30a Zu op. 30a ist gegenwärtig keinerlei Skizzenmaterial zugänglich. Einzige Quelle ist die in der Paul Sacher Stiftung aufbewahrte Reinschrift, deren Reproduktion als Partitur (EMB Z.13 989) veröffentlicht ist.153 Die folgende Betrachtung der Komposition bezieht sich ausschliesslich auf diese Quelle, die Kurtág im Manu- skript noch als op. 30 ausgibt. Die hier vorgenommene Einteilung des Werks soll keinen Formplan im herkömmlichen Sinn, keine scharfen Einschnitte in den Ab- lauf der Musik suggerieren, sondern markiert lediglich Phasen der analytischen Lektüre. Diese sinnt weniger auf eine Aufschlüsselung eines kompositorischen Plans, sondern entspricht einem teils deskriptiven Befragen musikalisch ausge- formter Materialien aus einer oft sprachanalog orientierten Sichtweise. Leitende Fragen sind dabei: Was geschieht auf der kompositorischen Suche nach „sprach- fähigem Melos“? Wodurch wird ein solches in dieser Komposition repräsen- tiert? Findet seine Bemächtigung in der Komposition statt? 153 Nach der Publikation nahm Kurtág wenige Eingriffe in diese Quelle vor: Das sind a) Ein- tragungen für die Instrumentation in der späteren Fassung op. 30b unter Takt 1–4; b) eine Kor- rektur der Singstimme in Takt 64 auf der Silbe „nek“: d in des; vgl. die Reproduktion beider Stellen in: Michael Kunkel, „Das Artikulierte geht verloren“. Eine Beckett-Lektüre von György Kurtág, in: Mitteilungen der Paul Sacher Stiftung 13, April 2000, S. 39f.76 2.2.4.1. Monodie auf Krücken (Takt 1–8) Unmittelbar nachdem er Siklós’ Text kennengelernt hatte, komponierte Kurtág die monodische Rezitation von op. 30a, in der Monyóks noch unsichere Stimme von einem Klavier abgestützt wird. Das geschieht fast durchweg im unisono. Selten erscheinen im Klavier zusätzliche Töne, die aber niemals aus der direkten Anbindung an die Rezitation entlassen werden. In diesem beschränkten Rahmen erscheinen einige Stützklänge wie in Takt 5–8, echohafte Weiterführungen bzw. Ergänzungen des Gesangs (zum Beispiel in Takt 25) oder lagenmässige Verschie- bungen (Takt 54). Erst nachdem das gesamte Wortmaterial des Textes einmal ge- sungen ist, traut sich die Stimme gegen Ende des Stücks (Takt 48, 51, 56–60, 66) sehr zögerlich auch eigene Gehversuche auf schon geübten Vokabeln zu, die bald durch den Einsatz der klingenden Stütze aufgefangen werden. Kurtág folgt Siklós’ Lesart, indem er den Titel in seine Komposition mit einbe- zieht. Wie in einem Motto werden die Worte „mi is a szó“ auf den für das ge- samte Stück zentralen Gestus einer stockenden Deklamationsweise „kivárhatat- lanúl, elviselhetetlenül lassan“ (unerträglich langsam) installiert. Die Silben werden einzeln herausgepresst. Die in Kurtágs relativer Dauernnotation als kurz festgelegten Deklamationswerte werden von einem langen und einem sehr lan- gen Pausenwert unterbrochen.154 Die noch völlig ungeübte Stimme gleitet sofort ins Sprechregister ab, sobald das Klavier sie, wie auf „a“ („das“), allein lässt, auch wenn es nur eine Tonwiederholung ist. Der abwärts gerichtete Doppelhalbton h-b-a ist eine Vorgabe mit weitreichender Konsequenz. Als Ausgangspunkt der Komposition wird er zunächst in einem er- sten, deklamatorisch gebrochenen Komplex (Takt 1–8) wie in einer Tonsatz- übung tendenziell palindromisch ausgebreitet und wieder zurückgenommen. Nachdem der Tonraum auf den Doppelganzton h-g gedehnt werden konnte, zieht er sich Takt 6 im Klavier wieder auf die Tonhöhen des Beginns zusammen. Der in eine Quint-Tritonus-Gruppe eingebundene Komplex über „nak hoz –“ bietet eine Alternative zu dieser modellhaft abgeschlossenen Formulierung: Er liefert die Basis für die latente Allintervallgruppe von Takt 7–8. Mit deren letz- tem Ton cis ist der halbtönige Raum vollständig ausgeschritten (Abb. 7). Verschiedene Prinzipien stehen sich zu Beginn der Komposition gegenüber: Das palindromisch auf sich zurückfallende, schematische „Buchstabieren“ von Halb- tönen einerseits und die kadenzartig ausgreifende, für die weitere Entwicklung wie für die umfassende Chromatisierung des Beginns entscheidende Intervallik andererseits. Die Stützfunktion des Klaviers beschränkt sich nicht bloss auf ein rein artikulatorisches, quasi physisches Auffangen des Gesangs, sondern ist auch strukturell relevant, wenn die melodische Kontur sich in Takt 5–8 zu Stützklän- 154 „Am meisten fasziniert haben mich […] ihre [Monyóks] spannungsvollen Pausen.“ Siehe oben, Seite 68; wie in op. 29 dienen Pausen während des ganzen Stücks als wesentliches Mittel der Phrasierung.77 Abbildung 7: Palindrom-Dissoziation in György Kurtág, op. 30a (Takt 1–6) und Erweiterung der Quint-Tritonus-Gruppe (Kasten) zur Allintervall-Gruppe von Takt 7f. (unteres System) gen verdichtet. Auch Martin Zenck hat in seinem Aufsatz über Beckett und Kur- tág darauf hingewiesen, dass der Klavierpart nicht allein intonationsabsichernd wirkt.155 Die für den weiteren Verlauf der Komposition wesentlichen Materialien liegen zu Beginn bereits vor. Das chromatische Intervallspektrum ist vom Doppelhalb- ton und von der Quart-Tritonus-Beziehung her in Besitz genommen. In ihrem Prologcharakter sind die ersten acht Takte mit der Eröffnung der Jozséf-Frag- mente op. 20, Kásásodik a viz …, vergleichbar. Dort werden die für die weitere Entfaltung des Zyklus entscheidenden Grundkonstellationen entwickelt: Die er- öffnende chromatisch absteigende Linie wird zum „trichterförmigen“ Gebilde entfaltet und expandiert weiter zu Quint-Tritonus-Gruppen (Abb. 8). Beide Stücke verwenden die gleichen Grundbausteine: Vor allem der abwärts- führende Gestus, den Balázs als Figur der Ergebung interpretiert156, ist von nachhaltiger Wirkung. Die abschliessende Quint-Tritonus-Gruppe, die Kurtág oft als zäsurbildendes Kadenzmodell verwendet, findet sich in der Abweichung gegenüber der palindromischen Struktur in op. 30a auf identischen Tonhöhen (f-e-b). Der entscheidende Unterschied zur „Materialexposition“ von op. 20/1 mag darin liegen, dass selbst diese elementare Intervallkonstellation in op. 30a keine zuhandene, einfach entfaltbare Qualität darstellt, sondern erst aufgefun- den werden muss. In der Beckett-Komposition relativiert der Gestus der äusserst zögerlich anhebenden Sprachfindung alles übrige. 155 „Maybe the piercing intensity of each syllable and each sound during the rehearsals for the singing part with Kurtág’s piano accompaniment, which probably does not really serve as a support for the intonation, but especially as a deepening and colouring of each sound, is a re- sult of these pauses.“ (Martin Zenck, Beckett after Kurtág: Towards a Theory of Theatricality of a Non-theatrical Music, in: StMl 43 [2002], S. 417). 156 István Balázs, György Kurtág: Attila József-Fragmente, S. 42.78 Abbildung 8: György Kurtág, József Attila-Töredékek, op. 20/1 (© by Editio Musica Budapest) 2.2.4.2. Viele Stimmen (Takt 9–17) Die stockende Deklamation bildet Ausgangs- und Zielpunkt der Komposition. Innerhalb dieses Rahmens gestaltet sich der Prozess einer monodischen Sprach- findung, indem verschiedene Deklamationstypen berührt werden und nie zur Entfaltung gelangen. Das Problem des Footfalls-Fragments avanciert hier zur künstlerischen Aufgabe. Es sind Erinnerungsreste musikalischer Sprachbefind- lichkeiten, die infolge der für dieses Werk konstitutiven Erinnerungslücken nicht mehr vollständig rekonstruiert werden können, stattdessen von anderen, regressiven melodischen Modellen verdrängt werden. In Anlehnung an Ligetis frühen Klavierzyklus, der Kurtágs musikalisches Denken nach eigener Aussage stark beeinflusst hat157, könnte man op. 30a als eine Art vokale Musica ricercata bezeichnen – mit dem entscheidenden Unterschied, dass Kurtág sich seines eige- nen Materials nicht endgültig versichern kann und seine Musik auf eine Elabo- rationsstufe, wie sie bei Ligeti durch Frescobaldi repräsentiert ist, nicht führen wird können. Im Verlauf des Stückes wird der invariable Text-Refrain „mi is a szó“ stets auf andere Art vorgetragen. Er wird nicht starr interpoliert, sondern in die Artikula- tionsphasen der Komposition eingebunden. Kurtág kommentierte dieses Vorge- hen: 157 Vgl. Ulrich Dibelius (Hrsg.), Ligeti und Kurtág in Salzburg, S. 93.79 „Jede Wiederholung bringt einen neuen Aspekt des Texts zum Vorschein.“158 Solche „Aspekte“ sind Deklamationstypen, die wie mnestische Splitter erschei- nen und verschwinden. Die Monodie spaltet sich dabei in viele Stimmen auf, die einander ständig ins Wort fallen. Alle wesentlichen, in Hinblick auf Gestus, In- tervallik und in ihrer Verbindung mit bestimmten Textelementen meist deutlich differenzierbaren Charaktere sind bis Takt 17 berührt. Von hier aus seien sie im folgenden stark vereinfacht dargestellt, ihre Ähnlichkeiten über dem Trennen- den dabei nicht vergessend. Dies geschieht nicht, um Ordnung ins Stimmgewirr bringen zu wollen, auch nicht, um eine an autonome Schichten orientierte Schreibweise zu unterstellen, sondern um die affektive Fülle, mithin Wider- sprüchlichkeit der Form zu verstehen.159 Bereits beschrieben wurde der zentrale, für die Entstehung der Komposition entscheidende Typus (1) der stockenden Deklamation, der als formaler Rahmen (Takt 1–8, 70–73) wie auch latente Bezugsgrösse aller übrigen Ereignisse figu- riert. Weitere akzidentielle Formen erscheinen in Takt 16–17, 24, 48–50 und 56. Die Takte 9–17 gestalten sich als Versuch, den ersten, über ein Stammeln nicht hinauskommenden Sprechversuch in einen fliessenden melodischen Ge- stus zu führen. Dies geschieht, indem die Arbeit des „Töne-Buchstabierens“ an den initialen Gestalten ansetzt, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der für das Melos von op. 30a überhaupt entscheidenden chromatischen Abwärtsfi- gur. Obwohl der Abschnitt aus diastematischer Sicht ziemlich kohärent gestaltet ist und mit dem Erscheinen des vorletzten Tons des (enharmonisch zum „zwölf- ten Tons“ cis aus Takt 8) in Takt 16 auch alle zwölf Halbtöne besitzt, bildet sich kein geschlossener syntaktischer Zusammenhang; die im weiteren Verlauf pro- minentesten Deklamationsschichten werden bereits hier mittels sich gegenseitig abstossender gestischer Einheiten berührt. Der Typus (2) der gebundenen Deklamation aus Takt 9–10 steht in seiner flies- senden, expressiven („poco espr.“) Mitteilungsart im Gegensatz zum Haupttypus (1) und kann sich entsprechend selten durchsetzen. Seine Derivate besitzen den- noch ein gewisses konstruktives Potential, das als schwache Erinnerung an Me- lostypen kurz aufscheint, wie der von Kurtág gern intonierte klagende Topos des Sirató in Takt 13 („parlando-rubato, lamentoso – sirató szerűen“) („klagegesang- artig“). Hier verdichtet sich das sospirando des abwärtsgerichteten Halbtons zur konkreten Figur, in der die Rezitation zu einer agogisch und dynamisch flexibel zu gestaltenden Formulierung findet. Die Parlando-Rubato-Qualität geht aus von einer Stimme, die sich dieses eine Mal vom Stützinstrument emanzipiert und es „colla voce“ mitspielen lässt. In dieser Schicht liegt der Impuls zur Aus- 158 Kurtág in einem öffentlichen Gespräch im musikwissenschaftlichen Institut Tübingen, 7. Juni 1999. 159 Eine zusammenfassende, noch stärker vereinfachende Übersicht über die Deklamations- typen und ihre Verteilung ist in Anhang I angefügt.80 formung eines als „sprachfähig“ akzeptierbaren, an Modellen einer nur mühsam und in Bruchstücken rekonstruierbaren Vergangenheit orientierten Melos. Die gebundene Phrase in Takt 9–10 wird durch eine fortissimo vorzutragende Fixierung des Halbtons e-dis unterbrochen. Es ist eine Gegengeste zu Typus (2). Sie kann, zusammen mit der auf die anfängliche intervallische Dehnung rekur- rierenden Grossterz g-es, als Vorbote auf Typus (3) der verzweifelten Ausbrüche gelten, die im Laufe des Stücks an Intensität gewinnen (Takt 29–30 f, disperato – più f; Takt 36 ff, sempre disperato – ancora più f). Der Halbton wird bis zum zwölftönigen Terzenabsturz von Takt 36 geweitet. Typus (3) bemächtigt sich zu- dem der Hüllkurven der aus Typus (2) abgeleiteten Phrasen von Takt 13 und 20. Seine Äusserungen stellen damit einen zum Paroxysmus führenden Affektzu- stand übersteigerter Klage dar, der fast immer mit „hiábavaló“-Versen verbunden ist. Takt 14 isoliert die Quint-Tritonus-Gruppe des Beginns in einer auf die übermäs- sige Oktave noch weiter ausgefalteten Variante. Die Vortragsanweisung poco cantabile, sempre in modo populare und die Präzisierung quasi giusto der redu- zierten Variante des Modells in Takt 52 evozieren den Abglanz eines tänzeri- schen Impulses, der vielleicht Monyóks Vergangenheit als Schlagersängerin aspektiert. Diese Figur ähnelt anderen Tanzsätzen Kurtágs wie der Nr. 14 Nincs közöm senkihez … (lassú csárdás) aus den József-Fragmenten op. 20, auch dem Gruss an Elisabeth und Kaspar Weber (1991, rev. 1994), einem „sehr langsa- me[n] Walzer“ für Bratsche und Cello, darin, dass ihr motionaler Impuls fast gänzlich erlahmt. In ihrer Summe weisen die beiden Restformen des mit der tex- tuellen Qualität „látni“ verbundenen Tanz-Typus (4) ein ähnliches, ebenfalls auf die Töne cis und fis bezogenes Intervallverhältnis auf, wie die erste Form (Takt 20: d2–cis1; Takt 52: fis–g); andere Vertreter dieser Schicht erscheinen in Takt 26 und 57. Diese eher marginale Deklamationsschicht gewinnt Bedeutung in Verbindung mit anderen. So kann Doppeltakt 13/14 als Konzentration der für die ungari- sche Volksmusik generell charakteristischen Dichotomie von lassú und friss, bzw. parlando-rubato und tempo giusto gelten, wie sie auch in Satzpaaren der Kunstmusik häufig erscheint.160 Zudem liefert Typus (4) die Grundlage für den staccato-Oktavwechsel von Typus (7) der mechanischen Deklamation, die mit den „pillantani“-Versen verbunden ist, das intervallische Profil seines Ursprungs dort fortsetzend (besonders Takt 27–28, 58–60). Dieser Typus, dessen hartnäk- kige Starrheit auch an Ligetis Horloges démoniaques und andere Klangmechani- ken erinnert161, ist die deklamatorische Ausformung der wachsenden Wahrneh- mungsflüchtigkeit von „látni“ („see“) zu „pillantani“ („glimpse“): Die Typus (4) 160 Vgl. etwa Béla Bartók, Rhapsodie für Violine und Klavier Nr. 1 (1928) und Nr. 2 (1928; rev. 1935); Sándor Veress, Streichtrio (1954), Memento für Viola und Kontrabass (1983). 161 Vgl. György Ligeti, Nouvelles Aventures II, Takt 31f.81 inhärenten, gemessenen tänzerischen Impulse erstarren hier zu einem uhrwerk- artig steifen Gestus. Die in Takt 15 wiederaufgenommene gebundene Deklamation wird nicht, wie vorher, unterbrochen, sondern verlöscht im pppp des am Ton e1 orientierten, ge- sprochenen einsilbigen Verses „ezt –“. Hier kündigt sich Typus (5) an, der in den statischen Zonen des Stücks zur Ausführung gelangt, wo monodische Aktivität stark zurückgeht. Dies sind die artikulatorischen Minima der Komposition, die sogar den vorsprachlichen Ausgangs- bzw. Zielpunkt der stockenden Deklama- tion insofern noch unterbieten, als ein Stammeln sich weder von der vorgegebe- nen Silbe noch von einem bestimmten Tonort lösen kann. In Takt 31–33 ist das Stottern auf e wie beim solfège durch die Silbe „mi –“ vorgegeben. Diese Schicht breitet sich in Takt 37 aus, bis die Rezitation in Takt 62 bereits nach der ersten Silbe „mi –“ verstummt und die Repetition des „falschen“ Tons si ihrer pianisti- schen Stütze überlässt. Die Typen (3) und (5) entsprechen Extrembereichen des Ausdrucksvermögens. 2.2.4.3. Verdichtung der Stimmen (Takt 18–38) Nachdem fünf deklamatorische Grundtypen, aus denen später noch weitere drei abgeleitet werden können, bis Takt 15 zumindest beiläufig berührt worden sind, verfällt die Rezitatorin in Takt 16–17 wieder der initialen stockenden Deklama- tion. Das gleicht einem Prozess von „Melosfindung“, die nie sehr weit über den Takt hinausreicht, bevor sie aggressiv unterbrochen wird oder verlöscht und wieder auf den Ausgangspunkt zurückfällt. Dies kann als Grundmuster für den Formverlauf des ganzen Stücks angesehen werden. Um diese Dynamik aufrecht zu erhalten, genügt es nicht, den Prozess bloss nochmals zu beginnen. Da die be- schriebenen Materialien in permanenter gegenseitiger Konfrontation starker Abnutzung ausgesetzt sind, müssen vielmehr Mittel gefunden werden, den Form-Prozess in Gang zu halten. Die Situation muss in Übertreibung des Alten auf neue Weise gestisch induziert werden. Dies lässt sich an der kontrastreichen Episode von Takt 18–38 gut dokumentie- ren. In den Takten 18/19 wiederholen sich die drei Phasen aus Takt 11/12: Ein paroxysmaler Ausbruch im ff zieht eine stille (pppp), aus Typus (2) ableitbare Nebenbemerkung nach sich, die zu einem neuen Ausbruch reizt. Der Vorgang aus Takt 11/12 erscheint aber nicht unverändert, sondern in jeder Hinsicht ge- steigert: In der ersten Gestalt aus Takt 18 sind die Ansatztöne e und dis (hier als es) von Takt 11 auf längere Dauern gedehnt und durch abwärts arpeggierte Stützakkorde aus Quarten und Tritoni zusätzlich akzentuiert; der Abschluss des vokalen Glissandos fällt mit dem Klang unter d zusammen, die Gruppe zur „Ur- gestalt“ des Doppelhalbtons (vgl. Takt 1/2) komplettierend. Auf diese ausseror- dentlich gewichtige Artikulation des generell abwärts strebenden Melos er- scheint eine Figur, die die vorherrschende melodische Ballistik auf dem tonalen Ansatz von Takt 11 umkehrt, damit in flüchtigster Formulierung das leitende82 Strukturmerkmal der Komposition in Frage stellt und idiosynkratisch wirkt: Die Vortragsanweisung zur folgenden Figur, deren akkordmässig zementierte b-Ok- taven (die sich in Quart-Tritonus-Distanz auf die Tonhöhen der vorherigen Ag- gression beziehen) den in Kurtágs Notation längsten verfügbaren Dauernwert erhalten, spricht für sich: „üvöltve vagy sikoltva (sokkoló hatása legyen!) esetleg levegővétel minden hangra, fff“ („zu brüllen oder zu schreien [von schockartiger Wirkung!] eventuell für jeden Ton Luft holen“). Der hysterische Ausbruch in Takt 19 ist die Reaktion auf die „falsch“ konturierte, zarte Nebenbemerkung „ez ez itt –“. Er kann als vorauseilende extreme Übertreibung des Typus (3) gelten, dessen melodische Charakteristik in den symmetrisch registrierten Oktaven von Takt 19 neutralisiert erscheint. Solche Beziehungen zwischen Affekten könnten dazu verlocken, ein einfaches, unmittelbar wirkendes Reaktionsmuster anzunehmen. Aber die meisten solcher- massen aufeinander beziehbaren Ereignisse stehen zeitlich voneinander ab. Die Zurechtweisungen erfolgen nicht, wie etwa noch in Ligetis Aventures & Nouvel- les Aventures, unmittelbar162, sondern stellen sich erst ein. Das kompositorische Reaktionsvermögen ist analog zu Becketts anakoluthischer Interpunktion in die- ser Komposition enorm abgeschwächt. Deswegen nehmen sich Kurtágs gestische Einheiten meist insular aus. Ihr Zusammenhang muss oft über Felder von Pau- sen, von faktischer „Stummheit“ hinweg artikuliert, „phrasiert“ werden. In seltenem Anschluss ohne Pause basiert Takt 20/21 auf einer unscharfen Reka- pitulation des Gegensatzpaares aus Takt 13/14. Die Konturen des Sirató und des Tanzmodells lassen sich hier nur noch grob und lückenhaft nachzeichnen. Beide Figuren vermischen sich zu einer Trichtergestalt, die sich vom Halbton aus zur kleinen None öffnet. Das Besondere dieser Situation liegt darin, dass sich der In- tervalltrichter exakt am chromatischen Abwärtsgang orientiert, der in Takt 15/ 16 ins Stocken gerät. Auf diese Weise werden vier Takte (13–16) auf den Raum von zweien (20–21) zusammengezogen. Wie schon vorher in Takt 8 und 15 schliesst sich in Takt 18–21 mit dem Errei- chen des Tones cis ein chromatisches Feld, in dem aber ges bzw. fis fehlt. Man kann den „Fehler“ verstehen, sobald man die Deformation der Einzelgesten nä- her betrachtet: Wäre die Gestalt der unbotmässigen „Nebenbemerkung“ in Takt 18 eine wörtliche Umkehrung des Vorbilds aus Takt 11, stünde fis anstelle des steiler aufwärts führenden a; der in Takt 20 infolge des Schocks beeinträchtigte Gesang überspringt den in Takt 15 noch vorhandenen Ton ges. Dies ist von ent- scheidender Konsequenz. Der Ausfall des Halbtons bedeutet nicht bloss eine Lücke im chromatischen Gang; der so zustandekommende akzidentielle Halb- ton-Ganzton-Wechsel ist vielmehr elementare Grundvoraussetzung zur For- mung diatonischer Linien, die der Komponist, wie sich zeigen wird, als elabora- tive Idiomatik auffasst. Die erste diatonische Spur stellt sich aber nicht als 162 Vgl. etwa Aventures, Takt 92–98.83 Ergebnis des formbildenden Prozesses der Sprachfindung ein, sondern resultiert zunächst aus einem strukturellen Defizit – einem „Fehler“. Sogleich folgt der Versuch einer Aneignung des durch die Hintertür bezogenen neuen Materials: In Takt 22/23 formiert sich erstmals eine längere diatonische Phrase introvertierten Charakters. Die konkave Figur wird in ausschliesslich tie- fem, bislang nicht berührtem Register molto p, legato, dolce auf langen Dauern vorgetragen. Der Rückzug nach der gestischen Konfusion, Destruktion ereignet sich auf „hiábavaló“, der ungarischen Entsprechung zu Becketts „refuge“-Quali- tät „folly“. Dieser Typus (6) der melodischen Introspektion steht durch die Zu- weisung dieses Textelements dem zweiten Typus gebundener Deklamation am nächsten. Er stellt die reflexive Alternative zum Typus (3) der hysterischen Aus- brüche dar. Die in sich abgestufte bogenförmige Phrase ist durch komplementä- re Tonordnungen gegliedert: Zwei von c1 nach e abwärts führende, in sich ver- schlungene Linien (c-h-a/g-f-e) werden von einer anhemitonisch pentatonischen Folge im b-Bereich auf noch längeren Dauern pianissimo aufgefangen. Diese stille Interpolation kann vorerst nichts bewirken und wird in Takt 23–24 bruch- los in den Typus (1) der stockenden Deklamation überführt, wo sie über einer Quint-Tritonus-Gruppe, die von Beginn an mit der Textzeile „nak hoz –“ ver- bunden ist, verlöscht. Der erste Diatonisierungsversuch der Komposition ist da- mit gescheitert. Es dominieren wieder neuralgische Zustände angesichts kompo- sitorischer Sprachschwäche. Der antreibende Prozess der Suche nach „gültigen“ melodischen Mitteilungsfor- men wird in Takt 25 bis 40 gewissermassen ausgesetzt. Diese ganze Strecke ist bestimmt von der graduell zunehmenden Intensivierung extremer Affektlagen; der eigentliche Gegenstand der Aufregungen und der Ermattungen, die Suche nach „richtiger“ musikalischer Rede, wird nebensächlich. Ansatzpunkt ist ein in Kleinterzen ausufernder Klageruf („poco f, doloroso“) über den Refrain „mi is a szó –“ in Takt 25. Er verhallt in einer aus der residualen Äusserung des Typus (4) entwikkelten starren mechanischen Deklamation (7) (Takt 26–28), deren stacca- to-Oktavwechsel auch eine neue Formulierung der in Takt 19 noch paroxysmal vorgetragenen Oktaven darstellen. Hier besitzt sie die resignative Indifferenz ei- ner Mechanik, die sich in Takt 28 wiederum in stockender Deklamation verliert. Diese affektive Dichotomie von Klage und Resignation wird in der Gegenüber- stellung der komplementären Typen (3) und (5) weiterentwickelt: Auf den an der Intervallik von Takt 25 ansetzenden verzweifelten Ausbruch (Takt 29–30) folgen die „solfège“-Takte 31–32 der statischen Zone. Das ausdrucksmässige Ge- fälle weitet sich in der intensivierten Variante in den Takten 36–37. Sie sind die gegensätzlichsten Takte einer keineswegs kontrastarmen Komposition: Der Aus- bruch umfasst in seiner expansiven Tendenz alle zwölf Halbtöne; der Terzen- sturz führt vom vokalen Hochton des Stücks fis2 zum bisher tiefsten Ton d über einem Orgelpunkt in der Kontraoktave. Darauf erstarrt in Takt 32 der Vortrag in der totalen Paralyse absolut gleichmässiger („egyenletesen“) siebenfacher Ton- und Textwiederholung.84 Dem widersprüchlichen Ausdruckspotential der Schichten widerfährt eine rezi- proke Steigerung, bis sich ein in der Komposition maximaler affektiver Hohl- raum bildet. Dies führt in eine Situation, in der selbst die bisherige Auflösungs- figur der stockenden Deklamation mangels Gestalt nirgends ansetzen kann. In Takt 38 erfolgt eine notationell nicht spezifizierte, ungestützte Äusserung, die sich deklamatorischer Differenzierung entzieht – gleichwohl schon im Auswei- chen der dritten Silbe des Beginns ins Sprechregister angelegt ist. Die Vortrags- anweisung lautet: „suttogva, alig hallható beszédhangon“ („geflüstert, kaum hörbare Sprechstimme“). Die von Typus (1) vorgegebene mesquine Ausgangsbe- dingung wird hier unterboten; der geflüsterte Refrain markiert die starke Abge- nutztheit „einzelner Stimmen“ infolge permanenter Konfrontation, die bis zur direkten Gegenüberstellung extremster Affektlagen führt. Es scheint, als müsse die Monodie hier enden. * Das szenische Potential der Komposition wird im ständigen Ausdruckswechsel dieses Teils besonders evident. Kurtág behandelt seine sehr unterschiedlich tem- perierten affektiven und deklamatorischen Typen – seine „Stimmen“ – wie ima- ginäre Figuren eines dramatischen Werkes. Solches Vorgehen hatte Kurtág in den Analysekursen bei Olivier Messiaen, die er 1957/58 als auditeur étranger in Paris besuchte, auf der Ebene des Rhythmischen beeindruckt. „[…] [I]n diesem Jahr habe ich bei ihm [Messiaen] Entscheidendes gelernt. Er analy- sierte La mer, Sacre, seine eigene Messe de la Pentecôte für Orgel mithilfe seines Begriffs von den ‚personnages rythmiques‘, den rhythmischen Gestalten, die wie ein- zelne Darsteller auf einer Bühne miteinander in wechselseitige Aktion treten. Am mei- sten erstaunte mich, dass er diese für mich revolutionäre Methode ebenso auf Mozarts g-moll-Sinfonie anwandte und dadurch zu sehr einleuchtenden Ergebnissen kam.“163 Der Plan eines Musiktheaters über einen Text von Beckett wird in der vielfachen gestischen Aufspaltung der monodischen Rezitation von op. 30a latent realisiert. Monyóks schauspielerische Fertigkeiten sind gefragt in einer Musik, die sich treffend mit einem Wort Ligetis über sein eigenes Bühnenwerk Aventures cha- rakterisieren liesse: Sie hat „denselben Habitus wie ein Mensch, der zwischen den verschiedenartigsten Gefühlen hin- und hergerissen wird …“164 In der Si- tuation von Takt 38 allerdings verstummen die Stimmkonflikte. Übrig bleibt ein Flüstern auf leerer Bühne. 163 Zitiert nach Ulrich Dibelius (Hrsg.), Ligeti und Kurtág in Salzburg, S. 88. 164 György Ligeti über Aventures in einem Brief an Bo Wallner, Wien, 11. August 1962, zi- tiert nach Ove Nordwall, György Ligeti – Eine Monographie, Mainz: Schott 1971, S. 76.85 2.2.4.4. Unschlüssigkeiten und „Reprise“ (Takt 39–63) Die Monodie soll trotzdem weitergehen. Nach Takt 38 stellt sich das Problem der Wiederherstellung des rezitatorischen Organs: Wie kann die Komposition fortgesetzt werden, obwohl ihr Material verbraucht ist, die Stimmen zerrieben sind? Eine Art künstliche Wiederbelebung erfolgt zunächst durch den Rekurs auf tonale Idiomatik: Der Akkord der Klavierstütze in Takt 39 figuriert als resi- dualer quint-(und septim)loser Dominantklang und führt in dieser Eigenschaft zurück zur lokalen „Tonika“ d (Takt 37 und 40). Die nachträgliche pseudotonale Legitimierung dieses Tons ist zugleich Ausgangspunkt für eine neue Episode, die allerdings nicht zu den gestischen Spannungen der früheren Konflikte zurück- findet. Der Ton d liefert die Basis für die Formulierung von Halbton-Kleinterz-Grup- pen, die bei Kurtág verschiedene Implikationen besitzen können. Zum einen sind sie wiederum entfernt tonal assoziierbar. Pseudotonal aufwärts zeigende Einzelfiguren stehen in beigeordneten tonalen Regionen (d-moll, es-moll oder Es-Dur), die die abstürzenden Terzordnungen der früheren Ausbrüche in fragen- der Wendung auffangen. Diese Deklamationsart (8) der fragenden Wendungen, die sich in der fatalen Nebenbemerkung von Takt 18 schon andeutet, wird im ausgeglichenen Pendel von Takt 44, das im quasi secco als Variante des Typus (6) der mechanischen Deklamation gelten kann, nicht beantwortet, sondern schnell absorbiert. Becketts fehlendes Fragezeichen zeigt seine Wirkung. Zugleich fokussiert Kurtág die in seiner Musik seit dem Neubeginn mit op. 1 be- sonders prominente Intervallordnung halbtonverschobener Grossterzen, die aber hier keinen konstruktiven Impuls bieten, sondern in Sequenzierung verfla- chen. Diese Musik entspricht damit der in unbestimmte Ferne weisenden dritten Episode von Becketts Text, was schon vorher in der Relation von „see“ („látni“) und „glimpse“ („pillantani“) im Text wie in seiner musikalisch-gestischen Objek- tivierung der Typen (4) und (7) angelegt ist. Eine Erweiterung der ins Offene führenden diastematischen wie deklamatorischen Perspektive erfährt die Rezita- tion, indem sie in zum Teil lagenverschobenen Echos und anderen melodischen Ergänzungen des Klaviers „verräumlicht“ erscheint. Kurtágs Lesart konkretisiert sich dabei auch in Hinblick auf eine Darstellung wachsender historischer Entfernung: Nach den erwähnten „tonalen“ Referen- zen erscheint in Takt 46 auf das letzte Wort des Textvokabulars „eltűnő“ („afaint“), das die weiteste Entfernung ausdrückt, die Nachbildung einer archai- schen melodischen Gestalt in anhemitonischer Pentatonik. Als absteigende Figur möchte sie vielleicht auf die verklungenen Tonalitäten der fragenden Wendungen antworten. Dieses aus melodischer Vorvergangenheit geholte Fragment wird vom Klavier zu einer Art Quintorganum ergänzt. Die artikulatorische Rücknah- me der Stimme auf voce bianca leistet ein übriges. Als Klangzeichen führt die Fi- gur dabei wiederum nur in die Nähe des historischen Modells: Das Klischee ist86 in einen Tritonus eingepasst, der die Quintfolge imperfiziert. Kurtág „weiss“ nicht mehr genau, wie es klang. Diese neue Art scheiternder Buchstabierversuche führt zur Perpetuierung des ge- wonnenen Materials in einer oktavbegrenzten anhemitonischen Tritonusgruppe (Takt 47). Das deklamatorische Vorbild der mechanischen Impulse von Typus (7) ist lädiert: Die generelle Anweisung tétovázva (unschlüssig) bzw. esitando entspricht den unsicheren Orientierungsversuchen der vorherigen Takte; die Unschlüssigkeit zeigt sich auch hinsichtlich der Anschlagsart der instrumentalen Stütztöne, die zwischen legato und non legato changieren. Das Spiel aus „tona- ler“ Frage und „pentatonischer“ Antwort vermischt sich zu einem Komplex. Der monodische Dialog vieler Stimmen beginnt sich zu einer monologischen Artiku- lationweise zu wandeln. Der in Takt 39 eröffnete Zwölftonraum schliesst sich mit der Unterquint e in Takt 47. Der Vortrag regrediert in Takt 48–50 wieder auf stockender Deklama- tion. Sie kann im Unterschied zur Situation nach Takt 38 zwar wieder an einer konkreten diastematischen Gestalt ansetzen. Doch die Wiederholungen des un- gestützten vokalen h auf „mi –“ klingen im Klavier auf real bzw. orthographisch knapp verfehlten Tonorten. Der Entwicklung von Takt 51–63 kommt die in Takt 49 unterlaufene Fehllei- stung zugute. Anders als bei der Ganztonlücke von Takt 20 wird hier kein neues Intervall gefunden, sondern der verloren gegangene Halbton als diastematisches Grundelement des Stücks zurückgewonnen. Damit verbunden sind Bemühun- gen, die gestische Grundlage abwärtsführender Halbtöne wie im passus durius- culus des Klaviersolos von Takt 51, der das Abgleiten von Takt 49 konsequent fortsetzt, oder wie in der überzeichnenden Nonenspreizung der vokalen Phrasen in Takt 54/55 zu reetablieren. Chromatische Komplexe schliessen sich dadurch aber nicht vollständig (zum Beispiel Takt 51 oder 56). Entscheidend ist, dass der durch Takt 48 und 49 vorgegebene Kleinsekundan- satz mit h und b genau auf den Tönhöhen des ersten stockenden Beginns erfolgt. Auf diese Weise entsteht auch „tonal“ der Anschein einer Reprise, der exakt mit dem zweiten Zyklus des Textes – seiner gedrängten „Rückschau“ (v. 42: „látni mindezt [–]“ – „seeing all this –“) – zusammenfällt. In dieser „Reprise“ äussert sich die Erfahrung der Form vor allem in schwacher Differenzierung deklamato- rischer Typen: Die Typen (4) (Takt 52/53, 57), (2) (Takt 54–56) und (1) (Takt 56/ 57) sind hier nicht mehr als gestisch scharf getrennte, konkurrierende Einheiten formuliert, sondern verschmelzen beinahe in müder Erinnerung an vergangene Turbulenzen. Die Impulse des Typus (7) der mechanischen Deklamation (Takt 58–60) sind in ihrer paralysierten Variante kaum von der stockenden Deklama- tionsart (1) zu unterscheiden. Der Versenkungsversuch in melodische Introspek- tionen der Takte 22/23 schlägt fehl in Takt 61: Der Vortrag zerfällt in chromati- sche Segmente, die in der statischen Zone (3) von Takt 63 endgültig zum Stillstand kommen. Die Rezitation, die in diesem Teil einige selbständige Geh- versuche auf schon geübten Lexemen unternimmt, verstummt wieder. Die Kla-87 vierstütze repetiert den Ausgangston h, als müsse die frühere Verfehlung (Takt 47ff.) nun korrigiert werden. Aber der Ton erscheint wie eine Initiale, die keine eigene Fortsetzung finden kann. 2.2.4.5. Bartóks Auftritt und Abgang (Takt 64–68) Früher fehlgeschlagene Versuche melodischer Introspektion gelangen in Takt 63/ 64 zur Entfaltung in einem Gebilde, das Kurtág als arioso, omaggio a Bartók be- zeichnet. Die einzige lang gesungene Phrase der Komposition erscheint wie der kontemplative Fluchtpunkt innerhalb eines Prozesses melodischer Sprachfin- dung, der zu einem nachhaltigen Ende bislang nicht führte. Dieses arioso ist je- doch keine selbständige Formulierung, sondern ein Zitat: Kurtág bezieht es aus dem Beginn des zweiten Satzes Andante tranquillo von Bartóks Zweitem Violin- konzert als imaginierten Idealfall melodischer Artikulation, als Repräsentations- objekt musikalischer Sprachfähigkeit, wie er sie sich in seiner Musik nicht mehr zu eigen machen kann. Kurtág hat nicht irgendeine beliebige Melodie genommen. Ähnlich anderen langsamen Melodien aus Bartóks Spätwerk, wie etwa den Mesto-Episoden des Sechsten Streichquartetts, geniesst auch das hier benutzte Thema nicht nur bei Kurtág den Nimbus der vollendeten Melodie. Bezeichnend ist ein Kommentar von Kurtágs Budapester Lehrer Sándor Veress. „Dieses ‚Andante tranquillo‘ ist vielleicht der schönste langsame Satz, den Bartók geschrieben hat. […] [D]iese grossartige Komposition [kommt] wie ein Gruss aus einer Zeit […], wo die Melodie ihren Ehrenplatz in der Musik noch vollgültig innehatte.“165 Die musikalische Linie galt in der Budapester Schule als vorrangige Kategorie. Aus verschiedenen Gründen ist Melosverlust für Kurtág und Veress ein wesentli- ches kompositorisches Problem: Stellte es sich für den exilierten Veress aus der Perspektive eines umfassenden Geschichtspessimismus, für den die primäre Ori- entierung an anderen musikalischen Qualitäten ein unmittelbares Symptom des Verfalls bedeutete, liegt der Impuls für Kurtágs Schreibweise im persönlichen Eingeständnis einer Formulierungsschwäche, die das kompositorische Interesse auf die vorgängige Suche nach Melos als geeignetes Medium musikalischer Mit- teilungen lenkt. Wie weit sich diese Position in op. 30a zuspitzt, lässt sich daran ablesen, dass selbst die Übernahme des fremden Objekts von grösster Mühsal begleitet ist. Bartóks Melodie ist vielfach versehrt (vgl. Abb. 9). In Kurtágs (Re-)Transposition ist die lydische Identität der Vorlage auf f zurück- geholt, wobei der Oktavambitus durch das Ausweichen auf den Ton des verkürzt ist. Bartóks stringent rhythmisierte Gestalt verwandelt sich auf den langen, zum Teil voneinander abgesetzten und in tiefster Lage vorgetragenen Dauern in ei- 165 Sándor Veress, Béla Bartók, Konzert für Violine und Orchester, in: Mitteilungen der Berni- schen Musikgesellschaft, März-Juni 1979, S. 4 und 8.88 Abbildung 9 a) Béla Bartók, Zweites Violinkonzert, 2. Satz, Takt 2–3 (Solo-Violine) (© by Universal Edition, Wien) b) György Kurtág, op. 30a, Reinschrift, Takt 64–65 (© by Editio Musica Budapest) nen bleiernen, müden Gesang, dessen Gestus mit A kerten …, dem toten Punkt im Zyklus der József-Fragmente op. 20, vergleichbar ist. In dieser Artikulation degeneriert die in sich bogenförmige Kontur der beziehungsstiftenden Bartók- schen Melodie zu einer spröden Doppelphrase um den „falschen Ton“ des. Als Palindrom ist die Bartóksche Elaboration strukturell wieder auf die ersten Takte von op. 30a bezogen. Bei allen für Kurtágs Schreibweise konstitutiven Defekten, die der Versuch der Übernahme des Vorbilds mit sich bringt, stellt das arioso innerhalb von op. 30a einen auf singuläre Weise konstruktiven Ruhepunkt dar – als Gegenpol zur de- klamatorischen Negation in Takt 38 oder zu den statischen Zonen. Noch die matte Erinnerung an eine melodische auctoritas wie Bartóks Andante tranquillo kann zur elaborierten Äusserung avancieren.89 Die Melodie wird nicht wie bei Bartók einem grossen Prozess modaler Umdeu- tungen unterworfen und dient selbstverständlich auch nicht als Thema für einen Variationensatz166, sondern wird, nach dem sie einmal abgespult wurde, in Takt 66 allmählich ausgeblendet. Die halbtönige Transposition (die sich wie in Takt 23 komplementär zur Tonordnung des arioso-Beginns verhält) des Dur-Drei- klangs, der Bartóks Satz einleitet, geht in „eigene“ Materialien der Takte 40–43 über. Das arioso und die deklamatorische Nivellierung in Takt 38 mögen als ar- tikulatorische Gegenpole der Komposition gelten. Ihre formalen Weiterführun- gen gleichen sich fast. Entscheidend ist, dass der Typus mechanischer Deklamation hier eingesetzt wird, um das verschwundene arioso wie in einem verspäteten Reflex zu exorzie- ren. Die Deklamation erlahmt über den Worten des arioso, die halbtonweise bis auf die Transpositionsstufe c hinabgezogen werden. Der Prozess scheiternder melodischer Sprachfindung erhält eine neue, zugespitzte Wendung dadurch, dass eine nur bedingt leistungsfähige melodische Idiomatik nun nicht einmal mehr aus zweiter Hand erfahrbar ist. Die für diese Komposition entscheidende Idiosynkrasie äussert sich hier, indem das Entliehene buchstäblich Austreibung erfährt. Das arioso über die ungarische Übertragung des „folly“-Maximalverses besitzt die Eigenschaft des Beckettschen „Zufluchtsorts“ – als eines „unspeaka- ble home“.167 Wie in György Ligetis Musica ricercata markiert eine Ommagio den Zielpunkt der kompositorischen Entwicklung. Bei Ligeti kann die erfolgreiche Erfor- schung eines zwölfstufigen, kontrapunktisch durchgeformten Tonsatzes in der Ommagio a Girolamo Frescobaldi abgeschlossen werden; in der Ommagio a Bartók fungiert das Zitat, das Kurtág in den früheren Äusserungen melodischer Introspektion zu skizzieren suchte, als Eingeständnis des den Verlauf des Stückes vielfach prägenden Misslingens. Hinweise auf die Handlungen des komponie- renden Subjekts folgen aus den Beschädigungen eines fremden Objekts wie auch aus seiner aktiven Auslöschung. Kurtágs Charakterisierung des Officium breve op. 28 als eine auskomponierte Sammlung apokrypher Skizzen zu Webern und 166 Der Bezug zu Bartóks Variationensatz provoziert entsprechende Deutungen. Simone Hohmeier spricht von „a kind of variation form“, vgl. Simone Hohmeier, Mutual Roots of Mu- sical Thinking: Kurtág, Eötvös and their Relation to Lendvai’s Theories, in: StMl 43 (2002), S. 229ff. Judit Frigyesis Interpretation von op. 30b als „a study of free associations on the va- riation of a theme“ gründet auf dem Missverständnis, dass Becketts „what is the word“ als Fra- ge formuliert sei: „The musically varied recurrences of the question ‚What is the word?‘ are like a journey in the world of emotions“. (Judit Frigyesi, György Kurtág, Samuel Beckett: What is the Word, op. 30b [1990/91], ebd., S. 398). 167 Samuel Beckett, Neither.90 Szervánszky trifft im Fall von op. 30 wohl auf Bartók zu168 – allein die Vermitt- lung bleibt aus. Kurtág lässt Bartók an entscheidender Stelle auftreten: Das Zitat tropiert Siklós’ Übertragung von Becketts Joyce-alludierendem Maximalvers. Auch Kurtágs Zi- tatwahl legt einen Bezug zur eigenen künstlerischen Entwicklung nahe, die mit der Konstellation Beckett-Joyce äusserlich durchaus vergleichbar ist.169 Die Hoffnungen des ungarischen Musiklebens der Nachkriegszeit konzentrierten sich auf eine mögliche Rückkehr Béla Bartóks aus dem amerikanischen Exil. Wie Ligeti war auch Kurtág 1945 in dieser Erwartung nach Budapest gekommen. Welchen Schock die Nachricht von Bartóks Tod am 26. September 1945 auslö- ste, geht aus Ligetis bekannter Schilderung hervor.170 Ein Treffen kam nie zu- stande. Kurtág war vor allem auf den Pianisten Bartók neugierig. Sein Verhältnis zum Komponisten Bartók war keinesfalls ungebrochen. „Bartók gefiel […] mir nicht – er war irgendwie so fürchterlich gut. Erich Kästner schreibt in seinem Buch Der 35. Mai von einem Grossonkel, der jeden Donnerstag sei- nen Neffen zu sich einlädt, um dann gemeinsam zu Mittag zu essen, Fleischsalat mit Himbeersaft und ähnlich absurde Speisen. Und dabei sagen sie immer wieder: ‚Fürch- terlich gut, nicht wahr?‘ Bartóks Musik war ähnlich ‚fürchterlich gut‘ für mich. Herzog Blaubarts Burg hörte sich für mich ausgesprochen hässlich an, aber es erregte mich dennoch […]. Den Geschmack an Bartóks Musik fand ich letztlich irgendwie jenseits meines eigenen Geschmacks und meines Wissens.“171 Zu den wenigen Werken Bartóks, die Kurtág unmittelbar beeindruckt hatten, gehörte das Zweite Violinkonzert. „Von elementarer Wirkung für mich waren die Cantata profana und die Musik für Sai- teninstrumente, Schlagzeug und Celesta, aber das bedeutete nicht, dass sich diese Wir- kung auch in meinen Kompositionen geäussert hätte. Genauso wirkte auf mich Bar- tóks [Zweites] Violinkonzert, das ich einmal in einer Sendung des Londoner Rund- funks während des Krieges gehört hatte. Mátyás Seiber […] sprach dazu noch eine Einführung und analysierte das Stück, aber ich konnte dem eigentlich kaum folgen. Zugleich wurde das Violinkonzert zu einem der entscheidensten Erlebnisse meines 168 Mitteilung von György Kurtág während einer Schauprobe seines op. 28, Januar 1999 in der Musik-Akademie Basel. 169 Ob absichtlich oder nicht, muss dahingestellt bleiben. Bekannt ist, dass Kurtág Finnegans Wake beeindruckt hat; vgl. Rachel Beckles Willson, An analytical study of György Kurtág’s The Sayings of Péter Bornemisza op. 7, S. 264, sowie Kurtágs bislang unveröffentlichte, für die Sammlung Signs, Games and Messages vorgesehene Komposition mit dem aus Finnegans Wake stammenden Titel: Macool, Macool, orra whyi deed ye diie, Sir Tristram, violer d’amors (1991) für Viola solo (Skizzen und Reinschrift in der SGyK). 170 Vgl. György Ligeti, Meine Begegnung mit György Kurtág, in: Ulrich Dibelius (Hrsg.), Li- geti und Kurtág in Salzburg, S. 69. 171 György Kurtág in einem Gespräch mit Bálint András Varga, S. 36.91 Lebens – später, etwa 2 Monate nachdem ich nach Pest gekommen war. Ich hörte mir alle Proben von Doráti und Menuhin von Anfang bis Ende an, lernte dann die Klavier- begleitung – Jahre hindurch war ich vielleicht der einzige, der das konnte, und konnte es jahrelang mit [Ede] Zathureczky spielen. Wer immer es auch lernte, ich konnte das Stück mit ihm spielen. Das hatte auch eine unmittelbare Wirkung auf die Komposition meines Bratschenkonzertes.“172 „Nur durch die völlige Aneignung schien Überwindung möglich.“173 Als solche reichte Kurtág das Bratschenkonzert (1953–55) als Abschlussarbeit seines Kom- positionsstudiums ein. Obwohl vom Komponisten nicht als Grundlegung seines Schreibens gewertet, vollzog er im ersten Satz dieses Werks einen wichtigen Schritt zur Ausbildung einer selbständigen Ausdrucksform. Die Verwendung des Zitats im arioso von op. 30a weist, wie bei Beckett, zurück in eine persönliche künstlerische Vorvergangenheit, als der kompositorische Durchbruch mit dem Streichquartett op. 1 noch nicht erfolgt war. Im Unterschied zur leisen Beckett- schen Allusion, die den Übergang ins Schweigen markiert, wird bei Kurtág der durch verschlissenes fremdes Material repräsentierte konstruktive Ruhepol in der Wiederholung des Maximalverses bewusst ausgetrieben. Hier zeigt sich sehr deutlich einer der wesentlichen Unterschiede in den Kon- zeptionen Becketts und Kurtágs: Sind Becketts Sprechversuche auf ein generell nicht einholbares Schweigen ausgerichtet, so aspektiert Kurtág in der Dynamik des Werkes eine melische Elaboration, die unter der Bedingung seiner persönli- chen Situation und seiner Schreibweise als stabile Grösse nicht einzurichten ist, unter anderen Voraussetzungen als nachhaltiges Phänomen aber greifbar wäre. 2.2.4.6. Zusammenbruch (Takt 69–73) In Takt 69 findet der letzte Versuch einer Mitteilung im rinforzando statt. Dieser Ausbruchsversuch verfehlt aber die gestische Intensität der Figuren von Typus (3), kann mithin als reduktive Variante der Überreizung in Takt 19 angesehen werden, wobei der charakteristische Oktavfall in Tritonusdistanz ohne Umkeh- rung und nur in der Klavierstütze vollzogen wird. Zugleich ist die Figur in ihrer Anbindung an die Ton- und Textsilbe mi residual mit den statischen Zonen des Typus (5) assoziierbar. In eigentümlicher Vermischung der gegensätzlichsten De- klamationsarten gestaltet sich der Zusammenbruch von Form. Er setzt an einem 172 Ebd., S. 35f. Eine spätere intensive Beschäftigung mit dem Mittelsatz des Zweiten Violin- konzerts ist an den Skizzen zu den Bornemisza-Sprüchen op. 7 abzulesen; vgl. SGyK und Simo- ne Hohmeier, Mutual Roots of Musical Thinking: Kurtág, Eötvös and their Relation to Lend- vai’s Theories, S. 223ff. 173 Friedrich Spangemacher, György Kurtág und Béla Bartók, in: Zwischen Volks- und Kunst- musik – Aspekte der ungarischen Musik, hrsg. von Stefan Fricke, Saarbrücken: Pfau 1999, S. 169.92 Punkt ein, an dem die chromatische Mechanik der vorherigen Takte erneut auf den Ausgangston h zurückzufallen droht. Der für die letzten Takte zentrale Ton e kann als finalis des Tonsatzes von op. 30a gelten. Bevor er nach Takt 37 durch die Untersekunde d verdrängt wird, ist e als Orientierungspunkt der Monodie von zentraler Bedeutung: So in den Tak- ten 11, 15, 18 und vor allem in der „Episode in mi“ der Takte 29 bis 36. Bei Kurtág ist die Virulenz dieses Tonorts als pseudo-phrygische Qualität traditio- nell mit dem Affekt des Trauerns verbunden; entsprechend äussert sich in der fallenden intervallischen Tendenz dieser Musik der Sirató-Topos. Bereits die er- ste, aus dem Rücklauf herausstechende Quint-Tritonus-Kadenz der Takte 5/6 kann als verschleierte clausula in mi gelesen werden. Im letzten Viertakter ist die Rezitation endgültig auf den für die Entstehung wie für die konkrete Ausgestaltung des Stücks gleichermassen entscheidenden Sprech- und Singdefekt Ildikó Monyóks zurückgeworfen. Die umfassende for- male Erschöpfung aller Materialien und ihre vergebliche Reanimierung ist an der finalen Gestalt der regressiven Voraussetzung stockender Deklamation über- deutlich ablesbar, die hier, ins tiefste Register abgesunken, wie am ersten End- punkt von Takt 37 mit pianistischer 32’-Verdoppelung, „alig hallhatán“ (kaum hörbar) vorgetragen wird. Die Eröffnung des Stücks konnte mit dem ersten Ge- sang der József-Fragmente op. 20 verglichen werden. Hier werden die Schluss- verse des Epilogs Ének, hajolj ki ajkamon (Gesang, neige dich von meinen Lip- pen) jenes Zyklus auf neue Weise zum Klingen gebracht: „Mélyebbre kell még hajlanom, / hogy semmít nem tudón daloljak.“ („Tiefer muss ich mich beugen, / um nichts wissend zu singen.“). Die Gestaltung des Schlusses greift das Tonzentrum e wie die diastematische Ausgangssituation in differenzierter Weise auf. So sind die Ereignisse der Kom- position insgesamt in den Quintrahmen zwischen h (Takt 1) und e (Takt 70) ein- gefasst. Die Funktion des fallenden Doppelhalbtons ist dadurch verändert, dass er in den Takten 70/71 aufsteigend um das e herum verlegt wird. Die finalis wird so zum Achsenton. Eine Schlussbildung kommt wegen der ausbleibenden Identifizierung der finalis mit der ultima nicht zustande; op. 30a endet mit einer offenen, vom e wegführenden Phrase, deren Intervallprofil vielleicht der weite- ren charakteristisch unscharfen Nachzeichnung einer figürlichen auctoritas, nämlich dem übermächtigen Referenzmodell der b-a-c-h-Formel (zu b-a-cis-his in Grossterztransposition), entspricht.174 Mit der letzten Figur weitet sich der Umfang der Schlusstakte vom Doppelhalbton dis-e-f auf den Tritonusraum dis- a. Dies entspricht nicht nur der Intervallik der ersten 6 Takte – paenultima und 174 Eine weitere, nur knappe Verfehlung des durch die gleiche auctoritas gegebenen Inter- vallprofils beschliesst das achte Stück – die „grosse Fuge“ – des dritten Teils Halál [Tod] der Bornemisza-Sprüche op. 7: b-a-c-cis. 93 ultima führen zudem exakt zur unteren Begrenzung der allerersten Artikulation des Verses „mi is a szó –“ hin. 2.2.5. Form In op. 30a realisiert Kurtág eine Form des Zerfalls, wie er sie auch schon in frü- heren Werken, so vor allem im umfangreichen Vokalzyklus der József-Fragmente op. 20 für eine noch ungestützte Solo-Sängerin, inszeniert hat. Merkmale eines musikalischen „Alterungsprozesses“175, wie etwa das fortschreitende Absinken der Stimmlage, konnten auch hinsichtlich der formalen Erstarrung von op. 30a festgestellt werden. Kurtág greift überdies auf das Mittel der zyklischen Ver- klammerung aus op. 20 zurück, wo der gleiche Text zwei verschiedene Verto- nungen an erster und vorletzter Stelle erfährt; die schleichende Abnutzung der Monodie wird an der musikalischen Repetition von Wörtern verdeutlicht. Die- ses Mittel prägt nicht nur das an den äusseren Rändern von op. 30a angesiedelte „thematische“ Stammeln, sondern die musikalische Behandlung eines Textes, in dem wenige geringsilbige Wörter repetiert werden. Gleichzeitig liefert der „Alterungsprozess“ die Voraussetzung für op. 30a; das deklamatorische Tempo zu Beginn der Beckett-Komposition ist undehnbar. An- ders als bei op. 20 liefert das Prinzip der Zerfallsform in op. 30a nicht nur den zyklisch-dramaturgischen Rahmen einzelner vokaler Fragmente, sondern ist we- sentliches Sujet einer Komposition, in der jeder neue Versuch melodischer Sprachfindung mit einem wachsenden Verlust an musikalischer Sprachfähigkeit verbunden ist. Entsprechend gliedert sich der Verlauf: Aus der krisenhaften Dis- position der vokalen Charaktere (Typen) resultiert in der ersten Hälfte (bis Takt 38)176 eine Faktur, in der sich die im Affekt kollidierenden Bruchstücke der ein- zelnen Deklamationstypen zu einer „Poly-Odie“ versammeln. Hier spaltet sich die monodische Rezitation in eine Vielzahl einzelner „Stimmen“ auf, deren Ver- hältnis formal ein dialogisches Gefüge induziert, das sich nach und nach selbst aufzehrt. Diverse Reanimationsversuche schlagen nach Takt 38 fehl. Hier kann eine scharfe Abgrenzung konkurrierender Charaktere nicht mehr hergestellt werden, so dass die früheren spannungsbildenden Konflikte zu Monologen aus- dünnen, was auch die Dimension des Tonsatzes erfasst: Wesentliche diastemati- sche Merkmale wie abwärtsgerichtete Halbtönigkeit sind weitgehend aufgeho- ben, das „phrygische“ e ist als wichtiges tonales Zentrum auf d abgesunken; auch der Rückgriff auf ein vormals potentes melisches Repräsentationsmodell bietet aus dieser Situation keinen Ausweg. Ergebnis des letzten Ausbruchsver- 175 Vgl. Claudia Stahl, Botschaften in Fragmenten, S. 133. 176 Die 73 Takte der Komposition gliedern sich damit in zwei taktmässig fast gleich grosse Teile von 37+1+35 Takten.94 suchs ist die Suspension der Artikulationsformen, was zum quasi vorsprachli- chen Ausgangspunkt der Komposition zurückführt. Op. 30a ist mit einer Dauer von ungefähr einer Viertelstunde Kurtágs bisher längstes zusammenhängendes Werk in einem Satz. Dennoch entfaltet sich nicht „grosse Form“. Vielmehr resultiert die relativ lange Dauer aus seiner paratakti- schen Disposition. Form wird induziert durch die Position gestischer Partikel und ihrer Desavouierung. Es fügt sich kein rundes Werk, dessen Klangereignisse in Hinblick auf einen grossen architektonischen Bogen plaziert wären. Zerbro- chene Form entsteht, indem sich einzelne Gestalten, die nirgends gänzlich aus- gebreitet werden können, aneinander abarbeiten und dadurch schwinden. Wie die vermeintliche Grossform durch das Einzelereignis der stockenden Deklama- tion verklammert ist, so könnte man auch insgesamt das Stottern als formbil- dend ansehen. Ergebnis ist eine grobe, zäh fliessende Form, in der die musikali- sche Zeit früherer „flüssiger“ Musik ins Stocken gerät. In der konsequenten Ausführung des Impulses scheiternder Sprachfindung steht op. 30a in Kurtágs Schaffen einzig da. Die Komposition markiert einen emp- findlichen Punkt in Kurtágs Entwicklung. Die grossen Vokalzyklen der achtziger Jahre gehen gewissermassen in der gestischen Beiordnung von op. 30a auf. Ein- zelne Vergleiche der Erscheinungsformen verschiedener Deklamationsschichten mit Gesängen vor allem der József-Fragmente op. 20 liefern Hinweise darauf, dass das topische Repertoire des früheren Zyklus auch in den Erinnerungsspu- ren von op. 30a latent anwesend ist. Die älteren Fragmente sind noch weiter zersplittert. Rein formell entspricht die rekonstruierbare Einheit des Deklama- tionstypus der des früheren, liedmässig abgeschlossenen Fragments, das die Ein- heit des Ausdrucks gewöhnlich wahrt. Auf diese Weise destilliert Kurtág auch szenisch relevante Einzelgesten aus den Versehrungen früherer Objekte, die aus dem zyklischen Zusammenhang nun endgültig ausbrechen und sich in einem einsätzigen Monodrama neu konstituieren. Gleichzeitig lässt sich in Kurtágs Schaffen ein grundsätzlicher Wandel in der Ver- wendung unbegleiteten monodischen Gesangs feststellen. Während der Sologe- sang des vierten Teiles Tavasz (Frühling) der Sprüche des Péter Bornemisza op. 7 die in den vorherigen Teilen Bűn (Sünde) und Halál (Tod) durchlittenen Erfah- rungen in reiner Vokalität verklärt, dienen die instrumental unbegleiteten Mo- nodien späterer Zyklen gerade der Diskreditierung individueller Mitteilungsfor- men: Die Monodie der Botschaften der verstorbenen R. W. Trussowa op. 17 (dort II/3) geht in Schweinsgrunzen über, der zentrale achte Gesang der Szenen eines Romans op. 19 fällt mit der Vereinsamungsklimax der literarischen Vorla- ge zusammen. Diese Tendenz zur Darstellung der Hinfälligkeit, Verletzlichkeit einer einzeln Singenden führt über den Fragment-Zyklus von op. 20 geradewegs zur realen Beschädigung des Solo-Gesangs von op. 30a. Seither hat Kurtág keinen Vokalzyklus mehr auskomponiert. Nach der Erfah- rung der Aufsplitterung von Form in op. 30a entstanden Sammlungen kleiner und kleinster monodischer Formen in Isolation von Einzelgesten, deren konzise95 Artikulation den Vorrang vor der verbindlichen Einordnung in einen grösseren Zusammenhang geniesst. Die Gestaltung einer in der stringenten Abfolge der einzelnen Gesänge liegenden Aussage ist Kurtágs Vorliebe für ossia-Alternativen zum Opfer gefallen. Die detaillierte Fügung der Hölderlin-Gesänge op. 35 (1993–98 …), von … pas à pas – nulle part … op. 36 (1993–98), beide für Ba- riton solo (Instrumente ad lib.), und von Einige Sätze aus den Sudelbüchern Ge- org Christoph Lichtenbergs op. 37 (1996) für Sopran solo (Instrumente ad lib.) bleibt den Ausführenden überlassen; die Werke sind keine Liederzyklen „im her- kömmlichen Sinne: […] Die Interpreten sollten für die Aufführung im Konzert eine Auswahl treffen – mithin ihren eigenen Zyklus komponieren.“177 Konkrete Fragen, die eine solche offene grossformale Konzeption aufwirft, werden in ei- nem Kommentar zu Kurtágs bislang letzter Beckett-Musik … pas à pas – nulle part … op. 36 erörtert, der den zweiten Teil dieser Studie abschliesst. 2.2.6. Kurtágs Beckett „… folly for t[w]o …“ In seiner Studie über Kurtágs op. 30b bemerkt Thomas Steiert abschliessend: „Das Verhältnis von Text und Musik in What is the word zeigt auf anschauliche Weise, wie sich die Künste im 20. Jahrhundert auf technischer Ebene überlagern, ohne sich dabei zu imitieren.“178 In der Tat: Kurtágs musikalische Interpretation von Becketts Text auf dem Um- weg über Siklós und Monyók ist bestimmt von einer gewissen Divergenz der Schreibweisen. Die Musik seiner älteren wie neueren Vokalwerke befindet sich grundsätzlich in einem abbildenden Verhältnis zur Sprache der herangezogenen Texte, wobei hinsichtlich Becketts nur noch Splitter von Sprachbildern obsessiv angestarrt werden. Dies entspricht Kurtágs genereller Neigung zur „mimesis of speech and gesture“179 mittels Musik, die über den konventionellen Gebrauch des Begriffs „Vertonung“ hinausführt (es sei denn, man wollte auch Kurtágs non- vokale Musik als „Vertonung“ auffassen). Auf diese Weise setzt Kurtág in op. 30a an einer Dichtung an, die viel Energie aufbringt, um sich in einen Bereich jen- seits sprachlicher, bildlicher Sinnkonstitution zu verflüchtigen. Die Frage, inwie- fern eine Verklanglichung von „Unwörtern“, die zum „Stillschweigen“180 ten- 177 Aus der „Anleitung“ zu György Kurtágs Einige Sätze aus den Sudelbüchern Georg Chri- stoph Lichtenbergs op. 37. 178 Thomas Steiert, György Kurtágs Vertonung von Samuel Becketts „What is the Word“ (Sik- lós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval) op. 30b, S. 585. 179 Rachel Beckles Willson, An analytical study of György Kurtágs The sayings of Péter Bor- nemisza op. 7, S. 243f. 180 Disjecta, S. 53.96 dieren, überhaupt geleistet werden kann, stellt sich für Kurtág nur am Rande. Für seine Beckettlektüre sind die dichterischen Ambiguisierungsstrategien von eher nachrangiger Bedeutung; werden sie verfolgt, so vor allem in Hinblick auf ihren wörtlichen Niederschlag. Kurtág ist weniger an der im Text angelegten Verflüchtigung semantischer Reste, mehr an der musikalisch-gestischen Fixie- rung der so entstandenen Sprachtrümmer interessiert. Er inszeniert ihre Dekla- mation, die mit ihrem Gegenstand zur Neige geht. Auch nimmt er Becketts ver- sagendes Sprachgedächtnis dankbar für die Komposition von op. 30a auf, indem er es zum Symptom eines für sein eigenes Schaffen wesentlichen Impulses um- deutet: Durch Beckett, Siklós und Monyók kann Kurtág kompositorisch um Worte ringen wie niemals zuvor.181 Situativ und personell werden keine gerin- gen Mittel aufgeboten, um den in der Textgestalt nicht mehr unmittelbar greif- baren Entstehungsanlass musikalisch zu konkretisieren und zu simulieren (Monyók „stottert wie Beckett es verlangt“182); in gestischer Hinsicht ist Becketts Vokabular der Verstummung an die affektiven Zustände eines Systems musikalischer Gebärden angebunden, deren deklamatorische Charakteristika sich als differenzierbar erwiesen haben. Als Phänomen lässt sich die musikali- sche Zerfallsform analog zu Becketts dichterischer Zerfallsform beschreiben; doch ist jene bei Kurtág nicht auf einen imaginären, garantiert unzugänglichen Fluchtpunkt, sondern auf die konzentrierte Herausbildung der defizitären Ein- zelgeste berechnet. Becketts Evaporation sprechend sich äussernder Subjektivi- tät setzt Kurtág die rohe kompositorische Geste entgegen und inszeniert da- durch ein Frühstadium von Subjektivität. Kurtág fasst das, was bei Beckett übrig bleibt, als vorsprachliche Materie auf und richtet den Blick auf die mimetische Vorbedingung von Sprache. Beiden gemeinsam ist die Aversion gegen die Arbeit und das Sein im Bereich empirisch abgesicherter Gewissheiten, das Misstrauen gegen den Vordergrund funktionierender sprachlicher Repräsentanz, bzw. das grosse Zutrauen zur „folly“. Claudia Stahls Urteil über einen „Paradigmenwechsel“ in Kurtágs Musik durch op. 30 ist möglicherweise etwas voreilig. Sie interpretiert das Werk in seiner spä- teren Fassung als „Gegenposition zu dem auf der exakten Umsetzung von Text- inhalten und Wortklängen beruhenden Verhältnis zwischen Text und Musik in den Vokalzyklen. […] Stattdessen ist in What is the Word die rein gestische Ebe- ne sehr viel deutlicher und differenzierter.“183 Dagegen erscheint Kurtágs dekla- matorische Inszenierung der Beckett-Partikel – auch nach Erweiterung der Mo- 181 Das befindet auch Steiert: „Becketts Text stand hier [in Kurtágs op. 30a] eher in einem programmatischen Zusammenhang mit der Musik, insofern seine fragmentarischen Zeilen im Sinne eines buchstäblichen Ringens um Worte verstanden wurden.“ (Thomas Steiert, György Kurtágs Vertonung von Samuel Becketts „What is the Word“ [Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval] op. 30b, S. 580). 182 Brief an Abbado [?], siehe Seite 100. 183 Claudia Stahl, Botschaften in Fragmenten, S. 226. 97 nodie zur Fassung op. 30b, auf die Stahl sich bezieht – weniger als „Gegenposition“ zu früheren Verfahrensweisen, sondern eher als deren radikale Fortsetzung, die zu einer Ausdrucksform führt, in der die Ebene des Wortes und die „rein gestische“ Ebene nicht voneinander zu trennen sind. Die Radikalität des Vorgehens führte allerdings zu einem Punkt, mit dessen Erreichen Vokalzy- klen offenbar nicht mehr möglich waren. Hier zeigt sich zudem, dass eine enge Wort-Klang-Liaison nicht automatisch mit eingängigen Vertonungsweisen ver- bunden sein muss, sondern auch Paradoxa, Spannungen in Form einer „Poly- Odie“ von Gebärden auszutragen vermag – wobei das grösste Paradoxon sich womöglich in der Spannung zum Text konstituiert. Becketts Vorstellung von Musik als „this most immaterial of all the arts“184 trifft in op. 30a auf eine ausgeprägte Materialität musikalischer Gebärden. Kurtágs kompositorische Rekonstruktion von Beckett-Objekten wäre nach der im frü- hen Proust-Essay festgeschriebenen, gleichsam Schopenhauerschen Definition das Vorgehen eines Komponisten, „who, being an impure subject, insists on giving a figure to that which is ideal and invisible, on incarnating the idea in what he conceives to be an appropriate paradigm.“185 Becketts Polemik und Kurtágs Musik treffen sich in ihrem Bezugspunkt: Der Oper. Die für Beckett ab- scheulichste musikalische Gattung war für Kurtág nicht nur der erste Ausgangs- punkt für eine intensivere Beschäftigung mit dessen Dichtung, sondern ist auch für die Realisierung der ersten vollendeten Beckett-Musik von Bedeutung. Ent- scheidend für die Konzeption der zweiten Fassung op. 30b ist gerade die Entfal- tung des szenischen Potentials der noch intimen Monodie im grossen Konzert- saal – in Richtung einer weiteren verkappten Kurtág-Oper. 2.3. Expansion und Verdeutlichung in der Fassung op. 30b 2.3.1. Ein anderer Anlass Im Sommer 1991 komponierte Kurtág eine neue Fassung von op. 30a mit dem Titel Samuel Beckett: What is the Word (Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval) op. 30b für Alt solo („Rezitation“), Stimmen 184 Proust, S. 92. 185 Ebd.; hingegen findet sich eine triftige ästhetische Konvergenz zu Kurtágs Vorgehen beim jungen Beckett: „Before articulation comes song; before abstract terms, metaphors. […] Poetry is essentially the antithesis of Metaphysics: Metaphysics purge the mind of the senses and culti- vate the disembodiment of the spiritual; Poetry is all passion and feeling and animates the ina- nimate; Metaphysics are most perfect when most concerned with universals; Poetry, when most concerned with particulars. […] In its dumb form, language was gesture.“ (Disjecta, S. 24). In Becketts Dichtung ist diese Polarität gehörig ins Wanken geraten.98 und im Raum verteilte Kammerensembles. Die entscheidende Anregung zur Entstehung des Werks kam von Claudio Abbado. „Als im Oktober 1991 das TARKOWSKY-FESTIVAL rund um die Aufführung des Boris [Godunov; Abbado hatte Mussorgskys Oper 1983 in der Londoner Covent Gar- den Opera zusammen mit Andrej Tarkowsky (Regie) produziert] an der Wiener Staats- oper geplant wurde, mit zwei Ausstellungen über den Maler Tarkowsky, Lesungen und natürlich allen seinen Filmen, wollte ich noch einen anderen Akzent setzen, um Tar- kowskys besondere Beziehung zur Musik deutlich zu machen, und zwar in Form eines seinem Andenken gewidmeten Konzerts. Den Anstoss gab Luigi Nonos Komposition No hay caminos, hay que caminar … [Andrej Tarkovskij, für Orchester in sieben Chö- ren (1987)], die Tarkowsky gewidmet ist und die in Wien noch nicht aufgeführt wor- den war. Ich fragte eine Reihe befreundeter Komponisten, mit denen wir auch schon im Rahmen von WIEN MODERN zusammengearbeitet hatten, ob die Person oder das Werk Tarkowskys sie zu einer Komposition für ein spezielles, ihm gewidmetes Konzert anregen würde, und habe mich sehr gefreut, dass trotz der knappen Zeit Beat Fur- rer186, György Kurtág und Wolfgang Rihm187 uns ein Werk geschrieben haben. Diese drei Komponisten kamen auch zur Uraufführung ihrer Werke, Kurtág spielte selbst den Klavierpart in seiner Komposition.“188 Die Uraufführung fand am 27. Oktober 1991 mit Ildikó Monyók, dem Tomkins Vocal Ensemble und dem Ensemble Anton Webern unter der Leitung von Clau- dio Abbado im Wiener Mozart-Saal statt. Fortan wurde op. 30b häufig gespielt. 1993 war das Werk in grossen Sälen der Musikmetropolen Berlin, Budapest, Wien und Salzburg zu hören – sehr im Gegensatz zur ersten Fassung op. 30a, die erst am 5. Juni 1993, knapp zwei Jahre nach der Wiener Erstproduktion des Nachfolgewerks, im italienischen Sermoneta durch Ildikó Monyók und Csaba Király ohne viel Aufhebens zur offiziellen Uraufführung gelangte. Op. 30a er- langte den Status eines „Hauptwerks“ nur in der Fassung von op. 30b. Abbados Anfrage konnte von Kurtág ungewöhnlich prompt beantwortet wer- den, weil er die Ausarbeitung seines op. 30a, die auch Becketts englischen Text verwendet, offenbar schon längst in Angriff genommen hatte. Die erste datierte Skizze zu diesem Projekt entstand bereits am 10. Juli 1990, also weit vor dem in Hinblick auf den nahenden Aufführungstermin knapp bemessenen Zeitraum der endgültigen Ausgestaltung. Der Anlass bot Kurtág eine Gelegenheit zur Ausfüh- rung seines Plans; der durch Tarkowsky und vor allem durch Nono gegebene Kontext schlägt sich, wie auch bei Furrer und Rihm, hauptsächlich in der räum- lichen Verteilung von Orchestergruppen nieder. Anders jedoch als etwa bei Rihm, der Nono-Bezüge in bildlos/weglos in der zitathaften Verwendung des Zentraltons g von No hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkowskij oder 186 Face de la chaleur für Flöte und Orchester (1991). 187 bildlos/weglos für sieben Soprane und Orchester (1990–91). 188 Claudio Abbado, Hommage an Andrej Tarkowsky, in: Booklet zur CD-Einspielung der genannten Werke von Nono, Furrer, Kurtág und Rihm, DG 437 840-2, S. 6.99 des Sopranchors aus „Ha venido“. Canciones para Silvia (1960) thematisiert, sind bei Kurtág konkrete, über eine allgemeine Affinität zum Schaffen Tar- kowskys und Nonos hinausgehende Konvergenzen nur als Spuren feststellbar – denen später in Hinblick auf die Frage des musikalischen Raumes nachgegangen werden soll. Eine äusserliche Ähnlichkeit mag vielleicht in der mittels gestischer Partikel induzierten zerbrochenen Form der Vorlage op. 30a liegen, deren Ver- lauf durch lange Pausen zersetzt ist; ihre insulare Erscheinung erinnert an die ganz anders motivierte formale Archipelkonzeption von Nonos später Musik. Wann genau Abbados Anfrage erfolgt ist, muss offen bleiben. Die ersten Doku- mente, die auf eine intensive Aufnahme der Arbeit an op. 30b schliessen lassen, datieren auf Mitte Juli 1991 – dreieinhalb Monate vor der Uraufführung. Kurz zuvor dürfte jener Brief geschrieben worden sein, in dem Kurtág Abbado über die Grundkonzeption seines Werkes aufklärt. Der undatierte Entwurf zu diesem Schreiben, dessen Beginn oben bereits zitiert wurde, sei hier nunmehr vollstän- dig wiedergegeben. „Verehrter gregoi Maestro, Egregio Maestro, caro amico, Caro amico, D Ich freue mich sehr, mein What is the word … von Beckett in Wien aufführen zu können. Es ist geschrieben für eine ver behinderte Schauspielerin, die nach einem Autounfall jahrelang nicht reden konnte – nicht als Folge der Beschädigung, sondern weil sie nachher von ihren [sic!] Regisseur brutal behandelt wurde sogar bis heute stot- tert wie Beckett es verlangt. Die Komposition ist mir sehr wert – ich möchte sie in einem begrenzten/geschlossenen Kreis mit Ildikó Monyók (so heisst sie) aufführen. Gleichzeitig möchte ich die angefangene Version für Wien beenden, wo stereopho- nisch verteilt, viele Instrumente oder [ein Wort unleserlich] heterophonisch mitspielen (wie in quasi una fantasia) – wenn möglich unter Ihrer Leitung. Da Beckett in meiner Komposition ungarisch vertont ist, überlege ich auch einen Unisono-Chor von 8–10 Sängern die Echo-artig denselben Text im englischen Original wiederholen. Sie können mir gleich sagen, ob es prinzipiell möglich sei – (unbedingt mit Ildikó Monyók als Solistin) aber Sie können abwarten bis Sie die endgültige Partitur sehen werden. Diese werden Sie spätestens am 1. September 1991 erhalten. Es wird sehr leicht sein für die Musiker, nur Sie müssen mit mir die Initiative verteilen –manchmal sollen Sie es haben – manchmal ich sehr liebe Grüsse, g“189 Die Ausführung und Modifizierung dieses Plans lässt sich anhand der in der Sammlung György Kurtág der Paul Sacher Stiftung befindlichen Manuskripte gut, wenn auch nicht lückenlos dokumentieren. Sie sind eine Hilfe, Kurtágs wie- derholte Beckett-Lektüre zu verstehen. 189 Korrespondenz der SGyK; als nicht genannter Empfänger dieser Nachricht kann fast zweifelsfrei Claudio Abbado angenommen werden.100 2.3.2. Prolog und Epilog Die ersten zugänglichen, datierten Manuskripte aus der „heissen Phase“ der Entstehung von op. 30b sind Entwürfe zu einer Einleitung und zu einem Schluss, die die Fassung op. 30a umschliessen. Kurtág begann die Ausgestaltung seines eigenen Textes, indem er die Monodie in den extraliterarischen Rahmen eines instrumentalen Prologs und eines szenischen Epilogs stellte. Der Entwurf einer Sinfonia I benannten Orchestereinleitung (Quelle D 1901 ) zeigt eine Musik, die von der Melosproblematik der ersten Fassung op. 30a ausgehend schon in die Richtung der instrumentalen Ausarbeitung von op. 30b weist. Der nach vier Takten abbrechende Entwurf basiert auf der Konstellation zweier Melodien, deren Dichotomie als Gegenstand der monodischen Erinnerungsver- suche von op. 30a figuriert. Die Einleitung stellt die nachgelieferte Vorausset- zung dessen dar, woran sich das konstruktive Unvermögen der Komposition ab- arbeitet. Dies geschieht in der Gegenüberstellung der gegensätzlichen „ungarischen“ Musizierformen von tempo giusto und parlando rubato bzw. der Verwendung der magyarischen Doppelsatzfolge von lassu und friss, die in der Abfolge von con slancio und Adagio umgestellt sind. Diese topische Dualität, die in den immerfort neu scheiternden Formulierungsversuchen der Monodie wie in den Takten 13–14 von op. 30a stark relativiert wird, ist im Entwurf der Ein- leitung keineswegs axiomatisch festgeschrieben. Das Modellhafte der Tanzmelo- die und der langsamen Weise tritt überdeutlich hervor. Von Beginn an ist Kur- tágs neuer Zugriff auf Melos vom Formelhaften gezeichnet, das im Fragmentzustand der Nachhaltigkeit vollkommen entbehrt: In der verschobe- nen Phrasierung der wiederholten naiven Tanzweise etwa geht die „bulgarische“ rhythmische Gruppierung (2+3) sofort verloren. Entsprechend modellhaft sind Diatonik und Pentatonik, die in der Monodie nach Ansätzen der Elaboration erst im fremden arioso eine prekäre Form der Entfaltung finden, in Komplementärintervallik installiert. Die tonalen Eigen- schaften dieser Melodiesegmente, die insgesamt wie eine Variante der ersten melodischen Introspektion (op. 30a, Takt 22–23) erscheinen, weisen zudem ver- einfacht auf den Verlauf der ganzen Komposition voraus: Kann die pseudo- phrygische Identität des pentachordalen Tanzmodells mit dem e zentrierenden, “dynamischen“ ersten Teil der Monodie (bis Takt 38) assoziiert werden, ent- spricht das anhemitonische Adagio dem leergespulten, monodischen zweiten Teil, der die zentrale Geste des fallenden Halbtons zunächst suspendiert; auch die dort virulente „Zerfallsstufe“ d wird hier aus dem letzten Ton der Tanzmelo- die gewonnen und in einem Orgelpunkt festgehalten. Zugleich sind in der orchestralen Behandlung der Melodien die wichtigsten In- strumentationsverfahren der Monodie für op. 30b vorgebildet. Zerfällt das von der späteren Rezitationsstütze (Klavier, hier noch unisono mit Orgel) vorgetra- 190 Übersicht der Quellen im Anhang, Seite 279ff.101 Abbildung 10: György Kurtág, Sinfonia I, Partiturentwurf (© by Paul Sacher Stiftung, Basel)102 gene Tanzmodell in die Schichten des Orchesterraumes, so findet das Melos des Adagio Echos in Saiteninstrumenten, Vibraphon und in der Bassflöte. Die zwei massgeblichen Verfahren, jenes der instrumentalen Fragmentierung einer Melo- die wie das ihrer Klangschatten werfenden Dilatation, sind exponiert in einer Polarität, die mit der topischen Dichotomie der Melodien assoziiert ist. Im einen Fall wird der melodische Zusammenhang zerschnitten, im anderen in mehrere Stimmen übergebunden. Dabei stehen die beiden ohnedies durch halbtönig abstehende Ausführungen ei- nes konvexen Modells charakterisierten Komplexe nicht vollkommen unvermit- telt nebeneinander: Der zur Tanzsektion komplementäre Tonvorrat des pentato- nischen Bogens entfällt in den ersten beiden Takten auf die Arpeggi von Harfe und Celesta, die zusammen mit kleiner Trommel und Becken die asymmetrische „bulgarische“ Rhythmik akzentuieren. In der Notation weist noch nichts auf eine raummässige Verteilung der Orchestergruppen hin – die aber auch nach der endgültigen Niederschrift der Partitur von op. 30b (Quelle H) nur aus einem Aufstellungsplan, nicht aber aus der Notationsweise, die alle Gruppen wie einen homogenen Klangkörper behandelt, ersichtlich wird. Soweit enthält die Sinfonia alle Merkmale einer auf kommende Ereignisse in ge- bündelter Form vorausweisenden „Ouvertüre“. Kurtág nimmt sie nicht in op. 30b auf. „Ich bin mir […] darüber im Klaren, dass die ersten Stücke in der Regel nur so zum Warmwerden sind und später geopfert werden müssen.“191 Die Melodien der ohnehin nur fragmentarisch umrissenen Sinfonia I gehen auf im Cluster des die endgültige Fassung eröffnenden gewaltsamen Tuttischlags, der nach einem Takt zu einem Kleinsekundklang ausdünnt. In der Neukomposi- tion wird es kein zweites Tutti geben. Als extreme Voraussetzung eines nur aus Bruchstücken sich fügenden Melos ist dieser Beginn mit einer Stelle aus dem zweiten Satz Siciliano nostalgico des Orbis tonorum (1986) von Sándor Veress vergleichbar: In Takt 34 (Abb. 11) ereignet sich „ein Fortissimo-Schlag von einer Heftigkeit, die nicht nur im Orbis tonorum, sondern im ganzen Spätwerk von Veress vereinzelt dasteht. Es ist, als ob hier das ‚Bild‘ der ‚Tempi passati‘ [Titel des ersten Satzes des Orbis tonorum, der noch auf einer geschlossenen zwölftö- nigen, gleichwohl modal evaluierten Melodie basiert] in der Musik selber zer- schlagen, die Illusion zerfetzt wird. Man ist – wo? Nur noch einzelne Splitter von Musik sind in den folgenden Takten zu erkennen […]“.192 In op. 30b wird die Illusion zerfetzt, bevor auch nur ein einziger Ton der Mo- nodie erklungen ist. Kurtágs Cluster steht aber nicht ausserhalb der prägenden Tonordnungen. In der neuen Ouvertüre werden die Intervallverhältnisse der al- 191 György Kurtág im Gespräch mit Bálint András Varga, S. 43. 192 Andreas Traub, Zeitschichten – Zum „Orbis tonorum“ (1986) von Sándor Veress, Saar- brücken: Pfau 1999 (= fragmen 28), S. 10.103 Abbildung 11: Sándor Veress, Orbis tonorum Nr. 2, Siciliano nostalgico, Takt 34–40 (© by Edizioni Suvini Zerboni, Milano)104 105 ten auf verschiedene Weise verdichtet, um zum halbtönigen Profil der rezitierten Eröffnungsformel „mi is a szó –“ hinzuführen (Abb. 12). Einerseits stellt der Clusterambitus a-d1 eine einwärts gekehrte Projektion des Umfangs der pseudo-phrygischen Tanzweise dar. Die Rezitation knüpft exakt am übrigbleibenden Halbton c1–h (Takt B) an; wie dort ist auch die Ausblen- dung des Clusters symmetrisch disponiert, dessen zuletzt verklingendes Intervall der Spiegelachse des Kleinsekundbündels entspricht. Zum anderen wird die chromatische Summe der Umfänge beider Sinfonia I-Melodien abgebildet im Tubaglissando a–des1–a, das den Clusterumfang fast vollständig abtastet.193 Das Melos der Sinfonia regrediert zur Auswalzung eines Klangs im schlecht glissan- dierten Bogen; er bietet den einzigen Anhaltspunkt für die monodische Konzep- tion des Stücks. In der „Ouvertüre“ der endgültigen Fassung werden die modellhaften Bezugs- momente der Sinfonia einer non-vokalen Vorbedingung zur Erschöpfung der Form geopfert. In den beiden Larghissimo-Takten wird alle Energie auf dem Weg vom möglichen Maximum bis zum Klang einer „allerdünnsten Stricknadel“ (Anweisung in der Partitur: „Piatto sospeso mit einer allerdünnsten Stricknadel am Rand“) aufgebraucht; letzteres ist in Takt a als instrumentales Pendant zum vokalen artikulatorischen Minimum der ungestützten, sich dem Singen versa- genden Silbe „a“ („the“) definiert. Die Rezitation kommt erst nach einer Steige- rung des ohnedies superlativen Ouvertürentempos („Larghissimo“) „unerträg- lich langsam“ in Gang. Womöglich ist Kurtág in den Vortakten A und B bemüht um eine klingende Re- konstruktion eines textexternen Elements, einer möglicherweise katastrophalen Bedingung für Becketts kontraktive poetische Position. Auf ähnliche Art eröff- net Heinz Holliger seine Kammeroper nach Becketts Come and Go (1976– 77).194 (Abb. 13) Beide „Ouvertüren“ erfüllen die Funktion einer erschöpfen- den Vorbedingung zum folgenden, aus verschiedenen Gründen heikel geworde- nen musikalischen Artikulationsakt, wobei sich Holligers durchweg polyphone wie auch Kurtágs monodische Konzeption schon vor Beginn zeigen. Kurtág schliesst op. 30b, indem er der Monodie eine zweite Sinfonia anfügt. Entsprechend der instrumentalen Vorbedingung zieht er im epilogo scenico, ei- nem „acte sans paroles“, die Konsequenz aus dem Verlauf des Stücks. Vorlage ist 193 Der überfällige Ton d ist auch im Cluster unterrepräsentiert, nämlich nur durch die Es- Klarinette vertreten (wogegen alle übrigen Töne gleichmässig auf das vorhandene Instrumenta- rium verteilt sind); er wirkt so wie der Keim zur Auflösungstendenz des zweiten Teils, der mit dem Ton d als „Zerfallsstufe“ verbunden ist und im eröffnenden Cluster noch keinen sicheren Platz beanspruchen kann. Zudem grupiert sich die Hauptmasse des Clusters exakt um die Mit- telachse des Ansatztons h. 194 „Mein Prolog zu Come and Go ist ziemlich expressionistisch und entspricht sicher nicht der Intention Samuel Becketts.“ Heinz Holliger in einem Gespräch mit dem Autor, Basel, 15. April 1999.106 Abbildung 12: György Kurtág, op. 30b, Beginn (© by Editio Musica Budapest)107 Abbildung 13: Heinz Holliger, Come and Go, Beginn (© by Schott Music, Mainz)108 109 seine auf den 13. November 1990 datierte, bislang unveröffentlichte Komposi- tion Utolsó utáni beszélgetés Kovács Zsuzsával (Ein Gespräch mit Zsuzsa Kovács nach dem letzten Gespräch) für Violine (auch „Voce bianca“) und Klavier (ad lib. Harfe oder ein mit einem „supersordino“ ausgestattetes Pianino, das in der end- gültigen Version von op. 30b als Klavierstütze eingesetzt wird). Wie op. 30a geht dieses Stück so gut wie unverändert in die grundierende Schicht der späteren Fassung ein (vgl. Abb. 14). Die Situation „nach einem letzten Gespräch“ ist auch für den Epilog von op. 30b massgeblich, so dass sich das fertige Duo integrieren liess, fast als sei es in Hinblick auf seine endgültige Bestimmung komponiert. Als Resultat der for- malen Erschöpfung fixiert das Stück nur noch eine einzige, fünffach wiederholte und dann verlöschende Gebärde. „[D]as Artikulierte ist verlorengegangen, drei Töne, ein Stöhnen, ein Gestikulieren sind die letzten möglichen Äusserungen.“195 Im Epilog zeigt sich überdeutlich, welche darstellerische Relevanz die auf den Gewinn der konzisen Gebärde abzielende Beckett-Lektüre besitzt. „Vl: Molto sul tasto oder sul pont. pressato, eine spezifische Klangfarbe suchen, die den Interpreten auch erschüttert. Bogenwechsel überdeutlich, pantomimisch, lang- same, kontinuierliche Bewegung, ohne Lücke zum folgenden Bogenwechsel. Wenn möglich, Vl. solo soll mitsingen – mitbrummen, seufzen, stöhnen im eigenen Sprechre- gister. Eine Geigerin kann dann Unisono bleiben, ein Violinist eine Oktave oder Duo- dezime tiefer.“ (Vortragsanweisung zum epilogo scenico, op. 30b, S. 41) Das sehr eingeschränkte musikalische Material von Utolsó utáni beszélgetés Ko- vács Zsuzsával erscheint als endgültige Rücknahme der palindromischen Kon- stellation am Beginn von op. 30a. Der initiale, noch diatonisierbare Doppelhalb- ton wird zur mikrotonalen Tongruppe ↓es-d-↑cis der Geigenfigur komprimiert, worin sich der für die ganze Beckett-Komposition charakteristische Klagege- stus196 sammelt. In der „Klavierbegleitung“ wird sie durch den Ton g auf das an- dere intervallische Modell des Beginns, die Quint-Tritonus-Gruppe, bezogen.197 Neben der Überfixierung des Ausgangsmaterials von op. 30a ist zudem seine Orientierung auf das Tonzentrum d, die „Zerfallsstufe“ des zweiten Teils von op. 30a, entscheidend. Die Zäsur des Quintklangs leitet die Ausblendung der „letzten möglichen Äusserungen“ ein. Am Endpunkt der artikulatorischen Ago- nie finden sich Rohmaterialien, die dem Prozess komponierender Aneignung ge- wöhnlicherweise vorgängig sind: Die künstlerisch nicht durchgeformte Tonord- nung der leeren Geigensaiten und ein Stöhnen, das sprachlichem Bewusstsein 195 György Kurtág zitiert nach Ulrich Dibelius (Hrsg.), Ligeti und Kurtág in Salzburg, S. 76. 196 „Jellegzetes siratás színe legyen“ („Im Charakter eines klagenden Tons“); Reinschrift Utolsó utáni beszélgetés Kovács Zsuzsával, siehe Abb. 11. 197 Die minimale Variation in Takt 4, wo die Quint-Tritonus-Intervallik über den Achsenton d verschoben wird, ist in der Sinfonia von op. 30b wieder getilgt. 110 Abbildung 14: György Kurtág, Utolsó utáni beszélgetés Kovács Zsuzsával, Reinschrift (© by Paul Sacher Stiftung, Basel)111 112 und vokaler Artikulation vorausliegt. Die für op. 30a massgebliche Liaison einer instrumental abgestützten (Sing-)Stimme bricht hier endgültig auf. Ein weiterer Bezug zur Hauptreferenz von op. 30a liegt in der Herkunft des mi- krotonalen Ultra-sospirandos. Es kann auf die kleinsttönige Episode im ersten Satz von Bartóks Zweitem Violinkonzert (Takt 303–307) bezogen werden. Kur- tágs Form entfaltet sich insgesamt im Spannungsfeld wesentlicher Artikulations- weisen von Bartóks Konzert: Nicht nur das im arioso imaginierte melodische Ideal des Andante tranquillo, auch die melische Kompression ist geliehen, Bar- tóks Notationsweise genau übernommen – beide Modelle markieren Extremfor- men musikalischer Sprachintensität. Es ist entscheidend, dass Kurtág auf das szenische Potential der Monodie rea- giert, indem er den Epilog einer geigenden Bühnenfigur überantwortet. Ein Rückzug der rezitierenden Protagonistin ist im Wechsel der Darsteller insze- niert. Der Bezug zu Bartóks Zweitem Violinkonzert gewinnt damit auch szeni- sche Konkretion: Während der gesamten neuen Fassung sekundiert die Solovio- line (neben Pianinostütze, Dirigent und einem Continuoensemble) der Rezitatorin auf der zentralen, in der Partitur ausdrücklich „Scène“ genannten Plattform, tritt manchmal sogar „in Stehgeiger Manier“ (Takt m) hervor. Kur- tágs Zugriff auf ein Glanzstück der Konzertliteratur ist geprägt von einer betont antivirtuosen Haltung. Die sich zu leeren Saiten zurückbildende Geigenpartie ist bezeichnend für die Situation eines Epilogs, in dem die ganze Komposition noch weit vor ihren Ausgangspunkt zurückgeworfen wird. Die Bearbeitungsstadien von Utolsó utáni beszélgetés Kovács Zsuzsával zur Sin- fonia (epilogo scenico) von op. 30b lassen sich an den zugänglichen Skizzen gut verfolgen. Wesentliches geht aus Eintragungen Kurtágs auf einer Photokopie der Reinschrift von Utolsó utáni … (Quelle C2) hervor: Demnach erhält die sospi- rando-Figur zunächst einfache, später doppelte Echos, die nach und nach an Substanz gewinnen, dazu wie physisch beschwert im Tonraum absinken. Dabei spiegelt sich die Doppelrolle des Violinisten darin, dass die Echos sich in Sing- stimmen und Instrumenten abwechseln oder auch gemischt besetzt sind; in einer Skizze vom 17. Juli 1991, die sich auf der Rückseite des Entwurfs zur verworfe- nen Sinfonia I (Quelle D1) befindet, ist noch vorgesehen, die Bläser zum Vortrag der sospirando-Echos „mitsingen oder brummen“ zu lassen. Solche Aktionen sind Teil der Szene, wie die Bezeichnung eines verspäteten Echos der Bassstim- me („wie eine Chaplin’sche Spätreaktion“) in Takt e verrät. Während sich die Figur des Bühnengeigers im Klangkörper von op. 30b ver- flüchtigt, dehnt die Klavierbegleitung sich auf andere kurzklingende Instrumen- te und Bläser aus. Dieser Entwicklung folgt auch der einzige grössere Eingriff in die Duo-Vorlage (Takt 9–11): In der Skizze (Quelle C2) erweitert Kurtág den Quint-Tritonus-Klang des Klaviers, der zu leeren Violinsaiten hinführt, zu einem fast kompletten Zwölftonfeld. Ein wichtiger neuer Aspekt in der Ausarbeitung des Epilogo scenico liegt in der wachsenden Relativierung der Spielsituation von Utolsó utáni beszélgetés Kovács Zsuzsával. Infolge der zunehmenden Auszierung113 der instrumentalen Klavier-Dilatation wird die Gestalt der sospirando-Figur nach und nach überwuchert, bis ausgiebige Ornamentik sie (v.a. im Cimbalom) in Takt g – den Kurtág in der Skizze C2 als „nagy gamelán“ („grosses Gamelan“) bezeichnet – fast völlig absorbiert. Neue Ambivalenz fliesst in die Musik: Die zu- nächst als primäres melisches Ereignis wahrgenommene Figur ist in ihrer Gestalt nicht mehr klar vom ausufernden Ornatus der Begleitung zu trennen. Die Klein- stintervallik geht dabei schon einen Takt früher im nicht-figürlichen, klangfarb- lichen Element der zäsurbildenden „fluktuierende[n] Intonation“ der Blockflö- ten auf. Sándor Veress hat im Aufsatz Der Homo ornans in der Musik198, seinem wichtig- sten musikethnologischen Beitrag in deutscher Sprache, aufgezeigt, dass Auszie- rungspraxis keine kulinarische Beigabe zur Melodie, sondern in der Volksmusik das eigentlich identitätsstiftende Merkmal, einen verbindlichen musikalischen Dialekt darstelle. Er konstatiert den Niedergang melischer Mitteilungsformen, deren Ornamentik sich in keinem „inneren“ Verhältnis zum verzierten Objekt befindet. Kurtág ist in der Bearbeitung seines eigenen Stückes, das er als Konse- quenz der immerfort neu scheiternden melodischen Sprachfindung von op. 30a funktionalisiert, genau dort angelangt: Die Figur ist als nur noch vorsprachliche, mimetische Spur nicht mehr mit der Artikulation eines tragfähigen Melos ver- bunden, sondern plötzlich als losgelöster Ornatus einer nicht mehr vorhandenen Bezugsgrösse erfahrbar.199 Ein halbes Jahr nach Vollendung von op. 30b kommt Kurtág darauf zurück in seiner grossen Komposition für Sándor Veress, in der die Mikrotonalität des Ul- tra-sospirandos sich in der Vierteltonskordatur zweier Klaviere manifestiert: Im da capo eines Melos-Skeletts sucht Kurtág in Életút (Veress Sándor 85-ik szüle- tésnapjára, tanitványi szeretettel) (Lebenslauf [zum 85. Geburtstag von Sándor Veress, mit der Liebe eines Schülers]) op. 32 für zwei Bassetthörner und zwei Klaviere (1992) reichen Ornatus nachträglich einzufangen. „Der zweite Teil des Werkes wird wiederholt und dabei die gedehnte Melodik der Bas- setthörner in einer Weise mit Ornamentik versehen, die an Volksmusikpraxis erinnert. Es ist, als ob Kurtág die Überlegungen von Veress zur Volkslied-Ornamentik in die Unmittelbarkeit einer Komposition umgesetzt hat.“200 198 in: Sándor Veress – Aufsätze, Vorträge, Briefe, hrsg. von Andreas Traub, Hofheim: Wolke 1998, S. 103ff. 199 Veress selbst hat diese Problematik im letzten Satz Tempi da venire … seines Orbis to- norum kompositorisch umgesetzt: In der Episode von Takt 47–62 wird eine versprengte Ver- zierung aus Takt 13 kontrapunktisch gross ausgebreitet. 200 Andreas Traub, Életút op. 32, in: Programmheft zu Kammerkonzert 7 (19. Mai 1996) der Staatsoper Stuttgart, unpaginiert [S. 16]; vgl. auch Zoltán Farkas, The Path of a Hölderlin Topos: Wandering Ideas in Kurtág’s Compositions, in: StMl 43 (2002), S. 289ff.; Thomas Ger- lich und Michael Kunkel, „Tempi passati“ or „Tempi da venire …?“: Seeking Melody in the Mu- sic of Sándor Veress and György Kurtág, ebd., S. 421ff.114 2.3.3. Musik im Raum Die Monodie von op. 30a wird in der neuen Fassung auf im Raum verteilte In- strumentengruppen ausgebreitet. Es ist das vorläufig letzte Werk einer Werk- gruppe, in der Kurtág den realen Raum in die Musik mit einbezieht. Vorher entstanden, angeregt durch den 1988 abgeschlossenen Neubau des Kammermu- siksaals der Philharmonie in Berlin, die Werke … quasi una fantasia … op. 27, Nr. 1 (1987–88), Grabstein für Stephan op. 15c (1978–79, rev. 1989) und das Doppelkonzert für Klavier und Violoncello op. 27, Nr. 2. Die (Wieder-) Endek- kung des Raumes ermöglichte eine Annäherung an grössere Proportionen, aus- gedehntere Formen und die Verwendung stärkerer Klangkörper, die Kurtág vorher nicht einfach zugänglich waren. Mit den 24 Antiphonae für Orchester op. 10 (1970–71) oder dem Klavierkonzert Confessio op. 21 (1980–86)201 hat Kurtág zwar Werkprojekte für grössere Ensembles in Angriff genommen, liess sie aber unvollendet. Die räumliche Lösung verdankt sich wieder der Anregung eines Dirigenten. „Er [Zoltán Peskó] meinte einmal, wenn man schon ans Orchester denkt und an die Einheit eines orchestralen Werks, dann müssten sich die Proportionen auch ohne Angst vor Wiederholungen verdoppeln, zumindest erheblich vergrössern. Und diese Überzeugung eines kundigen Praktikers, dass es erlaubt, ja für das Gesamtgebilde unerlässlich sei, mit Wiederholungen zu operieren, hat bei mir nachgewirkt. Ansätze einer vorhandenen Repetitions-Neigung hatte es ja schon früher gegeben, aber immer nur am Ende eines Stückes, wenn die Musik abklingt und sich entfernt. Jetzt wurde mir klar, dass sich dieses Mittel auch innerhalb der Form einsetzen lässt, wenn es durch die Projektion in den Raum motiviert wird. Ich war angeregt worden, durch die Vorstellung von Klängen im Raum auch grössere Instrumentalapparate in meine musi- kalischen Konzeptionen einzubeziehen, was ich mich seit immerhin 1954 [Bratschen- konzert] nicht mehr getraut hatte. Nun fand ich dank der räumlichen Verteilung unter- schiedlicher Instrumentalgruppen im selben Moment zu einem ganz anderen Denken und Empfinden für die entsprechenden, ein neues Mass gebenden Dimensionen der musikalischen Form.“202 Diese neue, letztlich auf der Frage nach einer adäquaten Relation von musikali- schem Material, Klangkörper und formaler Ausdehnung beruhende Dimension erschliesst Kurtág immer in Hinblick auf eigene alte Kompositionen. Die Me- thode einer räumlichen, repetitiv echoreichen Expansion schon fertiger Mate- rialien lässt sich neben der oben betrachteten Bearbeitung von Utolsó utáni … zum Epilog von op. 30b vor allem in der Werkgruppe op. 27 beobachten: Die Finali beider Konzerte verwenden fertige Stücke; ist der vierte Satz von … quasi una fantasia … eine Neufassung des fünften Mikroludiums aus dem zweiten 201 Vgl. Friedemann Sallis, György Kurtág: „Confessio“, op. 21 (1980–86), in: Settling New Scores. Music Manuscripts from the Paul Sacher Foundation, hrsg. von Felix Meyer, Mainz etc.: Schott 1998, S. 193ff. 202 György Kurtág zitiert nach Ulrich Dibelius (Hrsg.), Ligeti und Kurtág in Salzburg, S. 77.115 Streichquartett Hommage à Mihály András op. 13, kombiniert Kurtág im Schlusssatz des Doppelkonzerts Materialien aus dem Choral seines Preludium és korál (1962/79/81) aus dem fünften Band der Játékok für Klavier mit dem vier- ten Gesang Lebewohl von Rekviem po drugu op. 26 (1986–87); der Anfang des Doppelkonzerts geht aus vom monotonen Regentropfenpochen des Liedes Il pleut sur la ville (1981/91), das in eintöniger stockender Deklamation fortge- setzt wird. Kurtágs generelle Neigung zur Ausbildung netzartiger werkübergrei- fender Beziehungen konkretisiert sich nun in einer räumlich motivierten Bear- beitungspraxis. Wesentliches Moment all jener räumlichen Bearbeitungen ist eine Vorstellung von Fantasie, die durch Titel und Opuszahl von op. 27, Nr. 1 mit Beethoven verbunden ist. … quasi una fantasia … war ursprünglich als freie Variationsfolge über die Mikroludien op. 13 geplant.203 Fertige kleine Formen werden mittels freien „räumlichen“ Assoziierens und Kommentierens Gegenstände neuer, auch formal grösseren Raum greifender musikalischer Fantasie. Für Kurtág ist der musikalische Raum auch eine Art „Schreibhilfe“, um grössere Dimensionen aus- gehend von einem gegebenen materialen Minimum komponierend zu erfassen. So konnte das fertige Modell zu Grabstein für Stephan op. 15c eine für Kurtág gültige Gestalt annehmen, erst nachdem er die Grundschicht des unveröffent- lichten Gitarrenstücks … lassan szállj és hosszan énekelj, haldokló hattyúm, szép emlékezet! … im Raum ausbreitete und mittels Interpolationen ein antitheti- sches Gestaltungsprinzip einführte. Die stationäre Ausarbeitung derselben Mu- sik hatte in der Zwischenfassung von op. 15a noch zu keinem für den Komponi- sten akzeptablen Ergebnis geführt. Kurtág macht sich diese Funktion des Raumes auch ausserhalb seiner Kompo- nierarbeit nützlich. Sich verbaler Mitteilungen öffentlich stets so gut es geht ent- haltend, konnte er sich der Verpflichtung als Laudator zur Verleihung des Sie- mens-Preises an György Ligeti am 17. Juni 1993 offenbar schwer entziehen. Aber: „Wie erzählt man – wenn man die Worte nicht meistert?“ Diese Einleitungsfrage ist nicht allein der üblichen festrednerischen Zuflucht ins „Unbeschreibliche“ geschuldet. Denn Kurtág möchte sie tatsächlich beantwor- ten. Der Laudatiobeginn lässt Raumteilung als Mittel der epideiktischen Recher- che und dispositio erkennen. Zuerst verwendet der vom Podium aus hin und her eilende Kurtág fünf Raumpositionen zur Verdeutlichung zeitlich abstehender Szenen, indem er das kompositionstechnisch erprobte Verfahren auf die Redesi- tuation überträgt – was nach einiger Zeit, nachdem die Rede in Schwung ge- bracht ist, von einer Folge räumlich nicht weiter differenziert vorgetragener Ein- zelerinnerungen abgelöst wird. „Wie erzählt man – wenn man die Worte nicht meistert? Wie kann ich Szenen aus unse- rer gemeinsamen Zeit mit Ligeti heraufbeschwören, ohne über die minimale Technik 203 Siehe ebd., S. 92.116 zu verfügen, die Erzähltes mit Vor- und Nachgeschichte verbinden kann? Wenn ich meine Erinnerungen wie Musik komponieren könnte, müsste ich simultan erzählen – den Hauptfaden – wie auf einem Podium – im Zentrum – mir vorstellen – die Vor- gänge – zum Beispiel: Was Ligeti früher erlebte und ich nur von seiner oder anderer Erzählung kenne – sagen wir – oben – in einer der hinteren Ecken – die Ergebnisse des zentralen Geschehens auch irgendwo abseits oder oben vorne; und eine Folge von nur aufleuchtenden Begebenheiten vieler Jahre – sozusagen – um uns herum.“204 Die Erfahrung der gruppenmässigen Aufteilung eines Klangkörpers war für Kur- tág um 1990, zur Entstehungszeit der opera 27, 15c und 30a, keineswegs neu. In den drei bislang wenig beachteten grösseren Chorwerken – Ommagio a Luigi Nono op. 16 (1979), Nyolc kórus Tandori Dezső verseire op. 23 (1981–82; rev. 1984) und Pesni unïniya i pechali op. 18 (1980–94) – sind Doppelchörigkeit und die Differenzierung von chorischen Gruppen und Soli (auch wenn die Ein- heit des Bühnenraums gewahrt bleibt) selbstverständliche Gestaltungsmittel. Sie mussten nicht zur gültigen Formulierung alter Materialien erst gefunden wer- den, sondern sind traditionelle Merkmale von Chorkomposition. Neben den cori spezzati der venezianischen Tradition spielt besonders in den „russischen“ Chorwerken opp. 16 und 18 pravoslawische Singpraxis eine wichtige Rolle: „Er [Kurtág] greift das Genre des pravoslawischen ‚Partesgesanges‘ wieder auf und bezieht die Tradition der daraus entwickelten ‚geistlichen Konzerte‘ ein, die sich einer- seits auf den kontrastierenden Wechsel mehrerer Chöre, andererseits auf das Ausschei- den von Solostimmen aus dem Chor und deren Wiederkehr in ihn aufbauen.“205 Nicht zuletzt die traditionell orientierte Gruppenteilung verhalf Kurtág zur Arti- kulation grösserer formaler Zusammenhänge im mit einer Gesamtdauer von ca. 25 Minuten umfangreichsten Chorzyklus op. 18, der von Beginn an mehrchörig angelegt war.206 Nachdem dieses Werk wenigstens sieben Jahre unvollendet lie- gengeblieben war, erfolgte seine Vollendung bald nach den instrumentalen Raumversuchen in den Berliner Jahren 1993–94. Eine gegenseitige Beeinflus- sung der chorischen und instrumentalen Raumkonzepte ist für jene Schaffens- phase anzunehmen, in der Kurtág seine musikalische Produktion bis hin zu den Chorliedern op. 18 und seinem ersten Orchesterwerk ΣΤΗΛΗ op. 33 (1994) quantitativ steigern konnte. Kurtágs erste Erfahrungen mit einer „Musik im Raum“ sind noch wesentlich äl- teren Datums. Seine Begegnung mit Karlheinz Stockhausens Gruppen für drei Orchester (1955–57) – zusammen mit Ligetis elektronischer Komposition Arti- kulation (1958) – während seines zweitägigen Kölnbesuchs Anfang Juli 1958 gleicht einer Initiation. 204 György Kurtág, Laudatio für György Ligeti, S. 362. 205 István Balázs, Im Gefängnis des Privatlebens, S. 282. 206 Das belegen die Skizzen in der SGyK.117 „Am Ende meiner Pariser Zeit hat mich Ligeti nach Köln eingeladen. […] Ich lernte seine Articulations [sic!] kennen, die damals noch sehr frisch waren. Und ich traf Gott- fried Michael Koenig und Karlheinz Stockhausen. Stockhausen hörte damals Tag und Nacht mit Cornelius Cardew die Gruppen für Orchester [sic!], die ebenfalls kurz zuvor aufgeführt worden waren. Er hat mir die Partitur in die Hand gelegt, doch nach einer Seite wusste ich nicht mehr, wo wir waren. Ich habe es aufgegeben. Aber die Erinne- rung an die Gruppen und an Articulations haben meinen Neuanfang geprägt.“207 Weit abseits der Diskussion um die serielle Programmatik des Werkes, die Einlö- sung eines theoretisch formulierten integralen Zeitkonzepts in ihm gewann Kur- tág vor allem „einen starken gestischen [Hervorhebung von MK] Eindruck von Stockhausens Gruppen für 3 Orchester […]. Da gibt es solche antiphonischen Aktionen im Blech und in prononcierter räumlicher Links-Rechts-Artikula- tion.“208 Das dramatische Potential der Gruppen-Raumdialoge suchte Kurtág wenige Jahre später in einer Bühnenmusik zu William Shakespeares The Tempest selbst zu nutzen. Bezeichnenderweise entzündet sich die Sympathie für den mu- sikalischen Raum an einem dramatischen Text: „Damals [1961] war mir die Insel Prosperos in der Beschreibung Calibans, ‚The isle is full of noises, sounds, and sweet airs‘, der Anlass für eine räumliche Konzeption gewe- sen, so dass Musik, vorher aufgenommen, von überallher klingen sollte. Die Komposi- tion selbst war dagegen fast tonal gewesen und bedeutete für mich damals einen Rück- schritt. Jedoch jetzt [1988] in Berlin reagierte ich in sehr ähnlicher Weise auf den Neu- bau des Philharmonie-Kammermusiksaales.“209 Wie weit die Nachwirkungen der Erfahrung mit Stockhausens Orchesterwerk reichen, zeigt ein Vergleich der Aufstellungspläne von Gruppen und op. 30b. 33 Jahre nach seinem Besuch in Köln ähnelt Kurtágs Verteilung der Instrumenten- gruppen auf der Galerie dem Aufstellungsprinzip von Stockhausens Gruppen auffällig: In beiden ist das verfügbare Instrumentarium nach Gattung und Lage gleichmässig auf drei räumlich abstehende, das Publikum symmetrisch in Hufei- senform umgebende Parteien verteilt. Stockhausens grossem, sich aus insgesamt 109 Spielern rekrutierendem Apparat steht bei Kurtág eine Kammerbesetzung aus einfachem Holz und Solostreichern, doppeltem Blech, Schlagzeug, Saitenin- strumenten und Celesta von 34 Ausführenden gegenüber; 22 Spieler sind auf drei210 links (sieben Spieler), hinten (sieben Spieler) und rechts (acht Spieler) auf der Galerie postierten Ensembles (aus Holz- und Blechbläsern, Schlagzeug und Streichern) verteilt. Diese vergleichsweise überschaubare Disposition lässt sich 207 György Kurtág zitiert nach Friedrich Spangemacher, Mit möglichst wenig Tönen mög- lichst viel sagen, S. 23. 208 György Kurtág zitiert nach Ulrich Dibelius (Hrsg.), Ligeti und Kurtág in Salzburg, S. 94. 209 Ebd., S. 92. Vgl. auch die Mappe „Vihar-zene“ [Sturm-Musik] in der SGyK. 210 Der skizzierte Aufstellungsplan in Quelle F1v gibt auch den einmaligen Versuch der Ver- teilung von vier Galerieensembles wieder.118 von nur einem, dem Saal zugewandten Dirigenten kontrollieren, der sich zusam- men mit der Rezitatorin samt Pianinostütze und einem Concertino (aus Solovio- line, Harfe, Cimbalom und Celesta) auf der Hauptbühne befindet. Kurtágs Aufstellungsplan impliziert wesentliche Klangcharakteristika: Das hin- tere Ensemble ist auffällig tief registriert. Schlaginstrumente sind nach ihrer ma- terialen Beschaffenheit geordnet: Links befinden sich ausschliesslich metallene Klanggeber, hinten überwiegend hölzerne und rechts solche mit Fell. Skizzen zur Aufstellung (Quelle F1–4) belegen, dass diese Anordnung von Beginn an vorgese- hen war. Mit diesen drei räumlich abgesetzten Materialklassen gibt Kurtág je- dem Ensemble eine spezifische Farbnuance und „zitiert“ damit eine im Seriellen verbreitete materiale Trias (Holz-Metall-Fell), auf der so bekannte Kompositio- nen wie Stockhausens Kontakte, Pierre Boulez’ Marteau sans maître oder auch Mauricio Kagels Match basieren. Bei Kurtág ist diese Materialnuancierung aller- dings ausserordentlich diskret und keineswegs durchschlagend. Für die Möglichkeit einer „kritischen Rezeption“ der Gruppen in op. 30b spricht die Tatsache, dass es sich um die einzige Komposition der „Raumfamilie“ handelt, deren Partitur Kurtág mit einem detaillierten Plan zur Aufstellung der Ausführenden versieht – auf die genaue Einhaltung einer spezifischen Sitzord- nung also offenbar besonders grossen Wert legt und eine Wahrnehmung der Re- ferenz dadurch ermöglicht. Trotzdem erweist sich Kurtág nicht als eifriger Stockhausen-Adept. Stockhausens Gruppen-Konzept spielt in der für das Raum- ensemble von op. 30b komponierten Musik keine Rolle. Stockhausens räumliche Gruppenordnung resultiert aus dem Problem der klang- lichen Differenzierung eines musikalischen Komplexes, der sich aus einer Viel- zahl zeitlicher Ebenen zusammensetzt. Die Praxis der frühen fünfziger Jahre hat- te gezeigt, dass eine ordnende Wahrnehmung permanenter Überlagerungen von diversen strukturellen Niveaus an ungeteiltem Aufführungsort nicht leicht mög- lich ist. Nach der Verwendung von Lautsprechergruppen für Gesang der Jünglin- ge entstand das instrumentale gruppenmässige Konzept: „Eine räumliche Trennung der Orchester ergäbe sich von selbst aus der Notwendig- keit, verschiedene Zeitschichten erlebbar zu machen.“211 Entscheidend dabei ist die zeitmässige Definition musikalischen Raumes. Er muss mit dem prädispositionellen Axiom eines seriellen Integrals korrespondie- ren und den übrigen Bestimmungen musikalischer Zeit als prinzipiell gleichwer- tig zuordenbar sein. Ziel dieser Bemühungen war somit die Emanzipation des Tonorts als zeitlich bestimmter Eigenwert.212 Dass Kurtág den musikalischen Raum in op. 30b ganz anders nutzt, liegt weniger in einer prinzipiellen Absage 211 Karlheinz Stockhausen,… wie die Zeit vergeht …, in: ders., Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1: Aufsätze 1952–1962 zur Theorie des Komponierens, hrsg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont 1963, S. 119. 212 Vgl. Karlheinz Stockhausen, Musik im Raum, ebd., S. 152ff.119 an parametrische Integralität, auch nicht primär im dramatisch-gestisch empfun- denen Hörerlebnis der oft als tönendes Manifest missverstandenen Gruppen be- gründet.213 Der Unterschied besteht vielmehr darin, dass Kurtág eine einzige, durch die Monodie von op. 30a gegebene einheitliche Zeitschicht auf eine Viel- zahl von Orten projiziert. Das Werkzeug, das Stockhausen entwickelt hatte, um vielfache, in unterschiedlichen Tempi notierte Überlagerungen erfahrbar – und aufführbar – zu machen, wird von Kurtág verwendet, um die Dilatation eines musikalischen Objekts zu ermöglichen. Nicht zufällig zeigt sich Kurtág beein- druckt von „antiphonischen Aktionen im Blech [vgl. Gruppen, Z. 115ff.]“ und „prononcierter räumlicher Rechts-Links-Artikulation [Gruppen, Z. 119]“, die als nur eine Zeitschicht verräumlichende Episoden in der Raumbehandlung der Gruppen seltene Ausnahmen bilden. So ist in Kurtágs räumlich verstreuten Ensembles nichts zu hören, was nicht un- mittelbar aus der Rezitation abzuleiten wäre. Auch die Möglichkeit einer zeitlich verschobenen Darstellung der sich deklamatorisch in viele Stimmen aufspalten- den Rezitation zieht Kurtág, im Unterschied zu den freieren Bearbeitungsweisen seiner übrigen Raummusiken, nicht in Betracht. Das räumliche Fantasieren ist immer eng an das jeweilig stattfindende, durch Monyóks Primärvortrag gegebe- ne Klangereignis angebunden. Aus der Kurtágschen Einheit der musikalischen Zeit erklärt sich möglicherweise die konventionelle Notation des Stücks, die das Ensemble wie einen grossen Klangkörper behandelt, das von einem Dirigenten ungeteilt koordiniert werden kann. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zeigt sich in Kurtágs Verhältnis zur Klang- farbe: Bildet für Stockhausen die instrumentale Gleichverteilung der Gruppen die Voraussetzung zur Komposition mit Klangfarbe als einem Primär-Parameter, hat sich Kurtág in seiner Bearbeitungs- bzw. Instrumentationspraxis vom Primat der Klangfarbe gewissermassen emanzipiert. Darauf hat Roland Moser nach- drücklich hingewiesen: „Kurtág instrumentiert ja am laufenden Band. Und das zeigt eine gewisse Unabhängig- keit vom Aspekt der Klangfarbe. Er findet unglaublich intensive Klangfarben, aber diese Musik steht eben auf einer anderen Basis. […] Es ist keine Musik aus reiner Orchesterfarbe, sondern Musik mit Rückgrat. Diese Musik hat derart viele Schichten, dass sie sich übertragen lässt“.214 Folgt man Mosers Aussage, könnte man op. 30a als das monodische Rückgrat von op. 30b bezeichnen; der Prozess der Übertragung ist motiviert durch den Wunsch nach klangfarblicher Intensivierung der Monodie.215 213 Für die Entstehung der Gruppen ist besonders die wechselseitige Durchdringung der seri- ellen Prädisposition und ihrer freien Ausarbeitung, die vor allem durch nachträglich „dramati- sierende“ Einschübe geprägt ist, massgeblich. Vgl. Imke Misch, Zur Kompositionstechnik Karl- heinz Stockhausens: GRUPPEN für 3 Orchester (1955–57), Saarbrücken: Pfau 1999. 214 Roland Moser im Gespräch mit dem Autor, Basel, 3. Februar 2003.120 Innerhalb von Kurtágs Raummusiken ist op. 30b ein Sonderfall. Der entschei- dende Unterschied zu Kurtágs früheren konzertanten Raummusiken aus opp. 27 und 15 liegt darin, dass er die Vorlage von op. 30a in die neue Fassung fast völlig unverändert übernimmt. Im Gegensatz zur starken Wandelbarkeit älterer Mate- rialien in … quasi una fantasia … und im Doppelkonzert ist die Gestalt der Mo- nodie in op. 30b nicht antastbar – nur die Dehnung einiger Pausen schafft manchmal Raum für lokale Echoprojektionen, die in die monodische Substanz aber keineswegs eingreifen. In einem undatierten Partiturentwurf (Quelle E2) hat Kurtág die durch op. 30a gegebene Grundschicht sogar auf einen schmalen Papierstreifen notiert, der am unteren Rand der auszuarbeitenden Partiturseite angeklebt ist. Eine zeitmässige Expansion der Vorlage durch Verwandlung, dem eigentlichen Agens zur Verwendung früherer raummässiger Dispositionen bei Kurtág, war für op. 30b offenbar nicht vorgesehen. Und das war in Hinblick auf die Dauer von op. 30a auch nicht nötig. Kurtág verwendet die instrumentale Raumverteilung nicht, um die quantitative Dimension des ohnedies umfängli- chen Stücks zu erweitern, sondern um jeweils eine in der Monodie vorherr- schende Affektlage zu intensivieren, indem er ihr eine gleichsam räumliche Aus- dehnung in klangfarblicher Konkretion gibt. Die Grundidee einer räumlichen Verdeutlichung der deklamatorisch festgeschriebenen affektiven Zustände kann an wenigen Beispielen sehr einfach erläutert werden. In Kurtágs neuer instrumentaler Lektüre des eigenen Textes konkretisiert sich die stockende Deklamation des Beginns, indem die rezitierten syllabischen Seg- mente in Takt a-h auf räumlicher Ebene weiter subsegmentiert werden, während Instrument und Instrumentengattung dabei von Silbe zu Silbe wechseln; die Ein- zeleinsätze werden zusätzlich durch Tremoli, Flatterzunge und Triller zu einer Art Mikro-Stammeln zerstäubt. Umgekehrt erfährt der Ausdruck gebundener Deklamation seine Intensivierung in der instrumentalen Überdehnung syllabi- scher Dauern, die dadurch, wie in Takt i, auch räumlich übergebunden werden. Diese beiden Arten der Instrumentierung, die in den Eintragungen auf der Rein- schrift (Quelle A1) wie auch in der verworfenen Sinfonia I bereits vorgesehen sind, stellen die Grundtypen der instrumentalen Projektion der Monodie dar.216 Ihre Ausführungen sind durch die Verwendung von besonderen Spieltechniken oder Klangerweiterungen nach Art der Klavierstützenharmonik sowie akzidenti- ellen Echos affektmässig weiter präzisiert. Sie liessen sich mittels eines Systems 215 Martin Zenck spricht von „the poly-perspective colouring of a ringing linguistic sound in all voices and instruments“. (Martin Zenck, Beckett after Kurtág: Towards a Theory of Theatri- cality of a Non-theatrical Music, S. 418). 216 Die in der SGyK zugänglichen Manuskripte dokumentieren offenbar nur das Anfangs- und Endstadium der Instrumentation – auf dem Weg zu den Quellen E und G, die der endgül- tigen Ausarbeitung schon sehr ähneln, waren womöglich noch weitere Arbeitsschritte nötig, die nicht öffentlich dokumentiert sind.121 beschreiben, das von den anfänglich exponierten komplementären Artikula- tionsformen von Trennung und Bindung ausgeht. Extreme Ausformungen des diskontinuierlichen Instrumentationstypus erschei- nen, wenn aggressive Affektfelder wie in Takt k oder dd-ee in einem instrumen- talen Hoquetus zerschnitten werden. Das andere Prinzip ist besonders ausge- prägt bei der Überbindung des zentralen arioso, omaggio a Bartók Takt nnn-ooo in ein umfängliches, sechsfach untergliedertes Schattenlabyrinth (Kontrabass: „ombra dell’ombra“), das in der árnyjáték-Artikulation der Klavierstütze ange- legt ist. Die Ausarbeitungen vokaler deklamatorischer Einheiten können lose in den Raum gestreut werden, ohne dass sich eine strukturierte Bewegung der Klänge im Raum, eine „Raum-Melodie“217, ausmachen liesse. Aber auch regelmässige Raumbewegungen kommen vor, zum Beispiel in der Projektion der rezitierten Nebenbemerkung „ez ez itt –“ aus Takt 18 von op. 30a. Diese vokale Figur löst in Takt s/t von op. 30b ein Ostinato aus, das den Ausbruch von Takt t grundiert (die zeitliche Überlagerung benachbarter Materialien der Vorlage an dieser Stel- le ist singulär), indem es im positiven Sinn auf einer kreisförmigen Bahn durch den Raum gereicht werden sollte. Kurtág hat diese, das Ostinatofeld eröffnende Rotation auf Seite 6 des Partiturentwurfs (Quelle G) genau ausgearbeitet – der Entwurf der vierten Zählzeit von Takt s ist von folgendem Kommentar begleitet: „[…] und dann Ostinato-Figur – Sänger + 3 Gruppen 1. Gruppe: Vla, Fl, Cor I, Tr 1 [hinten] 2. Gruppe: Fl in sol, Fag, Ob, Cl basso [links] 3. Gruppe: Vc, Fl basso, Clar in Mi b, Tr 2 [rechts] sehr schnell (Tempo der Sänger) immer synchron in sich – innere Pausen der Gruppe sind möglich bis am [sic!] Ende des Taktes t unbekümmert von die [sic!] Anderen, die Figur wiederholen ständig pppp!!!“ Diese planvoll rotierende Projektion, die mit stationären „aleatorischen“ Osti- natofeldern früherer Werke vergleichbar ist218, ist eine räumliche Illustrierung der rätselhaften Ortsbestimmung „ez ez itt [–]“ [„this this here –“] – die Ostina- tofigur beschreibt eine gleichsam suchende Bahn. Die intendierte Kreisbewe- gung kommt indessen nur nach dem in Quelle F4 mitgeteilten, von Kurtág dort als „endgültig“ („ez az utolsó“) bezeichneten Aufstellungsplan, nicht aber nach jenem in der publizierten Partitur von op. 30b enthaltenen zustande, weil die Positionen von Viola, Altflöte, Fagott und Bassflöte nochmals verändert worden 217 Karlheinz Stockhausen, Musik im Raum, S. 170. 218 Vgl. z.B. den fünften Satz des Bläserquintetts op. 2 (1959), den Schluss des fünften Lie- des aus Ommagio a Luigi Nono op. 16, Takt 21 des zweiten Lieds aus dem zweiten Teil der Botschaften der verstorbenen R. W. Trussowa op. 17 (1976–80).122 sind, ohne dass die ursprünglich entworfenen Raumgruppen der Veränderung angepasst worden wären. Ob dies als bewusste nachträgliche Störung der regel- mässigen Rotation oder als ein Versehen zu bewerten ist, muss offen bleiben. Ein anderes, auch in die publizierte Version aufgenommenes Rotationsverfahren verbindet sich mit den mittels Stricknadelstreichen zu reizenden drei Piatti sospesi, die als fragilster instrumentaler Klangwert bereits zu Beginn der Kom- position mit dem Abgleiten der Rezitatorin ins Sprechregister assoziiert werden konnten. Kurtág bezeichnet sie, zusammen mit Gong, Maracas, Ratsche, Pauke, Tuba und Kontrabass, am Ende des Partiturentwurfs als „holy instruments“. Die- se Klangwerkzeuge stellen eine Art Grundgerüst der im Raum verteilten Ensem- bles dar. „holy instruments“ (SGyK) Piatto sospeso 3 Ratsche Kontrabass/Tuba Piatto sospeso 2 Pauke Piatto sospeso 1 Gong Maracas Scène: Rezitation/Pianino Dirigent [„Concertino“] Innerhalb dieses Gerüsts kommt den „mit allerdün[n]ster Stricknadel am Rand“ zu traktierenden Becken als absolutes Artikulationsminimum nochmals eine be- sondere Aufgabe zu, da sie als einzige Instrumente in allen Galerieensembles vertreten sind und daher einen räumlich neutralen Klangwert, der von allen drei Seiten vernehmbar sein kann, repräsentieren: „Three pins. One pinhole.“219 Im engeren Sinne bezeichnen die diskret und vollkommen regelmässig kreisenden Stricknadelanschläge vor allem Phasen eingefrorenen Affekts, der besonders in der Ausarbeitung der statischen Zonen dominiert. Sie fassen zum Beispiel die Episode von Takt ff/gg in einer räumlichen Symmetrie ein, die den palindromi- schen Grauzonen des Tonsatzes entspricht. Auch die „sehr gleichmässige“ Tex- tur von Takt ll teilt sich in Instrumentalimpulsen mit, die um das zentrale cho- risch geflüsterte „where“ gruppiert sind – wo Becken zunächst ausgespart bleiben; diese erscheinen einen Takt später als instrumentale Klangäquivalente zur minimalen deklamatorischen Aktivität der in op. 30a ungestützten, zögernd 219 Worstward Ho, S. 60.123 geflüsterten Äusserung „mi is a szó –“ (die hier in einem ossia allerdings nach- träglich auf bestimmte Tonorte bezogen werden darf). Leiseste Beckenrotationen (Takt a-d220, g, o, x, ff/gg, aaa221, ggg) sind wie die Tonpalindrome, wie das halblaute Mitzählen des Pianisten222 (Takt ll, aaa und mmm) und das perkussive Skandieren der Verse in einem Bereich schlechter Re- gelmässigkeit verortet, in dem bewegliche musikalische Zeit auf ihre rationale Basis, auf eine starre Impulsfolge degeneriert. Solche Klangumrundungen stellen in op. 30b insgesamt eine räumlich gewendete, abbildhafte Korrespondenz zur textuellen Kreisbewegung, den Zyklen von Becketts What is the Word dar. Kur- tág selbst beschreibt den Text als „ein fragendes Umkreisen. In immer wieder er- neutem Anheben und in ständigen Wiederholungen verstrickt er sich in die Wahnhaftigkeit, das Ungenügen an der Begrifflichkeit jeder Sprache.“223 In Fin de partie eröffnet Hamm, nachdem der erste Versuch einer Unterhaltung mit Clov gescheitert ist, ein zyklisches Intermezzo: „Fais-moi un petit tour. Clov se met derrière le fauteuil er le fait avancer. Pas trop vite! Clov fait avancer le fauteuil. Fais-moi faire le tour du monde! Clov fait avancer le fau- teuil. Rase les murs. Puis ramène-moi au centre. Clov fait avancer le fauteuil. J’étais bien au centre, n’est-ce pas?“224 Am Ende der Ausarbeitung der Monodie (Takt www-zzz) ist räumliche Beweg- lichkeit nur noch auf die Becken beschränkt. Im übrigen wird die finale Tiefrezi- tation von stationären Klängen in Kontrabasslage getragen – die „holy instru- ments“ Tuba und Kontrabass befinden sich hinter der zentral postierten Pauke nicht nur am „Fluchtpunkt“ des Saals, sondern markieren zudem den Ziel- bzw. Tiefpunkt der Komposition. Der Einsatz der Becken-Stricknadelschläge ist nicht bloss funktional motiviert. Dieses Artikulationselement, mit dem auch die räumliche Ausbreitung der Solo- instrumente im Doppelkonzert anhebt, birgt Implikationen. Es ist ein leiser Nachklang des musikalischen Folterwerkzeugs aus dem vierten Lied „Tonkaja ig- la“ (Die dünne Nadel des Leidens) des dritten Teiles des Trussowa-Zyklus op. 17 („Glissando auf der Rückseite des Gongs, mit einer Plastiknadel“). Die weibliche „Heldin“ von Mi is a szó hat die episodischen Qualen der Dalos-Zyklen in per- manenter Infragestellung ihrer deklamatorischen Identität inzwischen weit hin- ter sich gelassen. Zur Protagonistin von op. 30 gealtert, tritt Mme Trussowa noch einmal auf. Zudem ist diese Spielart wieder in Bartóks Violinkonzert vorge- 220 Schreibfehler in Takt a der Partitur: Der zweite Beckenstreich muss auf Piatto sospeso 1, und nicht, wie angegeben, auf Piatto sospeso 3 erfolgen. 221 Hier ist das ganze Ensemble einer räumlichen Symmetriebildung unterworfen. 222 Dies ist schon in der Schrittzählung des Footfalls-Fragments vorgebildet. 223 György Kurtág zitiert nach Ulrich Dibelius, Ligeti und Kurtág in Salzburg, S. 76. 224 Endspiel – Fin de partie – Endgame, S. 38.124 bildet: Im dritten Satz (Takt 126ff.) ist das Becken „with blade of a penknife on the edge“ ppp anzuschlagen. Ein wichtiges Mittel der instrumentalen Ausarbei- tung der Neufassung kann wie die melodischen Referenzen von op. 30a und die Gebärde des Epilogs nochmals auf die Bartóksche „Hauptquelle“ bezogen wer- den. Deutet das fragile klangfarbliche Detail der Beckenschläge auch auf die Nono- Thematik des Kompositionsanlasses hin? Jürg Stenzl nimmt an, dass Becken- klänge bei Nono als ein Symbol des Utopischen figurieren – wobei idealsatter, grosszügiger Beckeneinsatz in Kurtágs Musik zu Einzelimpulsen aufgelöst wür- de.225 Wie dem auch sei: Nono ist für Kurtág von Wichtigkeit. Der Titel des Chorwerks Ommagio a Luigi Nono op. 16 ist zu Kurtágs substanzielleren Zueig- nungen zu zählen. Die Verbundenheit äussert sich nicht in blosser Imitation ei- nes Tonfalls. Gerne verknüpft Kurtág seine hommages, wie im II. Teil der Kafka- Fragmente, mit einer „message“. Hat Kurtág in seiner Chorkomposition op. 16 Nonos Idealismus aus der Lebenserfahrung eines mit den Realien des Sozialis- mus unmittelbar Konfrontierten relativiert? „Durch den kollektiven Klang schimmert schmerzlich die Einsamkeit des Men- schen.“226 Es wäre verkürzt, Kurtágs raummusikalisches op. 30b einzig in Beziehung zum räumlichen Verteilungsprinzip von Stockhausens Gruppen betrachten zu wollen. Denn es steht auch Nonos Konzept einer Musik im Raum unmittelbar nahe. Zu- nächst durch die äussere Disposition: Die hufeisenförmige Sitzordnung auf den Galerien ist durch eine Hauptbühne ergänzt, so dass das Publikum wie bei No- nos No hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkowskij, der Referenzkom- position für den Auftrag, vom Klanggeschehen und seiner Abwesenheit vollstän- dig eingeschlossen ist. Zudem erfasst Nono den Raum nicht in Schichtung von Zeitabläufen, sondern geht – wie Kurtág – von einem einheitlich strukturierten musikalischen Material aus, dessen Einheit verräumlicht wird. Zum anderen bildet Nonos Ausgangspunkt der Erforschung des realen Klang- raumes kein instrumentales Ensemble und auch kein elektronisches Organon, sondern, ähnlich wie bei Kurtág, der Chor. Die ins Räumliche strebende Text- verzweigung des Schlussstücks des Canto sospeso (1956)227 liefert die Basis für die räumlich voneinander abstehenden Instrumentengruppen im Diario polacco ’58 (1960).228 225 Vgl. Jürg Stenzl, Luigi Nono und Cesare Pavese, in: Luigi Nono, Texte, Studien zu seiner Musik, hrsg. von Jürg Stenzl, Zürich: Atlantis 1975, S. 426ff. 226 István Balázs, Im Gefängnis des Privatlebens, S. 282. 227 Vgl. Klaus Kropfinger, Kontrast und Klang zu Raum, in: ders., Über Musik im Bilde, hrsg. von Bodo Bischoff, Andreas Eichhorn, Thomas Gerlich und Ulrich Siebert, Köln-Rheinkassel: Dohr 1995, Bd. II, S. 607.125 „Im II. und IX. Teil (a capella-Chor) des Il canto sospeso habe ich eine solche Entwick- lung begonnen und sie in La terra e la compagna wie auch in den Cori di Didone – immer durch den Chor – fortgesetzt und sie jetzt auch instrumental im Diario polacco eingeführt.“229 Noch in No hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkowskij sind die sieben Orchestergruppen ausdrücklich als „cori“ bezeichnet. Auch das Instrumentalen- semble von Kurtágs op. 30b ist im Weitersingen der Rezitation von primärer Vo- kalität. Besonders im Spätwerk Nonos zeigt sich, dass seine Verwendung realen Raumes die physische Ausfaltung eines in seiner Musik gegebenen ideellen Raumes dar- stellt. Die Einbeziehung des Konzertsaalvolumens ist nur ein Aspekt der Reali- sierung eines musikalischen Prismas, das auch eine historische Perspektivierung der Klänge einbezieht. Räumlich begründete Klangdeformation korrespondiert mit einer Konzentration auf kleinstintervallische Vorgänge. Die räumliche Or- tung kleinster Tonhöhenschwankungen avanciert, nach der Reduktion des dia- stematischen Geschehens auf wenige Tonzentren – No hay caminos … basiert nur noch auf der einzelnen Tonhöhe g – und der extremen Dehnung von Tondauern, zum eigentlichen Ereignis der Musik. Klaus Kropfinger verdeutlicht die wechselseitige Durchlässigkeit faktischer wie imaginärer (Zeit-)Räume in seiner Beschreibung des Beginns von Nonos Prometeo. „[Nono] ‚definiert‘ […], die räumliche Disposition der vier Orchester umsetzend, sogleich einen musikalischen Raum: Ein schmaler Chorklang aus Sopran- und Altstim- men erreicht über die Töne f1–c2–d2 den Ton a2, zu dem der im Alt liegende Ton d2 erklingt (Takt 1–2), und fixiert beide Töne in Takt 2 durch eine Fermate. Danach wird der Ton a2 samt darunterliegender Quint d2, verteilt auf die Orchester 1+3 und 4+2, mikrotonal aufgefächert (Takt 3–5). Als nächster Schritt erklingt der Ton a, erneut vierteltönig differenziert, als Flageolettklang (mit dem Ton d) in allen vier Orchestern gleichzeitig: Nono eröffnet hier, ganz im Sinne Mahlers, einen Klangraum, und er erweitert ihn zugleich mikrotonal-vierteltönig. Dies ist indes kein Zitat. Der Kompo- nist überführt den Beginn der 1. Symphonie von Mahler in eine völlig andere klangli- che Dimension, und diese klangliche Neubestimmung erhält die Funktion der Eröff- nung des gesamten Raumes aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; wiederholt doch Nono in Takt 11/12 diesen Klang, in den jetzt das Wort des Chores ‚Egheinato = Generó‘ (‚Gebar …‘) eingebettet ist: Der Raum der Hörtragödie hat sich geöffnet.“230 Ein anderes Textfragment heisst: „Überdauert nicht im Echo die Stimme jener Verstummten?“ 228 Vgl. Erika Schaller, Klang und Zahl. Luigi Nono: Serielles Komponieren zwischen 1955 und 1959, Saarbrücken: Pfau 1997, S. 204ff. 229 Luigi Nono, Diario polacco ’58 (1959), in: Luigi Nono, Texte, Studien zu seiner Musik, S. 125. 230 Klaus Kropfinger, Kontrast und Klang zu Raum, S. 611.126 Dieses Benjamin-Zitat charakterisiert treffend eine äusserst prekäre historische Imprägnierung musikalischen Raumes in Prometeo und stünde mit Kurtágs schöpferischem Geschichtsverständnis durchaus in Einklang. Ein Unterschied besteht wohl in der kompositorischen Bestimmung des eigenen Standorts: So sehr Kurtágs Verwendung historischer Materialien an Nonos „klangliche Neu- bestimmung“ erinnern mag, werden Echos in op. 30b auf symptomatische Weise aus der Vergangenheit überführt in eine musikalische Dimension, die gekenn- zeichnet ist von einer Singweise, die eine dem kunstfertigen Singen vorgängige Gebärde aspektiert. Bei Kurtág ereignet sich keine emphatische „Eröffnung des gesamten Raumes aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ – vielmehr fi- xiert er in raummusikalischen Dilatationen Eigenzeit, indem er die Äusserungen einer schwachen Einzelnen vor dem Hintergrund geschichtlich verbriefter musi- kalischer Topik intensiviert. Die Protagonistin des Stücks ist dabei die Interpre- tin selbst: In den Klangräumen von op. 30b geniesst das Faktische den Vorzug vor dem Imaginären. 2.3.4. Neue Stimmen Analog zur affektiven instrumentalen Expansion der Monodie wird die dekla- matorisch vielgestaltige Partie der Rezitatorin auf einen solistischen Chor aus fünf realen Singstimmen (Sopran, Alt, Tenor, Bariton, Bass) übertragen, der Becketts Text ins Englische rückübersetzt. Auch beim Chor vernachlässigt Kur- tág die Möglichkeit einer zeitlichen oder polyphonen Umformung seiner Vorla- ge, indem er ihn zu einer jeweils homogen strukturierten chorischen Stimme bündelt. Dies kommt schon im frühen Brief an Abbado über die Grundkonzep- tion der Neubearbeitung zum Ausdruck: „Da Beckett in meiner Komposition ungarisch vertont ist, überlege ich auch einen Uni- sono-Chor von 8–10 Sängern die Echo-artig denselben Text im englischen Original wiederholen.“231 Wie beim Orchester sind alle Ereignisse auch der Chorschicht immer unmittel- bar an die lokale Affektvorgabe der Rezitation angebunden. Die englische Re- lektüre der mithin rasch wechselnden deklamatorischen Niveaus von op. 30a er- eignet sich in einer ausgesprochen vielgestaltigen „Chorstimme“, in der die getreue Abbildung der Rezitation nur die Ausnahme darstellt und die Vorstel- lung eines „unisono“ über den herkömmlichen Gebrauch des Begriffs hinaus- führt. Ausser in augenblickhaften exakten Wiederholungen (zum Beispiel Takt l) erscheinen reine Unisono-Echos vor allem nach Takt nn; doch hier ist der Chor nur noch durch einzelne Stimmen vertreten, die die Töne der Klavierstütze ein- fach verdoppeln. Ein „echtes“ Unisono vertritt die in der statischen Zone von 231 Brief an Claudio Abbado, siehe Seite 100.127 Takt mmm verstummte Rezitation im chorischen Abzählvers. Insgesamt liesse sich Kurtágs Idee eines „Unisono-Chors“ vielleicht treffender als „monodischer Chorsatz“ beschreiben. Die englische Tropierung ist weniger auf Verdoppelung als vielmehr auf eine amplifizierende Lesart der Monodie angelegt, in der die zur Rezitation defor- mierte Singstimme ihre Fortsetzung findet. Über weite Strecken der Komposi- tion fungieren die neuen Stimmen als reiner Sprechchor, dessen Text oft ohne weitere notationelle Spezifizierung mitgeteilt wird. Innerhalb des Sprechregi- sters bevorzugt Kurtág in den meisten Fällen ein Flüstern (zum Beispiel Takt b, f, l, cc, ff, ll oder mm), das in Takt 38 von op. 30a das absolute artikulatorische Minimum innerhalb der Monodie bezeichnet hatte. An der korrespondierenden Stelle von op. 30b (Takt mm) entfaltet sich in allen Schichten klangliche Fragili- tät, indem rezitatorisches und chorisches Flüstern durch den „Unisono“-Strick- nadelschlag der Piatti sospesi verbunden sind. Andere Artikulationsformen unterbieten das absolute rezitatorische Minimum von op. 30a, indem sie wie in der Interjektion von Takt jjj auf das Stöhnen „nach dem letzten Gespräch“ des Epilogs vorausweisen oder eine „what“-Repetition in der onomatopoeia animalis eines „Hundebellen[s]“ (Takt gg) oder eines „Fro- schen-Quak[s]“ [sic!] (Takt s) Gestalt annimmt.232 Monyóks Verfassung wird ins Vorsprachliche bzw. Unsprachliche „rückübersetzt“. Der englische Text liefert den phonetischen Rohstoff dazu. Kurtágs „monodischer Chorsatz“ ist, ähnlich den Raumfantasien von opp. 27 und 15c, keinem strengen Tropierungsverfah- ren unterworfen; die Rückübersetzung wird „fantasiert“. Ein übergreifendes Re- gulativ zur Koordinierung der monodischen Deklamationstypen und der Äusse- rungen des Chores ist nicht erkennbar. Zahlreiche versmässige Inkongruenzen zum Original, auch Umstellungen und Veränderungen233 werden von Kurtág ohne weiteres toleriert. „Echo-artige Wiederholung“ (Kurtág) kann vieles bedeuten. Es erscheinen An- sätze diastematischer Permutation, die aber nie zu einem polyphon durchge- formten Tonsatz führen, sondern stets auf die monodisch vorgegebene Affektla- ge reagieren und dann verschwinden. So erfolgt in der chorischen Imitation von Takt j eine aufwärts gerichtete „flüchtig[e]“ Umkehrung des rezitierten Seg- ments, die den Anlass zur folgenden heftigen Reaktion gleichsam nachliefert. Dadurch werden die weit voneinander abstehenden Melossplitter in Fluss ge- bracht, die zersplitterte Bauweise, das konstitutive Formstottern von op. 30a zeitweise gebunden.234 Die chorisch-imitatorische Verarbeitung der primären Stimme führt über freie deklamatorische Ausbreitungen (zum Beispiel in Takt p/r, dort wiederum zum 232 Vgl. auch das Frosch-Trio in Watt, S. 135ff. 233 Vgl. etwa die Mutierung des 45. Verses von What is the Word in Takt fff zu: „folly for to see that“. 234 Vgl. etwa die chorischen Synapsen nach Takt bbb.128 Paroxysmus hinführend) bis hin zur Bildung umfangreicher ostinater Texturen wie in Takt s oder aaa. An letztgenannter Stelle verselbständigt sich die rezitierte Figur zu einer ostinaten Verkettung, die mit dem passus duriusculus der Klavier- stütze absinkt. Hier gewinnt das Echo die Qualität eines chorischen Stotterns, das permanent zwischen Flüster- und Singstimme schwankt. Die früheste datier- te Skizze zu op. 30b (Quelle B) belegt, dass die Ausbildung eines tropischen Ostinatos offenbar zu Kurtágs ersten Interessen gehörte. Abbildung 15: György Kurtág, op. 30b, Skizze, („pl.“ = „például“ [„zum Beispiel“]) (© by Paul Sacher Stiftung, Basel) Es ist bemerkenswert, dass Kurtág die rezitierte Figur in ihrer skizzierten Bear- beitung nicht nur verändert, indem er den monodischen Ganzton eliminiert so- wie ganz an den Beginn des englischen Textes zurückkehrt, sondern das gegebe- ne Material systematisch auf seine Wandlungsfähigkeit überprüft. Dies geschieht durch kleinste Variierungen der re-chromatisierten Zelle, in der späteren Ergän- zung vom 5. März 1991 durch Isolation einzelner Töne und ihre lagenmässige Projektion. Eine solche gezielt auf Mutierung der Vorlage bedachte Lesart ist in der endgültigen Fassung nicht realisiert. Kurtágs auffällig intensive Beschäftigung mit Takt aaa, dessen endgültige Gestalt in einer der wenigen zugänglichen spezifischen Chorskizzen (Quelle B1) sorgfäl- tig ausgearbeitet ist, verbindet sich mit dem Versuch einer neuen Realisierung der Scheinreprise von op. 30a und Becketts Text. Verschiedene Rückgriffe fin- den statt: In der Skizze im Rekurs auf Becketts zweiten Vers in der Originallage des Beginns von op. 30a, die eigentlich erst vier Takte nach dem Ostinatotakt aufgegriffen würde; die durchbrochene Ostinatotextur kann als Variante des er-129 sten Choreinsatzes (Takt b), in der der Titelvers „what is the word –“ „Prestissi- mo, geflüstert“235 von einer Stimme in die nächste reicht, gelten. Wie buchstäb- lich Kurtág um eine chorische Übersetzung des Textes als „ein fragendes Umkreisen“236 bemüht ist, zeigt deutlich eine in den Partiturentwurf notierte, später verworfene Variante: „ad lib. scenisch: einander befragend“.237 Ähnlich Siklós interpretiert Kurtág den Titel noch in der englischen Originalver- sion als „platonische“ Frage, indem er das bei Beckett fehlende Fragezeichen in einer ad libitum szenischen Aktion nachliefert. Hier zeigt sich, dass eine grossformale Orientierung, die über eine direkte An- bindung an die aktuelle Gestalt der lokalen Rezitation hinausführt, in der Rück- übersetzungsschicht stattfinden und dass die Chorstimme „eigene“ Beziehungen ausbilden kann, allerdings nicht, um aus der monodischen Form auszubrechen, sondern um sie zu verdeutlichen. Die chorische Relektüre kennt eine Vielzahl abbildender Ebenen, die am Ende verschwinden und die Rezitation wieder al- lein lassen. Monyók ist dann vom Schweigen des Chors umgeben. Neben der leitenden Idee „Echo-artiger Wiederholung“ fantasiert Kurtág auch simultane Bearbeitungen der Rezitation. So werden die hysterischen Ausbrüche weiter in- tensiviert, indem zur chorischen Verdoppelung der intervallischen Kontur Stör- impulse hinzutreten, die auf der hartnäckigen Repetition des Wortes „folly“, der textuellen Hauptqualität dieser Deklamationsart, beruhen (Takt dd/ee, gg). Eine andere Art der Simultanrückübersetzung der Monodie ähnelt der Satztechnik des Hoquetus, die Kurtág auf die diatonische Linie in Takt w überträgt, im Parti- turentwurf (Quelle G, S. 8) auch ausdrücklich so benennt. Der Beginn des arioso wird auf diese Weise chorisch pedalisiert und in einem bocca chiusa-Klang gleichsam eingefroren (Takt nnn). Im Gegensatz zu solchen Mitteln klanglicher Kontinuation, die mit der instrumentalen räumlichen Überbindung des Gesangs korrespondiert, steht das hoquetische Zerhacken der starren mechanischen „pil- lantani“-Episoden (Takt ww, hhh-jjj). * Insgesamt übt Kurtág eine getreue chorische Relektüre der polyzentrischen Mo- nodie von op. 30a. Er folgt dem Rezitierten in Rückübersetzung linear, ohne es in Kommentaren zu relativieren oder Gegenimpulse zu setzen. Das Verhältnis von Chor und Rezitation ist nicht dialogisch, beide bleiben immer im selben af- fektiven System. Die neuen Stimmen verkörpern keine von aussen reflektieren- 235 Die korrespondierende Anweisung zu Takt aaa lautet: „Der Eindruck dieses Taktes soll trotz des Ostinatos, der, einer absuluten [sic!] Stille sein.“ 236 György Kurtág zitiert nach Ulrich Dibelius (Hrsg.), Ligeti und Kurtág in Salzburg, S. 76. 237 Quelle G, S. 2.130 de Instanz, sondern verstärken vor allem den szenischen Impuls von op. 30a. Chorische Äusserungen gleichen oft auskomponierten Regieanweisungen für die Rezitation: Die Anweisung „Psalmodierend, übertrieben dolce“ (Takt h) führt hin zur vermeintlichen Eloquenz gebundener Deklamation; die Vorschrift „wie ein Urteil“ (Takt p) befestigt die renitente Wiederkehr stockender Deklamation, auf die alle Sprechversuche der Komposition – zum Stammeln verurteilt – ir- gendwann zurückfallen. Das beharrliche Scheitern der Singversuche von op. 30a führte zur Ausformung leidlich konsistenter Einzelgesten von wachsender szenischer Relevanz. Diese sind nun Ausgangspunkt der Bearbeitung. Die Mittel, die Kurtág zur chorisch- szenischen Dynamisierung seines Stoffes auffindet, sind manchmal nicht weit vom imaginären Vokabular der Aventures & Nouvelles Aventures entfernt. Eini- ge Ereignisse legen einen direkten Vergleich mit den Gebärden aus Ligetis Kam- merspiel nahe: Die gestische Aufrauhung des passus duriusculus in Takt aaa, des- sen Stufenwechsel perkussiv angestossen werden, ist der „Action dramatique“ (Aventures, Takt 108ff. – schon dort als „Reprise“ der „Conversation“, ebd. Takt 38ff.) auffällig ähnlich; die „kichernd, meckernd[e]“ Verhöhnung des Basses („sehr tief gesprochen: fooo-[a]-lly“) durch die höheren Stimmen in Takt d könnte auf den Beginn der Aventures (Takt 6–8) rekurrieren; zudem ist Kurtágs vokale und rhythmische Gestaltung der Reaktion der höheren Stimmen mit dem „e-Cluster“ der Nouvelles Aventures I (Takt 15ff.) vergleichbar. Auch der formale Grundriss auf sich selbst zurückfallender Entwicklungen von op. 30 weist eine Parallele zu Ligetis Konzept auf. „Der Schluss der Nouvelles Aventures korrespondiert, nachdem der Weg der Aben- teuer durchschritten ist, aufs auffälligste mit diesem Anfang des Werkes [das Keuchen zu Beginn von Aventures].“238 Formal entsprechen Ligetis Atem- respektive Erstickungslaute Kurtágs stocken- der Deklamation und dem Schweigen des Chores. Wie Ligetis immer weiter sich komplizierende, dialogisch vielfach gebrochene Dreier-Konstellation handelt Mi is a szó von Kurtágs persönlichem, durch Beckett, Siklós und Monyók vermittel- tem Abenteuer immerfort neu scheiternder Mitteilungsversuche. Hierin liegt das musiktheatralische Ereignis. Das gestisch polymorphe Zerfallsprodukt ver- ursacht eine szenische Aufladung, deren chorische Fortsetzung in op. 30b gewiss von den Erfahrungen mit Aventures & Nouvelles Aventures profitiert. Mit der Aufstellung des Vokalensembles ist dieser szenische Aspekt auch räum- lich fokussiert: Samt Pauke ist es in der Saalmitte im Publikum postiert, die spa- tialen Projektionen der Insrumentalensembles dort bündelnd. Kurtágs Interesse an einer gleichzeitigen visuellen Hervorhebung der Sänger, die nebenbei auch 238 Harald Kaufmann, Ein Fall absurder Musik – Ligetis „Aventures & Nouvelles Aventures“, in: ders., Spurlinien – Analytische Aufsätze über Sprache und Musik, Wien: Lafite 1969, S. 147.131 ein Requisitenzitat zulässt, geht aus dem Entwurf einer wiederum an Claudio Abbado gerichteten Nachricht hervor. „[…] Puisque vous dirigez vers la salle peut-être on pourra envisager pour tous les musiciens des estrades par exemple de bois rude (schlecht gehobelt) mais au moins pour les 5 chanteurs j’imagine des postaments de bois-rude (ou, par ex. l’escabeau de Clov en Fin de partie (Bockleiter –)(Stepp – ladder)[)]. Ce qui est important pour tous ces choses; d’avoir quelqu’un de vos experts scéniques pour nous conseiller et après, reàliser tout ce qui est nécéssaire. […] D’avoir en principe, la possibilité de projec- teurs-lumière pour la recitante, Vl-Solo et le 5 chanteurs.“239 Kurtág verwendet keine gewöhnliche Choraufstellung, sondern versammelt die Singstimmen um den Bass, der sich zusammen mit der Pauke genau auf der im hinteren Tiefensemble endenden Mittelachse befindet. Die sich im steten physi- schen Absinken der Lage ausdrückende wachsende Erschöpfung der Rezitatorin findet hier eine weitere, vokale Entsprechung, der Kurtág keine geringe Bedeu- tung beimisst; analog zur Bevorzugung der Instrumente in Kontrabasslage könn- te man die Bassstimme wohl als „holy voice“ bezeichnen: „[…] surtous la voix de basse est très importante (dàvoir la profondeur sans chanter la manière grande opéra)“240 Ausgehend von Kurtágs bassloser Monodie auf Krücken muss diese tiefe Stimme erst hergestellt werden. Sie gibt kein Fundament und stützt nichts, sondern ist Zeichen des Niedergangs, der körperlichen und strukturellen Strapazierung in- nerhalb dieser Komposition. Mit dem Absinken der Stimme korrespondiert auch eine wachsende Trägheit der „Echoreaktion“, die sich, wie im „ombra dell’ombra“ des Kontrabasses (Takt ooo), in Takt yy und vor allem in der „Chap- lin’schen Spätreaktion“ des epilogo scenico (Takt e) zeigt.241 Die Stimmen haben fast ausgesungen. Diese Situation liefert die Grundlage zu Kurtágs zweiter Beckett-Musik für eine tiefe Männerstimme: … pas à pas – nulle part … op. 36 ist zunächst nur für Bariton komponiert. 2.3.5. Kurtágs Kurtág Nach der Explizierung des szenischen Potentials von op. 30a – zumal im mo- nodisch gebündelten Kollektiv des Vokalensembles – kann die neue Fassung als ein weiterer Realisierungsansatz von Kurtágs bislang unterdrückten musikthea- tralischen Plänen gelten. Op. 30b gleicht einem Szenario zu op. 30a, wie es György Ligeti in Form des Librettos von Aventures & Nouvelles Aventures nach- 239 Undatierter Briefentwurf [ca. Sommer 1991], Korrespondenz in der SGyK. 240 Ebd. 241 Zum Phänomen des Doppelechos finden sich weitere Parallelfälle bei Ligeti, z.B. Nouvel- les Aventures I, Takt 78–82.132 geliefert hat. Monyók agiert zusammen mit dem Violinisten auf einer ausdrück- lich „scène“ benannten Plattform; es sind ihre Aktionen, die die chorische Dar- bietung bestimmen. Dies kommt einer dilativen Transposition der intimen Monodie einer körperlich versehrten Sängerin in den grossen Konzertsaal gleich. Die Empfehlung in der Partitur lautet: „Ideale Saalgrösse 1000–1200 Personen. Z.B. Kammermusiksaal der Phil. Berlin, Mozart Saal Wien, Zeneakadémia Nagyterem, Budapest.“ Eine Schlüssellochwahrnehmung ist dadurch fast garantiert. Es gehört zur Pro- blematik dieser Neukomposition, dass Monyóks Gebrechen in zweifelhafter Weise gross ausgestellt wird. Kurtág verbindet mit der Saalgrösse offenbar eher das Problem einer ästhetischen Inkongruenz: „[…] la salle est le contraire possible de ‚théatre pauvre‘ de Beckett (et de ma musique) […].“242 Kurtágs Mi is a szó lebt von Divergenzen zu Beckett. Die in op. 30b stattfinden- de Rückübersetzung bezieht sich weniger auf das Beckett-Original als auf Kur- tágs eigenen Text. Die Verwendung des wörtlichen Rohstoffs aus Becketts What is the Word dient ausschliesslich der Fortsetzung, Intensivierung der früheren Lesart, ohne dass sich ein wesentlicher neuer Spielansatz ausmachen liesse243 – worin sich op. 30b als Szenario zu op. 30a von Ligetis Libretto zu Aventures & Nouvelles Aventures unterscheidet. Die erste musikalische Beckett-Interpreta- tion erfährt so ihre Affirmierung in einer enormen Ausweitung der Mittel – Ju- dit Frigyesi beschreibt op. 30b als „a study of free associations in order to explo- re, first, the original gesture, and second, the widest possible contextual meaning of a musical event.“244 Die amplifizierende Reproduktion des Zeichensystems der Monodie in op. 30b erweckt den Anschein einer Kausalrelation, der Beckett in seinen Texten zu ent- fliehen sucht. Becketts neues Be-Schreiben alter Textformen ist subtraktiv moti- viert; wenn überhaupt etwas gewonnen werden soll, dann Obskurität. Kurtág stellt Becketts dichterischer „contraction“245 in op. 30b eine expansive Bearbei- tungs- bzw. Inszenierungspraxis gegenüber – auch wenn er sich dabei auf dem ausserordentlich brüchigen Grund der formal verschlissenen Vorlage bewegt. 242 Briefentwurf an Claudio Abbado [?], SGyK. 243 Judit Frigyesi betrachtet offenbar op. 30b als eigentliche Einlösung eines durch op. 30a gegebenen Werkplans: „In the orchestral version, Kurtág created, from the powerfull but linear monologue, a conceptual polyphony of contrasting emotions.“ (Judit Frigyesi, György Kurtág, Samuel Beckett: What is the Word, op. 30b [1990/91], S. 398). 244 Ebd., S. 401. 245 Vgl. Proust, S. 64.133 Becketts Unbestimmtheit erhält dadurch einen neuen Sinn im Versuch der Be- stimmung einzelner Gebärden durch ein monodisches Kollektiv.246 246 „Maybe this is an answer to what the word is. That it is important how it is being uttered in an infinite number with minimal changes and not what it is and what it means.“ (Martin Zenck, Beckett after Kurtág: Towards a Theory of Theatricality of a Non-theatrical Music, S. 419).134 3. Drei Bemerkungen zu … pas à pas – nulle part … op. 36 Kurtág hat in Auseinandersetzung mit dem realen musikalischen Raum in der Zeit von 1987–94 sechs Werke komponiert, die im Rückgriff auf schon Vorhan- denes einen grossen Aufführungsapparat beschäftigen und teilweise auch formal gross angelegt sind. Nachdem er mit ΣΤΗΛΗ op. 33 (1994) seine erste gültige Komposition für grosses (nicht räumlich unterteiltes) Orchester vorlegen konn- te, deren zweiter und dritter Satz wiederum auf älteres Material247 zurückgehen, besann er sich wieder auf das ihm vertrautere Metier der musikalischen Minia- tur, die fast allen grösser konzipierten Werken zugrunde liegt und das Zentrum Kurtágschen Formdenkens darstellt. Auch die „grosse Form“ von Mi is a szó ver- bindet sich nicht mit der Planung einer weitläufigen musikalischen Architektur, sondern resultiert aus der Suche nach einer monodischen Gebärde; dieser prin- zipiell eingrenzende Prozess wird in der Bearbeitung von op. 30b in Ausbreitung verdeutlicht, das gestische Resultat im epilogo scenico konkret nachgeliefert. In den folgenden Kompositionen hat Kurtág sein Interesse verlegt vom ausdau- ernden Suchen auf die Darstellung gestisch kohärenter Kleinstformen innerhalb eines offenen Zusammenhangs, der nicht mehr, wie noch in früheren Vokalzy- klen, auf narrative oder thematische Weise diskret durchgeformt ist. Auch eine zyklische Integration von Fragmenten, wie noch in opp. 20 und 24, findet nicht statt, ebensowenig ein sich grossformal weitendes Ringen um eine direkte musi- kalische Mitteilungsart. Der „Zyklus“ ist aus einem Reservoir von Kleinstfor- men vom Interpreten noch zu formen. Aber wie? 3.1. Lichtenberg, Chamfort, Beckett Georg Christoph Lichtenberg notiert in ein Sudelbuch: „Die Kaufleute haben ihr Waste book (Sudelbuch, Klitterbuch glaube ich im Deut- schen), darin tragen sie von Tag zu Tag alles ein was sie verkaufen und kaufen, alles durch einander und ohne Ordnung, aus diesem wird es in das Journal getragen, wo alles mehr systematisch steht, und endlich kommt es in den Leidger at double entrance nach der italiänischen Art buchzuhalten. […] Dieses verdient von den Gelehrten nach- geahmt zu werden. Erst ein Buch worin ich alles einschreibe, so wie ich es sehe oder wie es mir meine Gedanken eingeben, alsdann kann dieses wieder in ein anderes getra- gen werden, wo die Materien mehr abgesondert und geordnet sind, und der Leidger 247 Nr. 14 Byl’ (Geschehenes) aus den Szenen aus einem Roman op. 19 (1981–82); das Kla- vierstück Mihály András emlékére (1993) aus dem sechsten Band der Játékok (S. 50f.).135 könnte dann die Verbindung und die daraus fliessende Erläuterung der Sache in einem ordentlichen Ausdruck enthalten.“248 Spätestens mit Mi is a szó lässt Kurtág ab von der Suche nach „ordentlichem Ausdruck“. War Georg Christoph Lichtenbergs literarische Buchhaltungsart Kurtág in der pianistischen Tagebuchführung seiner Játékok schon vom Prinzip her vertraut, so ist die Sudelbuchmethode absolut massgeblich für die Entste- hung der Werke … pas à pas – nulle part … (poèmes de Samuel Beckett et adap- tions en vers anglais des maximes de Sébastien Chamfort) op. 36 (1993–98) für Bariton, ad lib. Streichtrio und Schlagzeug, und Einige Sätze aus den Sudelbü- chern Georg Christoph Lichtenbergs op. 37 (1996) für Sopran solo (ohne und mit Instrumenten), bzw. die in Zusammenarbeit mit dem Basler Kontrabassisten Christian Sutter entstandene Neufassung op. 37a (1999) für Sopran und Kon- trabass.249 In diesen Kompositionen konzentriert sich Kurtág ganz auf das „Sudelstadium“. Eine „Absonderung und Ordnung der Materie“ ist nicht vorgesehen. Die dispo- sitionelle Bestimmung der aufgefundenen musikalischen Gedanken bleibt zu- nächst offen – was Arnold Whittall dazu bewegt, op. 37 einen „anti-cycle“ zu nennen.250 Es ist auffällig, dass Kurtág für dieses Werk jene Textsektion der Su- delbücher bevorzugt, die als „Nachahmung der englischen Cross-readings“ be- zeichnet ist. Denn das „Cross-reading“ liefert ein Lesemodell, mit dessen Hilfe opp. 36 und 37 in der Interpretation Form gewinnen. „Man muss sich vorstellen, das Lesen geschehe in einem öffentlichen Blatte, worin sowohl politische, als gelehrte Neuigkeiten, Avertissements von allerlei Art, usw. anzu- treffen sind: der Druck jeder Seite sei in zwei oder mehrere Kolumnen geteilt, und man lese die Seiten quer durch, aus einer Kolumne in die andere.“251 In der Druckausgabe von op. 37 (EMB Z.14 129) gibt Kurtág eine „Anleitung“ zur interpretatorischen „Querlektüre“: „Dieses Werk ist kein Liederzyklus im herkömmlichen Sinne: Wie die Textvorlage sel- ber, handelt es sich um eine Sammlung von Aphorismen. In der Partitur stehen die ein- zelnen Sätze in der Abfolge, in der sie komponiert wurden. Die Interpreten sollten für die Aufführung im Konzert eine Auswahl treffen – mithin ihren eigenen Zyklus kom- ponieren. Die Interpreten sollten sich nicht verpflichtet fühlen, möglichst viele Sätze aufzuführen. Schon fünf oder sechs Sätze können ausreichen. Bei der Auswahl und 248 Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher I, Heft E 46, in: ders., Schriften und Briefe, Bd. I, hrsg. von Wolfgang Promies, München: Hanser 61998, S. 352. 249 Die gleichzeitig entstandenen Hölderlin-Gesänge op. 35 (1993–…) für Bariton solo (auch drei Baritone und Instrumente) lassen sich, wenn überhaupt, als vokale Miniaturen nicht im Sinne der opp. 36 und 37 charakterisieren. 250 Arnold Whittall, Plotting the Path, Prolonging the Moment: Kurtág’s Settings of German, in: Contemporary Music Review 20 (2001), Parts 2 + 3: Perspectives on Kurtág, S. 105. 251 Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, Bd. II, S. 161.136 Anordnung sollte man sich von dem Gesichtspunkt leiten lassen, dass die Charaktere und die Tonarten miteinander kontrastieren und sich ergänzen. Die Ossia-Varianten in der Partitur können dafür nützlich sein. […] Die Partitur bietet Material nicht nur für einen geschlossenen Zyklus. Das Werk kann in einem komponierten Konzertpro- gramm mit anderen geeigneten Sätzen oder Satzgruppen oder gar anderen Werken kombiniert werden – vielleicht sogar mit Werken anderer Komponisten. In jeder Auf- führung ist es erlaubt, einen Satz in anderen Zusammenhängen zu wiederholen, und dadurch immer neue Assoziationen hervorzurufen.“ Diese Anleitung ist auch für den Umgang mit dem noch nicht als Druckausgabe erschienenen Werk … pas à pas – nulle part … op. 36 massgeblich. Neben den mirlitonnades und kleinen Gedichten von Beckett verwendet Kurtág Texte von Sébastien-Roch Nicolas Chamfort (1740–1794), im französischen Original wie in Becketts englischer Übertragung. Bei Kurtág erscheint Chamfort wie ein Bin- deglied zwischen Beckett und Lichtenberg. Chamfort notierte Beobachtungen, Gedanken und Erfahrungen „in Form einer Vielzahl von kleinen Zetteln, die [er] im Laufe seiner letzten Jahre beschrieben und in einzelnen Kartons gesam- melt hatte“252; sie wurden ein Jahr nach seinem Tod innerhalb der ersten Ge- samtausgabe von Ginguené als Produits de la Civilisation perfectionée. 1. Partie. Maximes et Pensées 2. Partie. Caractères 3. Partie. Anecdotes herausgegeben. Dies sind, ganz in Lichtenbergs Sinn, „sowohl politische, als gelehrte Neuigkei- ten, Avertissements von allerlei Art“. In ihrer Pflege der elegant hingeworfenen Sentenz, des esprit folgen beide La Rochefoucauld und La Bruyère und besitzen „satirisches Temperament“, für das „ein kaum verhüllter Subjektivismus kenn- zeichnend“253 ist – als Gegenentwurf zu den Tugenden Göttingischer Gelehr- samkeit und zum Pariser Akademismus, wobei der politisch subversive Cham- fort ein tragisches Ende fand.254 Es ist die dem Optimismus der Aufklärer zwingend opponierende Skepsis, die nach Schopenhauer und Nietzsche auch Beckett für Chamfort eingenommen hat. 1975–76 übertrug Beckett acht Maximen ins Englische, die unter dem Titel Long after Chamfort ediert wurden. Aus der Essenz von Chamforts Betrachtun- 252 Renate List-Marzolff, Sebastien-Roch Chamfort – Ein Moralist im 18. Jahrhundert, Mün- chen: Fink 1966 (= Freiburger Schriften zur romanischen Philologie 3), S. 20. 253 Ebd., S. 172. 254 „[…] als nach einer gemeinsamen Mahlzeit der Polizist [der den als konterrevolutionär denunzierten kranken Chamfort ständig bewachte] Chamfort auffordert, ihm zu folgen, ent- schwindet dieser (ohne indessen zu fragen, wohin es überhaupt gehen sollte) unter einem Vor- wand ins Nebenzimmer. Bei dem Versuch, sich mit einer Pistole zu erschiessen, trifft er die Na- se und zerstört sich das rechte Auge. Verzweifelt beginnt er, sich mit einem Rasiermesser die Kehle, dann die Pulsadern aufzuschneiden, was ihm misslingt; er zerfetzt sich die Haut, ohne sich zu töten. Einige Stösse zum Herzen verfehlen die endgültige Wirkung. Vom Schmerz über- wältigt, bricht er schreiend zusammen; sein Blut fliesst in Strömen.“ (ebd., S. 19). Nach vor- übergehender Genesung stirbt Chamfort an den Folgen seiner Selbstmordversuche am 13. April 1794 als freier Mann.137 gen gewinnt Beckett eine Reihe von kleinen Gedichten, in denen er Chamforts Malmots in zwei bis vier Versen deklamiert. „[Chamfort:] Vivre est une maladie dont le sommeil nous soulage toutes les seize heures. C’est un palliatif; la mort est le remède. [Beckett:] sleep till death healeth come ease this life disease“255 Unmittelbar nach der Beschäftigung mit Chamfort entstanden andere, selten über vier Zeilen hinausführende Kleinsttexte256, die erstmals 1978 als mirliton- nades257 erschienen sind. Der Titel signalisiert, wie früher schon Têtes-mortes oder Fizzles, Becketts Neigung zur Auswertung poetischer Ausschussware: Mir- litonvers ist die Bezeichnung für einen Vers, der gerade gut genug ist, um auf dem Papier, das ihn trägt, zu blasen wie auf einem Mirliton. Entsprechend ver- anstaltet Beckett in seinen mirlitonnades ein Konzert in ausserordentlicher Ka- kophonie. Becketts Beschäftigung mit Chamfort hat in den mirlitonnades Spu- ren hinterlassen. Chamforts freischweifende Paradoxa liefern eine Matrix für die lyrischen Miniaturen. Auch Beckett schaut sich um in der Welt und kolpor- tiert „Caractères, Anecdotes“, wie jene um den „letzten Wunsch eines kurz vor- her in Strealen/Niederrhein 76jährig verstorbenen Zwergs“:258 „le nain nonagénaire dans un dernier murmure de grâce au moins la bière grandeur nature“ (mirlitonnades, S. 47) 255 Collected Poems in English and French, S. 134f. 256 „Mind going very silent.“ (Beckett am 18. Februar 1978 in einem Brief an Alan Schnei- der, zitiert nach No Author Better Served – The Correspondence of Samuel Beckett & Alan Schneider, hrsg. von Maurice Harmon, Cambridge etc.: Harvard University Press 1998, S. 365). Neben manch anderem blieb auch der Plan eines Stücks über die Moiren der antiken griechischen Mythologie unausgeführt: „Attemps to get going on something new in vain. Just a few rhymes in French. Wish I could do an Atropos all in black – with her scissors.“ (ebd., S. 355, Paris, 10. April 1977). Der Stoff dieses Vorhabens wird gleichwohl in der Gebetspar- odie der 35. mirlitonnade behandelt: „noire sœur / qui es aux enfers / à tort tranchant / et à tra- vers / qu’est-ce que tu attends“ (mirlitonnades, S. 46). 257 Das Werk ist in zwei divergierenden Ausgaben greifbar: Samuel Beckett, Poèmes suivi de mirlitonnades, Paris: Minuit 1978; Samuel Beckett, Flötentöne, (französisch/deutsch), Frank- furt am Main: Suhrkamp 1982. In seiner Komposition konsultiert Kurtág beide Ausgaben; für die vorliegende Besprechung ist die Erstausgabe bei Minuit massgeblich. – 2005 erschien eine Neuausgabe mit deutschen Übertragungen von Barbara Köhler unter dem Titel Trötentöne – Mirlitonnades, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 258 Elmar Tophoven, Vom „Gegen-den-Strich-Übersetzen“, in: Flötentöne, S. 92.138 Die Baedecker-Episoden über Tanger und Stuttgart (18–20) folgen als topogra- phische caractères Chamforts Manier. Von James Knowlson ist zu erfahren, dass Beckett die mirlitonnades nach allen Regeln der Sudelkunst hergestellt hat. „[Beckett] described them himself as ‚gloomy French doggerel‘, even gloomier than his translations of Chamfort. […] These ‚rimailles‘, ‚rhymeries‘, or ‚versicules‘, as he first labeled them, were jotted down at odd moments in Ussy, in a hotel room or in a bar in Paris, Stuttgart, or Tangier on any handy scrap of paper – envelope, beer mat, or in one case, a Johnnie Walker Black Label whisky label. They were then often carefully reworked, before being copied into a tiny leather-bound sottisier or commonplace book [!] that he carried around in his jacket pocket.“259 Die erste zugängliche Skizze zu op. 36 zeigt ein ähnliches Schreibverhalten bei Kurtág: Am 28. Februar 1998 notierte er einen Gesang nach Becketts mirliton- nades „le nain …“ auf vier lose selbstklebende Zettel („Post-it“). Wie Lichten- berg, Chamfort und Beckett ist auch Kurtágs Schreiben der „wastebook-Metho- de“ verpflichtet. Dies äusserst sich allgemein in einer auffälligen Bevorzugung minderwertiger Schreibmaterialien, die Kurtágs Schreiben zu stimulieren schei- nen.260 Chamforts und Becketts Sujets sind oft dieselben. Im ersten Text charakterisiert Beckett das Lachen ganz im Sinne des Moralisten „als angemessene[n] Ausdruck der vollkommenen Illusionslosigkeit.“261 „en face le pire jusqu’à ce qu’il fasse rire“ (mirlitonnades, S. 35) Es ist jenes Lachen, das Erskine in seiner Typologie als risus purus identifiziert: „But the mirthless laugh is the dianoetic laugh, down the snout – haw! – so. It is the laugh of laughs, the risus purus, the laugh laughing at the laugh, the beholding, the saluting of the highest joke, in a word the laugh that laughs – silence please – at that which is unhappy.“262 259 James Knowlson, Damned to Fame, S. 568. 260 Vgl. die sehr häufig mit groben Kugelschreibern oder stumpfen Blei- und Farbstiften er- stellten Mss in der SGyK. 261 Renate List-Marzolff, Sebastien-Roch Nicolas Chamfort, S. 166; vgl. auch Konrad Scho- ell, en face le pire jusqu’à ce qu’il fasse rire, in: Komik und Solipsismus im Werk Samuel Becketts, hrsg. von Peter Brockmeier und Carola Veit, Stuttgart: M & P 1996, S. 109ff. 262 Watt, S. 47.139 Abbildung 16: György Kurtág, op. 36, Le nain, Skizze (© by Paul Sacher Stiftung, Basel)140 Die mirlitonnades sind eine literarische „galerie de crevés“263, liefern ein Kom- pendium an zentralen Beckett-Sujets in 37 Maximen. Aus der Erfahrung der ly- rischen Komprimierung von Chamforts Sentenzen profitieren die mirlitonna- des, die, in ihrer extremen Kürze selbst an der Schwelle zum Nichts, Unsagbares verbal in Schwingung setzen. Dieser unnennbare Rest – „that missing word“264 – tritt etwa als „tote Zeit“ mitten hinein in die poetische Gleichung der dritten mirlitonnade. „somme toute tout compte fait un quart de milliasse de quarts d’heure sans compter les temps morts“265 Die mirlitonnades erscheinen wie Bruchstücke. Tatsächlich aber schliessen die meisten einstmals gross inszenierte aporetische Mechaniken ein, um sie mittels weniger Worte möglichst komplett zu evozieren. Es sind keine Anakoluthe, kei- ne Redeportionen, wie sie zu Werken wie Comment c’est oder der „Zweiten Tri- logie“ akkumulieren. Die mirlitonnade ist als in sich abgeschlossene dichterische Monade artikuliert. Viele Texte hängen zusammen. Einige Doppelgänger-mirli- tonnades deuten vielleicht implizit hin auf Beckettsche Bizyklen.266 Es sind nach Lichtenbergs Manier hingeworfene und improvisiert scheinende Miniaturen, die Chamforts abgründigem esprit ein Äusserstes abverlangen. 3.2. Neue Monodien Kurtágs Arbeit an der umfangreichen Sammlung … pas à pas – nulle part … op. 36 vollzog sich in drei intensiven Phasen musikalischer Beckett-Lektüre, denen mit le nain und der zum 80. Geburtstag von Pierre Boulez komponierten octave zwei erste vereinzelte Annäherungen an die mirlitonnades vorausgegangen wa- ren. Nachdem zwölf Gesänge im Zeitraum vom 21. November 1995 bis zum 6. Januar 1996 in Wien entstanden waren, hinterliess ein kräftiger Produktions- schub am Abend des 2. Mai 1996 weitere fünf.267 In der letzten grösseren Ar- beitsphase wandte sich Kurtág vom 22. Juli bis 1. August 1997 in Marlboro/USA 263 „Quelle tourbe dans ma tête, quelle galerie de crevés.“ (Molloy, S. 212). 264 Stirrings Still, S. 26/28. 265 mirlitonnades, S. 35. 266 Vgl. etwa die Paare (6)/(8), (16)/(17), (18)/(20), (12)/(33). 267 Kurtág pflegt in der Datierung jüngerer Skizzen oftmals auch die Tageszeit festzuhalten, so auch im Fall der Stücke mouvement, … levons l’ancre …, … Rêverie …, … odeur du temps … und Stuttgart: „96 V 2 éjjel“ („… nachts“); vgl. die beiden Mappen zu op. 36 in der SGyK. 141 – neben dem frühen Gedicht Dieppe und der 30. mirlitonnade – den Long after Chamfort betitelten acht englischen Lyrisierungen zu, die er sämtlich in Musik setzte und bei denen er in zwei Fällen der Übertragung das französische Original entgegenhält. Die Reinschriften dieser insgesamt 12 Stücke sind durchnumme- riert als handele es sich um eine geschlossene Werk-Sektion. Als Nachträge ent- standen nach dem 26. April 1998 noch vier letzte mirlitonnades-Gesänge, wo- mit 19 der 37 Beckettschen Texte, teilweise auch doppelt, in op. 36 berücksichtigt sind.268 Die Sammlung der Gesänge von op. 36 ist in dieser Rei- henfolge gegeben: … pas à pas – nulle part … poèmes de Samuel Beckett op. 36 (1993–1997) for Baritone solo Samuel Beckett: pas à pas – nulle part … „Amsterdam 1998 IV 26“ Samuel Beckett: le nain Hommage à Roland Moser „Verőce 1993 II 28“ Samuel Beckett: Octave Message à Pierre Boulez „Berlin 26.3.1995“ Samuel Beckett: écoute-les … „Wien, 1995 XI 21 – XII 4“ samuel beckett: nuit „Wien 1995 XI 21 – XII 4, rev. XII 13“ … le tout petit macabre – Ligetinek Samuel Beckett: imagine … „Wien, 1995 XII 4–5“ samuel beckett: octave (double) à Isabelle Kurtág „Wien, 1995 XII 4–23“ samuel beckett: berceuse Hommage à Heinz Holliger „Wien 1995, XII 23–24“ samuel beckett: d’où „Wien 1995 XII 24“ 268 Dem Verfasser liegen Photokopien der Reinschrift des noch ungedruckten Werkes vor, die ihm von Kurtágs Verleger János P. Demény (EMB) freundlicherweise vorab zur Verfügung gestellt worden sind. 142 samuel beckett: elles viennent Hommage à Gösta Neuwirth „Wien 1995 XII 24–25“ samuel beckett: apparition Jehudának „Wien 1995 XII 26“ samuel beckett: fous Brunner Panninak „Wien, 1995 XII 28–29“ samuel beckett: fin fond de [sic!] néant Hommage à Eric [sic!] Satie „Wien 1996 I 5“ samuel beckett: en face le pire „Wien 1996 I 5–6“ samuel beckett: inventaire Hommage à Jan van Vlijmen „Wien 1996 I 5–6“ Samuel Beckett: mouvement „96 V 2“ … levons l’ancre … „96 V 2“ Samuel Beckett: … rêverie … „96 V 2“ Samuel Beckett: … odeur du temps … „96 V 2“ Samuel Beckett: Stuttgart … Helmut Lachenmann pourrait me le dire … „96 V 2“ 1. Samuel Beckett: Dieppe Hommage à François Sulyok „Marlboro 1997 VII 22“ 2. Samuel Beckett: La calma „Marlboro 97 VII 23“ 3. Sébastien Chamfort: du coeur de l’homme … „Marlboro 97 VII 23–25“ 4. Sébastien Chamfort – Samuel Beckett: how hollow … „97 VII 23–25“143 5. Sébastien Chamfort – Samuel Beckett: sleep … „Marlboro 97 VII 23–25“ 6. Sébastien Chamfort – Samuel Beckett: an indian proverb „97 VII 23–25“ 7. Sébastien Chamfort – Samuel Beckett: oblivion, sweet oblivion … Hommage à Christian Wolff „Marlboro 97 VII 26“ 8. Sébastien Chamfort – Samuel Beckett: „lasciate ogni speranza“ „Marlboro 97 VII 28–30“ 9. Sébastien Chamfort – Samuel Beckett: a shocking case … a little song for Liz Baker … „Marlboro 97 VII 30“ 10.Sébastien Chamfort – Samuel Beckett: … une découverte bouleversante … „Marlboro 97 VII 30–31“ 11.Sébastien Chamfort: Méditation (Double) [Datierung fehlt; Skizze: „VII 31 97“] 12.Sébastien Chamfort – Samuel Beckett: asking for salve and solace. Hommage à Merran Joy Poplar „Marlboro 97 VII 31 – VIII 1“ 31 Monodien der Sammlung gelangten am 21. Oktober 1998 innerhalb des Fe- stival d’Automne in Paris in einer Fassung für Bariton, Streichtrio und Schlag- zeug zur Uraufführung, die Kurtág im August und September 1998 hergestellt hatte269; die Solopartie sang Kurt Widmer, für den Kurtág sein zweites Beckett- Opus und auch die Hölderlin-Gesänge op. 35 komponierte.270 Zwar ist die in- strumentierte Neufassung von op. 36 nicht wie bei Monyók „pathologisch“ be- gründet – doch erfüllt das Ensemble zu op. 36 wie die Klavierkrücke in op. 30a durchaus eine Stützfunktion für die technisch höchst anspruchsvolle, fast drei Oktaven umfassende Solo-Baritonpartie271; noch stärker als in op. 30b wird das Instrumentalensemble zur Verdeutlichung des Affekts und zur Färbung des In- halts gesungener Worte herangezogen. Es ist wiederum eine durch und durch „monodische“ Instrumentierung, die nicht vergleichbar ist mit den obligaten In- 269 Photokopien der gleichfalls unpublizierten Reinschrift liegen dem Verfasser, wiederum dank der grosszügigen Zuwendung von János P. Demény, in zwei verschiedenen Versionen vor, deren zweite, auf die Probenarbeit zur Uraufführung zurückgehende, z.T. gravierende Korrek- turen enthält – diese zweite „Pariser Fassung“ und die rein monodische Urfassung sind die Re- ferenzobjekte der folgenden Ausführungen. 270 Die Instrumentalbesetzung der Uraufführung im Theâtre Molière, Maison de la Poésie war: Hiromi Kikuchi, Violine; Ken Hakii,Viola; Stefan Metz, Violoncello; Mircea Ardeleanu, Schlagzeug.144 strumentalpartien der Kafka-Fragmente op. 24 oder der Neufassung der Lich- tenberg-Sprüche op. 37a:272 Das Verhältnis von Singstimme und Instrument ent- spricht dort einer dialogischen Grundsituation. Dagegen treten weder in op. 30 noch in op. 36 Stimme und Instrumente in ein Gespräch ein. Diese Idee der in- strumentalen Abstützung des Gesangs findet sich in Kurtágs Schaffen nur in Zu- sammenhang mit Beckett. Zudem wird das „komponierte Programm“ der Uraufführung von op. 36 durch eine instrumentale Einleitung ergänzt, der Ablauf des knapp vierzigminütigen Spiels durch sechs Zwischenspiele weiter untergliedert. Diese Stücke gehören in das Umfeld der seit 1993 in Entstehung begriffenen Signs, Games and Messages, einer Art Játékok für Streichinstrumente. Kurtág konzentriert sich in der Komposition seiner neuen Beckett-Miniaturen für Solo-Bariton ganz auf ein wesentliches Sujet der mirlitonnades: Auf die Beckettschen Schritte, die nirgendwo hin führen: „plod on and never rece- de“:273 „Es ist die sichere Ziellosigkeit, die antreibt, die in Bewegung hält, die täuscht und so rasch ist, dass es gar nicht erst zur Enttäuschung kommen kann, da nichts mehr zu erwarten war, da man sicheren Fusses am besten ziellos geht. Die Spannung zwischen Kommen, Artikulation und Enden der Artikulation, zwischen Kommen und Gehen der Worte kann in zwei Zeilen gepresst sein.“274 Selbstverständlich vertieft sich Kurtág nicht in die Möglichkeit eines Oszillierens innerhalb imaginärer poetischer Polaritäten, sondern stürzt sich vor allem auf den residualen Bildgehalt sich verlierender, stockender Schritte. Die Einzelge- sänge der vielgestaltigen Sammlung sind auf die Einheit des „pas“-Sujets bezo- gen wie die Formsplitter von op. 30 auf den Impuls stets scheiternder Sprachfin- dungsversuche: In écoute-les wird die Auslöschung von Musik mittels der schrittweise sich vollziehenden, für Kurtág ungewöhnlich präzise ausgemesse- nen Dehnung von Pausen betrieben („écoute-les / s’ajouter / les mots / aux mots / sans mot / les pas / aux pas / un à / un“); in Dieppe, das seine Integration in das Umfeld der mirlitonnades (wie Elles viennent) seiner Gangmetaphorik verdankt, 271 Vgl. auch die Bemerkung, die Kurtág in einem undatierten Briefentwurf aus der Zeit un- mittelbar vor der Uraufführung an Kurt Widmer richtet: „[Durch die Instrumentation wird] gleichzeitig aber Dir [Widmer] sehr vieles erleichtert – weil die Intonation immer gestützt und gesichert ist – so kannst Du deine Energie auf das wesentliche der Interpretation konzentrie- ren.“ (SGyK). Im Übrigen dienen die meisten Korrekturen in der Instrumentierung der „Pariser Fassung“ einer noch grösseren intonatorischen Absicherung des Gesangs. 272 Der unterschiedliche Status der Werke macht sich auch in der Opuszählung bemerkbar: Wird die Neufassung der Lichtenberg-Sprüche als „eigenständiges“ op. 37a bezeichnet, ist die instrumentierte „Pariser Fassung“ eine Interpretation innerhalb der durch op. 36 gegebenen Möglichkeiten. 273 Worstward Ho, S. 14. 274 Karl Krolow, Zu Samuel Becketts „Mirlitonnades“, in: Flötentöne, S. 98.145 vollzieht sich „le dernier reflux“ im Verebben des von Kurtág wiederholten Tex- telements „les pas“; der entschlossenen Gangart der 29. mirlitonnade entspricht der Charakter einer nur in der „Pariser Fassung“ enthaltenen Marschparodie de pied ferme, dessen Substanz sich in der verlöschenden Repetition über „sans but“ verflüchtigt. Die Vorstellung eines ebenso richtungslosen wie perennierenden Schreitens ver- bindet sich im Gesang pas à pas – nulle part … mit dem für op. 30 so massgeb- lichen Gestus der stockenden Deklamation. Diese Miniatur ist nach dem Cham- fort-Faszikel entstanden und gab dem ganzen, zuvor als Mirlitonnades op. 36 deklarierten Werk seinen endgültigen Titel. Kurtág betont ihren zentralen Stel- lenwert, indem er das Post-Scriptum demonstrativ an den Beginn der sonst chro- nologisch gegliederten Sammlung setzt, dabei am Tonraumzentrum e der letzten Takte von op. 30a ansetzt und dadurch die Situation nach einer umfassenden ge- stischen Erschöpfung der Form unmittelbar aufgreift. Op. 36 fängt damit buch- stäblich dort an, wo op. 30 aufhört. Das Stück, dessen konkrete Fortsetzung in der zyklisch noch zu ordnenden Sammlung freilich offen bleibt, fungiert als Motto für das ganze Werk – ähnlich dem „mi is a szó“ von op. 30. Die stocken- de Gebärde dieses Beginns führt schnurstracks auf den Weg – scheiternder? – kompositorischer Gehversuche. In der gestischen Fixierung der pas-Thematik kann … pas à pas – nulle part … als späte Fortsetzung, wenn nicht gar als Ausführung des liegengebliebenen Pro- jektes über Becketts Footfalls (in Becketts französischer Übertragung lautet der Titel: Pas) gelten: Die dort für den Bassbariton István Gáti vorgesehene Rolle übernimmt Kurt Widmer; den Plan einer Cimbalom-Einleitung hat Kurtág reali- siert, indem er für op. 36 eine in Reinschrift vollständig erhaltene, auf „Hom- broich 96 V 21 – Amsterdam 98 IV“ datierte „Ouverture“ für Cimbalom und Marimba respektive zwei Cimbaloms komponierte, die er später zugunsten der gültigen Einleitung für Streichtrio und Schlagzeug verwarf.275 Die verworfene Einleitung exponiert das Schrittsujet „molto misurato“ mittels Tonrepetitionen, die in der Einleitung der „Pariser Fassung“ im Schlagzeug aufgenommen wer- den; die Schicht der skalar geführten Streicher aspektiert möglicherweise die Tonleiter der Footfalls-Eröffnung. Die Intermezzi 2 und 4 greifen den Ligatura- Satztypus auf, den Kurtág im Umfeld des Footfalls-Versuchs – vor allem in Grab- stein für Stephan – entwickelt hatte. Wie im Footfalls-Fragment und in op. 30 werden Tonräume in le nain und octa- ve ausgehend von einer palindromischen Struktur schrittweise ertastet.276 Diese 275 Vgl. SGyK; Kurtág liess diesen Plan offenbar erst unmittelbar vor der Uraufführung fal- len; der Basler Cimbalom-Virtuose Matthias Würsch teilte in einem Gespräch vom 15. Juli 2000 mit, dass er hinsichtlich einer Aufführung bereits angefragt worden sei. Die Reinschrift der „Ouverture“ basiert ihrerseits auf einem Partiturentwurf für zwei Cimbaloms („96 V 21 Hombroich ról [von H.]“, „98 I 20“, „esetleg Beckettbe? közjáték?“ [„vielleicht zu Beckett? Zwischenspiel?“]); SGyK.146 beiden Gesänge ergänzen sich tonal: Erst die octave eröffnenden beiden Tonstu- fen c und des vervollständigen le nain zum kompletten Zwölftonfeld; octave wiederum kehrt mit der letzten Vershebung auf f wieder zum Beginn von le nain zurück. Mit f und c sind die wichtigsten Tonzentren für op. 36 gefunden.277 Das initiale Monodienpaar entfaltet sich von Oktaven ausgehend auf einer sehr elementaren intervallischen Basis: In le nain erhält der erste „narrative“ Doppel- vers des Gedichts eine in zwei Oktaven eingefasste, kreisende Bewegung um die Tonorte f, es und d, die in der petitio des Zwergs von einem kontrastierenden cantabile abgelöst wird und über eine Quint-Tritonus-Gruppe unter der Gegen- position ces zurück zur Finalis führt. Das Spiel mit auf weite Distanzen projizier- ten kleinen Intervallklassen ist textlich motiviert: Es entspricht dem Wunsch des Zwergs nach einem grösseren Sarg. Octave spielt mit einem ähnlichen Modell: Rückgrat liefert eine aufsteigende Halbtonskala, die durch Halbierungen der Doppeloktaven des Beginns über ein- fache Oktaven zu Halboktaven führt, die innerhalb der aufsteigenden Chroma- tik Quint-Tritonus-Gruppen erzeugen. Dieses Modell liegt der nächsten Minia- tur écoutes-les … in Umkehrung zugrunde. Wie im zweiten Teil der Kafka- Fragmente formuliert Kurtág eine „Message à Pierre Boulez“ durchaus in Über- strapazierung der Boulezschen Oktav-Idiosynkrasie. Op. 36 ist auf der schmalen materialen Basis dieser Gesänge errichtet. Der ein- heitliche Gestus von berceuse und inventaire speist sich gänzlich aus einem halb- tönigen Impuls; in fous folgt auf die Quint-Tritonus-Gruppen des aggressiven er- sten Doppelverses deren Rücknahme auf halbtondistante Terzen, die durch das Intervallprofil des Post-Skriptum-Mottos pas à pas – nulle part … gegeben sind. Es ist die im initialen „Lichtklang“ des Beginns von Kurtágs Erstem Streichquar- tett op. 1 enthaltene Doppelterz, die in op. 36 als ausserordentlich prominenter Baustein figuriert. In der Pointe von d’où wird die Doppelterz der ersten Zeile in Richtung der Finalis f zum Terzenzirkel erweitert278; Dieppe besteht aus nichts weiter als einer chromatisch abwärts treibenden Grossterz, die sich einmal, auf das Stichwort „demitour“, kurz umwendet; in … une découverte bouleversante … und Méditation (Double) ist das Verhältnis der Beckett-Übersetzung zum 276 Mouvement und … levons l’ancre … eröffnen auf ähnliche Art das zweite Faszikel der Komposition. 277 F-Tonalität bestimmt die Gesänge berceuse, d’où, fin fond de [sic!] néant, en face le pire, … levons l’ancre …, … odeur du temps …, an indian proverb, oblivion, sweet oblivion, und „lasciate ogni speranza“; der Ambitus von pas à pas – nulle part … umfasst exakt his-f; octave (double), elles viennent, inventaire, sleep und asking for salve and solace weisen c als tonalen Fixpunkt aus. Als wichtigste Gegenzentren sind vor allem ges (Dieppe, … une découverte bou- leversante …, Méditation [Double]), fis (apparition) oder die Kombination fis-d (nuit, … rêve- rie …) zu nennen. 278 Vgl. auch en face le pire.147 Chamfortschen Original festgehalten in der gestisch konträren Ausformung ei- nes identischen Terzengerüsts. Das Terzengebilde birgt unterschiedliche Implikationen. Es kann zum Beispiel in Anlehnung an das Kopfmotiv von Schönbergs Passacaglia Die Nacht (E-G-Es) aus Pierrot lunaire op. 21 als „Nachtmotiv“ figurieren (vgl. octave [double] [Takt 1–2: „à la nuit“]), apparition (Zeile 2: „une nuit“) oder nuit, die in der ersten Skizze sogar nur mit der Doppelterz d, fis, cis und e auskommt).279 Die Gross- terz as1–e1 am Schluss von „lasciate ogni speranza“ rekurriert deutlich auf den Beginn von „Virág az ember“ („Blumen [sind] die Menschen“) aus dem dritten Teil Halál der Bornemisza-Sprüche op. 7. Kurtág mag jener Gesang als Inbegriff der konzisen musikalischen Miniatur gelten, die er in Varianten unermüdlich re- produziert. Die „Urform“ lautet: Abbildung 17: György Kurtág, Bornemisza Péter Mondásai, op. 7/III/3, Virág az ember (© by Universal Edition, Wien) Mit diesem Selbstzitat280 setzt Kurtág Chamforts und Becketts neuem Himmels- emblem „lasciate ogni speranza“ etwas Trostspendendes entgegen, das in der übertrieben süsslichen, orthographisch korrekten Intonation des Virág-Motivs von … le tout petit macabre – Ligetinek – Samuel Beckett: imagine … (Takt 5 und 8f., über Becketts Selbstzitat „beau jour“) ironisiert erscheint. Insgesamt bindet das Virág-Motiv die Miniaturen von op. 36 von aussen: Vor allem gis1 279 Von allen Gesängen aus op. 36 weist nuit die komplizierteste Entstehungsgeschichte auf; anhand von neun Entwürfen, die zu einer vorläufigen, und weiteren fünf, die zur endgültigen Fassung führten, lässt sich der am Tetrachord der ersten Niederschrift ansetzende Prozess eines differenzierten Aushorchens jedes fraglichen Details nachvollziehen; diese „Recherche“ ähnelt auffällig der „Formwerdung“, die Kurtág in op. 30 inszeniert; vgl. die Manuskripte in der SGyK. 280 Aus dem Skizzenmaterial zu „lasciate ogni speranza“ geht hervor, dass Kurtág das Zitat erst zu einem späten Zeitpunkt einrichtete, indem er den ursprünglich abschliessenden Terz- klang f1–as1 entsprechend modifizierte (vgl. SGyK); das zum Virág-Motiv enharmonische as ist der in diesem Stück dominierenden b-Orthographie zuzuschreiben, was im Marimbaecho der „Pariser Fassung“ zu e1–gis1 korrigiert wird.148 bzw. as1 klingen in vielen Gesängen als vereinzelte Hochtöne ausserhalb des je- weils akuten Ambitus. Weder sind Zitate, Selbstzitate, Allusionen oder andere Verweise in dieser Musik auf raffinierte Weise aufbereitet, noch markieren sie kompositorische Nerven- punkte wie die ommagio a Bartók in op. 30. Op. 36 ist ein musikalisches „com- monplace-book“. Tanzmodelle (Valse, de pied ferme) und chansonartige Dekla- mation (elles viennent, Stuttgart, a shocking case) werden in geringerer Verformtheit aufgenommen als in op. 30 und bilden Gegenstände offener Par- odie. Anders als frühere Vokalwerke wie opp. 20 oder 24 folgt op. 36 weniger einer Kunstliedtradition281, sondern ist viel eher ein Album von Beckett-Chan- sons, Beckett-Songs. In ihnen erzeugen musikalische Topoi und Zeichen eindeu- tige Wort-Ton-Relationen, die sich stets an der Grenze zur Tautologie bewegen. In asking for salve and solace entspricht der Begriff „Trost“ pentatonisch anmu- tender Terz-Ganzton-Intervallik, der Gegenbegriff „Leid“ einem chromatisch abwärts gerichteten Klagegestus – diese gegensätzlichen Topoi vermischen sich in der vermittelnden melismatischen Reflexion über „thought“. In oblivion, sweet oblivion … und rêve sind „leere“ Quintzirkel mit dem Vergessen assoziiert – Becketts rastlos erträumtes „rien“ materialisiert sich in der „Pariser Fassung“ dieses Gesangs in „nichtiger“ Harmonie: als C-Dur-Klang. Kurtág greift den Text in einer ausserordentlich wörtlichen Lauschweise an und produziert Kurz- schlüsse zwischen Wort und Musik, wo er nur kann. Er arbeitet mit elementaren Sinngefügen, die seinem Willen zur Minimierung des musikalischen Materials entgegenkommen. In op. 36 verbindet sich die Formulierung eines konzisen monodischen Zusam- menhangs weniger mit einer weitläufigen Suche als vielmehr mit der komposito- rischen Voraussetzung einer Fixierung des musikalisch Einfachen, formal noch zu Bindenden – auf das der komplexe formale Prozess von op. 30 immer wieder zurückgeworfen wird. Dies gleicht einem Verharren in der thematischen Sphäre stockender Gehversuche – deklamatorischer Bodensatz der vorherigen Beckett- Komposition –, die ohne Formrichtung nirgends „hinführen“. Auf seinem bishe- rigen Schaffensweg war Kurtág immer besessen von Elementarisierung, gesti- scher Verknappung – und es scheint, als habe er in einer zweiten werkmässig verbrieften Beckett-Lektüre eine gültige, topisch gesättigte musikalische Kurz- sprache gefunden. Dass er damit an Grenzen des Formulierbaren gelangt, zeigt ein Stück wie Virág Zsigmondy Dénesnek (1995) für Streichtrio, das sich nur noch auf die Artikulation eines mikrotonalen sospirandos beschränkt. Form und Geste fallen hier zusammen. Dies ist in den einheitlichen Charakteren und Kontrastpaaren von op. 36 noch nicht ganz der Fall. Es gibt sogar Beispiele für eine elementare Integration ge- stisch divergierender Mikroeinheiten. Allerdings wäre es vollmundig, hier noch 281 Der Schubert-Kenner Kurtág greift dabei womöglich sehr versteckt auf die bei Schubert prominent vertretene „pas“-Thematik (als Wanderer-Topik) zurück.149 von „formalen Gefügen“ zu sprechen. Die Parataxis disparater „Stimmen“ (durch die Artikulationsweisen mezza voce, sotto voce, dolce esagerato, sziszegve [gezischt] klar differenziert) des Ligeti-Portaits … le tout petit macabre – Ligeti- nek, Samuel Beckett: imagine … ist durch das schlichte Modell eines von a aus halbtönig auseinander strebenden Tontrichters gebunden, der als Tölcsérjáték (Trichterspiel) aus den Játékok bekannt ist.282 Abbildung 18: Schema zum „Trichterspiel“ in: György Kurtág, op. 36, … le tout petit macabre – Ligetinek, Samuel Beckett: imagine … (Pfeile markieren reale, vom Trichtermodell abweichende Tonhöhenpositionen) ① +„Virág“ ② ③ i ma gi ne [ ] [ ] [ ] ... jour ce ci ces sait Bis auf wenige Abweichungen, wie der „Virág-Zusatz“ gis1 in Takt 5, ist das Mo- dell in einem strophenartigen ersten Teil schematisch ausgeführt, während sich die ineinander verschlungenen Linien im zweiten Durchgang zunehmend lok- kern, um nach Takt 8 ganz auseinander zu treten: „ceci cessait“. Der Tontrichter lässt sich teilweise rekonstruieren, wenn man die finale Gruppe über „imagine“ über die vorherige blendet – wobei exakt die drei Töne a-ais-h des Strophenbe- ginns ausgespart bleiben. Die im Text evozierte, buchstäblich imaginäre Zirkel- bewegung um jenes verschwiegene „ceci“ vollzieht sich im Auslassen der initia- len Tonfolge neu. Ein ähnlicher Fall formal relevanter und textlich motivierter Aussparung ist am Beginn von Heinz Holligers – Kurtág gewidmeten –Liederzy- klus Beiseit zu beobachten: Die kohärente zwölftönige Tonfolge des Anfangs kommt nicht mehr zustande, wobei die drei fehlenden Töne b, es und e exakt dem Beginn der instrumentalen Einleitung entsprechen – Robert Walsers Gang ins „beiseit“ wird „auskomponiert“.283 Im Unterschied zu Beckett und Holliger erwägt Kurtág die gestisch konkret gewordene Leerstelle, indem er im finalen Ausbruch die „imagine“-Formel – in variierter Gestalt – geradezu herauspo- saunt. 282 Z.B. in Band 1, S. 3 und 15. 283 Vgl. Roman Brotbeck, Scardanelli et l’/d’après Scardanelli – Heinz Holligers Dichterkrei- se, in: Annette Landau (Hrsg.), Heinz Holliger, S. 168ff.150 In apparition gelangt Kurtág zur Fixierung einer Einzelgeste, indem er einen de- klamatorisch einheitlichen Zusammenhang aufbricht. Die erste Skizze lautet: Abbildung 19: György Kurtág, op. 36, apparition, Skizze („még nem!“ [„noch nicht!“]) (© by Paul Sacher Stiftung, Basel) In der am Abend des gleichen Tages entstandenen endgültigen Fassung bleibt nur die Kleinseptimenfolge über „s’allongea“ erhalten, die nun von verschiede- nen Einzelfiguren umgeben zu ist. Der Ablauf ist dem Kommen und Gehen der Beckettschen Schattenerscheinung nachempfunden, indem der aufstrebende Grossterzzirkel auf Septimen gestreckt wird, dann in Umkehrung in der Oktave verlöschen will („se dissolut“). Kurtág reiht aber nicht bloss Figuren auf, son- dern gestaltet das Verschwinden einer musikalischen Phrase („son ombre“). Die Textbewegung wird in intervallischen und artikulatorischen Metamorphosen ei- ner Einzelgestalt neu vollzogen. In den drei letzten Septimengruppen zieht sie ihre Schattenbahn, indem der Grossterzzirkel der ersten „Erscheinung“, zeitlich gedehnt, inverso beschrieben wird. Abbildung 20: Schema zu: György Kurtág, op. 36, apparition Kurtág nutzt bei der Arbeit an Becketts Texten in op. 36 ein weites mimetisches Spektrum, das von der klanglichen Illustration bis zum Vollzug einer Textidee im Tonsatz reicht. Er überführt den residualen Bildgehalt oder die gerade noch messbare textuelle Bewegung in monodische Formulierungen, indem er stets mit eindeutigen Sinngefügen operiert. Kurtág vollführt so das Kunststück, Becketts „sichere Ziellosigkeit“284 ins Dinghafte zurückzutreiben.151 3.3. Ein „komponiertes Programm“ Wie ist nun ein „komponiertes Programm“ aus der Sammlung von op. 36 zu ge- stalten? Kurtág führt es in seiner Einrichtung der „Pariser Fassung“ vor – nicht, indem er seine Interpreten zur „Querlektüre“ anregt, sondern ihnen eine Ausar- beitung vorlegt, in der er seine eigene Chronologie möglichst beibehält und neue instrumentale Musik einkomponiert. … pas à pas – nulle part …, op. 36 (1993–98) poèmes de Samuel Beckett et adaptions en vers anglais des maximes de Sébastien Chamfort for Baritone solo, string trio and percussion [„Pariser Fassung“] Introduzione I pas à pas – nulle part II le nain Hommage à Roland Moser III octave message à Pierre Boulez IV … le tout petit macabre – Ligetinek … imagine … V nuit Intermezzo 1 VI écoute-les VII octave (double) à Isabelle Kurtág VIII berceuse Hommage à Heinz Holliger Intermezzo 2 IX … d’où … X elles viennent … Hommage à Gösta Neuwirth XI rêve Hommage à Henri Pousseur XII apparition Jehudának XIII fous … Brunner Panninak XIV fin fond de néant Hommage à Eric Satie XV en face le pire … XVI inventaire Hommage à Jan van Vlijmen 284 Karl Krolow, Zu Samuel Becketts „Mirlitonnades“, S. 98.152 Intermezzo 3 XVII mouvement XVIII La calma Intermezzo 4 XIX Dieppe Hommage à François Sulyok XX de pied ferme Intermezzo 5 XXI … levons l’ancre … XXII a) [Violoncello solo] Sébastien Chamfort: du coeur de l’homme … b) [Schlagzeug solo] c) How hollow … XXIII sleep … XXIV an indian proverb XXV oblivion, sweet oblivion Hommage à Christian Wolff XXVI „lasciate ogni speranza“ XXVII a shocking case … a little song for Liz Baker XXVIII Valse Hommage à Helmut Lachenmann Intermezzo [6]: Pizzicato-keringő – Hommage à Ránki György XXIX Sébastien Chamfort: Méditation XXX … une découverte bouleversante … (double) XXXI asking for salve and solace Hommage à Merran Joy Poplar Den Zäsuren zwischen den grösseren Arbeitsphasen entsprechen die Intermezzi 3 und 5. Aus dem zweiten, sehr rasch niedergeschriebenen Faszikel bleiben nur zwei Gesänge, mouvement und … levons l’ancre …, stehen; die für die Urauf- führung u.a. verworfenen Stücke … rêverie … und Stuttgart gehen in den neu komponierten rêve und valse auf. Zur „Komposition“ des Programms schreitet Kurtág den Schaffensweg der Solo- fassung neu aus. Den wichtigsten Anhaltspunkt für die Ausarbeitung liefert da- her das Schrittsujet. Die Einleitung fasst klingende Schrittbilder in zwei kanoni- schen Zeitschichten: Die perkussive Verarbeitung eines womöglich aus dem Titelvers „pas à pas“ gezogenen rhythmischen Dreierschritts (Allegretto [Tempo I]) sowie ein skalares Ausschreiten des Tonraumes durch das Streichtrio (Largo [Tempo II]). Die Zeitschichten kommen noch nicht zusammen. Dauer und Ton- höhe, Deklamation und Melos sind in der Monodie erst noch zu verbinden.153 Das titelgebende Post-Scriptum-Motto klingt als erster Gesang. Er ist durch eine Variante der „pas à pas“-Formel vom Folgenden abgesetzt: Drei heftige Stock- hiebe beschliessen die eröffnende Sektion nach Nô-Manier. Nach diesem Beginn erscheint das Werk insgesamt wie eine Abfolge kleiner monodischer Schritte, „petits pas“, die durch instrumentale Interpolationen zum Stolpern gebracht werden. Beinahe alle Eingriffe in den chronologischen Ablauf der Gesänge sind durch das Schrittsujet motiviert; vier der sieben durch instrumentale Intermezzi getrennten Teile werden in syllabischen „Gehversuchen“ eröffnet. Die Abschlüs- se der Binnenteile 2 und 3 wie des Finales asking for salve and solace dagegen sind durch halbtönig melismatisches Abgleiten charakterisiert, in dem die Vers- füsse verschwinden. Das Schlussmelisma dehnt sich im Laufe des „komponier- ten Programms“ aus, bis in asking vor salve and solace ein Stadium erreicht ist, das an das Schlussduett Es blendete uns die Mondnacht der Kafka-Fragmente op. 24 erinnert. Fred Sallis bezieht die dortigen Extremmelismen auf ekstatische Übungen chassidischer Singpraxis.285 Im Unterschied zu den ebenfalls als „komponierte Programme“ bezeichneten konzertanten Agglomerationen aus Sammlungen wie Játékok oder Signs, Games and Messages hat Kurtág die Fassung zur Uraufführung von op. 36 tatsächlich komponierend hergestellt. Das betrifft neben der ritornellartigen Gliederung des gesamten Ablaufs durch neu komponierte Introduktion und Zwischenspiele vor allem die Einrichtung der instrumentalen Stützschicht für Widmer. In über- mässiger instrumentaler Konkretion verfestigen sich die mimetischen Spuren der Monodie: Der „murmure“ von le nain wird für Violoncello und grosse Trommel auskomponiert; „amour“ veranlasst in elles viennent sentimental aus- schweifende Glissandi der Streicher und der grossen Säge; die Schattenfigur von apparition wird in Echos („son ombre“) und Doppelechos („s’allongea“) weiter verschattet, bis diese in der letzten Erscheinung zusammenfallen („se dissolut“); als perkussives Echo werden in Dieppe reale Steine („le galet mort“) eingesetzt; das Wiegen des Spinnennetzes von berceuse („berce l’araignée“) ist in Glissandi eines Wassergongs nachempfunden – die zugleich über eine instrumentale Vor- liebe von Heinz Holliger, Widmungsträger dieses Gesangs, informieren. Kurtág bietet zahlreiche instrumentale commonplaces und Objets trouvés auf, um die Bilddimension des Textes genau zu erfassen und klanglich nachzubilden. Dazu dient vor allem das umfangreiche Schlagzeugarsenal, das O-Daiko, Boo- Bams, Holzbretter, „Polizei-Pfeife“ und eine „Blechdose mit Maiskörner[n]“ umfasst; der Schlagzeuger wird zudem mit vokalen Aufgaben („Schattengesang“ in apparition; „wie ein Wolfgehäul aus der Ferne“ in fous) betraut. Die Ausfüh- rung der Effekte fordert von Instrumentalisten und vom Sänger eine Aktions- und Kommunikationsbereitschaft, die dem Werk den Charakter eines kleinen Kammerspiels verleiht. Überdies benutzt Kurtág das Instrumentarium, um tona- 285 Fred Sallis, Skizzen zu den Kafka-Fragmenten op. 24. Ein Blick in György Kurtágs Werk- statt, in: Neue Berlinische Musikzeitung 11 (1996), Heft 2, S. 18f.154 le Zentrierungen oder wesentliche Intervallordnungen noch deutlicher heraus- zuarbeiten. Die Schlussmelismen von Berceuse und asking for salve and solace werden beispielsweise instrumental fortgesetzt und wandern nach c bzw. cis wei- ter; der Gesang von sleep erhält in den tremolierenden Marimba-Akkorden eine halbtondistante Doppelterzmixtur; die intermittierenden Paukenschläge am Be- ginn von … d’ou … auf f und des verraten vorab die tonale Ausrichtung des Stücks. * In der „Pariser Fassung“ hat Kurtág op. 36 für die Uraufführung eingerichtet. Hat er auch ein „Programm komponiert“? Die Abfolge der Stücke ist vor allem durch die Reihenfolge ihrer Entstehung bestimmt. Was Kurtág in der „Anlei- tung“ zu op. 37 fordert, ist in der Aufführungspraxis seiner Musik bislang kaum ansatzweise umgesetzt worden; die „Sudeldimension“ seines Konzepts ist nur zaghaft erschlossen. Grund dafür ist nicht zuletzt Kurtágs starke kompositori- sche Fixierung auf einzelne Interpreten, die auch „offen“ konzipierte Werke in einer (meist von Kurtág festgelegten) bestimmten Zusammenstellung immerfort reproduzieren.286 Die Möglichkeiten echter „Programmkomposition“ würden sich erst in vielen, möglichst verschiedenen interpretatorischen „Cross-rea- dings“ zeigen. Dies bedürfte einer regen Aufführungspraxis mit Interpreten, die genug Mut aufbringen müssten, den ordnenden Willen des Autors nach Redak- tionsschluss zu missachten. Solcher Erfahrungshorizont ist noch zu erarbeiten. 286 Eine geringfügig modifizierte Fassung findet sich auf der 2003 erschienenen Einspielung von op. 36 mit den Interpreten der Uraufführung (ECM 1730).155 156 Teil III Samuel Beckett in der Musik von Heinz Holliger157 1. Samuel Beckett: Not I (1972) 1.1. Prosa, Drama „… je suis tous ces mots …“ (L’Innommable) Samuel Beckett zog den entscheidenden Impuls für sein dramatisches Schaffen aus dem konstruktiven Dilemma, das er in der Arbeit an seiner Romantrilogie befördert hatte. Hier war es ihm gelungen, sein Schreiben in eine unendliche Enge zu führen, die Wolfgang Iser an „zwei Grundstrukturen“ festmacht: „Jedes Werk schafft sich selbst eine gewisse Vorgabe. Allein die Tatsache, dass geschrie- ben wird, bedeutet, dass eine Vorgabe gesetzt ist bzw. durch das Schreiben entsteht. Man schreibt immer über etwas. Daraus ergibt sich die erste Struktur dieser Texte: Sie zehren ihre eigene Vorgabe auf. Da aber diese Vorgabe selbst Thema des Schreibens ist, kann sie trotz aller Reduktion, die ihr widerfährt, niemals vollkommen verschwinden, wenngleich sie von Text zu Text immer minimaler wird. Daraus folgt die zweite Struk- tur der Beckettschen Texte. Wenn das Schreiben das Aufzehren der eigenen Vorgabe zum Inhalt hat, dann kann es seiner Struktur nach nicht an sein Ende gelangen.“287 Mit L’Innommable hatte Beckett die Produktionsbedingungen epischen Dich- tens derart strapaziert, dass jenes anvisierte, im Schreiben niemals total einhol- bare „Aufzehren der eigenen Vorlage“ nahezu greifbar erscheint. Aus der perma- nenten Falsifizierung konventioneller Argumentationmuster, dem ständigen Aufstellen und ständigen Durchstreichen literarischer Hypothesen resultiert ein Schreib-/Sprechstrom, eine subjektive Grösse umfliessend, die im Sprechen ei- nen Kontakt mit der Welt und sich selbst nicht herstellen kann und vielmehr dazu tendiert, als Sprechende in ihrem Sprechen aufzugehen. Die Feststellung „[…] je suis tous ces mots […]“288 kennzeichnet dies. Der Protagonist des „Ro- mans“ hat damit den Rückzug aus einer sprachlich repräsentierten Erfahrungs- welt mehr als nur angetreten. Ulrich Pothast behauptet, er sei sprechend ins Schweigen eingegangen.289 287 Wolfgang Iser, Ist das Ende hintergehbar?, in: ders., Der implizite Leser, München: Fink 1994, S. 406f. 288 L’Innommable, S. 166. 289 Vgl. Ulrich Pothast, Die eigentlich metaphysische Tätigkeit, S. 302ff.; „La voix. […] L’en- tendre toujours, sans entendre ce qu’elle dit, c’est ça que j’appelle me taire. […] Entendre trop mal pour pouvoir parler, c’est ça mon silence. C’est-à-dire que je parle toujours, mais quelque- fois trop bas, trop loin de moi, trop loin dans moi, pour m’entendre […]“ (L’Innommable, S. 177f.).158 Beckett hat den literarischen Exitus im Aufzehren einer selbstgestellten Vorgabe so weit getrieben, dass er sich beinahe um die Grundlage seiner eigenen Existenz als Dichter gebracht hätte. Der Weg führte in eine massive Schaffenskrise: Wei- terhin Kunstwerke zu artikulieren, die nicht hinter der radikalen Vorgabe der Romantrilogie zurückbleiben würden, erwies sich als problematisch. Als Prosa entstanden mit den Textes pour rien (1950) zunächst Stücke aus dem „Nachlass des Namenlosen“290, später die aus einem faktischen Torso hervorgegangene Er- zählung From an abandonded Work (1956). Ein Werk von der Ausdehnung eines Romans gelang mit Comment c’est (1960) nur noch ein letztes Mal, im Vertrau- en auf eine entsprechend belastbare Mechanik der Grossform. 1948 erfolgte mit En attendant Godot eine dezidierte Hinwendung zu dramati- schen Textformen, unmittelbar nach der Vollendung des zweiten Teils der Trilo- gie, Malone meurt (1948) und damit zu einem Zeitpunkt, an dem sich die we- sentliche Charakteristik der Schreiblage schon abzeichnete. In dieser Situation bemächtigte sich Beckett neuer stofflicher Voraussetzungen, wie sie die Bühnen- wirklichkeit mit sich bringt und an denen er neu ansetzen konnte. Freilich ge- schah dies nicht in restaurativer Absicht. Das neu entdeckte Medium ermöglich- te eine Fortsetzung der Schreibexorzismen unter ungleich schwierigeren Bedingungen: Der Dramatiker hat es nicht allein mit der sprachlichen Repräsen- tation eines Gegenstands zu tun, sondern sieht sich mit den robusteren Wider- ständen eines wie auch immer gearteten Bühnengeschehens konfroniert, das ins empirische Sein tritt. Sich auf dem Theater in die Enge zu schreiben bedeutet nicht allein, dessen Bedingungen dem „Text“ bis zur Bühnenfeindlichkeit zu op- fern, sondern auch, sich der physischen Trägheit szenischer Mittel zu stellen. Sa- muel Beckett nahm diese Herausforderung an, indem er seine Romanfiguren den Widerständen des Theaters ungeschützt aussetzte. Von Beginn an haben Becketts Paare und Doppelpaare die grössten Schwierig- keiten, sich innerhalb der Bühnenwirklichkeit, die unfehlbar den klassischen Ordnungsformen unterworfen ist, zurechtzufinden. Ein grosser Teil der Wech- selreden zwischen Vladimir und Estragon, jene dramatischen Klonen des ersten französischen Paares Mercier et Camier (1946), kreisen um die schiere Unsicher- heit der Orientierung in Zeit („ESTRAGON: Qu’est-ce que nous avons fait hier? VLADIMIR: Ce que nous avons fait hier? ESTRAGON: Oui. VLADIMIR: Ma foi … Se fâchant. Pour jeter le doute, à toi le pompon.“291) und Raum („Tu es sûr que c’est ici?“292). Bei Versuchen, des Erinnerungsvermögens über Kunstgriffe und technische Hilfsmittel wieder habhaft zu werden, scheitern Winnie293 und Krapp grandios („What’s a year now? The sour cud and the iron stool“.294). Die Komik, die diesen Stücken zu grossen Publikumserfolgen verholfen hat, resul- 290 Elmar Tophoven, Anmerkungen zur Übersetzung der „Textes pour rien“, in: Erzählungen, S. 255. 291 Warten auf Godot – En attendant Godot – Waiting for Godot, S. 40. 292 Ebd., S. 38.159 tiert nicht zuletzt aus einer Gespanntheit zwischen gesprochenem Wort und Bühnengeschehen („VLADIMIR: Alors, on y va? ESTRAGON: Allons-y! Ils ne bougent pas.“295). Der kausale Zusammenhang zwischen Bezeichnen und Be- zeichnetem ist in Frage gestellt, eine funktionale sprachliche Repräsentation der Dinge nicht mehr ohne weiteres gegeben. Becketts Figuren besassen immer schon die starke Neigung, „Organe des Kon- takts mit der Welt“296 einzubüssen. „Die Lahmen, Kranken, Blinden, Stummen, Tauben, Altersschwachen, an ihrem Kör- per dauerhaft Geschädigten, die in schrecklichen Gefässen Sitzenden, die auf einzelne Körperteile zurückgebildeten, die ganz und gar Toten – sie sind praktisch alle […] Fälle fortschreitenden Verlustes der Beziehung zur Welt.“297 In den Romanen dient solcher Verlust der gezielten Verwischung der letztlich sprachlich begründeten Konturen von Subjektivität. Auf der Bühne erscheinen solche Spuren von Weltverlust in ihrer vollen körperhaften Evidenz. In seinem Theater der sechziger Jahre zieht Beckett das ohnedies minimale In- ventar von Godot oder Fin de partie (1954) immer weiter zusammen. Bald do- miniert ein formalistischer Aspekt Becketts dramatische Arbeit: Das Bühenge- schehen von Play (1963) oder Come and Go (1965) erschöpft sich im Abspulen einer Kombinatorik, in der das Wort zur blossen Position verkommt. Im Fern- sehspiel Eh Joe (1964) ist die Einheit von dramatischem Bild und dramatischem Text schliesslich ganz aufgehoben. Ein vorläufiger Endpunkt ist 1968 mit dem Gelegenheitsstück Breath, einer „farce in five acts“298, erreicht: In 35 Sekunden fokussiert die zyklische Bühnensituation einen Schrei („Instant of recorded vagi- tus“299), dessen Wiederkehr durch Einatmen, Stille und Ausatmen vermittelt ist. Äusserungen, die als Markierung der Lebensränder aufgefasst werden kön- nen300, sind auf wenig mehr als eine halbe Minute zusammengeschoben. Heinz 293 Während der Proben einer Produktion von Glückliche Tage in der „Werkstatt“ des Berli- ner Schiller-Theaters im Jahr 1971 erklärte der Regie führende Beckett, „Winnie fühle sich in einer Gegenwart ohne Ausweg. Sie fühle, alles werde so bleiben. Wenn sie von der Vergangen- heit spreche, wisse sie nicht, wovon sie spreche, denn es könne keine Vergangenheit für sie ge- ben. Es gebe keine fliessende Zeit. Mit der Zeit könne sie sich überhaupt nicht auseinander set- zen.“ Alfred Hübner, Samuel Beckett inszeniert „Glückliche Tage“, Frankfurt am Main: Suhr- kamp 1976, S. 20. 294 Krapp’s Last Tape, in: Collected Shorter Plays, S. 62. 295 Warten auf Godot – En attendant Godot – Waiting for Godot, S. 138. 296 Ulrich Pothast, Die eigentlich metaphysische Tätigkeit, S. 325. 297 Ebd. 298 Samuel Beckett zitiert nach James Knowlson, John Pilling, Frescoes of the Skull, London: Calder 1979, S. 127. 299 Breath, in: Collected Shorter Plays, S. 211.160 Holliger nennt Breath „das längste je von Menschen geschaffene Bühnen- werk.“301 1.2. Unnennbares Ich „pestling the unalterable / whey of words“ (Samuel Beckett) In Breath hat Beckett dramatisches Sprechen auf einen körperhaften „vagitus“- Laut zurückgeführt, der ab Tonband eingespielt wird, der Anwesenheit eines Spielers damit nicht mehr bedarf. Das kann zweifellos als weit fortgeschrittene Aufzehrung dessen gelten, was im Bühnenspiel üblich ist. Die Aufzehrung aber wird nicht im Werk selbst artikuliert, sondern ist durch das Konzept gegeben. Dieter Mettler sieht in dieser aperçuhaft formulierten Szene einen möglichen Ausgangspunkt für das wesentlich ambitioniertere Vorhaben von Not I. „Mit Nicht Ich wollte Beckett vielleicht die Konsequenz, die er mit Atem erreicht hatte, in einem Stück erzielen, in dem es einen Sprecher gibt, und zwar dadurch, dass er die Sprache im Sprechen selbst vor allem Inhalt zu einem körperhaften Geräusch werden liess, das der Zuschauer zuerst auch nur als solches wahrnehmen kann und das im Text zuerst nicht an Worten, sondern an einem unbestimmten Geräusch –[„… all the time the buzzing … dull roar … in the skull …“302] – fassbar wird.“303 Protagonistin dieses Spiels ist die Sprechwunde selbst: Mouth, im Hintergrund rechts nur noch als schwach beleuchteter Mund der Darstellerin erkennbar. Ihr sekundiert eine grosse stehende, in eine weite schwarze Djellaba mit Kapuze ge- hüllte Gestalt unbestimmten Geschlechts im schwach beleuchteten linken Be- reich des Vordergrundes stumm und fast völlig reglos. Das ist Auditor, der Ver- nehmer. Der übrige Bühnenraum ist vollkommen dunkel und wird von Mouths rasendem Sprechstrom mit einer Reihung elliptischer Partikel ausgefüllt, der über die viertelstündige Dauer des Stückes hinausgreift: Vor Beginn erscheint die Stimme bereits als Murmeln, das hinter geschlossenem Vorhang vernehmbar ist. Das Stück neigt dazu, über die Spanne zwischen den Schreien von Breath hinauszugreifen. Die auf ihre Sprechquelle zusammengezogene Protagonistin veranstaltet eine Ich-Flucht in einem Redeschwall, in dem sie die Konturen ihrer Individuation 300 Vgl. auch Mouth: „… just the birth cry to get her going … breathing … then no more till this … old hag already …“ (Not I, in: Collected Shorter Plays, S. 220). 301 Heinz Holliger, META – TEMA – ATEM, in: Annette Landau (Hrsg.), Heinz Holliger, S. 63. 302 Not I, S. 221. 303 Dieter Mettler, Über „Nicht Ich“, in: Samuel Beckett, hrsg. von Hartmut Engelhardt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 244f.161 gänzlich aufzulösen sucht. Jedoch drohen die Worte immer wieder auf ihre sub- jektive Funktion zurückzufallen: Der Ablauf des Stückes ist gegliedert durch die fünfmalige Wiederkehr einer gefährlichen Situation, in der Mouth sich energisch weigert, die dritte Person aufzugeben: „ … what? .. who? .. no! .. she!“304 Auf diese neuralgischen Punkte in der Form von Not I reagiert Auditor mit einem Seitwärtsheben und Zurückfallen der verborgenen Arme in einer Geste hilflosen Mitleids, die von Mal zu Mal schwächer wird und schliesslich ganz ausbleibt. Obwohl Mouth es vermag, die dritte Person formal durchzuhalten, zeigt sich bald, dass sie sich als sprechendes Subjekt geradezu selbst erfindet. Ihre Rede ist von direkten Hinweisen auf ihre Bühnenexistenz durchsetzt: „… all the time the buzzing … so-called … in the ears“305; „and all the time this ray or beam … […] … always the same spot“306; „and now this stream … not catching the half of it … not the quarter … no idea … what she was saying“307; „nearest lavatory … start pouring it out … steady stream … mad stuff.“308 In Not I ist vor allem an- deren vom „Kunst-Ich“ die Rede. Sprechen als unaufhörlich strömende Logorrhöe avanciert so zum eigentlichen Bühnenereignis. Es ist weniger dazu bestimmt, mitzuteilen, sondern wäre eher, wie Mettler vorschlägt, als eine Art Körpergeräusch zu beschreiben.309 Auch Becketts eigene Charakterisierung zielt in diese Richtung: „Her speech a purely buccal phenomenon without mental control or understanding, only half heard. Function running away with organ. […] I hear it breathless, urgent, feverish, rhythmic, panting along, without undue concern with intelligibility. Adressed less to the understanding than to the nerves of the audience which should in a sense share her bewilderment.“310 Die szenische Realisierung jenes gedankenschnellen Sprechstroms war zwangs- läufig immer mit einer permanenten Überforderung der Darstellerinnen von Mouth verbunden, die ihre Arbeit an Not I übereinstimmend als Sprechfolter beschreiben. Ein Probenbericht der bedeutenden Mouth-Interpretin Billie Whi- telaw veranschaulicht den für die Aufführung des Stücks nötigen, bis an die Er- schöpfungsgrenze reichenden Körpereinsatz: 304 Not I, S. 217, 219, 221, 222. 305 Ebd., S. 218. 306 Ebd. 307 Ebd., S. 219. 308 Ebd., S. 222. 309 „when suddenly she felt … gradually she felt … her lips moving … imagine! .. her lips moving! .. as of course till then she had not … and not alone the lips … the cheeks … the jaws … the whole face … all those– … what? .. the tongue? .. yes … the tongue in the mouth … all those contorsions without which … no speech possible“ (ebd., S. 219). 310 Maurice Harmon (Hrsg.), No Author Better Served, S. 283.162 „I began to understand what an athlete feels like, as he goes through training. The work was painful; my ribcage protested at having to take such little breaths. Like a singer, I had to work out exactly where I was going to snatch breath. I was hyper-ven- tilating like mad and often became dizzy, staggering round and round the stage. My jaws ached.“311 Das in Not I ausgeführte Sujet ist im Roman L’Innommable deutlich vorgebildet. Nicht wenige Aussagen des Unnennbaren verdichten sich zu ich-verneinenden Reflexen und Bildlichkeiten des Bühnenstücks, die eher noch als die spärlichen situativen Restepisoden – von Beckett „live-scenes“ genannt – das eigentliche dramatische „Geschehen“ determinieren. Einige Beispiele aus L’Innommable mögen dies belegen. „J’ai l’air de parler, ce n’est pas moi, de moi, ce n’est pas de moi.“ (S. 7) „Chère incompréhension, c’est à toi que je devrai d’être moi, à la fin. Il ne restera bientôt plus rien de leurs bourrages. C’est moi alors que je vomirai enfin, dans des rots retentissants et inodores de famélique, s’achevant dans le coma, un long coma déli- cieux.“ (S. 63) „Dommage que pendant ce temps je sois dans l’obligation de donner de la bouche, ça l’empêche de saigner à son aise, en faisant nyam nyam.“ (S. 87) „Évoquer aux moments difficiles, où le découragement menace de se faire sentir, l’image d’une grande bouche idiote, rouge, lippue, naveuse, au secret, se vidant inlas- sablement, avec un bruit de lessive et de gros baisers, des mots qui l’obstruent.“ (S. 172) Auch die letzte, nicht mehr auflösbare offene Kadenz des L’Innommable wird in Not I aufgegriffen. „… ça va être le silence, là où je suis, je ne sait pas, je ne le saurai jamais, dans le silence on ne sait pas, il faut continuer, je ne peux pas continuer, je vais continuer.“ (L’Innom- mable, S. 213) „… keep on … trying … not knowing what… “ (Not I, S. 222) Das intendierte Sichzurückziehen aus einer sprachlich definierten Erfahrungs- welt in die forttreibenden Absonderungen des unnennbaren Sprechmonstrums von L’Innommable kann als für Becketts Schaffen zentrales Ereignis gelten. Nach mehr als 20 Jahren vermochte er dies unter den erschwerten Bedingungen eines dramatischen Projekts vollkommen erstmals in Not I zu realisieren. Die empirischen Zwänge der den klassischen Ordnungsformen unterworfenen Büh- nenwirklichkeit scheinen angesichts der Inszenierung unaufhörlichen Sprechens 311 Billie Whitelaw, Billie Whitelaw … Who He?, London: Hodder & Stoughton 1995, S. 122163 ausser Kraft gesetzt. Die Protagonistin bezieht den Grund ihres Daseins letztlich aus diesem szenischen Sprechen selbst: „‘She’ is purely a stage entity, part of a stage image and purveyor of a stage text. The rest is Ibsen.“312 1.3. Suche nach Form I: Kilcool „It may take years.“ (Samuel Beckett) In Not I hat Beckett die Seinsform des Unnennbaren, die im Diktum „… je suis tous ces mots …“ zum Ausdruck kommt, in dramatis personae umgewandelt. Er hat sein Theater der Selbstflucht in extremis getrieben und auf das Sprechorgan selbst, die letzte, im Sprechakt nicht auslöschbare Bastion von Subjektivität, zu- sammengezogen. Bis dies auf eine „wirkliche“ Bühne gebracht werden konnte, bedurfte es eines langen Prozesses formalistischer Ambiguisierung, der sich über zehn Jahre hinzog. Beckett musste die Werkzeuge, die er zur Artikulation seiner Form benötigte, erst schaffen. Die gültige Bühnensituation stellt sich als Ergeb- nis wiederholter Durchformung empirischer Vorgaben dar. Mouths Klangstrom resultiert aus einer ausdauernden Misshandlung konventionellen Sprachge- brauchs; er ist reine Kunstsprache, die es erst zu komponieren galt. Becketts Vorgehen bei diesem Prozess lässt sich anhand der gut dokumentierten Entste- hung von Not I nachvollziehen. * Der erste greifbare Ansatz zu Not I ist das Projekt eines szenischen Monologs mit dem Titel Kilcool, über das Beckett in einer an Alan Schneider gerichteten Nachricht vom 25. August 1963 Auskunft gibt. Er war sich der Schwierigkeiten, die mit der Realisierung seines Vorhabens verbunden waren, von Beginn an be- wusst: „I have started these last few days scratching round like an old hen in the desert for the structures and text of that face play I told you about. […] I have never undertaken anything so tenuous and at the same time so complex. It may take years.“313 In einem ersten Entwurf des Fragment gebliebenen dramatischen Monologs ent- steht eine Bühnensituation, die wie ein nachgetragener dritter Akt zu Happy Days erscheint und erst in Not I und That Time (1974), das Beckett zusammen 312 Maurice Harmon (Hrsg.), No Author Better Served, S. 283. 313 Ebd., S. 139f.164 mit Footfalls (1975) als der „Not I family“314 zugehörig betrachtete, wieder auf- gegriffen wird: „Woman’s face alone in constant light. Nothing but fixed lined lit face and speech.“315 Der Monolog behandelt Erinnerungen der Protagonistin, die Beckett aus eige- nen Kindheitserlebnissen um das reale irische Dorf Kilcoole (sic!) nahe Dublin bezogen haben dürfte.316 Man erfährt von einem verwaisten Mädchen, das sich nach dem Tod seiner Eltern mit der Eisenbahn von Dublin nach Kilcoole auf- macht, um dort bei ihrer verwitweten, kinderlosen Tante zu leben. Das „Not I“- Paradigma ist im Entwurf von Beginn an vorgesehen. Beckett notiert: „Talks of herself in 3rd person.“317 Schon im ersten Entwurf macht sich eine starke Tendenz zur Gliederung des Er- zählstoffes durch „szenische“ Signale bemerkbar, die – wie etwa die durch be- stimmte Stichworte ausgelösten Tränen – jeweils dreifach auftreten. In einem zweiten Entwurf liegt die wesentliche Arbeit in der formalistischen Verarbeitung des gefundenen Erzählstoffs. Ein detaillierter Plan zur Ausführung des Mono- logs verdeutlicht, warum Beckett im Brief an Alan Schneider so genau zwischen „structures and text of that face play“ unterscheidet: Mittels Strukturierung ei- nes vorher entworfenen Textes soll eine neue Substanz gewonnen werden. Dazu gehört im wesentlichen die Vorordnung des Materials nach „Themes“, aus de- nen die monologisierende Stimme komponiert werden kann. Ihre Einsätze kön- nen unabhängig vom narrativen Zug bzw. der zeitlichen Ausrichtung des Mono- logs erfolgen. Solche Kausalitäten sollen gelockert werden zugunsten eines neuen Gebildes eigenen Rechts. „Themes, lay down before writing. to each theme a certain pause lenght. ” ” ” ” different voice quality (speed, high high or low moved or cold etc.) 1 theme only leads to tears ” ” ” ” ” smile ” ” ” ” ” laugh 314 Samuel Beckett zitiert nach Deirdre Bair, Samuel Beckett: A Biography, London: Jo- nathan Cape 1978, S. 636. 315 Zitiert nach Rosemary Pountney, Theatre of Shadows: Samuel Beckett’s Drama 1956–76, Gerrards Cross: Colin Smythe 1988, S. 93; die vorliegende knappe Betrachtung stützt sich auf Pountneys ausführliche Quellenstudien, sowie auf: Stanley E. Gontarski, The Intent of Undoing in Samuel Beckett’s Dramatic Texts, Bloomington: Indiana University Press 1985. 316 Vgl. Eoin O’Brien, The Beckett Country, S. 134f. 317 Zitiert nach Rosemary Pountney, Theatre of Shadows, S. 93.165 Details for above prayer to time for dark as life is darkened. This is the tear-producer. Three times, including curtain (light on weeping face, prayer unanswered.) Within given theme normal conversation pauses. Only before text engaged put a full lenght pause. Whole text spoken over rapid buzz only audible in major pauses and during silent weeping. ‚I‘ ‚me‘ etc. never spoken outside assumed voice. Identification by final prayer to time in assumed voice –“318 Später benennt Beckett acht „Themes“: „Themes 1. Light – dark leading to prayer for dark & tears. 3 time three times: opening, midway, end. 2. Voice imitated. 3. Thoughts. 4. Lover. 5. Age. 6. Never presumes seen, heard. 7. Her body. 8. Burial.“319 Die Kilcool-Entwürfe dokumentieren eine dramatische Konzeption, die ziemlich genau zwischen Happy Days und Not I angesiedelt ist: Entspricht die geforderte Vielzahl der ständig wechselnden Stimm- bzw. Affektregister („to each theme a different voice quality“) noch der Redeweise Winnies, kündigt sich Mouths kon- tinuierlicher Wortstrom im Hintergrund des Haupttextes als „soft rapid buzz“, der nur während Pausen vernehmbar wird, schon an. Später entsteht ein greifba- rer textueller Zusammenhang zwischen Not I und Happy Days vor allem da- durch, dass Mouth Winnies Gebete um „tender mercies“320 nochmals aufsagt. Die Sphäre des Religiösen gehört spätestens seit En attendant Godot – dessen abwesender Protagonist vielleicht auch nur nach dem mässig erfolgreichen Rad- 318 Zitiert nach Rosemary Pountney, Theatre of Shadows, S. 94. 319 Ebd., S. 94 f.; vgl. auch Stanley E. Gontarski, The Intent of Undoing in Samuel Beckett’s Dramatic Texts, S. 136f.; etwaige Divergenzen in den Transkriptionen sind wohl der zum Teil äusserst schwer entzifferbaren Handschrift Becketts zuzuschreiben. 320 Ein früher Arbeitstitel von Happy Days lautete Tender Mercies; vgl. Maurice Harmon (Hrsg.), No Author Better Served, S. 79; alle Gebete in Not I und Happy Days können wörtlich auf Bibelstellen zurückgeführt werden; vgl. Stanley E. Gontarski, The Intent of Undoing in Sa- muel Beckett’s Dramatic Texts, S. 146.166 rennfahrer Godeau benannt ist321 – zu den Lieblingsfeldern des Beckett-Rät- selns. Und auch über das ausgiebige Beten von Winnie und Mouth ist schon viel spekuliert worden. In solche Deutungssphären soll hier nicht eingedrungen wer- den. Einiges spricht aber dafür, dass Becketts Sakralität pragmatisch motiviert ist. Nach der Uraufführung von Footfalls zeigte sich Martin Esslin erstaunt über die Fülle religiöser Anspielungen in jenem Spiel und erkundigte sich auf der Pre- mierenfeier, ob Beckett sich dadurch zum christlichen Glauben bekennen wolle. Beckett antwortete: „No, but it’s the only mythology we have.“322 Ähnliches zeigt ein Blick auf den Kilcool-Entwurf: Hier stellt Beckett eine aus- serordentlich lakonische Gleichung auf, indem er die Gebete in einen genau de- finierten funktionalen Kontext einordnet: „prayer to time for dark as life is darkened. This is the tear-producer.“ Beckett notiert später: „every word is mild torture“.323 Auf das zentrale Thema des Betens gründet eine immanente Logik der Textbe- wegung, die zum Dunklen, zum Schweigen drängt. Das Kilcool-Fragment ist als Versuch ausgewiesen, in szenischer, gleichsam abbüssender Rede jene trügeri- sche Sprachoberfläche zu durchdringen, um, wie vorher in L’Innommable, „sprechend ins Schweigen“ einzugehen. Der Monolog stellt in seiner Eigen- schaft als „prayer to time“ die wiederholte künstlerische Auseinandersetzung mit einem Problem dar, mit dem sich Beckett schon in seiner Studie Proust be- fasst hatte: „And the Goddess who requires this sacrifice and this humiliation, whose sole condi- tion of patronage is corruptibility, and into whose faith and worship all mankind is born, is the Goddess of Time.“ (Proust, S. 57) In der Betrachtung des Artikulationsprozesses von Not I wird sich zeigen, dass Beckett keine geringen Mittel aufbietet, um dem Einflussbereich dieser Göttin zu entkommen. Ein ziemlich trickreiches Verfahren, in büssender Rede „zeitlo- ses“ Schweigen gleichsam durch die Hintertür zu beziehen, liegt in der ellipti- schen Zerstäubung des Wortstroms, bei der die Redesplitter durch kurze Dauern faktischer Stille getrennt sind. Bereits in den Entwürfen zum Kilcool-Fragment 321 Vgl. Friedhelm Rathjen, Ein treffliches leichtes Gerät mit Holzfelgen und roten Reifen – Samuel Beckett und seine Fahrräder, Darmstadt: Häusser 1996, S. 35. 322 Martin Esslin im Gespräch mit dem Autor, Basel, 12. Mai 2001. 323 Zitiert nach Rosemary Pountney, Theatre of Shadows, S. 97.167 wendet sich Beckett diesem Phänomen mit Akribie zu, indem er alle verfügbaren Redepausen zusammenzählt. „30 million seconds in a year how many pauses silences of 3 seconds to make total silence of 24 hrs. = 86.000 seconds“324 Das Ergebnis lautet: „10 days silence in year“.325 Doch was sind schon zehn stille Tage angesichts jenes „double-headed monster of damnation and salvation – Time“?326 Das Problem einer sprachlichen Lösung der subjektiven Kontur einer Bühnenperson war auf diese Weise freilich nicht wesentlich berührt. Der in listiger Addition erschlichene stumme Kurzurlaub ist nur ein Beispiel für die partielle szenische Bändigung physischer Stille, die gera- de im „Verschweigen“ sprachliche Aktivität entfesselt. Beckett vermochte es nicht, das Kilcool-Projekt zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Die neu er- probten Mittel reichten offenbar noch nicht aus, um die Ambiguisierung drama- tischer Form bis zur erwünschten Konsequenz zu treiben, die in der scheinbaren Aufhebung ihrer empirischen Konstituentien liegt. Die situativen Residua ver- hielten sich der szenischen Konzeption gegenüber noch starr, ihr Realismus er- wies sich, wie erwartet, als überaus hartnäckig. „The incidents are often very realistic and approach literary cliché, without the usual sense of linguistic play associated with Beckett’s use of clishé. And perhaps the grief over a lost mother was too autobiographical [Becketts Mutter Mary Beckett verstarb im September 1950] or insufficiently undone […] The episodes suggest too much authorial presence.“327 Gegen Ende 1963 gab Beckett Kilcool auf. Die letzten erhaltenen Aufzeichnun- gen zu diesem Projekt bilden eine weitere Variante zur aporetischen Conclusio von L’Innommable, allerdings ohne dass jene im ersten Anlauf zum „face play“ fruchtbar gemacht werden konnte. „I am nothing speaking of nothing neither to myself nor to anyone else I have been speaking for ever and will go on speaking for ever.“328 324 Zitiert nach Rosemary Pountney, Theatre of Shadows, S. 97. 325 Zitiert nach Stanley E. Gontarski, The Intent of Undoing in Samuel Beckett’s Dramatic Texts, S. 139. 326 Proust, S. 11. 327 Stanley E. Gontarski, The Intent of Undoing in Samuel Beckett’s Dramatic Texts, S. 141. 328 Zitiert nach Rosemary Pountney, Theatre of Shadows, S. 98.168 1.4. Suche nach Form II: Not I „… not made clear …“ (Samuel Beckett) Erst 1972 wandte sich Beckett dem Projekt eines „face-play“ erneut zu, indem er die früheren Materialien einem viel radikaleren Prozess der Formalisierung aussetzte, bis sie zu Bestandteilen der Kunstsprache von Mouth gerinnen konn- ten. Inzwischen waren andere Realien hinzugekommen, deren autobiographi- scher Charakter weniger durchschlagend ist als in Kilcool. Sie sind vor allem für die spezifische Bühnensituation von Bedeutung. Die Figur des Auditor geht auf Becketts Beobachtung einer Djellaba-verhüllten Araberin „in a position of inten- se listening“329 während eines Aufenthalts in Tunis Ende Februar 1972 zurück; die Gestalt von Mouth speist sich wieder aus einer irischen Erinnerung: „I knew that woman in Ireland … I knew who she was – not ‚she‘ specifically, one sin- gle woman, but there were so many of those old crones, stumbling down the lanes, in the ditches, beside the hedgerows. Ireland is full of them. And I heard ‚her‘ saying what I wrote in Not I. I actually heard it.“330 Die Konstellation von Mouth und Auditor – dem vielleicht seltsamsten Beckett- Paar – wurde offenbar durch Caravaggios Gemälde Die Enthauptung Johannes’ des Täufers (1608)331, das Beckett 1971 in der La Valletta Kathedrale auf Malta kennenlernte, inspiriert.332 Ein Textelement, das aus Becketts Kindheitserinne- rungen stammt, ist mit „Croker’s acres“333 gegeben. Und wie so oft alludiert Beckett mit „April morning“334 auf seinen eigenen Geburtstag am 13. April 1906. Beckett bezog das Rohmaterial für sein neues Projekt zwar nach wie vor weitge- hend aus Dingen, die er beobachtet oder erlebt hatte; jene sollten nur noch die Grundsubstanz für eine neue Textform abgeben, ohne dabei eigenwertig hervor- zutreten. Zur Diskreditierung seines Mediums, der den empirischen Zwängen 329 Enoch Brater, Dada, Surrealism, and the Genesis of Not I, in: Modern Drama 18 (März 1975), S. 50. 330 Zitiert nach Deirdre Bair, Samuel Beckett: A Biography, S. 622. 331 Vgl. etwa die Reproduktion des Gemäldes in: Anon., Caravaggio, Hof 1995 (= Eine Fondacc–Forschung Verification 1995), S. 140. 332 Vgl. Stanley E. Gontarski, The Intent of Undoing in Samuel Beckett’s Dramatic Texts, S. 132. 333 Not I, S. 220; Boss Crokers Rennwiesen befanden sich in unmittelbarer Nähe von Becketts Elternhaus Cooldrinagh im Dubliner Vorort Foxrock; vgl. Eoin O’Brien, The Beckett Country, S. 71ff. 334 Not I, erstmals S. 216f.169 unterworfenen Bühnenwirklichkeit, war Beckett „the world […] a mere means like any other […].“335 Der Neuansatz zu Not I erfolgte in handschriftlichen Entwürfen und zwei ersten Typoskripten in der Zeit vom 20. März bis 1. April 1972. Den entscheidenden Schritt zur Ausbildung des dramatischen Redestroms tat Beckett, als er die er- sten Entwürfe in einer „Analysis“ neu verarbeitete.336 Dies ist ein Katalog, in dem das aufgefundene Textmaterial nach vierzehn „Themes“ inventarisiert ist. Im Unterschied zu Kilcool konnte dieses Verfahren nun fruchtbar gemacht wer- den, nachdem Beckett es in weit rigoroserer Weise wenige Jahre zuvor bereits in Sans (1969), dem die Prosasammlung Têtes-mortes abschliessenden Text, er- probt hatte. Als technische Voraussetzung zur Not I-„Analysis“ sei das Sans- Prinzip kurz erläutert. Die bizyklische Form von Sans resultiert aus einer doppelten Zufallsauswahl aus einem topisch geordneten Repertoire von insgesamt 60 Sätzen. Im Vorfeld einer radiophonen Aufführung seiner englischen Selbstübertragung Lessness (1970) hatte Beckett den zuständigen Rundfunkredakteur der BBC, Martin Esslin, über das Kompositionsprinzip, das er auch zur Artikulation von Not I benötigte, ge- nau informiert: „Lessness proceeds from Ping. It is composed of 6 statement groups each containing 10 sentences, i.e. 60 sentences in all. These 60 are first given in a certain order or paragraph structure, then repeated in a different order and paragraph structure. The whole consists therefore of 2 × 60 = 120 sentences arranged and rearranged in 2 × 12 = 24 paragraphs. Each statement group is formally differentiated and the 10 sentences composing it ‚signed‘ by certain elements common to all. Group A – Collapse of refuge – Sign: ‚true refuge.‘ Group B – Outer world – Sign: ‚earth-sky‘ juxtaposed or apart. Group C – body exposed – Sign: ‚little body.‘ Group D – Refuge forgotten – Sign: ‚all gone from mind.‘ Group E – Past and future denied – ‚never‘ – exept in the one sentence ‚figment dawn etc.‘ Group F – Past and future affirmed – Sign: future tense.“337 Um die Strenge der Disposition zu verdeutlichen, hatte Beckett angeregt, die Rundfunklesung mit sechs verschiedenen Rezitatoren durchzuführen. Wie Esslin 335 Three Dialogues, S. 102. 336 Für eine ausführliche Darstellung der Not I-Manuskripte im Samuel Beckett Archive der Reading University Library vgl. Stanley E. Gontarski, The Intent of Undoing in Samuel Beckett’s Dramatic Texts und Rosemary Pountney, Theatre of Shadows. 337 Martin Esslin, Samuel Beckett – Infinity, Eternity, S. 118.170 berichtet, war Beckett mit dem Ergebnis, das im Februar 1971 ausgestrahlt wur- de, nicht zufrieden: „He felt that the six individual voices were too strongly differenciated from each other. He would have preferred them to sound all like variations of the same voice, which, of course, would have produced the impression that there was only one voice speaking […].“338 In Not I realisiert Beckett dies in der Artikulation einer sich „polyphon“ aufspal- tenden Einzelstimme, deren Kontinuität aber durch den fortwährenden Wechsel innerhalb vierzehn unterscheidbarer „Themes“ zustande kommt. Die Stimme bezieht ihre „Einheit“ aus einer Vielzahl von einander interpolierenden Schich- ten, die in Sans/Lessness noch als „Stimmen“ figurierten. Das permanent Unstete schlägt um in den Eindruck jenes gleichförmigen Rauschens, das Mouth be- schreibt („… and all the time the buzzing … dull roar in the skull …“339). Die thematischen Gruppierungen, die Beckett in seiner „Analysis“ festlegt, sind variabler als die Ordnung der „statement-groups“ von Sans/Lessness. Allein da- durch, dass sich die Permutationsgrösse von geschlossenen syntaktischen Gebil- den auf unregelmässige elliptische Redeportionen verschiebt, in denen „die wahrnehmungspsychologisch ideale Textportion von der Länge eines (klassi- schen) Kolons oder halben Alexandriners oder von sieben Silben plus/minus eins fast immer unterschritten bleibt“340, ist eine wesentlich flexiblere Durchfor- mung des Wortstroms gewährleistet. Die nachfolgende Transkription der äusserst schwer entzifferbaren „Analysis“ stützt sich auf die sehr mangelhafte Reproduktion bei Pountney, Theatre of Shadows. Der Übertragungsversuch bleibt daher lückenhaft, bietet aber dennoch entscheidende Hinweise auf die formale Artikulation von Not I. Unsichere Les- arten sind in eckige Klammern gesetzt. „Analysis Birth … [birth in cry] – home forgotten – parents unknown – premature – no love – waifs’ [love] Field … what. 65 – picking cowslips to make a ball – april morning light – stop and stare into space – eye fixed on distant bell […] – going […] where all went out – fantasy of returning there – lie down face in grass – nothing but the larks 338 Ebd., S. 120. 339 Not I, S. 221. 340 Aus Elmar Tophovens Anmerkung zu seiner Übertragung Nicht Ich, in: Samuel Beckett, Theaterstücke, S. 259.171 insentience ... first total – doesn’t know what position she’s in – only eyelids moving since […] [has] – this questioned with memory of fields – then lips cut moving and […] [whole screaming apparition] – alow eyes 100’ (mention earlier !!) – […] so far – so far .. […] pain moon; beam or ray […] poking – amplify. buzzing .. so-called – not in ears but [heard of] skull – preventing her from hearing – from thinking – dull roar like falls – xxx [regard ….in … .erration of words] brain .. working from beginning – first thought – next though always much later – gets [?]nally out of hand – raving – flickering around – grabbing at straw – dragging up past – preventing her from hearing – the odd thoughts silent the odd way – no idea what she’s thinking – […] in the dark – can’t stop it ([…]) – memory .. shopping centre – field – odds + ends of waiting – one time she cried – add to speculations – . perhaps something she had to say – (how it had been e.g.) – perhaps something she had to think – then forgiven – back in field – with denied by „interruptor“ walking – . walking all her days – stop – stare into space – amplify punishment/ suffering … first thought punishment – merciful God – waifs – denied since and suffering – […] if thought to be suffering – failure to sin […] suffering (brain) […] as tho not explicitly stated suffering beginns with voice + thought w. buzzing interruptions to propose 1st person „What? – Who? – What? – no – no!“ (passim) – to remind of buzzing (passim) – to correct age (65) – to deny she had to say tell anything (now reconcile with [Pfeil zu Absatzbeginn „to propose 1st person“]) to deny she had to think anything (65) to reject to ray (I)172 beam …from beginning – moon image – moon denied – just part of punishment – but painless – so far – same spot as first (not xxxxxxxx made clear) – then flickering (analogy with thought) – ferreting – pain beginning (not made clear) speechless … speechless infant – all her days – vowel sounds rare occasions – ex. supermart – another ex. – how she survived voice … always stream – not the quarter – first denied as hers – […] of sounds – then […] what lips […] – and then what she’s saying – can’t stop it […]“341 Dieses Inventar lieferte die Voraussetzung für die Umwandlung der Grundsub- stanz für Not I in eine Art Werkstoff, aus dem ein dichtes parataktisches Gefüge artikuliert werden konnte. Beckett versah seine „Themes“ mit zusätzlichen Hin- weisen für ihre Ausführung („mention earlier!!“, „amplify“, „add to“ etc.), die wie im Fall der Kilcool-Skizze schichtübergreifende Zusammenhänge herstellen, aus denen die Textbewegung resultiert – zum Beispiel: „suffering begins with voice + thought w. buzzing“ „beam […] just part of punishment – […] same spot as first […] – then flickering (ana- logy with thought) – ferreting – pain beginning“ So induziert Beckett dramatische Form. Das System ist ein Mittel zur Textkom- position, die sich aus der Beziehung von Einzelelementen fügt. Becketts pragma- tische Haltung kommt in einer Bemerkung im Skript zu Film (1963) zum Aus- druck: „No truth value attaches to above, regarded as of merely structural and dramatic con- venience.“342 Zudem entfalten sich die formbildenden Zusammenhänge von Not I wie unter Selbstzensur: Beckett versah sie mit Hinweisen wie „as tho not explicitly stated“ und „not made clear“. Eine entscheidende Massnahme zur Ausführung der mit- tels „Analysis“ festgelegten Materialien besteht wie hier in ihrer systematischen Verschleierung. Insgesamt ist die Tendenz zur formalisierenden Auflösung des Gefundenen, nach Gontarskis Wort „the intent of undoing“, als wichtigstes Pro- duktionsmittel anzusehen. 341 R.U.L. MS. 1227/7/12/1, Transkriptionsversuch nach Rosemary Pountney, Theatre of Shadows, S. 245. 342 Beckett über seine Interpretation von George Barkleys Axiom „Esse est percipi“ für Film (1963), in: Collected Shorter Plays, S. 163. 173 Obwohl der Weg von der „Analysis“ zur publizierten Textgestalt über minde- stens vier weitere Produktionsphasen führte, die Modifikationen und neue In- terpolationen mit sich brachten343, besitzen die ursprünglichen thematischen Lemmata bereits genügend Verbindlichkeit, um in der endgültigen Fassung iden- tifiziert werden zu können (siehe Liste Seite 171ff.). Im Unterschied zu den „statement-groups“ von Sans/Lessness ist eine totale Auflösung der „Themes“ selbstverständlich nicht möglich, da sie ein äusserst feinmaschiges Netz aus Echos und Klangähnlichkeiten induzieren. Aus ihm bildet sich ein Wortstrom, nichts „erzählend“, sondern sich im ebenso permanenten wie osmotischen Wechsel von gegenseitig durchlässigen Themen ergehend. Mettler formuliert ei- nen Befund über die Kunstsprache von Not I, der auch auf den Schreibstrom von L’Innommable – dem Roman-Gegenstück zu Not I – passen könnte: „Das Sprechen spricht eigentlich überhaupt nicht ‚über‘ etwas, sondern produziert immer sich selbst fort, und alles, was es sagt, ist dazu Mittel, ist Funktion des Redens, das sich davon ablöst.“344 Ergebnis ist ein permanentes Schwanken zwischen Resten an Wortsinn und der entsemantisierenden klanglichen Qualität im Vernehmen des Sprechstroms. Aus dem Verfahren einer umfassenden formalistischen Ambiguisierung resultiert eine neue, zum Hermetischen tendierende Textform, die für den Zuhörer eine nicht auflösbare Irritation garantiert. Erst nach der uneingeschränkten Anwen- dung dieses Verfahrens gelang Beckett der Durchbruch, der ihm neun Jahre zu- vor versagt geblieben war. „Once he [Beckett] defined his subject and orchestrated the narrative fragments not along a temporal line, as he did in Kilcool, but musically, relying not on causality but on repetition and variation of his fourteen thematic categories, the creative process proved fruitfull.“345 Becketts vielbeschworene „Musikalität“ liegt wenn irgendwo, so in solchem „verklanglichenden“ Missbrauch von Sprache. Die Erinnerungen an die schwatzhafte Irin – „I actually heard it“ – und auch an die Stimme Billie White- laws, die Beckett bei der Niederschrift vor Ohren gehabt haben soll346, können als auditiv assoziierte Initialmomente als fontes inventionis gelten. Not I liefert ein Beispiel für eine klingende Textform, in der ein Blick hinter die sprachliche Fassade riskiert wird. Die eminent „musikalische“ Behandlung des Wortmateri- als sorgt für die annähernde Preisgabe zeitlicher Orientierung, da die Bestandtei- le des Redestroms unablässig nur um sich selbst kreisen und in einen Klangsog 343 Vgl. die Übersicht in Rosemary Pountney, Theatre of Shadows, S. 254ff. 344 Dieter Mettler, Über „Nicht Ich“, S. 252. 345 Stanley E. Gontarski, The Intent of Undoing in Samuel Beckett’s Dramatic Texts, S. 149. 346 Vgl. Billie Whitelaw, Who He?, S. 117.174 hineinführen – nicht unähnlich manchen Werken György Ligetis gefriert unaus- gesetzte Kontinuität zur Statik. 1.5. Form „… no stopping it …“ (Not I) Bei der Frage nach der Beschaffenheit jenes „schwindelnden [,] unergründliche Schlünde von Stillschweigen verknüpfenden Pfad[s] von Lauten“347 ist eine Un- tersuchung zumal der endgültigen Positionen des in der „Analysis“ vorgeordne- ten Materials aufschlussreich. Obwohl diese infolge der stark osmotischen Na- tur des Monologs nur grob und näherungsweise zu orten ist, sind die Befunde dennoch eindeutig und geben hinreichend Aufschluss über die zyklische Organi- sation des Textes. Identifizierbare Positionen seien hierzu als Incipits aufgelistet; schichtinterne Interpolationen sind durch einfache Kommata gekennzeichnet. 1. „birth“ (Z. 1; Z. 198; Z. 227) Signale: „tiny little thing“; „before its time“; „godforsaken hole“; „no love“; „spared that“. Σ 3 2. „interruptions“ ([„long“] Z. 2; Z. 13; Z. 19; Z. 20; Z. 29; Z. 30; Z. 58; Z. 78; Z. 79; Z. 81; Z. 97; Z. 98; Z. 99; Z. 127; Z. 142; Z. 145; Z. 180; Z. 191; Z. 192; Z. 193; Z. 198; Z. 208; Z. 211; Z. 217; Z. 223; Z. 226; Z. 226; Z. 248; Z. 252; Z. 252) Σ 30 (=22+8) Signale: Die „interruptions“ bilden eine Störschicht aus schichtübergreifenden, durch invariables „what?“ und nach- geordnete Frage ausgelösten Zäsuren, deren Dauer Beckett im sog. „Hyde Park Manuscript“348 für eine Not I-Produk- tion mit Anthony Page am 16. Januar 1973 genau festgelegt hat. Der kontinuierlich unterbrochene, elliptische Wortstrom ist hiernach durch 22 kurze Pausen gegliedert; lange Zäsuren (durch unterstrichene Zeilenzahl angegeben) erfolgen immer nach Mouths Refrain der Ich-Verneinung, sowie an drei ei- gens ausgewiesenen Stellen. 347 Disjecta, S. 53 (orginal deutsch). 348 MS 1227/7/12/11 im Samuel Beckett Archive der University of Reading, faksimiliert und transkribiert (Erratum auf S. 465: [P.4 l. 49 after] „‚all-‘ begging“, recte: „‚all-‘ buzzing“) in: The Theatrical Notebooks of Samuel Beckett: The Shorter Plays, hrsg. von James Knowlson, London & New York: Faber and Faber/Grove Press 1999, S. 463 ff.175 3. „speechless“ (Z. 9; Z. 103; Z. 108; Z. 116; Z. 200; Z. 228) Σ 6 Signale: „speechless infant“; „vowel sounds“; „how she sur- vived“. 4. „field“ (in Becketts späterer typographischer „Not I – synopsis“349 auch als „life scene 1“ ausgewiesen) (Z. 12; Z. 89; Z. 185; Z. 214; Z. 256) Σ 5 Signale: „back in the field“; „April morning“; „face in the grass“; „nothing but the larks“. 5. „insentience“ (Z. 21, Z. 25, Z. 28, Z. 30; Z. 75; Z. 81, Z. 82; Z. 122; Z. 135; Z. 142, Z. 143, Z. 145; Z. 189; Z. 246) Σ 8 Signale: „she did not know … what position she was in“; „whole body like gone“; häufig Struktur einer (etwa durch „imagine!“) unterbrochenen Aufzählung. 6. „buzzing“ (Z. 22; Z. 58; Z. 81; Z. 96; Z. 142; Z. 179; Z. 193; Z. 248) Σ 8 Signal: Meist intermittierend (dann gleichzeitig zu 2. „inter- ruptions“ gehörig) „what? … the buzzing? …“. 7. „beam“ (Z. 23; Z. 61; Z. 181; Z. 194; Z. 249) Σ 5 Signale: „ray of light“; „moon“. 8. „brain“ (Z. 28, Z. 30, Z. 32; Z. 56; Z. 67; Z. 87; Z. 133; Z. 138; Z. 141; Z. 153; Z. 176; Z. 187; Z. 219; Z. 240) Σ 12 Signale: „first thought“; „oh long after“; „sudden flash“; „grabbing at straw“. 9. „punishment/ suffering“ (Z. 32; Z. 184; Z. 213; Z. 225) Σ 4 Signale: „merciful God“; „sins“; „God is love“; „tender mer- cies“. 10. „so far“ (Z. 67; Z. 138; Z. 195; Z. 250) Σ 4 Signal: „so far … ha! .. so far“. 349 MS 1227/7/12/10 im Samuel Beckett Archive der University of Reading, faksimiliert in: Rosemary Pountney, Theatre of Shadows, S. 247.176 11. „voice“ (Z. 95, Z. 98, Z. 99; Z. 107; Z. 131; Z. 139; Z. 145, Z. 146; Z. 235; Z. 239; Z. 247) Σ 8 Signale: „words“; „stream“; „mouth“. 12. „memory“ (Z. 109, Z. 114 [in Becketts „Not I – synopsis“ auch als „life scene 2 (shopping centre)“ ausgewiesen]; Z. 165 [in „Not I – synopsis“ als „life scene 3 (Croker’s Acres)“]; Z. 201 [in „Not I – synopsis“ als „life scene 4 (courtroom)“; Z. 230, Z. 236 [in „Not I – synopsis“ als „life scene 5 (rushing out to tell)“]) Σ 5 Signale: Umfasst alle „life scenes“; auch 4. „field“ ist formal Bestandteil dieser Schicht. 13. „walking“ (Z. 161) Signale: „walking all her days“; „stare into space“; anders als ursprünglich vorgesehen („add to“) ist diese Schicht in der Ausführung der „Analysis“ fast völlig in anderen „themes“ aufgegangen: vgl. etwa „field“ (Z. 14), „memory“ (Z. 114, Z. 203). 14. „speculations“ (Z. 190, Z. 193, Z. 196; Z. 205; Z. 218, Z. 220, Z. 223) Σ 3 Signale: „something she had to tell/think“. Der Monolog mündet in eine Gruppe, die nicht eindeutig aus dem in der „Ana- lysis“ aufgestellten Material abgeleitet werden kann, wohl aber im Plan zur Strukturierung von Kilcool enthalten ist: „prayer unanswered“ (Z. 244).350 Nach diesem „Befund“ ziehen sich am Schluss von Not I alle Themengruppen auf jenen aporetischen Punkt zusammen, der der kadenzierenden Verdichtung der Fallacienstränge von L’Innommable aufs Aufälligste ähnelt: „… keep on … trying … not knowing what …“ Diese in der „Analysis“ noch unbenannte Gruppe stellt den formalen Flucht- punkt des Sprechstroms dar und könnte vielleicht an 15. Position unter „conclu- sion“ aufgestellt werden (Z. 243, Z. 248, Z. 251, Z. 253) – als finale Zone, in der ein konzeptuelles Perpetuieren von Mouths Rede den Bühnenmonolog fak- tisch abkadenziert. Im ersten Realisierungsversuch seines „face play“ war Beckett bei genau diesem Problem steckengeblieben. Nach umfassender Anwen- dung der schon damals ersonnenen planvollen Ambiguisierung von Materialien, die in einem ersten Arbeitsgang zu Kilcool aufgefunden worden waren und sich 350 Vgl. Becketts Kilcool-Entwurf, oben S. 167ff.177 zum Teil bis in die Endfassung erhalten haben, konnte es in Not I zu einem fruchtbaren „Ende“ gebracht werden. Wie in der rigoros vorgenommenen doppelten Ausbreitung des Materials in Sans/Lessness ist auch an der Verteilung der thematischen Gruppen von Not I die Artikulation der Form als Bizyklus ablesbar. Anders als in Sans/Lessness sind die Zyklen von Not I nicht gleichwertig aufgestellt, sondern sind, wie viele an- dere bizyklisch organisierte Texte (En attendant Godot, Fin de partie, Happy Days, auch What is the Word), auf ihr potentielles Verschwinden ausgerichtet: Der Ausschnitt aus dem virtuell unaufhörlichen Redeschwall kann auf der Büh- ne erst beendet werden, nachdem das Material einem repetitiven Verschleiss überantwortet ist. Angedeutet wird dies auch hier mittels der Einrichtung einer Schwundreprise: Diese folgt als zweiter Zyklus auf die Ausführung sämtlicher Themengruppen ab Zeile 198; ab hier werden alle thematischen Schichten nochmals berührt.351 Dieser zweite Zyklus schrumpft auf ein Viertel der Aus- dehnung des ersten zusammen. Gemessen an dem für Godot, Fin de partie oder Happy Days „normalen“ Reduktionskoeffizienten von ca. 2:1 ist der Wortver- schleiss hier auf ein Doppeltes beschleunigt. Beckett hat sehr bewusst auf diese „Reprise“ hingearbeitet. Auf den ersten Einsatz der letzten Themengruppe „spe- culations“ (Z. 190), die zum zweiten Zyklus überleitet und erst dort zur Entfal- tung kommt (Z. 205), ereignet sich die insgesamt stärkste Verdichtung des pa- rataktischen Gefüges. Wie in einer Stretta werden fünf Themen auf wenigen Zeilen enggeführt, bis nach der „Reprise“ der ersten Themengruppe „birth“ („tiny little thing … before its time … godforsaken hole … no love … spared that“) „life scene 4“ und „speculations“ wie zu Beginn des Spiels nahezu unin- terpoliert entfaltet werden. Besonders markant erscheint, dass Beckett in einem seiner Regieskripte, dem sogenannten „Hyde Park Hotel Manuscript“, eine Zä- sur in Z. 198 exakt zwischen die Redeportionen „… tell …“ und „… tiny little thing …“ plaziert, und zwar als einzige irreguläre „long Pause“, die ausser den fünf Refrains der Ich-Verneinung sonst nur den formal einschneidenden Schrei- en in Z. 78–79 nachgeordnet sein darf.352 Angesichts der allgemein vorherr- schenden Tendenz zur Verschleierung und Ambiguisierung zumal formaler und konstruktiver Zusammenhänge („not made clear“) erscheint die offenbar auf- führungspraktisch motivierte Verdeutlichung der bizyklischen Anlage einer kon- tinuierlich aufgebrochenen Logorrhöe ungewöhnlich. Beckett markiert die Schnittstelle eines formalen Modells, das nicht bloss für sich selbst steht, son- dern einen Ausschnitt aus der latenten Perpetuierung des Monologs darstellt, dessen Fortsetzung hinter geschlossenem Vorhang simuliert wird. Hier veranschaulicht sich Wolfgang Isers These über die nichthintergehbare Na- tur des Endens in ihrer formalen und strukturellen Konsequenz. Die Form von 351 Die defizitäre 13. Gruppe „walking“ ist in Z. 203 „[…] staring into space …“ vertreten. 352 Vgl. The Theatrical Notebooks of Samuel Beckett, Volume IV: The Shorter Plays, S. 464 und 466.178 Not I gleicht einer asymptotischen Annäherung an jene Stille, die Mouths Seh- nen bestimmt353 und sich als stumme Spur trennend zwischen die einzelnen Re- departikel schiebt, aber niemals gänzlich eintritt. Der dramatische Sprechakt führt in eine unendliche Enge. So erklärt sich der Redezwang, gegen den Mouth vergeblich ankämpft: Es kann niemals aufhören; es muss immer nur enden und enden. 353 „and the whole brain begging … something begging in the brain … begging the mouth to stop“. (Not I, S. 220).179 2. Heinz Holliger: Not I (1978/80) 2.1. Drei Voraussetzungen Im Schaffen von Heinz Holliger kann die kompositorische Auseinandersetzung mit Samuel Beckett leicht als zentral erkannt werden. Für drei seiner bislang fünf Werke für das Musiktheater354 verwendet er dramatische Texte von Beckett – und zwar vornehmlich solche, die als besonders bühnenfeindlich gelten und nicht den Rang eines „modernen Klassikers“ erlangt haben: Neben Come and Go und What where, Becketts letztem Bühnenwerk, fiel Holligers Wahl auf Not I.355 Gegenstand dieser Betrachtung ist Holligers komponierende Zuwendung zu Mouths Redeflut. Die Analyse des musikalischen Monodramas Not I erfolgt nicht beziehungslos, sondern bedarf einiger Vorbereitungen, nämlich: a) einer Skizzierung des werkgeschichtlichen Orts von Not I, b) der allgemeinen Frage nach Holligers komponierendem Umgang mit Dichtung, und c) der Betrachtung seiner Cardiophonie für einen Bläser und drei Magnetophone (1971), die Holli- ger im Programmheft der Donaueschinger Musiktage 1981 als „Vorarbeit“ zu Not I bezeichnet hat; die in Cardiophonie entwickelte formale Konzeption liegt Not I zu Grunde und erfährt dort charakteristische Modifikationen. 2.1.1. Kontext Heinz Holliger wurde auf Samuel Becketts Dichtung aufmerksam zu einer Zeit, als er die direkt artikulierte Geste aus seinen Kompositionen konsequent auszu- treiben suchte. In den siebziger Jahren komponierte er Musik, die eine Erschöp- fung klanglicher Mittel entweder voraussetzt (wie im Chorstück Psalm nach Paul Celan (1971)356; in den Chorliedern Die Jahreszeiten nach Friedrich Höl- derlins spätesten Tübinger Gedichten [1975/78/79]357) oder solche in einer Agonie des Klingenden umfassend inszeniert (so im Streichquartett [1973]; im 354 Ausser Beckett wandte sich Heinz Holliger in seinen Musiktheaterkompositionen Nelly Sachs (Der Magische Tänzer – Versuch eines Ausbruchs für zwei Menschen und zwei Marionet- ten [1963/65]) und Robert Walser (Schneewittchen, Oper nach Robert Walser in fünf Szenen, Prolog und Epilog [1997–98]) zu. 355 Andere kompositorische Lektüren von Becketts Not I liefern Bernard Rands in Memo 2 (1973) und Paul Rhys in seiner Klavierkomposition Not I (1995); vgl. Mary Bryden, Reflec- tions on Beckett and Music, with a Case Study: Paul Rhys’s Not I, S. 83ff. 356 Vgl. Clytus Gottwald, Psalm, in: Annette Landau (Hrsg.), Heinz Holliger, S. 90ff. 357 Die Jahreszeiten bilden zusammen mit (t)air(e) für Flöte solo (1980/83) und Übungen zu Scardanelli (1978–91) den Scardanelli-Zyklus (1975–91).180 Orchesterstück Atembogen [1974–75]). Diese Kompositionen stellen nicht bloss akustische Versuchsanordnungen über das Phänomen des Tonschwunds dar, sondern ziehen aus der fortschreitenden gestischen Paralyse der Spiel- oder Singhandlungen ihren wesentlichen konstruktiven Impuls: Je stärker Holliger seine Musik daran hindert zu klingen, desto intensiver lädt sie sich auf. Dies zeigt sich, wenn zum Beispiel in den Jahreszeiten-Gesängen die Physis der Sänger mutwillig blockiert wird, zum Beispiel durch Singen mit leerer Lunge (Der Früh- ling [I]), Singen im „Strohbass-Register“ (Der Winter [II]), oder wenn mikroto- nale Stauchung wie in Der Sommer (II) ausdrücklich mit expressiver Aufwertung einhergeht. Was in dieser Musik hörbar wird, ist weniger der mittels Partitur festgehaltene „Text“ als vielmehr das, was die Ausführenden diesem in solch prekärer Lage noch abzuringen imstande sind. Das Not-I-Sujet, verstanden als Frage nach dem künstlerischen Vermögen der Ich-Verneinung, ist in diesen Werken höchst virulent. Im aussersprachlichen Me- dium muss sie allerdings anders gestellt werden: Bei Holliger verschwimmen Konturen von Subjektivität vor allem angesichts eines intendierten Rückzugs des Autors. Zuerst in den diminuierenden Codas zu Psalm, zum Streichquartett und zu Atembogen: Hier liegen nur noch Einzelstimmen vor, die von jedem Ausfüh- renden in individueller Ausdehnung von Tempo und Dynamik zu interpretieren sind. Der Komponist als Polyphonie koordinierende Instanz tritt zurück. Erkun- dungen über Rückzugsmöglichkeiten des schaffenden Subjekts aus dem Kunst- werk werden weiter vertieft in den Sommer-Kanons (Die Jahreszeiten), deren Disposition nicht im üblichen Sinn ausgeformt ist. Anstelle dessen artikuliert sich Form, indem eine materiale Rohkonstellation in Gang gesetzt wird. In Der Sommer (I) lässt Holliger die Sängerinnen allein mit einer Zwölftonreihe und mit der Vorschrift, die Silben des Gedichts im Tempo des individuellen Puls- schlags gleichmässig auf die Reihenpositionen zu verteilen. Das Kanonschema spult sich ab, beginnt auf Scardanellis Signal „Pallaksch!“ hin auszudünnen, um bald gänzlich zu verlöschen. Weder Komponist noch Dirigent können im einzel- nen für das klingende Resultat dieser Übung zur Rechenschaft gezogen werden und handeln ähnlich wie Beckett beim dichterischen Auslosen der Disposition von Sans. Zu dieser Phase seines Komponierens bemerkt Holliger: „Vorher war meine Musik direkter Ausdruck. Jetzt ist alles so abgehoben, dass auch das Subjekt zurücktritt, wie Hölderlin auch aus diesen Gedichten zurücktritt.“358 Holliger ist denkbar weit von den resubjektivierenden Tendenzen der Musik der siebziger Jahre entfernt. In solchem Kontext stehen auch Holligers erste kompo- nierende Auseinandersetzungen mit Becketts Texten: Seine ersten beiden Kam- meropern nach Beckett, Come and Go für neun Soprane, drei Flöten (auch Alt- 358 Zitiert nach Peter Niklas Wilson und Michael Kunkel, Heinz Holliger, in: Komponisten der Gegenwart, hrsg. von Hanns-Werner Heister und Walter-Wolfgang Sparrer, München: edi- tion text + kritik 1993ff., S. 6. 181 und Bassflöte), drei Bratschen und drei Klarinetten (auch Bass- und Kontrabass- klarinette) (1976–77) und Not I für Sopran und Tonband (1978/80)359, sind rea- lisiert als musikalische Auslöschungen der Spielvorlagen, deren Verläufe bei Holliger in genau reziprokem Verhältnis erscheinen: Come and Go geht aus von einer zeitlichen, räumlichen wie auch sprachlichen Potenzierung des Beckett- schen Modells, wobei die Ausgangskonstellation als Objekt musikalischer Aus- zehrung figuriert.360 Kern von Not I ist eine Sopranmonodie, die sich im Verlauf des Stücks mittels Tonbandrückkopplungen zur Vielstimmigkeit ausbreitet und die Livestimme zunehmend überschwemmt. Der damit verbundene Abbau einer direkten musikalischen Gestik bzw. der Ausbau einer subjektfeindlichen Position wird zu den vorzüglichen Gegenständen der Analyse gehören. Solche auskomponierten Asphyxien und Entropien besitzen ihre Vorgeschichte in den destruktiv übersteigerten Extroversionen der Werke, die Holliger um 1970 komponierte. In ihnen wurde die Erschöpfung klanglicher Mittel, die zu- mal die Musik nach Beckett und Scardanelli voraussetzt, recht eigentlich vollzo- gen. „Schönklang“ wurde zunehmend hinterfragt, auf seinen Geräuschanteil hin untersucht, der im Bläserquintett „h“ (1968), im Chorstück Dona nobis pacem (1968–69) und in Pneuma für Bläser, Schlagzeug und Radios (1970) zu immer stärkerer Entfaltung gelangte. Die planvolle Umformung von Klängen hat in diesen Kompositionen kein Ende in der daraus resultierenden geräuschhaften Sensation. Klangdeformation spielt keine Rolle als Dada-Element oder als eigen- wertig verfügbarer Parameter, sondern dient der Aufdeckung des physischen Aufwands, der mit der Produktion von Klängen verbunden und den man in kon- ventioneller Spielweise zu kaschieren gewohnt ist. Daher bezeichnet Holliger das Geräusch auch als „physischen Klang“361 und betont in seinem Vorgehen eine Dialektik: „Was mich in erster Linie interessiert, ist das Körperliche einer Klangdeformation. Wenn ich einen Klang verändere, so weniger um des Resultats willen, sondern um die Energie dahinter spürbar zu machen, die den Klang verändert. Bei einem deformierten Klang zum Beispiel will ich zum Bewusstsein bringen, dass dahinter immer der ursprüngliche, nicht verzerrte Klang präsent ist, wenn auch unhörbar.“362 Obschon das Phänomen des „Wohlklangs“ aus Stücken wie Pneuma, Lied (1971), Cardiophonie (1971) und Kreis (1972) praktisch getilgt ist, gerät der 359 Heinz Holliger teilte dem Autor in einem Gespräch (Basel, 28. April 2002) mit, dass er um diese Zeit auch den Plan zu einem Projekt nach Becketts Footfalls gefasst hatte, ihn aber niemals in Angriff nahm. 360 Vgl. Peter Szendy, Endspiele, in: Annette Landau (Hrsg.), Heinz Holliger, S. 65ff. sowie unten, S. 215ff. 361 Zitiert nach Peter Niklas Wilson und Michael Kunkel, Heinz Holliger, S. 6. 362 Philippe Albèra, Ein Gespräch mit Heinz Holliger, in: Annette Landau (Hrsg.), Heinz Holliger, S. 29.182 schulmässige Gebrauch der Instrumente somit nie gänzlich aus dem Blickfeld. Allerdings setzte die energetische Umwandlung der Klänge ein destruktives Po- tential frei, das bald an die physischen Grenzen der Aufführungssituation stiess. Zumal Kreis und Cardiophonie forcieren eine ebenso brutale wie naturalistische Zuspitzung der Spielhandlung, die als Konzept nicht weiter entwickelbar war: Ihre „extreme Weiterführung wäre der Selbstmord gewesen.“363 Tatsächlich setzte Holliger seine Formen alsbald Prozessen umfassender Klang- agonie aus. Sein Streichquartett markiert den Umschlag vom totalen Paroxysmus zum schleichenden Erstickungstod. Wenn im Orchesterstück Atembogen Tonhö- hen wieder konventionell notiert werden, ist das keine Rückkehr zum philhar- monischen Tagesgeschäft; ihre Ausführung ist jetzt mit allergrösster Mühsal ver- bunden. Die explosive polyphone Eröffnung von Dona nobis pacem kann zu Beginn von Atembogen nur noch als zeitlupenhaft verlöschende Geste erfolgen; ihr sind die Erfahrungen der musikalischen Exzesse eingeschrieben.364 Auch Holligers Beckett-Musiken profitieren von den Folgen der Eklats. Ihre „Textauslöschungen“ sind nach Massgabe früherer instrumentaler Formen orga- nisiert, deren szenische Relevanz in Hinblick auf Beckett auf verschiedene Art expliziert wird: Kann das Erschöpfungsritual von Come and Go noch als Paral- lelfall zum Streichquartett gelten, so wird die katastrophale Rückkopplungsma- trix von Cardiophonie in Not I umgedeutet zu einer implosiven Mechanik, die den vervielfachten Wortstrang wie in ein Zeitvakuum einsaugt. Hier ist ein wesentlicher Unterschied in Holligers zeitgleich stattfindenden kom- positorischen Lektüren von Beckett und Scardanelli auszumachen: Können die Beckett-Musiken noch als musikalische Gestaltung eines äussersten Verschleis- ses, der zwar selbst „bis über den Tod hinaus“365 führen kann, wahrgenommen werden, erkundet Holliger im Scardanelli-Zyklus schon einen Bereich jenseits solchen Verstummens; hier „wird nicht gestorben, wird nicht dekomponiert und Leben ausgelöscht, sondern es wird Totem, Abgestorbenem und Zerschlissenem noch ein minimales Lebenslicht abgepresst. Die gesellschaftliche Perspektive, die Nono für sein Sreichquartett so nachdrücklich beanspruchte […], ist bei Holli- ger dem Autismus des Todes gewichen, der dieser Welt nicht einmal den Trost des (Ab-)Sterbens gewährt.“366 363 Ebd., S. 32; auf diese destruktive Phase im Komponieren Heinz Holligers wird näher eingegangen in der Betrachtung der Cardiophonie; siehe unten, Seite 196ff. 364 Vgl. auch: Michael Kunkel, „… im Dialog mit der Geschichte …“. (Keine) Aneignungen im Werk von Heinz Holliger, in: Dissonanz 82, August 2003, S. 26ff. 365 Heinz Holliger, Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, in: Musiktheater. Zum Schaffen von Schweizer Komponisten des 20. Jahrhunderts, Bonstetten: Theaterkultur-Verlag 1983 (= Publikationen der Schweizerischen Gesellschaft für Theaterkultur 45), S. 218.183 2.1.2. Der dichterische Impuls „Windesstille der Seele.“ (Georg Trakl) In Hinblick auf Beckett wurde Holligers massgeblicher kompositorischer Lektü- remodus vorläufig als „Textauslöschung“ bezeichnet. Das Wort ist missverständ- lich und bedarf der Erläuterung. Mit ihm ist nicht bloss ein Verfahren benannt, wie es etwa auf Becketts Not I Anwendung findet und auch analysiert werden kann – es ist zudem wesentlicher Ausdruck einer Haltung. Als konstruktive Handlung setzt die musikalische Auslöschung eines Textes fraglos ein besonde- res Leseverhalten voraus. Holliger selbst weist die Klassifizierung seiner Tätig- keit als einer vertonenden ausdrücklich weit von sich und möchte zumal seine Kurzopern nach Beckett viel lieber „Verstummungen“367 benannt wissen. Die Stichworte werfen eine Frage auf, die für das Verständnis von Holligers Musik von ganz grundsätzlicher Bedeutung ist: Jene nach seinem Verhältnis zur Litera- tur. Holligers „Vertonungs-Allergie“ richtet sich vornehmlich gegen die Rituale mu- sikalischen Zurechtmachens von Texten, die der Idee einer Übertragbarkeit des Worts in Musik, seiner „musikalischen Auflösung“, verpflichtet scheinen. Schon der Blick auf die Urheber der Texte, derer Holliger sich komponierend bemäch- tigt, ist aufschlussreich: Georg Trakl, Nelly Sachs, Paul Celan, Samuel Beckett, Friedrich Hölderlin oder Robert Walser – in allen Fällen wäre der Versuch einer konventionellen „vertonenden“ Annäherung, in der die Semantik von Worten in musikalische Zeichenhaftigkeit umgewandelt werden sollte, ein zweifelhaftes Unterfangen, weil keine der genannten Autoren mit eindeutig auflösbaren Sinn- gefügen operiert. Roman Brotbeck erkannte, dass „Holliger – als möchte er die Gefahr zu einer ‚Vertonung‘ bereits im Keime ersticken – sich meistens mit Tex- ten beschäftigt, die der Musik in einem ganz grundsätzlichen Sinne nicht bedür- fen.“368 Viel früher noch betonte Josef Häusler, dass selbst Momente der „Über- einstimmung“ von Ton und Wort „nicht einfach kompositorisches Entlanghanteln [sic!] am Text“ bedeute, sondern das Bestreben verrate, „die Dichtung mit ihrer Gesamtheit an geistigen, formalen und assoziativen Kräften in ein musikalisches Werk umzusetzen, das mehr wäre als nur die Addition von Wort und Klang.“369 366 Roman Brotbeck, Scardanelli et l’/d’après Scardanelli – Heinz Holligers Dichterkreise, in: Annette Landau (Hrsg.), Heinz Holliger, S. 146. Die Tendenz eines gestischen Abbaus hat Hol- liger anhand einer konzertanten Konstellation von Scardanelli-Materialien realisiert in Turm- Musik für Flöte solo (auch Alt-Flöte, Bassflöte), kleines Orchester und Tonband (1984). 367 Heinz Holliger im Gespräch mit dem Autor, Stuttgart, 1. April 1998. 368 Roman Brotbeck, Komponieren als Exerzitium, in: du 1996, Heft 5: Unerhört. Zeit für neue Musik, S. 28. 369 Josef Häusler, Heinz Holliger – Versuch eines Porträts, in: SMZ 107 (1967), Heft 2, S. 65.184 Zu befürchten stünde indessen gar nicht so sehr das „Dilemma des Zweimalsa- gens“370, da der rein illustrative Zugriff die äusserste Oberfläche solcher Dich- tung nur eben ankratzt. Und selbst die klangliche Nachäfferei sagt Dichtung beim zweiten Mal anders. Jeder dichterisch ausgedrückte Gedanke verändert seine Form in musikalischer Wendung. Die Frage ist, in welchem Mass sich ein Komponist der unausweichlichen Deformation eines Textes während seiner Ar- beit bewusst wird und für sich fruchtbar macht. Alle genannten Dichter könnten als „Sprachskeptiker“ bezeichnet werden, weil sie etwas Wesentliches aus einem wie auch immer gearteten Misstrauen gegen konventionellen Sprachgebrauch ziehen. Sie alle artikulieren Kunst nicht zuletzt im Ausloten einer Sinn-Klang- Relation, deren Eigenklang sich gegen die bloss tönende Adaption sperrt. Klang- kopien der Textoberflächen dagegen entfalten ihren Reiz ausserhalb jeder Bezie- hung zum „kritischen Gehalt“ der Texte. Dem Problem ist mit Generalisierun- gen kaum beizukommen. Denn selbstverständlich ist ein „vertonender“ Ansatz weder in Gesamtheit fassbar, noch gestattet er ein vorgängiges Urteil über den jeweiligen kompositorischen Zugang. „Es ist unmöglich geworden, aus der blos- sen Charakteristik der Wort-Ton-Möglichkeiten, wie dies die alte Ästhetik tut, auf Wertunterschiede zu schliessen."371 Anführungszeichen bleiben erforderlich. Holligers Arbeiten trugen zweifellos zu einer „Neulagerung des Problems“372 bei. Weder unterhält er ein dekoratives Verhältnis zum gedichteten Wort, noch können seine „Auslöschungen“ und „Verstummungen“ als blosse Anti-Vertonun- gen gelten. Literarische Texte werden keiner funktional ausgerichteten Lesart unterzogen. Holligers musikalische Produktion empfing von Beginn an den Hauptimpuls aus der intensiven dichterischen Erfahrung, bei der eine formelle Abgrenzung der Kunstformen nicht besteht. Für den jungen Holliger war Dich- tung mindestens ebenso impulsiv wie die Entdeckung der Musik von Anton We- bern und Alban Berg. Rückblickend weist er Trakls Dichtung eine leitende Be- deutung zu: „Die Musik, die ich in der Klasse von Veress schrieb, war ja eine sehr geordnete, sehr kontrollierte Musik, mit einem Vokabular, das sich vor allem von Bartók herleitete. Gleichzeitig übersetzte ich aber eine Reihe von Rimbaud-Gedichten und schrieb eigene Gedichte, etwa im Stile Trakls, und ich hatte den Eindruck, sie drückten besser aus, was ich empfand und wonach ich strebte – mein musikalisches Vokabular hinkte mei- nem inneren Zustand sehr hinterher.“373 Wie sich die lyrische Erfahrung mit kompositorischen Mitteln einholen liess, zeigt sich vor allem in der Vokal- und Orchesterbehandlung der Drei Liebeslie- 370 Harald Kaufmann, Zum Verhältnis zweier Musen, in: ders., Spurlinien, S. 67. 371 Ebd., S. 66. 372 Ebd. 373 Philippe Albèra, Ein Gespräch mit Heinz Holliger, in: Annette Landau (Hrsg.), Heinz Holliger, S. 25.185 der für Alt und grosses Orchester (1961), die Holliger als sein erstes gültiges Werk akzeptiert. Hier begann er eine eigene Schreibweise fast schrittweise an Trakls Dichtung auszubilden. Das erste Lied ist ein direkter Zugriff auf die zweite Fassung von Trakls Gedicht Landschaft. Am überreichen Bildrepertoire Trakls entzündet sich ein Orchester- vokabular, in dem der 21jährige Holliger sich zu Vorbildern eindeutig bekennt. Die Verse evozieren gestisch stark aufgeladene musikalische Episoden, die sich zu einem Monodrama expressionistischer Prägung fügen. Doch schon hier sind Momente zu finden, in denen die Musik im offenen Gefüge scheinbar beigeord- neter lyrischer Einzelbilder zu verbrennen droht: Die Verse „Und die gelben Blumen des Herbstes / Neigen sich sprachlos über das blaue Antlitz des Teichs.“374 lösen in Takt 32f. einen inversen Reflex im Paroxysmus der Singstim- me aus, der an keiner anderen Stelle der gesamten Komposition überboten wird. In Trakls Gedicht wird Zusammenhang artikuliert in Nicht-Bezogenheiten, im Auseinanderfallen von sinnlich und symbolhaft aufgeladenen Elementen375; wenn sich dies in mimetischer Entfesselung des Orchesterapparats potenziert, schreit die Singstimme ihre Sprachlosigkeit heraus: Abbildung 21: Heinz Holliger, Drei Liebeslieder I, Landschaft, Alt solo, Takt 32f. (© by Schott Music, Mainz) 3 nei gen sich sprach los Auf die impulsive gestische Zuspitzung des Textes im ersten Lied folgt die viel distanziertere und durchsichtigere Faktur des zweiten, die aus einer genauen Lektüre von Trakls Gedicht Nachts resultiert. Trakls Vierzeiler besitzt eine Be- sonderheit darin, dass er, anders als etwa bei den klaren Symmetrien der palindromischen Endlosschleife Rondel376, nicht eindeutig gliederbar ist, son- dern Elementarkonstellationen auf engstem Raum kollidieren lässt. „Nachts Die Bläue meiner Augen ist erloschen in dieser Nacht, Das rote Gold meines Herzens. O! Wie stille brannte das Licht. Dein blauer Mantel umfing den Sinkenden; Dein roter Mund besiegelte des Freundes Umnachtung.“377 374 Georg Trakl, Das dichterische Werk, München: dtv 141995, S. 49. 375 Vgl. Walther Killy, Über Georg Trakl, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1960, S. 19. 376 Georg Trakl, Das dichterische Werk, S. 14; während seiner zweiten Trakl-Phase kompo- nierte Holliger Musik über Rondel für Singstimme und Harfe (1992/97). 377 Georg Trakl, Das dichterische Werk, S. 56.186 Um nur das Offensichtlichste festzuhalten: Die Interpunktion lässt eine paarwei- se Gliederung (a-a-b-b) nach Halbstrophen annehmen, die vielfach befestigt ist – so durch das Farbenpaar blau-rot, durch die Verteilung von stumpfen (a) und klingenden Kadenzen (b), den perspektivischen Wechsel von der ersten zur zweiten Person, die Gliederung der ersten Halbstrophe in je drei und der zwei- ten Halbstrophe in je zwei Kola. Doch vor allem die metrische Gestalt des Ge- dichtes, dessen tendenziell jambisches Versmass irreguläre Senkungen zulässt, deutet gleichzeitig auf eine Rahmenform (a-b-b-a) hin, die durch die Verteilung von dunklen Vokalen (a, analog zu „Nacht“, „Umnachtung“) und hellen Voka- len (b, für „Licht“) gestützt wird: Vers 1: _ ∩ _ ∩ _ ∩ _ _ _ ∩ _ _ ∩ _ ∩ Vers 4: _ ∩ _ ∩ _ ∩ _ _ _ ∩ _ _ ∩ _ Vers 2: _ ∩ _ ∩ _ _ ∩ _ ∩ _ ∩_ ∩ _ _ ∩ Vers 3: _ ∩ _ ∩ _ _ ∩ _ ∩ _ _ Diese konkurrierenden Ordnungen evozieren ein polyvalentes Gebilde in vier Versen, dessen Unwägbarkeiten Holliger zuerst in der Ausformung der Singstim- me beantwortet. Der konvexe Bogen über Trakls ersten Vers stellt sich in der zweiten Phrase nur durch die instrumentale Fortsetzung in der Geige ein (und wird in der Weiterführung durch die Oboe aufs Neue in Frage gestellt); als rein vokale Phrase korrespondiert sie intervallisch mit dem dritten Vers (Terz-Halb- tongruppe zu Beginn und Quart-Tritonus-Kadenz); die musikalische Kontur des dritten und vierten Verses ist anabasisch; der dritte Vers wiederum greift den Tiefton e378 des ersten Verses auf, der in beiden „Halbstrophen“ bis zum Hoch- ton f2 geführt wird. Dagegen klingt zu Beginn des vierten Verses mit dem Halb- ton c1–h die Eröffnung des ersten Verses an. Allein dadurch sind die beiden in- terferierenden Gliederungen, paarweise und umrahmend, auch musikalisch realisiert. Entscheidende Beachtung findet zudem die Teilung des zweiten Verses mittels der klingenden Diärese „O!“, die auch bei Holliger als zentraler Fixpunkt er- scheint, nach dem die Singstimme über die zweite Hälfte des zweiten Verses in Sprechgesang abgleitet und dadurch das Lied in zwei grössere Teile gliedert. Doch auch diese Figur ist nicht nur auf ihre zäsurbildende Funktion festlegbar; denn gleichzeitig ergänzen die hier angedeuteten Tonhöhen die vorherige Phrase zur vokalen Konvexität. 378 In der Druckausgabe des Lieds ist vermerkt: „Originallage: 1 Ganzton höher“; meine Ausführungen beziehen sich auf den transponierten Text in der Partitur.187 Abbildung 22: Heinz Holliger, Drei Liebeslieder II, Nachts, Alt solo (komplett) mit Solo Violine (Takt 7) (© by Schott Music, Mainz) [V.1] Die Bläu e mei ner Au gen ist er lo schen in die ser Nacht, 3 (gesungen) (gesprochen) 3 Das ro te Gold mei nes Her zens. O! wie stil le brann te das Licht. [V.2] Solo Viol. 3 [V.3] 3 Dein blau er Man tel um fing den Sin ken den. [sic!] [V.4] Dein ro ter Mund be sie gel te des Freun desUm nach tung. Die Gestaltung der Singstimme wäre somit als ein musikalisches Korrelat zur mehrdeutigen Versordnung aufzufassen. Es bleibt nicht dabei. Trakls formale Ir- ritationen werden noch weitergeführt in der Einschaltung von Klangaggregaten, die, im Unterschied zum ersten Lied, im einzelnen weniger mit dem Bild- oder Symbolrepertoire des Textes korrespondieren, als vielmehr nach einer zweitak- tigen Einleitung vokale Zäsuren und melismatische Hebungen orchestral artiku- lieren und dadurch die Polyvalenzen aus dem Beziehungsreichtum des Gebildes aktiv heraufholen. Dazu stehen folgende Materialien zur Verfügung (vgl. Abb. 23): I: sich verengendes Streicherglissando. II: melodische Tritonus-Quart-Gruppe für einen Holzbläser solo („espres- sivo“). III: aufsteigendes Celesta-Arpeggio, das vom Schlagzeug fortgesetzt wird. IV: akkordisch geführte Wechsel-Figur in den Holzbläsern. V: ein Klangfeld in der Schichtung der Wechselintervalle c-d, f-as und fis-a. Die Abfolge dieser Materialien artikuliert eigene orchestrale Verse, die das Ge- sungene neu überformen. Das Erscheinen des „Licht-Klangs“ („L“, Takt 10) nach der zentralen Diärese löst eine Deformation der Klangaggregate aus: Nachdem zuvor I schon krebsförmig umgewendet wurde (Takt 8) verzweigt sich II auf Kontrafagott, Harfe und Piccolo (Takt 10); III erscheint in Umkehrung (Takt 10); IV und I erscheinen als Chiasmos der Klangfarbe: IV liegt nicht in den Holzbläsern, sondern in den Streichern (Takt 12) und I nicht in den Streichern, sondern in den Holzbläsern (Takt 13); Aggregat II verschwindet gänzlich. Insge- samt bilden die orchestralen Reime eine gegenüber der Singstimme leicht ver-188 Abbildung 23: Heinz Holliger, Drei Liebeslieder II, Nachts (© by Schott Music, Mainz)189 190 191 192 schobene paarige Gliederung, deren zweites Paar nach dem zentralen Ereignis der „Licht“-Brechung (Takt 10) zum Verlöschen neigt. Einzig V, die in Takt 6f. aus dem Herz-Bild bezogene pulsierende Klangfläche, bleibt als letzte mimeti- sche Spur resistent und kann sich weiter ausdehnen. Takt 1–4 (v. 1): I – II – III – IV Takt 5–8 (v. 2): I – II – V Takt 8–14 (v. 2–3): KI – L – (II) – UIII – (IV) Takt 13–15 (v. 4): (I) – V Die aus dem Gedicht heraufgeholten Spannungen werden nicht in heftiger Ge- stik ausgetragen, sondern still und fast abgeklärt betrachtet, die gewonnene In- nenperspektive in orchestraler Verdichtung, die nie einen offenen Konflikt zur Singstimme bildet, weitergeführt. Dies steht in diametralem Gegensatz zum Duktus des ersten Liebesliedes wie auch zur prominentesten musikalischen Les- art des Gedichts durch Anton Webern, der aus ihm den expressiven Kulmina- tionspunkt seines Trakl-Zyklus op. 14 gewann. Stellen „Nacht“ und „Umnach- tung“ dort eine Klammer der maximalen gestischen Aufladung dar, zeigt Holliger, der Weberns op. 14 zum Zeitpunkt seiner ersten Trakl-Komposition angeblich noch nicht kannte379, ein neues Zutrauen zur romantischen, d.h. be- wusstseinsweitenden, illuminierenden Funktion von Nacht und Umnachtung: Er spitzt die Konflikte nicht zu, sondern führt seine stillen Trans- und Deforma- tionen ins offene Klangfeld und überwindet offensichtliche Symmetriebildungen und Interferenzen. Ähnliches hat in seiner Interpretation Martin Zenck erkannt: „Diese Nacht ist denn auch in der Lesart Holligers nicht einfach dunkel, nicht die Sphäre eines sich verlierenden Bewusstseins, sondern aufgehellt, luzide und schwere- los, von verschiedenen fluktuierenden Klangfarben und Klangfiguren durchzogen, die in der Nacht aufleuchten.“380 379 „Holliger told me that when he wrote his […] Drei Liebeslieder for voice and orchestra in 1960 […], he did not know Webern’s ops. 13 and 14; his most admired model was Alban Berg.“ (Kurt von Fischer, A Musical Approach to Georg Trakl [1887–1914]: A Study of Musical Settings of German Twentieth-Century Poetry, in: German Literature and Music – An Aesthetic Fusion: 1890–1989, hrsg. von Claus Reschke und Howard Pollack, München: Wilhelm Fink Verlag 1992, S. 12); das Gestenpaar zur Eröffnung von Nachts etwa alludiert auf den Beginn von Bergs Wozzeck. 380 Martin Zenck, Laute und stumme, performative und reflexive, bildhafte und musikalische Lektüren des Gedichts „Nachts“ von Karl Kraus, Anton Webern, Theodor W. Adorno und Heinz Holliger, in: Gerhard Buhr und Martin Zenck, Georg Trakls Gedicht „Nachts“ und die Kompo- sitionen dieses Gedichts von Anton Webern, Theodor W. Adorno und Heinz Holliger – Versuch einer literatur- und musikwissenschaftlichen Doppelinterpretation, in: Das Gedichtete behaup- tet sein Recht – Festschrift für Walter Gebhard zum 65. Geburtstag, hrsg. von Klaus H. Kiefer u.a., Frankfurt am Main etc.: Lang 2001, S. 561.193 Im dritten, dem eigentlichen Liebeslied über Trakls Im Frühling zeigt sich wieder eine leichte Tendenz zur unmittelbaren, quasi expressionistischen Orchesterge- ste, die teilweise offen auf Klangzeichen des ersten Liedes rekurriert.381 Diese aber dringen nicht durch, sondern ermatten und gehen buchstäblich unter im vorher bezogenen Klangfeld. Angebote zur Klangmalerei, wie in Vers 6 – „Und die Ruder schlagen leise im Takt“ – werden mutwillig ausgeschlagen.382 Die Per- spektive des letzten Verses („Ergrünt so stille die Schläfe des Einsamen“) geht auf in den fluktuierenden Terzschichten eines Klangfeldes, das jegliche figurale Differenzierung neutralisiert und auch die Singstimme als quasi instrumentale Farbe absorbiert – dieses „Aufhören“ ist kein „Enden“, sondern eher ein „An- halten“, das schon auf die schwebende Coda von Siebengesang (1966–67) über Trakls Vers „Windesstille der Seele“383 hindeutet. In den Drei Liebesliedern ist die Aneignung eines quasi expressionistischen Klangvokabulars konsequent mit dessen Abbau verbunden. Die Suspension er- eignet sich nicht durch einfaches Ausblenden, sondern ist das Resultat einer leta- len Synthese: Die Konfrontation divergierender Lektüremodi im letzten Lied bewirkt die „Auslöschung“ des impulsiv-assoziativen, man könnte auch sagen: „vertonenden“ Ansatzes.384 Auf dieser Basis errichtet Holliger später den Vokal- zyklus Glühende Rätsel nach Nelly Sachs (1964), den er einmal ein „Totenbuch in fünf Stationen“385 genannt hat: Verschiedene Deklamationsarten, Klangtypen und vor allem Zeitebenen werden in vier Liedern aufgestellt, um sich im finalen fünften zu durchdringen. Hier liefert das letzte Stück nicht „die Lösung, den Schlüssel zu diesem Labyrinth“386, wie Holligers zweiter Lehrer Pierre Boulez es in der zyklischen Anlage seines Marteau sans maître (1956) noch beabsichtigt hatte, sondern ist Endpunkt einer negativen Zyklik, eines „Kreuzweg[s], der bis zur Auflösung führt.“387 Solche „Auflösung“ ist nicht von aussen beigebracht, sondern ereignet sich im Versuch, lyrische Texte in Musik fortzuschreiben. In den sechziger Jahren ent- wickelt Holliger neue Methoden, um sich dem Unvertonbaren in Trakls Dich- tung komponierend zu nähern. Auch in der zweiten Trakl-Komposition bevor- 381 Vgl. etwa III, Takt 5f. und I, Takt 11f.; auch III, Takt 12ff. und I, Takt 6ff. 382 Vgl. aber die Orchester-Einleitung des ersten Liedes. 383 Georg Trakl, Das dichterische Werk, S. 70. 384 Dass dieser Ansatz aber auch zum Weghören verführen kann, zeigte unfreiwillig Paul Sa- cher; sein Urteil über die Drei Liebeslieder lautete: „Sie [Holliger] haben Trakls Gedichte mit einer schönen Begleitmusik versehen.“ (Heinz Holliger im Gespräch mit dem Autor, Basel, 2. Juni 2002). 385 Philippe Albèra, Ein Gespräch mit Heinz Holliger, in: Annette Landau (Hrsg.), Heinz Holliger, S. 28. 386 Pierre Boulez, Sprechen, Singen, Spielen, in: ders., Werkstatt-Texte, aus dem Französi- schen von Josef Häusler, Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1972, S. 140. 387 Philippe Albèra, Ein Gespräch mit Heinz Holliger, in: Landau, Heinz Holliger, S. 28.194 zugt er den nächtlichen Raum. In Elis – Drei Nachtstücke für Klavier (1961) ist die Arbeit mit Klangzeichen, die an der Dichtung ausgebildet wurden, nicht mehr mit einer vokalen Artikulation der Worte verbunden. Trakls Elis-Gestalt, „ein paradiesisch reines Wesen zwischen Traum und Tod“388, ist in die musikali- sche Zeitlichkeit der Tonhöhenpermutationen und indischen Rhythmen trans- formiert, ohne dass sich diese Transformation einfach rückgängig machen, auf- schlüsseln liesse. Unmittelbare Wort-Ton-Bezüge sind entsprechend selten zu greifen und erschöpfen sich dann nicht in lokaler Textillustration. Der „Amsel- ruf“ des Beginns zum Beispiel mutiert seinerseits zu einer Formel, die Holliger bis heute als „Todesruf“ häufig verwendet, indem er die dichterische Konnota- tion vom ursprünglichen Bild ablöst. Als letales „Motto“ stellt er ihn seinen Kompositionen gerne voran.389 Holliger benennt solche in Elis qua Komposition vollzogene Transformationen lyrischer Gehalte als „Auslöschung“: „Bei Elis […] ist es mir gelungen, ein wenig Distanz zu gewinnen, da das Gedicht sozu- sagen ausgelöscht ist.“390 In Siebengesang für Oboe, Orchester, Singstimmen und Lautsprecher (1966–67) findet „Textauslöschung“ als Verfahren erstmals seine konkrete Anwendung in der aktiven Zerstörung einer Textordnung durch Musik. Die Orchestermasse ist nicht im üblichen Sinn konzertant disponiert, sondern fungiert einzig als Zer- streuungsfläche der Oboe, die Holliger als „singendes Individuum“, ja als instru- mentales Korrelat zur lyrischen Figur Elis betrachtet391; der „Gesang“ aber befe- stigt keine individuelle Position, sondern verursacht im Orchesterapparat destruktive Resonanzen.392 Am Punkt maximaler Verdichtung schlägt die Form um in eine statische Coda über „Windesstille der Seele“.393 Die Phoneme von 388 Vorwort zur Druckausgabe von Heinz Holligers Elis, Edition Schott 5383, S. 1. 389 Vgl. etwa die Varianten zu Beginn der Kompositionen Siebengesang (1966–67), (S)irató – Monodie für grosses Orchester (1992–93), Recicanto für Viola und kleines Orchester (2001), Partita für Klavier solo (1999) – auch der Beginn von Not I könnte in divergierender Gestik von der Tonordnung her auf den Elis-„Amselruf“ bezogen werden. 390 Philippe Albèra, Ein Gespräch mit Heinz Holliger, in: Annette Landau (Hrsg.), Heinz Holliger, S. 25f. 391 „Das Soloinstrument ist ein Individuum (das nicht biographisch gebunden sein muss), das einen Lebensweg abschreitet: Hölderlin in Turmmusik, Soutter im Geigenkonzert, im Sieben- gesang ist es Elis.“ (Heinz Holliger im Gespräch mit dem Autor, Basel, 28. Januar 2001); vgl. auch Elis’ „Amselruf“ zu Beginn von Siebengesang. 392 Holliger spricht von „einer Höllenfahrt, auf der die [orchestralen] Schatten mitschwe- ben“. Der Verlauf des Stücks orientiert sich an den Strophen des Gedichts und spitzt sich zu im „Duell für zwei Orchester. Die Oboe mit ihren Multiphonics ist ein volles Orchester, die gegen das einzige Orchestertutti des Stücks förmlich ankämpft und auch in die Klanglöcher des Or- chesters hineindringt.“ (Heinz Holliger im Gespräch mit dem Autor, Basel, 28. Januar 2001); vgl. Heinz Holliger, Siebengesang, Ziffer F. 195 Trakls Worten verzweigen sich auf sieben Frauenstimmen, die „eigentlich sieben weitere Oboen“394 sind. Doch Trakls Dichtung ist dadurch keineswegs „ausge- löscht“, sondern offenbart sich erst. Der Terminus musikalischer „Textauslö- schung“ beschreibt bloss ein Verfahren, das die Textordnung angreift, um sie in Musik zur Sprache zu bringen. In „Vertonungen“, die Texthüllen nicht antasten, kann Dichtung verstummen. In der Coda von Siebengesang wird die Substanz der Worte frei in einem Chorgesang, der die Textgestalt mehr als nur antastet – musikalisches Fortschreiben der Verse nötigt zur Demontage, die bis zur Aufga- be zeitlicher Gerichtetheit des Tonsatzes führt. Die Partie der Solo-Oboe endet in einem a³, das über mehr als 49 (= 7×7) Sekunden auszuhalten ist; die erfor- derliche Ausführung dieses Tons durch Zirkuläratmung setzt die elementarste Bedingung musikalischer Zeiterfahrung, die Phrasierung durch Ein- und Ausat- men, ausser Kraft und verwandelt Trakls „ausgelöschten“ Vers („Windesstille der Seele“) in eine musikalische Erfahrung. 2.1.3. Cardiophonie für einen Bläser und drei Magnetophone (1971) „Encore si j’étais vivant à l’intérieur, on pourrait espérer un arrêt du cœur ou un bon petit infarctus.“ (Samuel Beckett, L’Innommable) Mittels „Textauslöschung“ machte Holliger in Siebengesang die Erfahrung phy- sischer Grenzzustände infolge maximaler Verdichtung oder Dehnung kompo- nierbarer Erlebniszeit. Dies führte bald zur Arbeit mit Klangdeformationen, in der der Vorgang der Klangherstellung als ein dezidiert körperlicher aufgefasst wird; ihre ganze destruktive Energie konnte in den Werken um 1970 freigesetzt werden. „Durch jedes Werk scheint ein Stück Selbstzerstörung, so als ob sich der Komponist selber als Pfand dessen anbieten würde, was er produziert hat. Jedes Happy-end schei- det aus, denn es könnte nur Lüge sein.“395 Vinko Globokars Aussage umreisst exakt die Situation, in der sich Heinz Holli- ger um 1970 befand. Damals komponierte er Werke, die eigene Vorgaben scho- nungslos aufzehrten. In Hinblick auf Cardiophonie (1971) und Kreis (1971–72) sprach Holliger sogar von „einer fast brutalen Zerstörung all dessen, was ich vorher hatte“.396 Man darf hinzufügen, dass die genannten Kompositionen vor 393 Vgl. Siebengesang, Ziffer G. 394 Heinz Holliger im Gespräch mit dem Autor, Basel, 28. Januar 2001. 395 Vinko Globokar, Von der „Musik“ wegkommen [1977], in: ders., Laboratorium. Texte zur Musik 1967–1997, hrsg. von Sigrid Konrad, Saarbrücken: Pfau 1998 (= Quellentexte zur Mu- sik des 20. Jahrhunderts 3.1), S. 86.196 allem auf die Aufzehrung ihrer selbst berechnet waren – ohne dass dies mit der Paradoxie verbunden wäre, die etwa Wolfgang Iser als charakteristischen Impuls für Samuel Becketts Schaffen aufzeigt: „Wenn das Schreiben das Aufzehren der eigenen Vorgabe zum Inhalt hat, dann kann es seiner Struktur nach nicht an sein Ende gelangen.“397 Holligers Stücke dieser Zeit kommen durchaus zu Ende, und zwar mit Gewalt. Dies ist zumal dann der Fall, wenn nicht mehr Klänge oder Geräusche, auch nicht „physische Klänge“398 den eigentlichen Gegenstand der aufzehrenden kompositorischen Zuwendung darstellen, sondern die vitalen Körperfunktionen selbst. Den Vorgang des Atmens bildet in Pneuma (1970) eine „künstliche Lun- ge“ aus Bläsern, Schlagzeug, Orgel und Radios, die sich aufbläht, um schliesslich unter Überdruck zu platzen. In Cardiophonie treibt die Rückkopplungsmecha- nik zwischen Puls und Instrumentalspiel einen Bläser zum Kollaps. Eine wörtli- chere Inszenierung physischen Endens ist kaum denkbar. Holliger selbst charak- terisiert die Musik dieser Werkgruppe insgesamt als „gran finale“.399 Ihre extreme Weiterführung wäre, so Holliger, der Selbstmord.400 Die betont extrovertierte, aggressive Körperlichkeit solcher Werke zeugt von ei- nem Unmut gegenüber der Musik der Nachkriegsavantgarde und ist nicht zu- letzt im Kontext der 68er-Bewegung zu sehen. Zu dieser Zeit verflüchtigten sich Ausläufer einer noch darmstädtisch geprägten konstruktiven Werkästhetik in der Musik vieler Komponisten von Holligers Generation rapide. Strapazierun- gen des Werkbegriffs beschränkten sich nun nicht mehr allein auf seine nominel- le Aufweichung, sondern zeichneten sich aus durch hemmungslosen Einlass all dessen, was zuvor als unrein vermieden oder als selbstverständliche Vorausset- zung des Komponierens bzw. Musizierens nicht eigens bedacht wurde. Die The- matisierung überkommener Spielsituationen lenkte die Aufmerksamkeit vor al- lem auf kreatürliche Aspekte der Klangproduktion, unter denen das Atmen eine besondere Zuneigung genoss: Mit Karlheinz Stockhausens Hymnen (1966–67), Helmut Lachenmanns temA (1968) und Air (1968–69), Luc Ferraris Souffle (1969), Mauricio Kagels Atem (1969–70), Dieter Schnebels Atemzügen (1971), Vinko Globokars Atemstudie (1972), Vendre le vent (1972) und Res/As/Ex/Ins- pirer (1973) und Heinz Holligers Pneuma und Atembogen seien nur die bekann- testen Beispiele genannt. Zu dieser Zeit entwarf Beckett mit seinem 35-Sekun- den-Stück Breath (1969) „das längste je von Menschen geschaffene Bühnen- werk.“401 396 Zitiert nach Peter Niklas Wilson und Michael Kunkel, Heinz Holliger, S. 6. 397 Wolfgang Iser, Ist das Ende hintergehbar?, S. 406f. 398 Heinz Holliger zitiert nach Peter Niklas Wilson und Michael Kunkel, Heinz Holliger, S. 6. 399 Ebd. 400 Vgl. Philippe Albèra, Ein Gespräch mit Heinz Holliger, S. 32.197 Innerhalb solcher Tendenzen bildete sich im Schweizer Umfeld eine besondere Spielart aus, die Roman Brotbeck als aktionistisch in einem eigenen Sinn charak- terisiert: „Die Hauptgattung […] ist die Aktion, allerdings nicht jene rituell kontrollierten Abläufe und affirmativen Materialausstellungen der amerikanischen Fluxusbewegung, sondern groteske, katastrophische, ja kollabierende Aktionen. […] In diesen Aktions- stücken schwingt adoleszente Trotzigkeit, manchmal auch flegelhafter Übermut mit. Das unterscheidet sie von amerikanischen Vorbildern und macht sie noch heute zu etwas vom Eigenständigsten, das die Schweiz zur internationalen Musikgeschichte bei- tragen konnte, auch wenn die Werke gerade wegen dieser adoleszenten, das Raffi- nierte und mehrfach Dialektische meidenden Direktheit bisher wenig Erfolg im inter- nationalen Musikbetrieb hatten.“402 Die IGNM Basel widmete solchen Konzepten, die sich gegen jede andere Art der institutionellen Vereinnahmung tatsächlich erfolgreich sperren konnten, eine eigene Veranstaltungsreihe („Musikaktionen“), an der 1971–74 die wich- tigsten helvetischen Aktionisten beteiligt waren: Jürg Wyttenbach (mit Exécu- tion ajournée II [1970–71]), der sehr oft in der Schweiz wirkende Vinko Globo- kar (mit Drama [1971]), Josef Haselbach (mit Moving Theatre [1972–73]) und Heinz Holliger mit Cardiophonie und Kreis, allesamt Spezialisten auf dem Ge- biet katastrophischen Komponierens. 2.1.3.1. Aktion … Anlage und Ablauf der Aktion Cardiophonie sind bestimmt durch den erwähn- ten einfachen Grundeinfall, demzufolge ein Solist seinen eigenen Pulsschlag spielend bis zum Kollaps hochtreibt. Dieser Vorgang wird als bühnenwirksame Aktion in drastischer Konsequenz entwickelt. Sie beginnt in völliger Dunkelheit, die sich mit dem Einblenden der über Kontaktmikrophon abgenommenen Herz- töne des Solisten langsam lichtet: „Solist, nur von Scheinwerfer angestrahlt, sitzt in Podium (bezw. [sic!] Bühnen)-mitte. Wenn möglich sollten nur Hände, Kopf und Instrument des Solisten sichtbar sein, alles andere dunkel.“403 401 Heinz Holliger, META – TEMA – ATEM, S. 63; Thomas Strässle interpretiert Holligers Komposition Lied für Flöte, Altflöte oder Bassflöte (1971) vor dem Hintergrund von Becketts Breath; vgl. Thomas Strässle, Figurationen des Interpreten – Zu Heinz Holligers Flötenkomposi- tionen, in: Musik & Ästhetik 27, Juli 2003, S. 42f. 402 Roman Brotbeck, Expoland mit schwieriger Nachgeburt und ungezogenen Söhnen – zur musikalischen Avantgarde in der Schweiz der sechziger und frühen siebziger Jahre, in: „Entre Denges et Denezy …“. Dokumente zur Schweizer Musikgeschichte 1900–2000, hrsg. von Ulrich Mosch und Matthias Kassel, Mainz etc.: Schott 2000, S. 285ff. 403 Cardiophonie, Partitur S. 1.198 Im Verlauf der Aktion wird der vom eigenen Herzrhythmus gejagte Ausführende mittels Tonbandrückkopplungen seinem Spiel ausgesetzt, während sein immer schneller schlagender Puls mit der formalen Eskalation einhergeht; nach wieder- holten Stürzen und Schreien flüchtet der Spieler schliesslich vor seiner eigenen „Musik“, die nichts anderes darstellt als die extreme Überzeichnung seiner ele- mentaren Köperfunktionen, von der Bühne. In Holligers früher Interpretation endet das Stück mit der Einspielung einer Atombombendetonation. Eine fluxeske Fixierung dieser Aktion in einer verbalen Partitur nach Art von Georges Brecht, Sven-Åke Johansson oder Eric Andersen wäre möglich. Der Text könnte lauten: „Verstärke deinen Puls durch ein Kontaktmikrophon. Spiele dann so lange, bis du unter deinen eigenen Herzschlägen zusammenbrichst.“ Doch Cardiophonie ist nicht pure Aktion. Zwar gehört Cardiophonie zu den we- nigen Stücken Holligers, in denen die Besetzung mit der Bezeichnung „für einen Bläser“ nicht exakt definiert ist.404 Dennoch hat er den Ablauf weder in Fluxus- manier, noch nach Art einer allgemeinen „Aktionsschrift“ festgehalten, die, werkmässig oder nicht, bei Globokar, Kagel, Stockhausen und anderen eine je- weils individuelle Ausarbeitung erfordert. Cardiophonie liegt einzig in der kon- kreten Ausgestaltung der Version für einen Oboisten vor, die gleichwohl als Grundlage für andere Versionen dienen kann.405 Und obwohl die notierte Obo- enversion sich letztlich auf die von Holliger halb improvisierte Zagreber Urauf- führung von 1972 gründet406, handelt es sich dabei weniger um ein schriftlich fixiertes Improvisieren als um eine detailliert auskomponierte Umsetzung des Aktionsplans, bei der zumal Zeitverhältnisse in einer Weise berücksichtigt wer- den, die sich dem spontanen Auffassungsvermögen entziehen – Grundriss, wich- tige Einzelgestalten und Knotenpunkte von Cardiophonie sind präzise ausgemes- sen. Zunächst ist solches „Auskomponieren“ zur präzisen technischen Koordinie- rung der komplex ineinanderwirkenden, durch Spieler, Pulsschlag und Ton- bandaufnahme bzw. -wiedergabe gegebenen Zeitschichten unerlässlich. Doch über die Erfordernisse der Praxis hinaus ist Cardiophonie als Komposition arti- 404 Das ist in Holligers Musik sonst nur bei Kreis für 4–7 Instrumentalisten und Tonband (ad lib.) der Fall. 405 – und auch diente: Weitere Versionen wurden realisiert von Vinko Globokar (der eine Posaunenversion auf einem Cardiologie-Kongress zur Aufführung brachte) und Marcus Weiss (Saxophon). Der Partiturentwurf der Oboenversion von Cardiophonie endet mit der Notiz: „Versionen für Oboe Flöte Posaune ev. Trp? Vokalist –Schlagzeuger“. Eine frühe und fragmen- tarische Fassung von Cardiophonie war unter dem Titel Con-tra-verses (1971) für einen Flöti- sten und zwei Tonbänder vorgesehen, die auch in die Richtung von Lied für Flöte (1971) weist (beide Manuskripte in der SHH). 406 So Heinz Holliger im Gespräch mit dem Autor, Basel, 11. August 1999; ein Mitschnitt der Uraufführung befindet sich in der SHH.199 kuliert, um die Sprengkraft der Aktion im Werk zu bündeln, anstatt die Kata- strophe im Vagen verpuffen zu lassen. 2.1.3.2. … Komposition Wie sich an der „Urversion“ für Oboe zeigt, dient als Ausgangspunkt für die strukturelle Ausführung von Cardiophonie das Prinzip eines destruktiv wirken- den Kreislaufs: „Es gibt ein Feedback zwischen den Herzschlägen und dem Spiel des Instrumentali- sten, da ihre Wechselwirkung eine Art geschlossenen Stromkreis zwischen Technik und Spiel hervorruft. Das ist ein doppeltes Feedback. Es funktioniert wie ein grosses cre- scendo, mittels Anhäufung.“407 Das grosse cardiophone Crescendo ist in zwei Teile (I: 0 – 7’20’’; II: 7’20’’ – 11’40’’) untergliedert, dessen erster eine lineare Eskalation in vier Phasen be- schreibt; sie verdichtet sich in der kontinuierlichen Verkürzung der Tonband- Rückkopplungen408 um jeweils 30 Sekunden pro Phase. Eine Übersicht über die kanonische Organisation des ganzen Stücks liefert der „Zeitplan“ (Abb. 24). Schon in Pneuma erkundet Holliger das Werden eines Klangkörpers, der aus ei- nem Radio-Rauschen entwickelt wird. Die Phasen (a) – (d) des ersten Teils von Cardiophonie rekapitulieren schrittweise das Zustandekommen des Oboen- klangs vom Atmen des Spielers ins noch rohrlose Intrument (a), die Artikulation von Einschwingvorgängen (b) und Lippenvibrationen (c) bis zur Ausführung komplexer Mehrklänge, Doppeltriller, Glissandi etc. auf der nunmehr rohrblatt- belippten Oboe. Auf diese Weise beschreibt Holliger einen Weg, der aus der Lunge des Spielers über sämtliche buccalen Artikulationsregionen bis ins Instru- ment, das als Erweiterung der körpereigenen Klangwerkzeuge figuriert, führt. Einmal bezeichnete Holliger Cardiophonie als ein „pädagogisches Stück dar- über, wie der ‚schöne‘ Oboenklang entsteht“409 – wobei allerdings die Entwick- lung über die schulmässige Behandlung des Instruments fast völlig hinweggeht: 407 Heinz Holliger zitiert nach Philippe Albèra, Ein Gespräch mit Heinz Holliger, S. 33. 408 Das Tonbandverfahren von Cardiophonie hat sich längst überlebt, Magnetophone gehö- ren in den Bereich der historischen Aufführungspraxis. Schon lange werden die Rückkopplun- gen digital generiert. Obwohl daraus kein prinzipieller Unterschied für die Betrachtung des Stücks resultiert, muss darauf hingewiesen werden, dass die Rückkopplungen im analogen Ver- fahren nach jedem Überspielvorgang unschärfer werden; in digitaler Abbildung bleiben alle Tonspuren in unverminderter Qualität bis zuletzt erhalten, so dass sich das formal relevante Verschleifen der Kanonschichten nicht einstellt (siehe unten) – es sei denn, der Verschleiss wird digital simuliert. 409 „Cardiophonie ist darin Gegenstück zu Kreis: Dort werden die Instrumente auseinander- genommen, hier ein Instrument zusammengesetzt. In Kreis führt der Weg zurück ins Innere, bis am Ende nicht mehr gespielt wird, sondern vokale Klänge um das Publikum kreisen.“ (Heinz Holliger im Gespräch mit dem Autor, Basel, 28. April 2002).200 Abbildung 24: Heinz Holliger, Cardiophonie, „Zeitplan“ (© by Schott Music, Mainz)201 „Normal“ artikulierte Töne kommen ausser bei einigen Zweiunddreissigsteln in Phase (d) nie vor und sind selbst dort stets in multiphone Komplexe eingebun- den. Im Entwurf eines Formplans ist Phase (a) als „Exposition“410 bezeichnet. Sie lie- fert die strukturelle Basis der ganzen Komposition, da sie in den magnetopho- nen Rückkopplungen bis zuletzt erhalten bleibt. Das Prinzip eines „Feedback[s] zwischen den Herzschlägen und dem Spiel des Instrumentalisten“ findet hier seine erste Anwendung auf die elementarsten Voraussetzungen zum „Spiel“: Herzschlag und Atem. Beide Impulsarten sind aus Fibonacci-Werten abgeleitet und hängen dadurch von Beginn an strukturell zusammen: Holliger definiert das Dauernverhältnis von Diastole und Systole quintolisch (2:3), während das erste Atemholen acht Herzschläge in fünf (Ausatmen) zu drei (Einatmen) unter- gliedert – womit Holliger exakt auf die Proportionen des Beginns von Pneuma zurückgreift. In Cardiophonie wird der Atem kontinuierlich verengt, bis sich das Verhältnis 2:3 in Umkehrung zuerst auf Pulsebene und später als exakte Gleich- schaltung mit dem Herzrhythmus einstellt, die nur noch ein cardiophones Seuf- zen zulässt (Abb. 25 und 26). Mit dem Zwang zur cardiopneumatischen Kongruenz beginnt der Atem seine phrasierende und gliedernde Funktion einzubüssen. Reflexartige Impulse mün- den schliesslich in eine amorphe Zone getrillerten Einatmens, das den Puls- schlag enorm hochtreibt; der Triller dünnt aus, bis die Klappenattacken exakt mit dem Herzrhythmus mitgehen. Dieser Beginn entspricht Holligers erklärter Vorliebe für „die Gegenüberstel- lung von bewegter Zeit und von unbewegter Zeit.“411 Schon in der ersten Phase (a) erweist sich die vegetative Starre des Puls-Ostinatos als nicht hintergehbar. Über die Rückkopplung von (a) erfolgt in Phase (b) der Versuch, den Herzrhyth- mus in komplexe Impulsgruppen aufzubrechen, die durch perkussive Behand- lung der rohrlosen Oboe hervorgebracht werden. Die Gruppen sind als bis zu dreifach wiederholbare Segmente ganz oder ausschnittsweise vorzutragen, und zwar „synchron“ zur Tonbandwiedergabe von Phase (a). Obwohl die Gruppen als ein loses Reservoir von Segmenten disponiert sind, aus dem der Spieler rela- tiv frei, d.h. einzig nach Massgabe der Konvergenz zu (a) auswählen kann, sind die Dauernfolgen als solche durchaus streng aufeinander bezogen: Holliger ent- wickelt sie aus dem Herzrhythmus, indem er die quintolische Grundeinheit be- handelt wie eine „Mutterzelle“ und diese wuchern lässt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die ersten Umwandlungen der „Mutter- zelle“ ohne weiteres mit den rhythmischen Permutationsmodi beschrieben wer- den können, die Pierre Boulez im Aufsatz „Möglichkeiten“412 (1952) aufstellt. 410 SHH. 411 Heinz Holliger zitiert nach Philippe Albèra, Ein Gespräch mit Heinz Holliger, S. 37. 412 Vgl. Pierre Boulez, Möglichkeiten, S. 32ff.202 Abbildung 25: Heinz Holliger, Cardiophonie (© by Schott Music, Mainz)203 204 Abbildung 26: Schema zum Verhältnis von Herzrhythmus und Atem in Heinz Holligers Cardiophonie, Phase (a) 5 „n“ Herzrhythmus =̂ . (2 : 3) Atem (über Herzrhythmus): (5 : 3) (aus) (ein) | | 1 { .2 { . 3 4 5 6 7 8 9… 5 5 […] (3 : 2) | |1{ .2 { . 3 4 5 6… 5 5 […] 5  „cardiopneumatische | Kongruenz“ \ f > |. 5 Bei Holliger fungiert als „Mutterzelle“ der Herzschlag (vgl. Abb. 28 und 29). Kommt in Segment I die Umwandlung der umkehrbaren „Mutterzelle“ in eine nicht umkehrbare Zelle nach Art einer gespiegelten „rationalen Umfor- mung“ zustande, werden auf die Segmente II bis VII vor allem Verfahren ange- wendet, die Boulez als „formulierte Umwandlungen“, „durchbrochene, ineinan- dergeschachtelte und abgeleitete Rhythmen“ und das „Ersetzen eines oder mehrerer Werte durch Pausen“413 bezeichnet. Holligers Segmente sind fast nach Art des Boulezschen Schulbeispiels darstellbar. In der Darlegung seiner „Möglichkeiten“ benennt Pierre Boulez die Motivation seiner letztlich auf Olivier Messiaens rhythmischen Modi beruhenden Dauern- organisation exakt: „Es entsteht eine Vorstellung von Komposition, die keinen, nicht einmal den zerstöre- rischen Wunsch nach Rückerinnerung an die klassischen Architekturen erkennen lässt.“414 413 Ebd., S. 33ff. 414 Ebd., S. 36.205 Abbildung 27: Heinz Holliger, Cardiophonie, S. 4f. (© by Schott Music, Mainz)206 207 Abbildung 28: aus Pierre Boulez, Möglichkeiten, in: ders., Werkstatt-Texte, Frankfurt am Main – Berlin: Propyläen 1972, S. 35 Holliger hat sein Komponieren um 1970 oft als dezidiert zerstörerische „Reak- tion auf die keimfreie Ästhetik der Boulez-Schule“415, durch die er Anfang der sechziger Jahre selber gegangen war, bezeichnet. Hier wird greifbar, wie er das von Boulez aufgestellte, durch und durch konstruktive „Netz von Möglichkei- ten“416 zu zerfetzen sucht – nämlich indem er dessen Umwandlungsmodi im Kontext von Cardiophonie ad absurdum führt: Nach dem VIII. Segment werden die Impulsgruppen durch geräuschhafte Komplexe aufgelöst, die, wie gleichzei- tig (a), in ein amorphes Geräuschband aufgehen, innerhalb dessen sich als mar- kantes Dauernprofil einzig der Herzschlag ausmachen lässt. Die „Mutterzelle“ 415 Heinz Holliger zitiert nach Michael Kunkel, CH-Variationen mit Jürg Wyttenbach und Heinz Holliger, in: NZfM 162 (2001), Heft 2, S. 24. 416 Pierre Boulez, Möglichkeiten, S. 36.208 Abbildung 29: Schema zur Umformung des Herzrhythmus in Heinz Holligers Cardiophonie, Phase (b) 5 „Mutterzelle“ „umkehrbar“ „nicht umkehrbar“ Segmente I II III IV V VI VII 3 VIII = „Mutterzelle“ IX […] (synchron mit Herzrhythmen) 5 5 D D D D fällt damit auf sich selbst zurück, deformiert zu spontanen Tremolo-Akzenten oder zu quintolischen, leicht aus dem Rhythmus geratenen Klappenattacken. Ausgangspunkt und Ziel der „Umwandlungen“ sind ein und dasselbe: Die uner- bittlich pochenden Jamben des Herzschlags. Während der Phasen (b), (c) und (d) induziert das formbildende „Feedback zwi- schen Herzschlägen und Spiel“ ein immer enger werdendes Zeitkorsett, dessen Rückkopplungsschichten sich in (d) zu überlagern beginnen. Der Interpret kann nicht mehr frei über eine Auslegung der mobil angeordneten Zeichen entschei- den, sondern wird zu Reflexen genötigt. Zur zeitlichen Koordinierung dienen Anweisungen, die sich nur auf die elementare Reaktionsart des Spielers bezie- hen: In Phase (b) „synchron“ (zur Rückkopplung von [a]), in Phase (c) „asyn- chron“ (zur doppelten Rückkopplung von [a] und [b]) und in Phase (d) „asyn- chron – teilweise synchron“417 (zur dreifachen Rückkopplung von [a], [b], [c],209 später auch [d]). Alle Spielhandlungen sind damit, ob konvergierend oder diver- gierend, auf den in (a) aufgezeichneten Pulsschlag und seine Ableitungen bezo- gen. In einem weiteren „Stromkreis“ wirkt die jeweilige Reaktionsart auch auf die Aussteuerung der Wiedergaben zurück. Das Prinzip einer linear wirkenden Anhäufung cardiophoner Materialien wird unterminiert, indem sich alle Zeit- faktoren gegenseitig zu beeinflussen beginnen. Auf dem Punkt maximaler Ver- dichtung des ersten Teils (7’20’’) setzt dieser Prozess plötzlich aus.418 Auch diese zeitliche Koordination von synchron oder asynchron aufeinander be- zogenen Spielhandlungen erfolgt nicht ohne historische Voraussetzungen. Es sei daran erinnert, dass Karlheinz Stockhausens Solo für Melodieinstrument und Rückkoppelung (1966) und seine Prozesskomposition Spiral für einen Solisten (1968) durch Holliger uraufgeführt wurden.419 Letzteres ist ein Musterbeispiel für Stockhausens Gepflogenheit, Kurzwellensignale anhand von in einer Partitur akribisch festgehaltenen Plus-, Minus- und Gleichheitszeichen (dem entsprechen Holligers Hinweise zur Synchronität bzw. Asynchronität der Spielhandlungen) instrumental interpretieren zu lassen. Hier war Stockhausens erklärtes Ziel, „in- tuitive, denkerische und gestalterische Fähigkeiten“ wachzurufen, auf dass sich Bewusstsein und künstlerische Fähigkeiten „spiralförmig steigern“.420 In Car- diophonie erfährt Karlheinz Stockhausens transzendentale Konzeption eine ver- nichtende Erdung, indem alle Ereignisse den destruktiven Transformationen des Herzrhythmus unterworfen sind. Unmittelbar nach dem Aufstecken des Oboenrohrs wird der erste Paroxysmus von (d) mit einer Artikulationsart eingeleitet, die auch den katastrophalen Hö- hepunkt von Holligers Siebengesang (1966–67) markiert: „(einsaugen!) fff mar- catissimo“.421 In Siebengesang schlägt die maximale Verdichtung der Instrumen- taltextur um in die zeitlich ungerichteten Gesänge über Georg Trakls Vers 417 Deutlicher noch ist das Prinzip in den Entwürfen zu Formplänen benannt: „Reaktionen auf Band I (synchr[on])[= Phase (b);] Reaktionen auf Band II Gegensätzliches [= Phase (c);] Ähnliches, Gleiches, Gegensätzliches [Phase (d)]“; SHH. 418 Vorher hatte Holliger eine noch extremere Zuspitzung vorgesehen, indem er die Ent- wicklung der Phasen (a)-(d) schon in der solistischen, noch rückkopplungsfreien Phase (a) voll- zieht; vgl. Partiturentwurf, S.1–4, SHH. Obwohl dieser Entwurf vor allem dadurch erheblich von der endgültigen Fassung divergiert, betrachtete Holliger ihn offenbar schon als verbindli- che Version; dafür spricht die Tatsache, dass das Abschlussdatum „23.4.[19]71“ dieses Ent- wurfs auch für die endgültige Fassung gilt. 419 Uraufführung der Oboenversion von Solo 1967 in Basel; die Uraufführung von Spiral im Mai 1969 in Zagreb fand Stockhausens Beifall: „Ein ebenso phantastisches (im wörtlichen Sin- ne) wie humorvolles Erlebnis war Holligers Aufführung von SPIRAL in Zagreb. Ich hätte nie gedacht, dass ein so unbekannter Mensch aus einem doch ziemlich bekannten Holliger heraus- schlüpft, der Dich zu Tränen rühren und zum Lachen bringen kann.“ (Karlheinz Stockhausen, Brief an Henri [Pousseur], in: ders., Texte zur Musik 1963–1970, Bd. 3, hrsg. von Dieter Schne- bel, Köln: DuMont 1971, S. 332f.). 420 Ebd., S. 136.210 „Windesstille der Seele.“422 In Cardiophonie hat sich das Prinzip der sukzessiven Anhäufung von Materialien in ihrer quasi genetischen Abfolge mit dem Ende des ersten Teiles erledigt. Es wird im zweiten Teil abgelöst durch die simultane Gleichschaltung aller Schichten. Der entscheidende Punkt ist in Phase (f) er- reicht. Der multiple Kanon der Ereignisse des ersten Teils bewirkt hier eine ver- zweifelte Reaktion des Solisten: Er greift die inzwischen unanalysierbar gewor- dene Rückkopplungsharmonik in seinem Spiel auf, indem er alle gewonnenen Artikulationsarten gleichzeitig zu reproduzieren sucht und auf diese Weise eine in sich vielfach gebrochene solistische „Linie“ erzeugt, die noch in Pneuma ein grosses Ensemble beschäftigte (siehe Abb. 30 und 31). Zudem wird das anako- luthische Dauernprofil dieser „Linie“ in der mittels Reglerpartitur exakt ausno- tierten Aussteuerungsrhythmik negativ abgebildet. Gestalt und ihre „Geschich- te“ sind damit kurzgeschlossen und evozieren ein sich selbst aufzehrendes Zeitmodell, in dem das formbildende zyklische Prinzip der „Feedbacks“ durch- dreht. Auf den letzten solistischen Ausbruchsversuch von Phase (g) folgt eine Stretta (Phase [h]), in der der Spieler mit allen vergangenen und vorvergangenen Ereig- nissen konfrontiert wird: Über drei magnetophone Rückkopplungen erscheinen seine Körperfunktionen dabei nicht nur in multipler Überzeichnung und Defor- mation, sondern werden zunehmend in konkrete, von realer Gewalt kündende Tonbandklänge transformiert, die Holliger bereits in der fragmentarischen Frühfassung Con-tra-verses für Flöte und zwei Magnetophone vorgesehen hatte: „→ Ende: Herztöne immer lauter, dazu Zerschlagen von Glas, Zerbrechen von Bret- tern, Hammerschläge auf Metall, auf Holz Holzgefässe, Säge-, Quietschgeräusche (→ Folterassoziationen) → Klopfen verwandelt sich immer mehr in Gewehrsalven, Bom- bendetonationen: [Der] Flötist duckt sich, geht in Deckung, schreit, Bewegungen pani- scher Angst, geht hinter Stühlen, Flügel, Pulten usw. in Deckung, zieht sich immer mehr zurück, flüchtet vom Podium. Während Podium leer Lärm steigern bis zur extre- men Lautstärke dann Explosion / Saal dunkel […]“.423 In der endgültigen Version sind die Aktionen mit krampfartig hervorgebrachter Deklamation von Silben angereichert, die aus dem syllabischen Permutations- fundus von Dona nobis pacem aus dem Jahr 1968 stammen könnten.424 Der nicht realisierte dritte Teil dieses Chorwerks sollte „konkrete Ausschnitte aus Presse und Radio“ einbeziehen und „nur [aus] Geräuschen und unzusammen- 421 Heinz Holliger, Siebengesang für Oboe, Orchester, Singstimmen und Lautsprecher (1966–67), Takt F/vii 17ff. 422 Georg Trakl, Siebengesang des Todes, in: ders., Das dichterische Werk, S. 70; Heinz Holli- ger, Siebengesang, Ziffer G (Coda). 423 Entwurf von Con-tra-verses, SHH. 424 Vgl. das umfangreiche Skizzenmaterial zur anagrammatischen Komposition des Textes von Dona nobis pacem in der SHH.211 Abbildung 30: Cardiophonie, „Reglerpartitur“, S. 2 mit hss. Eintragungen von Heinz Holliger (© by Schott Music, Mainz)212 Abbildung 31: Heinz Holliger, Pneuma, Takt 192ff. (© by Schott Music, Mainz)213 hängenden Schreien“425 bestehen. Dies wird in der Stretta von Cardiophonie gleichsam nachgeliefert. Das engagierte Moment von Dona nobis pacem, dessen unsublimierte Ausgestaltung im geplanten dritten Teil dem Komponisten schliesslich allzu plakativ erschien, spielt in der cardiophonen Agitation eine wichtige Rolle: „Cardiophonie war auch der Ausdruck von Spannungen, die nicht nur rein persönli- cher Natur waren“.426 Das massive Eindringen konkreter katastrophischer Signale bleibt dabei bis zu- letzt auf den Herzschlag bezogen: Nachdem der Spieler von der Bühne geflüch- tet ist, vollziehen alle Rückkopplungen ein simultanes „accelerando von Herz- tempo Beginn bis Herztempo Schluss (ca. Viertel = 60 bis Viertel = 132)“427, und zwar nach Massgabe der Fibonacci-Werte des Beginns (3 – 5 – 8 – 13). Selbst die letzte und äusserste Zuspitzung, der eigentliche „Infarkt“ nach Er- schöpfung der Aktion, erfolgt nicht vage und unkontrolliert, sondern ist – nach einem Wort Jürg Wyttenbachs – „anständig komponiert“.428 2.1.3.3. Unform Wenn Holliger seine Cardiophonie heute spielt, tut er dies ganz im Vertrauen auf seine „Komposition“: Er verzichtet auf eine naturalistische Darstellung des En- dens fast völlig und sinkt stattdessen, wie der Cellist zum Ende seines Streich- quartetts (1973) oder die Ausführenden am Schluss von Psalm (1971), auf dunk- ler Bühne allmählich in sich zusammen.429 Denn er hat einen Aktionsverlauf komponierend soweit zugespitzt, bis nicht nur der Spieler, sondern auch die Konstituentien dessen, was man einmal als „Werk“ zu bezeichnen gewohnt war, auf der Strecke bleiben. Der Werkcharakter von Cardiophonie äussert sich im gründlichen Prozess seiner Negation. In seinem subversiv motivierten Festhalten am Werk bezieht Holliger eine ähnliche Position wie Jacques Wildberger, der der Rückkopplungsmechanik von Cardiophonie mit Double Refrain für Flöte, Englischhorn, Gitarre und Tonband (1972) bald sein eigenes magnetophones Zerstörungmodell entgegensetzte. Schon zwei Jahre zuvor hatte Wildberger in einem Gespräch mit Hansjörg Pauli geäussert: 425 Heinz Holliger zitiert nach Philippe Albèra, Ein Gespräch mit Heinz Holliger, S. 32; Ma- terialien aus der Tagespresse in der SHH. 426 Ebd., S. 57. 427 Cardiophonie, Partitur S. 15. 428 Zitiert nach Michael Kunkel, CH-Variationen mit Jürg Wyttenbach und Heinz Holliger, S. 19. 429 Bei der Aufführung am 14. April 2002 beim 101. Tonkünstlerfest in Zug.214 „Das Werk […] kann über das Materiale hinaus mehr kritische Reflexion und damit mehr Aggression aufnehmen als die offene Aktion, die oft nur repetiert, was draussen vor sich geht. Das Werk ist unverlierbar, weil es im Gegensatz zur offenen Aktion mit präzise vorhersehbarem Ergebnis jederzeit wiederholt werden kann. Und wenn sein Autor über genügend Substanz und genügend Können verfügt, so kann es schliesslich einen Sinn bekommen jenseits des Privaten: es kann erhalten bleiben als Stein des Anstosses, als Sandkorn im Getriebe, als Ärgernis.“430 Bringt die Eskalation eines körperlichen Vorgangs in Pneuma Facetten zum Vor- schein, die der Entfaltung von Form in einem durchaus differenzierten und so- gar konstruktiven Sinn immer noch Vorschub leisten, fallen solche Vorstellun- gen der Stringenz von Cardiophonie zum Opfer. Selbst die grossformale Beschleunigung ist mit einer Relation von 11:7 (440’’ [Teil I] : 280’’ [Teil II]) na- hezu exakt an das angenommene quintolische Verhältnis des Herzschlags (3 [Sy- stole] : 2 [Diastole]) angebunden. Der Eklat des Werks wird artikuliert in der Proportion des cardiophonen Jambus. In ihr vollzieht sich die konsequente kompositorische Gestaltung des Exitus durch eine rigorose Umdeutung des vita- len Impulses in sein Gegenteil. Holliger hat eine objektive und konkrete musika- lische Sprache geschaffen, die dazu dient, „Organe einzuklemmen, einzuen- gen.“431 Dabei ist die Komposition nicht primär auf eine „Zerreissung des Fleisches“432 berechnet, sondern entspricht viel eher Antonin Artauds Vorstel- lung eines „Theaters der Grausamkeit“: „Vom Standpunkt des Geistes aus betrachtet bedeutet Grausamkeit Unerbittlichkeit, Durchführung und erbarmungslose Entschlossenheit, nicht umkehrbare, absolute Determination. […] Vor allem ist Grausamkeit luzid, sie ist eine Art unerbittliche Füh- rung, eine Unterwerfung unter die Notwendigkeit.“433 Cardiophonie ist die monomanische Apotheose der „Einbahnstrassen-Form“434, deren kanonische Akkumulation im Streichquartett auf den „letzten Atmen“ der Spieler zurückgeführt wird. Im völligen Nivellieren einer auf Beziehungsreich- tum erpichten Formvorstellung wird Pierre Boulez’ Alptraum wahr. Holligers Weg zu Cardiophonie könnte daher mit gewissem Recht als eine Art „Boulez-Ex- orzismus“ beschrieben werden. Ein „Vatermord“ fand indessen nicht statt. Hol- liger und Boulez verstehen sich nach wie vor gut. Boulez wohnte einer Auffüh- rung der Cardiophonie nicht unvergnügt bei.435 Die Konstellation Boulez- 430 Zitiert nach „Für wen komponieren Sie eigentlich?“ – Hansjörg Pauli im Gespräch mit Jacques Wildberger, in: Jacques Wildberger oder die Lehre vom Andern, hrsg. von Anton Haefeli, Zürich: Hug o.J., S. 193. 431 Antonin Artaud, Das Theater der Grausamkeit (Erstes Manifest), in: ders., Das Theater und sein Double, Frankfurt am Main: Fischer 1979, S. 97. 432 Antonin Artaud, Briefe über die Grausamkeit, ebd., S. 109. 433 Ebd., S. 109f. 434 Pierre Boulez, Sprechen, Singen, Spielen, in: ders., Werkstatt-Texte, S. 140.215 Holliger lässt sich möglicherweise mit jener von Joyce und Beckett oder auch, auf andere Art, mit Bartók und Kurtág vergleichen. Viel eher als von einem be- sinnungslosen Bildersturm lässt sich hier wie dort – wieder mit einem Wort Ha- rald Kaufmanns – von einer „kritischen Durchdringung der Vergangenheitslei- stung“ sprechen, „die selber gefährdet ist und dadurch Grundlage der Bemühung um ein neues authentisches Kunstwerk sein kann.“436 Die Gefähr- dung auch der neuen Errungenschaft war immens. Am 7. Mai 1970 schrieb Hol- liger an Nelly Sachs: „[…] es wird immer schwerer noch zu komponieren. Die Musik zerstört sich selbst unter meinen Händen.“437 Um Holligers Position zu verdeutlichen, würde ein Vergleich mit Helmut La- chenmann lohnen. Denn es wird nicht zu Unrecht behauptet, dass Holliger und Lachenmann zumal um 1970 die kompositorische Grundmotivation im Aufdek- ken physischer Bedingtheiten von Klang teilen. Lachenmanns Weg führte zu ei- ner Aufwertung polyzentrischen Formens durch neue Möglichkeiten der Ablei- tung von Klangstrukturen bis hin zum werkmässigen „Superklang“: „Form als Idee einer charakteristischen Projektion der Mittel in die Zeit bewährt sich, bleibt im Gedächtnis zurück als Klang-Erlebnis.“438 Die fundamentale Differenz rührt nicht zuletzt vom grundverschiedenen Blick- winkel auf das „Metier“: Äussert Lachenmanns Skepsis gegenüber allem Musi- kantischen sich zumal im formalen Aufbrechen konventioneller Musizierpraxis, so dass im Ergebnis geeigneter von „Hantieren“439 als von „Musizieren“ zu sprechen wäre, musiziert Holliger sich in Cardiophonie zu Tode. Er inszeniert die Ermordung von Form in der gewollten Überstrapazierung einer Musizierhal- tung, die das Mittelbare absolut ausschliesst. Grossformale Projektion erweist sich nur insofern als „charakteristisch“, als sie sich dem cardioletalen Impuls un- terwirft und jede andere Möglichkeit ausschliesst. Es muss abschliessend womöglich betont werden, dass das Letale mit komposi- torischen Mitteln inszeniert, vorgespielt wird. Der Instrumentalvirtuose Holli- ger begibt sich nie in reale Verletzungsgefahr, sondern versucht mittels einer Äs- thetik in extremis eine neue Qualität von Form, besser: „Unform“ zu gewinnen. 435 Mitteilung von Heinz Holliger im Gespräch mit dem Autor, Basel, 28. April 2002. 436 Harald Kaufmann, Zur Wertung des Epigonentums in der Musik, in: ders., Spurlinien – Analytische Aufsätze über Sprache und Musik, S. 202. 437 Zitat aus dem Briefwechsel Heinz Holliger/Nelly Sachs (Nelly Sachs Archiv der Königli- chen Bibliothek Stockholm), mit freundlicher Genehmigung von Heinz Holliger. 438 Helmut Lachenmann, Über das Komponieren, in: ders., Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1996, S. 77. 439 Helmut Lachenmann, Heinz Holliger, in: ebd., S. 308.216 Was nun mit dieser Art „Unform“ zu beginnen sei, zeigte sich bald in den „Exer- zitien“ von Holligers Scardanelli-Zyklus (1975–91), wo es nach Aussage des Komponisten „keine globale Form mehr gibt“440, sowie in der direkten Applika- tion des cardiophonen Modells auf Not I von Samuel Beckett. Auch diesen Stük- ken ist der Herzschlag als todbringendes Zeichen eingeschrieben.441 2.2. Not I für Sopran und Tonband (1978/80) 2.2.1.Kalte Katastrophe: Streichquartett (1973) und Come and Go / va et vient / Kommen und Gehen – Kurzoper in 3 Akten (1976–77)442 „Let us not speak.“ (Samuel Beckett) Schon während der Arbeit an Cardiophonie lag Samuel Beckett in Holligers Blickfeld. Atem und Tonbandrückkopplung, neben dem Herzschlag die wesent- lichen Rohstoffe für das Stück, bezog er nicht allein aus dem Umfeld der musi- kalischen Avantgarde zum Ende der sechziger Jahre. Holliger selbst weist darauf hin, dass ihm neben der Selbstzerstörungsapparatur von Franz Kafkas In der Strafkolonie (1919) auch Becketts dramatische Modelle Breath und Krapp’s Last Tape als fontes inventionis dienten.443 Im Unterschied zu anderen Beckett-Kom- ponisten444 reizte Krapps imaginärer magnetophoner Dialog Holliger nicht zur unmittelbar musikalischen Inszenierung. Unter dem Eindruck des Band-Tage- buchs setzte er vielmehr einen katastrophischen Reproduktionsmechanismus in Gang, der wohl zu den vorzüglichen Gegenständen von Krapps Idiosynkrasie zu zählen sein dürfte – denn für ihn gehören alle Extasen und Paroxysmen in den Bereich einer dunklen Vorvergangenheit, an die auch mittels Tonbanderinnerun- gen nicht mehr gerührt werden darf.445 Holligers erste eigentliche Beckett-Kom- positionen setzen genau an jenen Erfahrungen der radikalen „Entformung“ an. Sie finden statt, nachdem die Rituale der Zerstörung übertrieben worden waren. 440 Philippe Albèra, Ein Gespräch mit Heinz Holliger, S. 46. 441 Vgl. die Refrains der Ich-Verneinung in Holligers Not I; vgl. Ostinato funebre (1991) und „(t)air(e)“ (1980/83) aus dem Scardanelli-Zyklus (1975–91); vgl. auch Schneewittchen (1997– 98), II. Szene, Takt 253ff., 325, 484ff.; IV. Szene, Takt 131; auch das einzig resistente, pulsie- rende Klangfeld des zweiten Liebeslieds „Nachts“ entfaltet sich als cardiophonale Qualität über: „[Das rote Gold meines] Herzens“. 442 Vgl. Peter Szendys Analyse von Holligers Come and Go (Endspiele, in: Annette Landau (Hrsg.), Heinz Holliger, S. 65ff.), auf der diese Skizze basiert. 443 Heinz Holliger im Gespräch mit dem Autor, Basel, 28. April 2002. 444 Vgl. etwa die sehr verschiedenen musik-inszenatorischen Ansätze in Marcel Mihalovicis Oper Krapp, ou La dernière band (1959) und Gyula Csapós Az utolsó tekercs für Violine und Tonbänder (1974–75). 445 Vgl. Samuel Beckett, Krapp’s Last Tape, in: ders., Collected Shorter Plays, S. 60.217 Holligers Musiken über Come and Go und Not I basieren auf zwei Kompositio- nen jener Zeit: Streichquartett und Cardiophonie. Das gegenbildliche Verhältnis von Holligers kompositorischen Fortschreibungen der Stücke Becketts ist dort schon angelegt: Streichquartett wendet die Zuspitzung von Cardiophonie um, indem der Klangkörper einem ebenso unerbittlichen Prozess des Absterbens un- terworfen wird. Das decrescendo al niente des Streichquartetts endet, wo Car- diophonie und Pneuma beginnt: Im Atmen, das hier nicht Ausgangspunkt einer katastrophalen Eskalation ist, sondern äusserster Endpunkt des Formbogens, in dem die Spieler ein Ersticken simulieren.446 Come and Go ist jedoch keine Kon- trafaktur des Streichquartetts. Die unerbittlichen Destruktionsrituale aus der Zeit um 1970 erwiesen sich als nicht steigerbar und konnten zumal unter den Bedingungen einer realen Auseinandersetzung mit Becketts Texten kaum wie- derholt werden. Das frühere Werk bietet lediglich die geeignete Hüllkurve für eine neue Komposition, die zuerst gar nicht als musikdramatische Arbeit ge- dacht war. Holligers Zuwendung galt von Beginn an viel eher dem formalen Modell des Dramaticules als seiner spezifischen Szene. „[I]ch wollte zunächst ein Instrumentaltrio für drei Flöten schreiben über diesen Text, ohne ein einziges Wort zu verwenden. […] [Er] war nur eine Vorlage, fast nur ein for- males Gerüst mit Worten […].“447 Dieses Flötentrio wurde tatsächlich geschrieben und lieferte die Basis für eine umfassende musikalische Projektion der bei Beckett omnipräsenten Dreierma- trix. Holliger hat das Stück auf allen Ebenen verdreifacht: Es spielt simultan an drei verschiedenen Orten mit drei verschiedenen Trios. Neben jenem der Flöten sind dies ein Bratschen- und ein Klarinettentrio. Alle Trios können jeweils auch konzertant aufgeführt werden. Zudem wird das szenische Modell in Holligers „Kurzoper in 3 Akten“ insgesamt dreimal durchgespielt. Hier greift die Ver- stummungsmechanik des Streichquartetts: Ist die Form des Quartetts dem vier- fachen Herunterstimmen der Saiten der Streichinstrumente unterworfen, bis sie nach fast völligem Erschlaffen nicht mehr klingen können, sinken die Tonlagen aller Trios jeweils kurz vor Beginn eines jeden neuen „Aktes“ ab, so dass jeder Akt seine eigene „Stimmung“ besitzt. In beiden Stücken ist die numerische Kon- gruenz von strukturbildendem und -zersetzendem Koeffizienten gegeben. Holliger hat auf Becketts Figuren und Worte keineswegs verzichtet. Die drei Protagonistinnen erscheinen, selbstverständlich verdreifacht, so dass sich drei Sopranterzette, die den jeweiligen Instrumentaltrios entsprechen, auf drei Büh- nen verteilen. Obwohl Holliger im ersten Akt kein Iota an Becketts Worten ver- ändert, erscheinen sie hier schon vollständig deformiert: Der dramatische Text erfährt seine Übervertonung, indem Becketts englische und französische Origi- nalfassungen und Elmar Tophovens deutsche Übertragung448 übereinander- 446 Vgl. Streichquartett, H (Coda). 447 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 216ff.218 geblendet erscheinen (der vollständige Titel von Holligers Stück lautet daher Come and Go / va et vient / Kommen und Gehen). Auch auf den Text wird das expansive Prinzip, das Holliger aus dem dramatischen Modell abgeleitet hat, an- gewandt. Abbildung 32: Heinz Holliger, Streichquartett, Anmerkungen (© by Schott Music, Mainz) Abbildung 33: Heinz Holliger, Come and Go, Übersicht Akt I Akt II Akt III 3 Flöten 2 Flöten Flöte Altflöte Altflöte Bassflöte 3 Violen 3 Violen 3 Violen (2. Vla C-Saite nach B) (2. Vla C-Saite nach As) 3 Klarinetten 2 Klarinetten Klarinette Bassklarinette Bassklarinette Kontrabassklarinette Dieses Verfahren entspricht Holligers Vorstellung einer „Metasprache“, in der die drei kohärenten Sprachfassungen im ersten Akt zu einer neuen Kunstsprache kombiniert werden. 448 Holliger kann Tophovens deutschen Text als Quasi-Original verwenden, da er in enger Zusammenarbeit mit Beckett entstanden ist. In der Schiller-Theater Werkstatt Berlin gelangte das Stück am 14. Januar 1966 in dieser deutschen Fassung zur Uraufführung.219 „[I]ch habe den Text in diesen drei Sprachen so ineinander verhängt, dass quasi eine Übersprache entsteht; in die Löcher der einen Sprache kommt meistens ein Wortparti- kel einer anderen.“449 Holligers „Synopsis“ belegt, wie einzelne Sprechpassagen sich in komplementä- ren Dauernprofilen zu Sprachgittern fügen (Abb. 34). Nur affektive Reaktionen wie die Ausrufe „Oh!“, „Malheur!“ usw., sind diaste- matisch fixiert. Eine veritable neunstimmige Vokalpolyphonie erscheint nur an einer Stelle (Partiturseite 20), über „[Dreaming of …] love.“ Anders als die Ana- grammatik von Dona nobis pacem ist die „Metasprache“ über Beckett kein Ge- bilde völlig eigenen Rechts. Come and Go, va et vient und Kommen und Gehen verschmelzen nicht unauflösbar, sondern sind auf jeder Bühne je für sich prä- sent. Holligers Schreibweise zielt auf einen weiten Hörraum, der sich inmitten der eigenzeitlichen Konzeption einzelner Schichten ebenso erschliesst wie in ih- rer übergeordneten Koordination. Dieser Raum ist nicht hierarchisch gegliedert, sondern umfasst lokale als auch globale Kontrapunkte, d.h. die in sich kohären- ten Einzelstränge wie ihre Summe gleichermassen, und wird analog zum Absin- ken der Instrumentallagen im Verlauf des Stückes zunehmend verengt, bis nach der stockenden Rede und den Worttorsi des zweiten Akts im dritten Vokallaute bis auf wenige Artikulationsreste nur noch stumm markiert werden. Musikalische Form äussert sich als fortschreitende Zensur von Wortklang. Die Sprachfassungen „rotieren“ dabei aktweise über die Bühnen, so dass jede Szene an jedem Ort in allen drei Sprachen gespielt wird – wobei die fortschreitenden Deformationsgrade jede wörtliche Wiederholung von Becketts Szene unterbin- den. Nicht ohne Grund assoziiert Michel Rigoni die Coda des Streichquartetts mit Becketts Endspiel.450 Musste aber ein Mechanismus des Endens im Streichquar- tett „im Nahkampf mit den Instrumenten“451 erst noch erarbeitet werden, fin- det Come and Go als kalte Katastrophe nach allen Enttonungsprozessen und Endspielen statt. Ein solcher „Nahkampf“ ist im „expressionistischen Vor- spiel“452 gegeben. Denn das Spiel kann erst beginnen, nachdem sich sämtliche 449 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 216. 450 Michel Rigoni, Das Streichquartett von Heinz Holliger und das Überschreiten der instru- mentalen Grenzen, in: Annette Landau (Hrsg.), Heinz Holliger, S. 105. 451 Ebd., S. 94. 452 Eine verbale Skizze zum Vorspiel lautet: „längeres, quasi ‚expressionistisches‘ Vorspiel, allmähliches Verstummen[.] Jede Stimme individuell, nach und nach Zusammenschmelzen je- der einzelnen Gruppe, dann der 3 Gruppen. Synchron: ca. 1’ lautlos; Bei Einsatz des Textes äusserst leise[.]“ Hier spekuliert Holliger noch über andere Varianten: „Vorspiel lautlos à 9, so- bald erstes Wort ges. wird ertönen die Instrumente“; „Vorspiel: 3 (3×3?) verschiedene Tempi (ca. 3’?), die sich nach und nach in homophonem (Choral) Satz treffen; Bei vollkommener Syn- chronität Einsatz der Sprache; Mit Sprache (äusserst leise) Instrumente etwas lauter (espressi- ver?)“ (SHH).220 Abbildung 34: Heinz Holliger, Come an Go, Skizze („Synopsis“) (© by Paul Sacher Stiftung, Basel)221 Beteiligten in einem Schrei erschöpft haben, auf dass alle Energie bereits vor Be- ginn vollständig verbraucht sei. Der konsequente Entzug von Artikulationsmög- lichkeiten ist dabei die notwendige Vorbedingung zur Artikulation dieses Stücks, dessen Ablauf Holliger als „ein Altern über den Tod hinaus“453 charakterisiert. Gleichzeitig erscheint das Formmodell der Kurzoper offengelegt, bevor sie be- ginnt: Es handelt sich um ein grosses decrescendo al niente. Auch der Konnex von Singstimmen und Instrumenten erschliesst sich aus die- sem Vorspiel. Was immer eine Sopranistin in Come and Go spricht, singt oder mimend verschweigt, wird von einem „sprechenden“ Doppelgängerinstrument ins Kantable geholt. Diese Reflexe bilden vordergründig expressive Gruppen vor jenem leisen deformierten Klanghintergrund, der aus dem Vorspiel gleich- sam überhängt. Sie dürften nach umfassender „expressionistischer“ Erschöp- fung eigentlich gar nicht mehr klingen können. Entsprechend löst sich die voka- le Beteilung im Laufe der Akte von den instrumentalen Cantabile-Partikeln ab, die am Ende nichts mehr zum „Sprechen“ bringen und als altmodische Zitatre- ste im expressiven Vakuum schweben.454 Jetzt erst wird klar, dass die Instrumen- te von Beginn an Gesang, der von den Singstimmen instrumental abgekoppelt wurde, nur simulierten. Der denaturierte Klanggrund dagegen kann nur an ei- ner Stelle für kurze Zeit vollständig gebannt werden. Entsprechend verdichten sich auf Partiturseite 20 die Floskeln zur trilingualen Scheinpolyphonie über „that desert of loneliness and recrimination that men call love“.455 (Abb. 36) Holliger charakterisiert „das Schweigen“ als „Haupttext dieses Stückes“ und möchte es in seiner Musik „zum Klingen bringen“.456 Eine Art der kompositori- schen Entzifferung dieses „Haupttextes“ liegt in der Perspektive eines allzu wörtlichen Klangvordergrunds, der sich in einem Klanghintergrund, der nur in den Textlöchern klingt, löst. Erst wenn das Buchstäbliche vollständig suspen- diert ist, kann die Kurzoper aufhören – nicht aber enden: „Wenn […] Come and Go ein endloses Spiel ist, so deshalb, weil das Ende bereits vor dem Anfang statt- gefunden hat.“457 Zudem setzt Holliger an der für Beckett ungewöhnlichen zy- klischen Struktur des Spiels an. Im gesprochenen Spiel entfaltet sich die dialogi- sche Kombinatorik um jenes kleine Geheimnis, das Ru, Flo und Vi um die 453 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 218. 454 „[D]ie Musik ist eigentlich so, dass diese immer noch vollständigen Relikte der Worte, dieser instrumentalen Wortpartikel, die immer noch unverfremdet sind, wie Fremdkörper her- umliegen in einer völligen Klangwüste, fast wie Kadaver oder Ruinen, Wortruinen in einer im- mer kaputteren Klangwelt, so dass die Expressivität der Musik zunimmt, je kaputter sie ist, und dass das, was zu Beginn im äusseren Sinn expressive Musik war, am Schluss als falscher Schein sich zeigt, wenn man es im Zurückhören oder Zurückschauen nachvollzieht.“ (Heinz Holliger, zitiert ebd.). 455 Proust, S. 54. 456 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 217. 457 Peter Szendy, Endspiele, S. 77.222 Abbildung 35a: Heinz Holliger, Come and Go, Beginn Akt I (© by Schott Music, Mainz)223 Abbildung 35b: Heinz Holliger, Come and Go, Beginn Akt II (© by Schott Music, Mainz)224 225 Abbildung 35c: Heinz Holliger, Come and Go, Beginn Akt III (© by Schott Music, Mainz)226 Abbildung 36: Heinz Holliger, Come and Go, S. 20 (© by Schott Music, Mainz)227 jeweils Abwesende wissen. Rus anfänglicher Appell – „Let us not speak“458 – greift unmittelbar nach Abschnurren dieser Kombinatorik: Die Coda gleicht ei- ner acte sans paroles, die den Ablauf des Spiels in Pantomime exakt re-insze- niert. Der Appell ist eine Vorausnahme der Tatsache, dass die im ersten Zyklus artikulierten Worte nichts zu einer möglichen „Klärung“ beitragen können. Der „Wortzyklus“ bleibt ebenso dunkel wie der pantomimische Zyklus, da der Ge- genstand des Diskurses beharrlich verschwiegen wird. In der kompositorischen Expansion der Kombinatorik des Spiels bahnt sich Holliger einen musikalischen Weg zwischen den beiden Zyklen Becketts, d.h. er komponiert den dort nicht ausgestalteten Übergang zwischen Sprechen und Schweigen. Jene Zyklik, die etwa im auf ein imaginäres Schweigen hintreibenden Wortstrom von Becketts Not I ausgreifend Gestalt annimmt, bleibt in Becketts Come and Go implizit. Die „fehlenden Ringe“459 werden in Holligers Akten zum Klingen gebracht: Die Kurzoper kann gehört werden als Weg, der den impliziten Abbau von Klang und Wort ausführt, um sich auf das stumme Spiel vorzuarbeiten. Eine stille Auffüh- rung der Pantomime im Fastdunkel wäre als Nachspiel vielleicht denkbar. * Gegenstand von Holligers erster musikalischer Beckett-Lektüre ist eine in ihrer regelmässigen Zyklik seltsam stabile Szene, die er in eine ebenso logische wie kalte Mechanik der Auslöschung, welche als Explizierung latenter Texttenden- zen gelten kann, treibt. Becketts Worte werden unter ähnlich „falschen Voraus- setzungen“460 hervorgebracht wie Holligers Musik: Ihres Inhalts beraubt rotie- ren sie als diffuse Kommunikationspartikel. Ergebnis ist eine musikalische Textauslöschung, die nicht am konventionellen Niveau von „Vertonungen“ an- setzt, sondern an einer trilingualen Montage des Textes. Beides, Holligers Kon- zept einer „Metasprache“ wie ihre fortschreitende Zensierung – Entropie wie Asphyxie – folgen einem strukturellen Gebot, das der Komponist aus dem for- malen Gerüst des Dramaticules zog und dem er sich fast bedingungslos auslie- ferte. In Come and Go zählt nicht das Ergebnis, sondern der Prozess komposito- rischer Auslöschung – erfahrbar wird, wie Worte im Begriff sind zu verstummen. Dies entspricht einer Vorstellung von (Un-)Form, die sich in der Realisierung ei- nes verstummenden Klangkörpers gänzlich erschöpft. Obwohl als „Kurzoper“ apostrophiert, ist Come and Go kein emphatisches Musiktheater. Das Bühnen- geschehen resultiert vielmehr aus der musikalischen Projektion des dramati- schen Modells als aus der Bemächtigung der eigentlichen Szene. Diese Hierar- chie kommt in einer Vortragsanweisung auf Partiturseite 5 unmissverständlich 458 Samuel Beckett, Come and Go, in: ders., Collected Shorter Plays, S. 194. 459 Flos Aussage „I can feel the rings“ (ebd., S. 195) kann auch auf das zyklische Textmodell bezogen werden; eine Regieanweisung lautet: „No rings apparent“ (ebd., S. 196). 460 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 217.228 zum Ausdruck: „Alle Bühnengänge richten sich nach der Dauer des entspre- chenden musikalischen Vorgangs.“ 2.2.2. Ende und Unende: Cardiophonie und Not I Heinz Holligers monodramatische Komposition nach Samuel Becketts Not I461 ist kein Grossprojekt, auf das umfangreiche Planung und zeitraubende Energie verwendet wurden. Sie ist das Ergebnis einer Begegnung, die sich in einer aus- serordentlich raschen musikalischen Lektüre entlud. Planung und Ausführung der gut halbstündigen Komposition fallen praktisch zusammen: Beides ereignete sich in der vollständigen Niederschrift der Sopranmonodie vom 20. bis 29. Juli 1978, die von einer im Januar 1978 skizzierten Exposition des Stückes ihren Ausgang nahm und sonst offenbar keinerlei spezifische Vorbereitung benötigte. Für Holliger ist dieses Verhalten nicht ungewöhnlich. Als Musiker habe er seine Dichter niemals aufsuchen müssen. Die Lyrik Friedrich Hölderlins (alias Scarda- nelli) habe sich fast zufällig mit einer musikalischen Eingebung gekreuzt, was sich in den tagebuchartigen Schreibexerzitien des Scardanelli-Zyklus nieder- schlug.462 Und auch im Fall von Not I, das während eines Innehaltens bei der Arbeit an den Jahreszeiten entstand, spricht vieles dafür, dass der Komponist sich Becketts Sprechstrom nicht eigens bemächtigen musste, sondern dass diese Dichtung etwas traf, das ein musikalisches Schreiben unmittelbar in Gang setzte. Einen entscheidenden Anstoss gab zweifellos der zwingende Eindruck des Kör- perhaften von Mouths Redeschwall. Nicht zufällig organisierte Holliger die for- male Entropie von Not I nach dem Rückkopplungsplan der „physischen“ Kom- position Cardiophonie. Becketts virtuelle Zerstreuung der solitären Stimme wird explizit, wenn ihr Singen sich in realen Tonbandkanons verzweigt, deren Einsät- ze sich nach den neuralgischen Punkten idiosynkratischen Ich-Verneinens rich- ten. Und auch andere Merkmale des musikalischen Körpertheaters Cardiopho- nie konvergieren mit der Not I-Konstellation. Zumal die Bühnensituation von Not I ist in der besonderen Exponierung des Protagonisten samt seiner instru- mentalen Artikulationsorgane vorgezeichnet: „Solist, nur von Scheinwerfer angestrahlt, sitzt in Podium (bezw. [sic!] Bühnen)-mitte. Wenn möglich sollten nur Hände, Kopf und Instrument des Solisten sichtbar sein, alles andere dunkel.“463 461 Als „Druckausgabe“ liegt die bei Schott erschienene mangelhafte Reproduktion der Rein- schrift vor, die neben handschriftlichen Materialien für diese Studie zu Rat gezogen wurde; über die Quellen zu Not I informiert der Anhang. Nach Auskunft des Komponisten besitzt die Ausgabe den Status von Stimmenmaterial – eine abschliessende Redaktion der Partitur steht noch aus. 462 Heinz Holliger im Gespräch mit dem Filmregisseur Harald Bergmann und dem Autor, Basel, 12. Juni 2002.229 Der Einbezug der cardiophonen Impulsfolge in Not I lässt die formale Anlage von Becketts Text allerdings geradezu umgewendet erscheinen: Bei Beckett mar- kiert der Ich-verneinende Refrain Phasen der Abnutzung in der schwächer wer- denden Beteiligung von Auditor. Holliger verzichtet auf den vernehmenden Se- kundanten gänzlich und ersetzt ihn durch die Klangchiffre des Herzschlags, die bei jedem Refrain stärker hervortritt, wie auch die Stimme immer höher gegen sich selbst anzusingen sucht, bis sie über die obere Ambitusgrenze des dreigestri- chenen d hinausschiesst. Dadurch, dass Holliger die Grenzen von Mouths Indi- viduation im Rückkopplungssystem zunehmend verwischt, unterstützt er ihre Tendenz zur Ich-Flucht aber nur scheinbar; je stärker sich die Stimme verzweigt und Mouth immer mehr zu ihrer eigenen Vernehmerin macht, desto hartnäcki- ger wird sie durch den Herzschlag auf ihre subjektive Bestimmung festgelegt (Abb. 37). Die auf den Auditor verzichtende musikalische Interpretation wurde in der In- szenierungsgeschichte von Holligers Not I unterschiedlich aufgefasst. Der Regis- seur Erich Holliger folgte dem Zerstreuungsprinzip, indem er Mouths Bild über eine Vielzahl von Videoschirmen nach Massgabe der Kanoneinsätze multipli- zierte.464 In einer jüngeren Aufführung dagegen war der Mund der Sängerin Syl- via Nopper auf eine einzige grosse Videoleinwand projiziert.465 Das Bühnenbild beider Produktionen ist mit der Fernseh-Adaption von Not I durch die BBC von 1979, in der Auditor ebenfalls nicht auftritt, vergleichbar – mit einem markan- ten Unterschied: Martin Esslin berichtet, dass die zuerst farbig konzipierte TV- Version Beckett unerträglich obszön erschien, woraufhin er das Bild der faseln- den „vulva dentata“ schwarzweiss zu „mildern“ beschloss.466 In den genannten Inszenierungen von Holligers Stück wurde auf diesen „Filter“ verzichtet. Von einer blossen Adaption des cardiophonen Modells für Not I kann allerdings keine Rede sein. Grundlegende Modifikationen waren erforderlich. Denn Car- diophonie ist in einem sehr wesentlichen Punkt mit der Anlage von Becketts Not I unvereinbar: Ist Cardiophonie in Hinblick auf ihre definitive, gewaltsam her- 463 Cardiophonie, Partitur S. 1. 464 So bei der Uraufführung von Holligers Not I durch die Widmungsträgerin des Stücks Phyllis Bryn-Julson am 15. Juli 1980 im Rahmen des Festival d’Avignon, sowie bei der Auffüh- rung der gleichen Produktion bei den Donaueschinger Musiktagen 1981 (Klangregie: Thomas Kessler); vorher, am 31. Mai und 1. Juni 1981, erfuhr das Stück im Kennedy Center in Wa- shington D.C. Aufführungen (Produktion: Dina Koston, Regie: James Herbert), an denen Becketts Regisseur Alan Schneider sich beratend beteiligte; im Zuge der Vorbereitungen schrieb Schneider am 15. Februar 1981 an Samuel Beckett: „Ed [de Grazia] is involved with some sort of opera version of NOT I. Not very clear from the tape we heard.“ (Maurice Har- mon [Hrsg.], No Author Better Served, S. 399). 465 Bei der Aufführung am 14. April 2002 beim 101. Tonkünstlerfest in Zug (Klang- und Bühnenregie: Wolfgang Heiniger, Heinz Holliger und Thomas Kessler). 466 Martin Esslin im Gespräch mit dem Autor, Basel, 12. Mai 2001.230 Abbildung 37: Heinz Holliger, Not I, Refrains der Ich-Verneinung mit expansiven Herzrhythmen poco [S. 2, Z. 3-4] 3 ’ ... what?... who? ... no! ... she! ... 5 5 5 5 5 (Heartbeats) 5 2 [S. 8, Z. 4] 3 5 ’ ... what? ...who? ... no!... she! ... 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 ( cresc. ) [S. 14, Z. 7] 3 3 ... what? ... who? ... no! ... she! ... 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 (Heartbeats) ( ) [S. 17, Z. 3] 5 3 ’ gl. ... what? ... who? ... no! ... she! ... 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 (Heartbeats) [S. 19, Z. 1-2] 3 5 5 5 (cry) ▲▲ ▲ ... what? who? ... no! ... she! ... SHE! ... 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 (Heartbeats) beigeführte Finalität artikuliert, entzieht sich solche Inszenierung nachhaltigen Endens der Konzeption jenes sich in eine unendliche Enge sprechenden, respek- tive singenden Nicht-Individuums. Mouth kann niemals aufhören. Sie muss im- mer nur enden und enden. Daher kann Cardiophonie als durchaus endenwollen- des „gran finale“467 in Hinblick auf Beckett schwerlich reaktiviert werden. Doch zur unmittelbaren kompositorischen Fortschreibung nicht enden könnender Worte erwies sich das dort verwendete Kanonprinzip als nützlich, weil es wie kein anderes musikalisches Modell zeitliche Offenheit in Latenz birgt. Einmal in 467 Heinz Holliger zitiert nach Peter Niklas Wilson und Michael Kunkel, Heinz Holliger, S. 6.231 Gang gebracht, könnte sich ein kanonischer Projektionsmechanismus ad infini- tum ausbreiten. Die Grenze liegt immer in der physischen Rückbindung an eine Aufführungssituation. In Not I lösen sich mit jedem Kanoneinsatz Mouths Äus- serungen vom Körper, dem Singloch. Die körperliche Abnutzung von Gesang wird durch unscharfe Abbildungsqualität des analogen Überspielvorgangs, der im Laufe des Stücks durch andere technische Deformationsverfahren unterstützt wird, simuliert. Diese Verlagerung des Gesangs vom Körper hin zu technischer und satztechnischer Generierung einer Musik zunehmender Unschärfe ist das Sujet von Holligers Komposition Not I. Die Voraussetzung zur Realisierung einer Not I-Musik lag vor allem in der Zu- spitzung musikalischer Zeiterfahrung von Cardiophonie. Die Perspektive jenes in Phase (f) von Cardiophonie mit sich selbst kurzgeschlossenen Zeitgefüges evo- ziert keine Katastrophe mehr. Der Impuls zeitlichen Leerspulens ist nunmehr konstitutiv. Nach dem Anschlag auf herkömmliche Klangarchitektur ist das Ein- zirkeln eines mit sich selbst nicht identischen Zeitgefüges auf formaler wie auf struktureller Ebene möglich. Holliger macht dieses neue Konzept von „Unform“ erfahrbar, indem er auf eine traditionelle Klanggrösse zurückgreift: Die Sopran- monodie von Not I ist in einem herkömmlichen temperierten und genau ausno- tierten Intervallsystem komponiert, wie Holliger es seit dem Trio für Oboe, Vio- la und Harfe aus dem Jahr 1966 nicht mehr verwendet hatte. Mouths Gesang sei das Ergebnis „eine[r] fast Webern’sche[n] Stimmbehandlung“468. Ist seine Faktur dadurch von einer entsprechenden Vorstellung von „Text-Vertonung“ gekenn- zeichnet? Ein Blick auf das Trio, die letzte „intakte“ Musik vor den destruktiven Zuspitzungen um 1970, lässt anderes vermuten. Hier entwickelte Holliger ein komplexes System divergenter monodischer Zeitschichten, das auf die Technik von Not I bereits hindeutet. In verbalen Skizzen zur Selbstanalyse notierte er zum ersten Satz des Trios: „Instrumentalbehandlung völlig traditionell[,] ganzer Satz linear gearbeitet (auch Harfe); jede Stimme in sich vollständig und als monochromes Melodieinstrument durchkomponiert, keine Neben- oder Ergänzungsstimmen. Dadurch Möglichkeit 3 verschiedener zeitlicher Abläufe[.] Sehr komplexe motivische Arbeit, aber keine seri- elle Organisation; Schattenformen (Projektionen gleicher Motive in verschiedene Ebe- nen, Verzerrung der Konturen, Effekte wie Hohlspiegel; dadurch neue Möglichkeiten imitatorischer Arbeit[).]“469 Eine besondere Anwendung solch „neuer Möglichkeiten imitatorischer Arbeit“ erkundete Holliger im durch Becketts Text ausgelösten Schreibreflex. Die Mehrstimmigkeit von Not I ist die Folge intervallischer Abbildungs- und Projek- tionsverfahren, die wie im Trio als „Schattenformen“ konzipiert sind. Im Unter- 468 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 221. 469 Aus den Skizzen zu einem Vortrag über das Trio, den Holliger Ende der sechziger Jahre im Künstlerhaus Boswil (AG) gehalten hat; SHH.232 schied zum früheren Werk geht Not I von nur einer einzigen Stimme aus, die mit ihrem „kanonischen Selbst“ niemals völlig identisch sein darf – und bereits der monodische Ursprung ist keine stabile Grösse, sondern birgt die strukturelle Voraussetzung zum musikalischen Monodrama über eine Stimme, die weder ganz bei sich selbst bleiben, noch sich nachhaltig verstreuen kann. 2.2.3. Schattenform I: Deklamation, Melos „Ein schwindelnder, unergründliche Schlünde von Stillschweigen verknüpfender Pfad von Lauten.“ (Samuel Beckett) In einer Aussage über seine kompositorische Lesart von Come and Go hat Hol- liger das „Schweigen als Haupttext“ 470 bezeichnet. Diese Auffassung ist auch für die Artikulation der Singstimme von Not I grundlegend, da Holliger die Funktion der Beckettschen Pause erweitert. Wir sahen, dass die Form von Becketts Not I einer asymptotischen Annäherung an das Schweigen gleicht, das Mouths Sehnen bestimmt und sich als stumme Spur trennend zwischen die ein- zelnen Redepartikel schiebt, aber niemals gänzlich eintritt. Die als primärer Kör- perimpuls erfahrbaren Anakoluthe entstehen durch das akzidentielle Eintreten einer zuwörtlichst metaphysischen Stille. Diese Pausen sind durchaus Unterbre- chungen, deren Hartnäckigkeit die Halb- und Viertelsemantik des dramatischen Sprachkörpers erzeugt. Holliger atomisiert jene Redesplitter, bis die deklamato- rischen Subsegmente in eine Stille gestellt sind, die zu Beginn der Komposition quantitativ-durationales Gleich- oder gar Übergewicht gegenüber den klingen- den Werten besitzt. In dieser Hinsicht erscheinen musikalische Pausen fraglos als „Haupttext“. Sie sind von Gesang unterbrochen, der sich zum vorerst leeren Zeitgitter formiert. Seine Töne sind klingende Schatten von Stille. Diese pausen- gesättigte Schreibart erscheint wie eine Antwort auf ein frühes Postulat Becketts: „Gibt es irgendeinen Grund, warum jene fürchterlich willkürliche Materialität der Wortfläche nicht aufgelöst werden sollte, wie zum Beispiel die von grossen schwarzen Pausen gefressene Tonfläche in der siebten Symphonie von Beethoven, so dass wir sie ganze Seiten durch nicht anders wahrnehmen können als etwa einen schwindelnden unergründliche Schlünde von Stillschweigen verknüpfenden Pfad von Lauten? Um Antwort wird gebeten.“471 Das Auseinanderreissen der Redeportionen ist kein gewaltsamer Akt, da Holli- ger Becketts Prosodie in keinem Moment vernachlässigt, sondern ihr mit Akri- bie nachspürt.472 Die Projektion der in sich konsistenten Zeichengruppen in ein deklamatorisches Vakuum gelingt, weil sie auf zwei notationellen Ebenen voll- 470 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 217. 471 Disjecta, S. 53 (original deutsch).233 Abbildung 38: Heinz Holliger, Not I, Zeile 1–5 [mit Ordnungszahlen der deklamatorischen Gruppen] (© by Schott Music, Mainz) zogen wird: Sowohl auf einer metrisch gebundenen als auch auf einer metrisch freien, wobei letztere in konsequenter Missachtung konventioneller Betonungs- muster freilich jene erste bloss negativ reproduzieren würde. Holligers taktlose Notationsart schwebt zwischen beiden: Die stets auf eine diskrete Vierteleinheit bezogenen Dauern fallen nicht ausschliesslich auf synkopische Zeiten, sondern treffen auch „gute“. Die Orientierung an einer verlässlich vorhandenen oder nicht vorhandenen „Eins“ ist somit nicht möglich. In der deklamatorischen Subsegmentierung der Redeportionen verdoppelt sich die Spieldauer von Becketts Stück ungefähr. Dennoch erlahmt das Prestissimo des Textes nicht. Die Bestandteile von Mouths Silben sind zu reflexartigen dekla- matorischen Signalgruppen verdichtet, die Holligers Auffassung des Wortes als physisches Ereignis, das nicht grundsätzlich von rhythmusbildenden vitalen Im- pulsen des Herzschlags oder des Atems zu trennen ist, entspricht. Dies zeigt sich deutlich, wenn die Rückkopplungskanons in den Zeilen 109 bis 117 von Not I aussetzen und Mouths Singen vom eigenen Herzschlag gejagt wird. Im Partitur- entwurf ist diese Herzrhythmik ausdrücklich als „stimulator“ bezeichnet.473 472 Im Partiturentwurf notiert Holliger jede diesbezügliche Unsicherheit; z.B. auf S. 4: „? – but so like her (Betonung)“; SHH. 473 „Herzklopfen bleibt als stimulator [sic!] bis ‚life‘ – she –“; auch in den Sommer-Chören der Jahreszeiten gibt der Pulsschlag den massgeblichen diskreten Deklamationswert vor.234 Dem gesamten, aus der Atomisierung der Redeeinheiten gezogenen komplexen System asymmetrischer Dauernverhältnisse gereicht der Herzschlag zu gehei- mem Mass, das, wie in Cardiophonie, die Viertel als Deklamationseinheit der taktlos notierten Partitur vorgibt. Und auch die Unterteilung dieser pulsmässi- gen Zeiteinheit konvergiert mit dem von Holliger angenommenen quintolischen Dauernprofil der Herzschläge, die sich wie zwei zu drei verhalten: So fussen die komplexen deklamatorischen Dauernverhältnisse von Not I vor allem anderen auf Zweier- (bzw. Vierer-), Dreier- und Fünferteilung der diskret übergeordne- ten Viertel. Die Gebilde entsprechen einer mittels exakter musikalischer Nota- tion nur näherungsweise greifbaren Sprechrhythmik, deren Bestandteile aus der rhythmischen Tonika des Herzschlags abgeleitet werden können.474 Wenn Holliger unter diesen deklamatorischen Voraussetzungen und unter Aner- kennung des „Schweigens als Haupttext“ auf ein herkömmliches Intervallsystem setzt, widmet er sich damit zunächst der diastematischen Ausgestaltung „klin- gender Löcher“, die gleichwohl im Zentrum der musikalischen Erfindung ste- hen. Er hat seine Schreibweise als „eine fast Webern’sche Stimmbehandlung“475 charakterisiert. Was heisst das? Zunächst ähnelt freilich die gestische Unbändig- keit der Singstimme jener „Bizarrerie der Linienführung“476 in den Vokalwerken des mittleren Webern, die Harald Kaufmann als „fieberkurvenhaftes Auf und Ab in zumeist mächtigen Intervallsprüngen“477 beschreibt, mittels derer ein Text „in zahlreiche semantische Schwerpunkte zerschnitten“478 wird. In starker deklama- torischer Fragmentierung textueller Sinneinheiten erscheinen Weberns „Atem- ganzheiten“ hier zwar nicht mehr ganz so „ausgewogen“479, aber durchaus nicht aufgehoben: Man kann davon ausgehen, dass jede zerschnittene Beckettsche Re- deportion bei Holliger jeweils einer „Atemganzheit“ entspricht. Vor allem diese deklamatorische Komprimierung bewirkt die enorme dramatische Aufladung ei- ner Singstimme, die jeglicher Instrumentalbegleitung entblösst ist. Neben dieser stilcharakteristischen Vokalphysiognomie rekurriert Holliger auf eine Bauweise, die Kaufmann anhand von Weberns Trakl-Lied „Die Sonne“ op. 14/1 als „Verspannungsnetz“ interpretiert, „mit dem die Abfolge der Einzeltöne zu einer Regelhaftigkeit geordnet wird, die in sich streng ist, aber doch der frei- en Entscheidung grossen Spielraum lässt.“480 Als wesentliche Elemente der Ton- 474 Selten erscheint der Pulskomplex aus Diastole und Systole in vokaler Indiskretion; vgl. Zeile 71, wo die „vitale Zelle“ durch das Stichwort „[… how she] survived! […]“ krebsgängig ausgelöst wird. 475 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 221. 476 Harald Kaufmann, Zum Verhältnis zweier Musen, S. 71. 477 Ebd. 478 Ebd., S. 78. 479 Ebd., S. 71. 480 Ebd.235 ordnung identifiziert Kaufmann zweierlei: Das „Reizintervall der kleinen Sekun- de“481, das permanente „Reibungsverklammerungen“482 auslöse, sowie „Wiederholungstöne“483, die wie Pfähle in das halbtönig bewegte System einge- schlagen seien, mitunter instrumentaler Klangfarbenwanderung Vorschub lei- sten. Für Not I bedient Holliger sich dieser Mittel keineswegs zur Konstruktion eines dynamischen Webernschen Liedsatzes, sondern er artikuliert eine Mo- nodie in intervallischen Selbstähnlichkeiten, so dass sie kaum von der Stelle kommt.484 Der Bewegungsimpuls der vokalen Physiognomie wird in der Bau- weise der Monodie unterlaufen. Die ersten 17 deklamatorischen Gruppen sind in permutatorischer Trägheit in- einander verhangen und nehmen damit die Fährte, die Beckett in ausserordent- licher Verdichtung repetitiver und variativer Figuren seiner Eröffnung legt, auf. Das Profil der ersten Gruppe aus äusserem symmetrischem Tritonus-Rahmen und asymmetrischem Quint-Kleinsekund-Kern stellt das leitende Prinzip bereits dar. Die Textwiederholung von „… this world …“ in der zweiten Gruppe liefert das erste explizite Beispiel der Kombination von Tonwiederholung und Kleinse- kundspannung (hier als Septime): Der die erste Gruppe beschliessende Tritonus g2–des2 ist zur Undezime g2–d1 verzerrt. Wenn dieses eingestrichene d in der fol- genden dritten Gruppe fünffach wiederholt wird, geschieht dadurch zweierlei: Zum einen ist das tonale Zentrum des Melos dadurch notationell fixiert, zum anderen die Voraussetzung reinen Gesangs im Abgleiten des Vortrags in den Sprechgesang bereits in der ersten Zeile des Werks relativiert. In der vierten Gruppe über „… before its time …“ schiessen drei der sechs bisher verwendeten Töne (d1–as1–g1) zu einer Figur zusammen, die den konstitutiven Halbton erst- mals wörtlich und nicht in seiner Spreizung zur Septime oder zur None auf- nimmt; die neue Tonhöhe fis2 wird wieder über die leitende „Dissonanzre- gel“485 bezogen. Nur durch sie können in der fünften Gruppe drei neue Töne (c2–h1–b2) erschlossen werden, die aber wieder zum a1 führen, mit dem das Stück begann. Die Gruppen 6 bis 14 bestehen aus schon verwendeten Tönhö- hen, teils in exakter Repetition (Gruppen 8, 9, 11 und 14), im Registertausch (Gruppen 10 und 12) oder nach Veränderung enharmonischer Orthographie (Gruppen 6, 7 und 13). Die Gruppen 15, 16 und 17 schliessen die Eröffnung des Spiels, indem fallende Septime und None nunmehr als Kadenzintervalle fi- gurieren. Doch dieser Komplex ist nicht im üblichen Sinn abgeschlossen. Nach immerhin 57 realen Anschlägen ist der gewählte zwölfstufige Tonraum nicht zur 481 Ebd. 482 Ebd., S. 75. 483 Ebd., S. 78. 484 Siehe Abb. 38. 485 Harald Kaufmann, Zum Verhältnis zweier Musen, S. 75.236 Gänze ausgefüllt: Der „fehlende“ Ton wird als zweigestrichenes e erst in Zeile 5 nachgereicht. Abbildung 39: Schema zu Heinz Holliger, Not I, Zeile 1–4 ["V"] ["IV"] ["I"] Der gesamte Vierzeiler entfaltet sich aus den ersten drei Gruppen (die ihrerseits auf die Binnenstruktur der ersten Gruppe zurückgeführt werden können), des- sen Tritonus-Quint-Profil um die Töne a, g und d fast traditionell ausgestuft scheint und darin der residualen stufenmässigen Orientierung mancher Momen- te in der Musik des mittleren Webern ähnelt. Sobald der Hauptton d hinrei- chend befestigt ist, kommt eine Permutationsmechanik knirschend in Gang (Abb. 39). Dieser knappe Beginn liefert die Regel für ein unendliches intervallisches Spiel, mit dem Holliger die Textstruktur Becketts aus einer unmittelbaren, quasi per- formativen Schreibhaltung heraus zu erfassen vermochte – was nach erster flüs- siger Niederschrift nicht mehr als eine letzte Phase der Redaktion erforderte, in der die gefundenen deklamatorischen Gruppen nochmals einem Prozess intensi- ven Aushorchens unterzogen wurden, ohne dass dies zu umfänglicher Korrektur Anlass bot.486 Diese Haltung tritt anstelle einer sich in tonhöhenmässiger Prä- formation ergehenden Planung, da sie die Regel im Schreiben selbst aufstellt. So237 wird ein Klanggitter hergestellt, das in ebenso beständigem wie kleinstem struk- turellem Erzittern befangen ist. Diese konstitutiven Minimaldifferenzen korrespondieren mit textuellen Inkon- gruenzen. Die im doppelten Sinne als musikalische Wiederholungsfigur zu be- zeichnende neunte Gruppe reagiert auf die textuelle Divergenz „… tiny little thing …“ –„… tiny little girl …“ im geringfügigen Anziehen der vorgeschriebe- nen Deklamationsgeschwindigkeit von „Viertel = ca. 76“ auf „Viertel = ca. 84“, sowie im leichtesten Nachschwingen der halbkonsonantischen Endung „girl“. Die exakte durationale Reproduktion der intervallmässig permutierten vierten Gruppe schlägt sich in geringfügiger deklamatorischer Trübung (Sprechton487) der zwölften nieder, damit dem subjektverhärtenden Wandel von „its“ zu „her“ im Text Rechnung tragend. Hier erschreibt sich Holliger Becketts Text mit seis- mographischer Genauigkeit. Aber auch exakte Textwiederholungen werden nie mittels exakter musikalischer Wiederholung beantwortet. Die Grundregel nötigt immer zu deformativer Überschreibung. Eine Besonderheit der Regel intervallischer Verschattung von Not I liegt ferner darin, dass sie sich zu Beginn auch auf das Niveau der Dauernbehandlung kon- sequent auswirkt. Holliger eröffnet das Spiel mit palindromhaften Dauernkom- plexen, die oft über die deklamatorische Einzelgruppe hinaus zunächst durch geringste Unschärfen nicht umkehrbar sind. Sie erweisen sich als imperfekte Ab- bildungen ihrer selbst. Einzig die dritte Gruppe bekräftigt das Tonzentrum d in vollkommener rhythmischer Symmetrie. Im Lauf der ersten vier Zeilen breitet der asymmetrische Ansatz sich rasch aus, bis eine achsenmässige Gruppierung der Rhythmen hinfällig erscheint. Diese Beinahe-Symmetrien dienen dazu, eine Bezugsgrösse für spätere Deklamationen zu schaffen. Auch hier erschliessen sich Gestalten aus einem gewollt unscharfen Projektionsverfahren, das sie als immer blasser werdende Schattenwürfe eines ursprünglichen Objekts erscheinen lässt – das gleichwohl unverschattet niemals ins Blickfeld gerät. 486 Neben wenigen Ausbesserungen offensichtlicher Versehen (Holliger hat beispielsweise die elfte Gruppe „… out into this …“ im Entwurf übersehen) dienen die meisten Korrekturen der Verdichtung und Differenzierung des Beziehungsnetzes: In Zeile 2 des Partitur-Entwurfs reagiert die Repetitionsformel „… tiny little girl …“ noch auf das cis2 über „… girl …“; das Gewicht des Zentraltones d1 wird verstärkt, indem Gruppe 13 „[… godforsaken] hole …“ vom vieldeutigen cis2 (vgl. Zeile 2: „girl“, sowie Zeile 1: des2 über „world“) auf d1 korrigiert wird; das in der Gruppe 3 vorgeschriebene Sprechregister greift auf die im Partiturentwurf noch um- standslos gesungene Gruppe 12 („… before her time …“) über und verdeutlicht dadurch die Qualität „her“ (= „… tiny little thing …“); die Korrektur der Gruppe „… in the home …“ (Zeile 7) von g1–b1 zu a1–b1 stellt den Bezug zu „… godforsaken hole …“ (Zeile 2 und 3) her; vgl. den Partiturentwurf in der SHH. 487 Die Notationsweise von Not I entspricht dabei jener der Altstimme von Heinz Holligers Glühende Rätsel, die in der dortigen Legende erläutert sind.238 Abbildung 40: Unscharfe Dauernpalindrome in: Heinz Holliger, Not I, Zeile 1–4 " " 3 3 5 3 7:4 5 3 5 7:4 5 3 3 3 3 5 3 3 3 Bevor in Zeile 15 der eröffnende Formteil A mit dem ersten Refrain der Ich-Ver- neinung endet und ein neuer mit dem ersten Einsatz des Rückkopplungskanons anhebt, können alle deklamatorischen Gruppen aus Zeile 4 bis 15 als Projektio- nen des Gestaltrepertoires des ersten Vierzeilers (der seinerseits aus der ersten Zeile entstand) aufgefasst werden. Zur Darstellung des eng gewobenen Bezie- hungsnetzes genügen einige, besonders charakteristische Beispiele488: Mouths Erzählung wird in Zeile 4 über einen von fis1 ausgehenden Tontrichter aufge- nommen, der auf die Tonorte der Gruppen 13 (letzter Ton), 14 und 15 rekur- riert. „… no sooner buttoned up his breeches …“ in Zeile 5 ist eine Kombina- tion der ersten drei Töne von Gruppe 1 und der Deklamationsart von Gruppe 3, die sich auch auf „… such as normaly vented …“ in Zeile 7 und „… nor indeed for that matter …“ in Zeile 10 auswirkt. Über „… speechless infant …“ in Zeile 7 verschmelzen die ersten drei Gruppen zu neuer Gestalt: as und es stammen aus Gruppe 1 und sind infolge von Gruppe 2 zur Undezime as2–es1 geweitet; aufschlussreich ist die sprechgesangsmässige Relativierung der geltenden Artiku- lationsart des Singens über die letzten beiden Tonrepetitionen, weil sie „… speechless infant …“ als „… tiny little thing …“ identifiziert. Bei der Ausbrei- tung der Gestalten sind solche semantischen Kurzschlüsse von grosser Bedeu- 488 Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden einzelne Gruppen nach Zeile 4 nicht mehr mit eigenen Zahlen versehen, sondern durch Zeilenzahl und Text gekennzeichnet.239 tung: cis2 und c1 der Gruppe 17 über „… unheard of …“ kreuzen sich neu über „… spared that …“ in Zeile 7. Die None fis2–f1 von Gruppe 15 („… no matter …“) mutiert über „… no … nor indeed for that matter …“ zur Septime fis2–g1 (Zeile 7f.). a1 und b1 entlarven „… in the home …“ als jenen unwirtlichen Ort, der über die gleichen Tonhöhen als „… godforsaken hole …“ der Gruppen 13 und 5 bereits zur Sprache kam. In den semantischen Feldern des Textes bahnt sich der Tonschreibreflex stets den nächsten, direktesten Weg. Die musikalische Ausgestaltung der „Wandererepisode“ von Zeile 11 bis 12 kann zu den wenigen leidlich geschlossenen Teilen der in permanenter gesti- scher Zerstäubung gehaltenen Komposition gezählt werden. Es ist bemerkens- wert, dass Holliger zur Erzeugung eines liedartigen Gestus weder topische Vor- gaben von Robert Schumann aufnimmt, wie sie in seinem Werk häufig anklingen489, noch auf Becketts Lieblingskomponisten und Wanderfetischisten Franz Schubert („… wandering in the field …“) rekurriert, sondern dass hier ein 3/8-Puls aufkeimt, der viel eher an die zögernden Schritte Elis’ aus Weberns Tra- kl-Liedern op. 14 erinnert.490 Der Tonvorrat selbst dieser „Liedepisode“ ist fast zur Gänze vom Verlauf der ersten beiden Zeilen abgezogen (Abb. 41). Entscheidend bei all diesen Beispielen ist das immense Gewicht, das konkreten Tonorten viel stärker als der Abbildung bloss charakteristischer Intervallkontu- ren zukommt. Erscheinen verwandte Gebilde in Halbtonbeziehung (oder in Septimen- und Nonenbeziehungen), so durchaus nicht mehr in der Webern- schen Funktion von Reibungsverklammerungen; im Verlauf der Komposition markieren Kleinsekundverhältnisse viel eher einen voranschreitenden Schwund an Gestalt als eine halbtonmässige Aufladung derselben. Im ersten Formteil A entwickelt Holliger eine Live-Monodie, indem er Anton Weberns Satzregel als eine Art Tonleim missbraucht, der die Artikulation selb- ständiger deklamatorischer und diastematischer Einzelgruppen von Beginn an verhindert. Sie alle sind auf ein ziemlich begrenztes intervallisches Repertoire bezogen und erscheinen dadurch wie eine schattenhafte Perpetuierung kaum ex- ponierter Tonmaterie. Denn schon die ersten Gruppen, die wiederum spätere an sich binden, sind in verfehlten Symmetrieverhältnissen in sich selbst befangen, inwärtige Mangelgestalten, die die gestische Intensität expressionistischen Sin- gens vortäuschen. Es ist entscheidend, dass dieser Formteil, wie die Atemphase (a) der Cardiophonie, über Rückkopplungen bis zum Ende des Stückes anwe- 489 Vgl. etwa Heinz Holliger, Erde und Himmel (1961), Takt 50f. und Robert Schumann, Liederkreis op. 39/10 „Zwielicht“ (1840), Takt 14f.; Holliger, Beiseit Nr. 12: Im Mondschein (1990–91), und Schumann, Liederkreis op. 39/5 „Mondnacht“; Holliger, Gesänge der Frühe nach Schumann und Hölderlin für Chor, Orchester und Tonband (1987); ders., Romancendres für Violoncello und Klavier (2003). 490 Vgl. Anton Webern, Sechs Lieder für eine Singstimme, Klarinette, Bassklarinette, Geige und Violoncell op. 14 nach Gedichten von Georg Trakl, Nr. 2: Abendland I, Takt 15ff.; Nr. 3: Abendland II, Takt 10ff.240 Abbildung 41: zu Heinz Holliger, Not I Z. 1-2 3 3 5 3 7:4 ... out... in to this world... this world... ti ny litt le thing... be fore its Z. 11 3 3 3 wan der ing in the field... 3 look ing aim less ly 5 3 5 time... in a god for... what?... girl?... yes... 3 3 for cows lips... to make a ball... send bleibt und dadurch formbildend wirkt. Erst kurz bevor diese Rückkopp- lungsmechanik in Gang kommt, nimmt der zäh an einzelnen Tonorten klebende, exzentrische Singstrom ein gewisses panchromatisches Tempo auf – um unver- mittelt in Zeile 14 durch den ersten Refrain der Ich-Verneinung unterbrochen zu werden. 2.2.4. Schattenform II: Monodie, Polyphonie In Teil A wird der monodische Schreibstrom mittels eines Verfahrens in Gang gesetzt, das einer permanenten Engführung deklamatorischer Gruppen gleicht. Dieser, gewöhnlich zur Beschreibung mehrstimmiger Phänomene herangezoge- ne Begriff kommt nach dem Einsatz des ersten akuten Kanons in Zeile 15 zu doppeltem Recht. Denn einerseits ist Teil A viel zu kurz, um Teil B (Zeile 15–66) in vollständiger Kanonik zu unterfüttern, so dass die Livestimme von B bereits ab Zeile 27 mit sich selbst enggeführt erscheint.491 Die Einsatzorte der Kanons entsprechen auch keiner musikalischen Logik, sondern resultieren aus der Bewe- gung des Textes, genauer aus der Position der fünf Refrains der Ich-Verneinung – der Komponist unterwirft sich der auszulöschenden Textordnung. Zum anderen 491 Vgl. auch Zeile 37, 45, 52 und 58.241 besteht die Livestimme von B zu grossem Teil aus kontrapunktischen Spiegelva- rianten dessen, was nun aus dem Lautsprecher klingt: „[A]lles [ist] kontrapunk- tisch komponiert.“492 Die Stimme vermag sich selbst zu kontrapunktieren, weil das imitatorische Prinzip ihrer faktisch einstimmigen Fortschreibung während A in der scheinbar polyphonen Satzart lokaler kanonischer Engführungen von B zu sich kommt. Die Betrachtung des zweistimmigen Beginns von B (Zeile 15f.) zeigt allerdings, dass die imitatorischen Verhältnisse zunächst genau auf den Kopf gestellt sind. Denn die Elemente der rückgekoppelten ersten Zeile sind in der neuen, kanoni- schen Stimme vertauscht: Zuerst erscheint die Tonwiederholung über d1 (Zeile 1: „… tiny little thing“ … –Zeile 15: „… found herself in the dark …“), dann folgt eine Umformung der ersten Gruppe. Insgesamt verläuft das kontrapunkti- sche Abbildungsverfahren nicht in gerader zeitlicher Richtung. Die Rückkopp- lung dient als freie Überschreibvorlage, deren Bestandteile ebensogut antizi- piert, imitiert oder simultan abgebildet werden können. In der Reinschrift sucht Holliger den Charakter gerader kanonmässiger Imitation gleichwohl vorzutäu- schen, indem er den Einsatz der Rückkopplungsstimme gegenüber dem im Par- titurentwurf festgehaltenen gleichzeitigen Einsatz beider Stimmen um eine halbe Vierteleinheit vorverlegt. Der kontrapunktische Spezialfall des Kanons offen- bart sich zudem in freier imitatorischer Umwandlung, die wieder vorzugsweise an konkreten Tonorten, sei es in der Prim oder in der Oktave, seltener in der Quinte oder Quarte, ansetzt. Um das Prinzip zu verdeutlichen, seien in Abb. 42 nur einige auffälligen Beziehungen dargestellt. Abbildung 42: Tonhöhenreduktion der Stimmen nach dem ersten Kanoneinsatz von Heinz Holliger, Not I, Zeile 1ff./1 Zeile 15-17 ’ ’ ’ ’ ’ ’ ’ Quint ’ ’ ’ ’ ’ ’ ’ ’ ’ ’ Zeile 1-4 ’ ’ ’ ’ ’ ’ ’ ’ Quarte ’ ’ ’ ’ ’ ’ ’ ’ ’ ’ ’ 492 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 221.242 Wenn der live-seguente aus dem Tonschatten der rückgekoppelten guida heraus- tritt, so nur, um sich in neue Arten der Abhängigkeit zu begeben. Ab Zeile 18 ist Mouth beispielsweise nur noch punktuell an die Struktur der Lautsprecherstim- me angebunden, da hier die syntaktische Regel der variativen Repetitionshäu- fung greift, die aus den Ansätzen von Zeile 2, 10 und vor allem 14–15 hervor- geht: Dies betrifft Becketts mittels invariabler Elemente („… imagine! …“, „… what? …“ etc.) ausgelöste Störmanöver, die einzelne Themenfelder unterbre- chen und sie auf engem Raum zusammenführen. Die musikalische Repetitions- idiosynkrasie wirkt sich in der Verformung textuell gegebener Wiederholungsfi- guren aus. Sie provoziert Spannungen, die um einzelne Elemente („… imagine! …“; „… what? …“; „… yes …“ etc.) gruppiert sind. In Zeile 18 bis 19 bewirkt die repetitionsverursachende Wendung „… imagine! …“ chromatische und en- harmonische Verzerrungen unter Beibehaltung des „tonalen“ Ansatzes, was ei- ner musikalischen Beugung nach Art des Polyptotons gleichkommt. Abbildung 43: Heinz Holliger, Not I, Zeile 19 3 6 5 3 Z. 19 ... what po si tion she was in ... i ma gine! ... what po si tion she was in ... Diese Figur liefert das Modell für die gesamte in sich repetitiv stark verschattete Episode, deren verbale Invariablen (zum Beispiel „… but the brain …“) oft an Tonalitäten der rückgekoppelten Vorgabe angebunden sind. Da sich das Feld der Kombinationsmöglichkeiten von Tonwiederholung und Halbtondistanz mit je- dem neu hinzukommenden Glied stark weitet, sind lokal zusammengedrängte Varianten nicht nach einem einfachen Verspannungsschema zu fassen. Hinzu kommt, dass sich die invariablen Störsignale des Textes fast nie auf gleichen Tonhöhen wiederholen. So wird ein in sich komplexes System intervallischer Deformationen evoziert, die von den grundlegenden Beziehungsarten förmlich durchkreuzt scheinen. Sich anhäufende Interferenzen kleinster intervallischer Schattierungen ergreifen so einen vollchromatischen Raum.493 In dieser Schreibphase zu Beginn von B sind die anfänglich aufgestellten Gesetze schattenmässiger Tonprojektionen einer Stimme auf sich selbst sowohl syntak- tisch als auch kontrapunktisch wirksam. Sie können als Pendant zum Prinzip der synchron aufeinander bezogenen Spielhandlungen von Cardiophonie gelten. Dagegen beruhen rhythmische Kontrapunkte auf Abstossung: Das anakoluthi- sche Profil einer neuen Linie darf nach Möglichkeit nicht mit Werten, die über eine rückgekoppelte Deklamation besetzt sind, kollidieren. Dieses Prinzip for- dert keinerlei buchstäbliche Komplementärrhythmen, auf dass etwa ein alter 493 Vgl. auch Zeile 18ff., 79ff., 91f.243 Pausenwert sich automatisch zu Klang wandle. Es steckt lediglich den Raum ab, der einer neuen Deklamation verfügbar wird: „Ich durchlöchere Klänge, indem ich anstelle von Tönen Pausen setze. Diese Klanglöcher kann ich dann mit Mu- sik oder Sprache ganz anders füllen.“494 Ein dauernmässiger Querschnitt zu Be- ginn von Phase C (Zeile 66), der die ersten drei rhythmischen Kanoneinsätze der Komposition einschliesslich der Playback-Fortsetzung aus B zusammenfasst, zeigt, dass die Regel durationaler Asynchronizität vor allem von einem Einsatz auf den nächsten übergreift (nicht direkt aufeinanderfolgende Stimmen besitzen akzidentielle Synchronitäten).495 Abbildung 44: „Dauernquerschnitt“ zu Beginn diverser Kanoneinsätze in Heinz Holliger, Not I A (Z. 1) 3 3 5 3 7:4 B (Z. 15) 7:4 3 3 5 3 5 (Z. 66) 1) 3 5 5 5 3 5 3 3 3 C (Z. 66) 3 3 3 5 3 5 5 5 1) Playback-Überhang aus B. Dies gleicht der für Come and Go konzipierten kontrapunktischen Verschmel- zung einzelner Stimmen zur durationalen Summe einer „Metasprache“496, die hier nur noch auf Konfrontation von sprachlichen Partikeln einer Stimme und Sprache beruht. Zuletzt (ab Teil E, Zeile 137ff.) führt sie in eine gewaltsame 494 Heinz Holliger, Über mein Violinkonzert „Hommage à Louis Soutter“ (1993–95 …), in: Louis Soutter 1872–1942. Anlässlich der Ausstellungen Louis Soutter et les Modernes, Kunst- museum Basel, 28. September 2002 bis 5. Januar 2003, Musée Cantonal des Beaux-Arts, Lau- sanne, 21. Februar bis 4. Mai 2003, hrsg. von Hartwig Fischer, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz [2002], S. 125; die Aktualität musikalischer Schattenformen wird besonders im dritten Satz (Ombres) des Violinkonzerts evident – die Licht-Metaphorik trifft sich mit dem visuellen Sujet jener Komposition. 495 Das Vorziehen des ersten Einsatzes vor den Einsatz des Kanons zu Beginn von B wird beim Aufeinandertreffen der Stimmen bei C rückgängig gemacht. 496 Vgl. Abb. 34.244 Engführung aller Materialien mit sich selbst, die nicht mehr durch separate Büh- nen, sondern durch im Raum verteilte Lautsprecherstimmen getrennt sind. Weniger noch als bei Holligers früherer Beckett-Musik ist hier eine reale Ver- zahnung, ein exaktes Ineinandergreifen komplementärer Dauerngruppen an- gestrebt – weswegen auf die Darstellung eines Dauernquerschnitts an dieser prinzipiell dichtesten Stelle der Komposition verzichtet wird. Bereits zu Beginn von C gilt kein einheitliches Tempo, auch dort geht der aus gegenseitiger Nega- tion und Asynchronizität gewonnene Dauernverband aus dem Leim. Abb. 44 hält das Schema fest (das vereinzelte Kollisionen keineswegs ausschliesst) und stimmt nicht mit den realen Dauernverhältnissen überein. Diese sind bereits an diesem Punkt kaum notierbar. Es gehört zum Prinzip dieser Komposition, dass kein Prinzip schematisch ausgeführt wird. Die Balance zwischen schichtmässiger Eigenzeit und loser übergeordneter Fügung der Stimmen geniesst den Vorzug vor einer rigiden satztechnischen Koordination. Entsprechend dient der ausno- tierte, jeweils vorige Kanoneinsatz lediglich zur Orientierung der Sängerin; zahl- reiche Pausenpuffer sorgen dafür, dass ihr Vortrag nicht in ein allzu straff ge- schnürtes Zeitkorsett gezwungen wird. Überdies tangieren sonst essentielle Kanongesichtspunkte wie Einsatzabstände497 oder konkrete Stimmführung die polyphone Faktur von Not I oft nur am Rand. Die Partitur ist viel eher als Auf- führungsplan denn als verbindliches schriftliches Zeugnis des konkreten Ver- laufs von Mehrstimmigkeit konzipiert. Wenn die Stimmen nach Massgabe dieser „Aktionsschrift“498 losgelassen werden, treten strukturbildende und stimmkoor- dinative Funktionen von Kontrapunkt auseinander. Als negative Erinnerung ist der deklamatorische Ursprung einer jeden Linie gleichwohl unauslöschlich in die nächste gemeisselt. Eine Deklamation umfasst die Schattenränder der ande- ren, figuriert dabei als eigenständige Schattengestalt. Holliger setzt einen impli- ziten Aspekt von Becketts Monodrama in klingende Bewegung, indem er Form als unerbittlich voranschreitendes Verstummen jenes „Haupttextes“ artikuliert, der am Beginn der Komposition steht: Stille, Schweigen. „Alles ist kontrapunktisch komponiert.“499 Zweifellos liegt die Emphase dieser Ausage auf ihrem Verbum. Denn die bisherige Betrachtung kontrapunktischer Beziehungen liefert Aufschlüsse viel eher über die Schreibweise denn über die Beschaffenheit des realen Hörraumes von Not I. Imitation und Kontrapunkt, ob synchron oder asynchron, bilden bloss den Ursprung jener Gestalten, die sich zu einzelnen monodischen Grundschichten fügen. Darüber hinaus kommt Mouth nicht mit sich selbst ins Gespräch, da ihre Stimmen nicht durch ein übergeord- netes kontrapunktisches System oder eine gemeinsame Zeitkoordinate aufeinan- 497 Deshalb ist zum Beispiel eine Verschiebung der Einsatzabstände von live-Monodie und erstem Kanon, wie sie aus dem Vergleich des Partiturentwurfs mit der Reinschrift hervorging, überhaupt möglich. 498 Diese Textsorte ist vor allem in den Sommer-Chören der Jahreszeiten realisiert. 499 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 221.245 der bezogen sind, sondern je für sich selbst abgespult werden – hierin unter- scheidet sich Not I von der Disposition von Cardiophonie: Not I beginnt, wo letal gekoppelte Zeitläufe im früheren kanonischen Exorzismus auseinandertre- ten. Ergebnis ist eine Vielzahl monodischer Projektionen, unter denen sich keine Beziehungen entwickeln, die als Lautsprecherstimmen auch räumlich voneinan- der abstehen; selbst lokale Fugati sind nicht Kulminationspunkte kontrapunkti- scher Durchformung, sondern akzidentiell, scheinbar. Jede Einzelschicht hat ihre Zeit. In Not I ist polyphoner Hörraum, der sich in Come and Go zwischen einzelnen Satzschichten und ihrer Summe erschliesst, die enorm ausgreifende monodra- matische Projektion einer Monodie, die ihrer Etymologie buchstäblich gerecht wird. „Not I ist ein völlig monothematisches Stück, das noch ein Dialog mit sich selbst sein könnte, aber auch nicht mehr das ist, weil eben die Zeitschichten nicht gleich sind.“500 Wie im Trio gestaltet sich die Projektion dieser Monodie in die Zeit nach Mass- gabe von „Schattenformen“, wobei die zeitlichen Bezugsebenen in einem vorher noch nicht bekannten Mass auseinandertreten. Deswegen wäre der naheliegen- de Vergleich der Konzeption von Come and Go mit den durch eine übergeord- nete Instanz regulierten polyzentrischen Formen Elliott Carters501 in Bezug auf Not I nicht mehr sinnvoll. Wie jede Einzelgestalt als zeitlich dissoziiertes, unvollkommenes Abbild auf eine andere bezogen werden kann, so resultiert auch die spezifische Form von Not I aus charakteristischen Abweichungen gegenüber dem anzunehmenden, „regulä- ren“ kanonischen Zeitmodell. Das Grundprinzip ist höchst einfach und be- schreibt eine potentiell unendliche Zyklik: Die Livestimme wird im Tonbandka- non rückgekoppelt, der als Ausgangsmaterial für eine Livestimme dient, die Rückkopplung erfährt …. Die reale Form entsteht mittels Manipulation der rückgekoppelten Stimmen, das heisst: Der Zeitschatten der live-Monodie in die Vergangenheit kann neue Deformationen erleiden. Infolge zahlreicher Kürzun- gen neigen imitierende Lautsprecherstimmen dazu, ihr Vorbild gewissermassen rechts zu überholen – neben wenigen Kürzungen in der gesungenen Partie ist es vor allem der stille „Haupttext“, der den Rückkopplungen entweicht.502 Der überzählige Kanoneinsatz in Zeile 69 ist der Versuch der Kompensation von Textproportionen: Ist die Engführung der Livestimme mit sich selbst während Teil B durch die relative Kürze des Teils A bedingt, wird die gleiche Situation in Teil C mittels jenes zusätzlichen Playbacks simuliert.503 Die entscheidende Mo- 500 Ebd., S. 222. 501 Vgl. Peter Szendy, Endspiele, S. 77. 502 So ist etwa die vokale Passage ab „… fixing it with her eye …“ (Zeile 61) bis „… vain questionings …“ (Zeile 63) im Playback eliminiert; unter den Not I-Manuskripten in der SHH findet sich auch ein präziser Plan zur Playback-Kürzung.246 difikation gegenüber einer „regulären“ Aufnahme des „Kanon-Diktats“ liegt in der Interpolation der rückkopplungsfreien Zone zwischen den Zeilen 107 und 117, wo die Stimme vom rhythmischen „stimulator“ ihres Herzens gejagt wird.504 Diese „Einsamkeit“ infolge der plötzlichen Suspension der Kanons wird möglicherweise durch einen einfachen Textreflex verursacht: „… no one else for miles …“ (Zeile 107). Hier tritt die Subjektivität eines singenden Individuums, das sich seiner selbst vielleicht schon halb entronnen wähnte, plötzlich hervor. Holliger artikuliert seine spezifische Form in einer subversiven, gleichwohl text- gebundenen Reaktion: Er lässt Becketts Auditor in seiner cardiophonischen Transformation an unerwarteter Stelle auftreten und verstört damit Mouths Ri- tual der Ich-Verneinung. Dieses Herzsolo antizipiert „mouvement 3“, den drit- ten regulären „not I“-Refrain, in den es mündet. Es teilt den Ablauf der Kompo- sition in zwei grosse Teile, die an die Anlage von Cardiophonie erinnern: Vom Einsatz der unbotmässigen Herztöne aus gerechnet verhalten sich diese wieder- um fast exakt wie 3 : 2 und überformen die Komposition damit nach der ele- mentaren Proportion des quintolisch gerundeten Herzschlags. Nach der Unter- brechung der Kanons wird die Spur der künstlichen Stimmen ab Zeile 117 wieder aufgenommen und fortgeführt, und zwar in grösserer Regelmässigkeit als zuvor. * Obwohl sich innerhalb dieser stetig fortschreitenden kanonischen Akkumula- tion von Einzelstimmen kein Detail einer streng kontrapunktischen Auffassung von Tonsatz entzieht, kann von einer mehrstimmigen Komposition im üblichen Sinn kaum die Rede sein. Der Impuls zur Ich-Verneinung setzt eine Polyphonie- Maschine in Gang, die sich über die Ränder von Subjektivität hinaus auszubrei- ten sucht – was schwerlich gelingen kann, da das Verfahren polyphoner Ich-Zer- stäubung mit der unablässigen Projektion eines monodischen Ich-Restes, der sei- ne Eigenzeit nicht aufgeben kann, einhergeht. Diese Grösse ist bei Holliger nicht eigentlich fassbar, sondern als Identitätsspur einzig über das sich auch räumlich immerfort ausbreitende System von Schattenformen zu erfahren. Vielleicht im- pliziert Holligers Hinweis auf „eine fast Webern’sche Stimmbehandlung“ einen Doppelsinn. Vielleicht zielen seine Kanons weg von der gestischen Charakteri- stik der mittleren Lieder in die Richtung der gerne als kristallin aufgefassten Ka- nonik in Weberns Spätwerk, deren Neigung zu aperspektivischen Zeitformen zum Beispiel Jacques Wildberger als massive Bedrohung eines sich geschichtlich entfaltenden, subjektiven Bewusstseins interpretiert – weswegen in einigen von 503 Dieses Playback knüpft an das in Zeile 67 gestoppte erste Playback an; andere Einsatz- verschiebungen sind den Dauernverhältnissen von Abb. 44 zu entnehmen. 504 In einer reich annotierten Photokopie der Reinschrift ist in Zeile 107 „(in Tempo of Heartbeat)“ vermerkt; vgl. wieder die Sommer-Chöre aus den Jahreszeiten.247 dessen zitat- und allusionsfreudigen Dokument-Kompositionen spätwebernsche Satzparodien als Chiffre des Sprachverlustes figurieren können.505 Bemüht sich Wildberger in seiner kompositorischen Arbeit ansonsten stets um einen Gestalt- vollzug, der sich im aktiven Ausrichten einer statischen Zeitkugel und im Kon- kretisieren einer dodekaphonen oder seriellen Grundstruktur äussert, nähert Holliger sich perspektivloser „Kristallformen“, um jenen sprachlich aufgenötig- ten Zwang zur Identität musikalisch zu lösen – vergeblich. Letzten Endes leistet die subjektive Funktion jeder regelmässigen, etwa polyphon gebundenen Ver- räumlichung musikalischer Zeit keinerlei Vorschub. Übrig bleibt ein schadhafter Kanonkristall, über dessen Risse Geschichte ins Innere dringt und keine Elemen- tarzelle undeformiert zurücklässt – ein Schattenkristall ohne Kern, doch hoff- nungslos ich-gesättigt. 2.2.5. Schattenform III: Originale, falsche Zitate „… like variations of the same voice …“ (Samuel Beckett) Ist diese Kanonmechanik einmal losgelassen, gestaltet sich Komponieren vor al- lem als Einstellen von Unschärfen. Holliger überführt Becketts Redeflut in ein System rhythmischer und intervallischer Unschärferelationen, die auch auf die Ebene der Formbildung ausstrahlen. Mit zunehmender textueller Wiederho- lungsdichte werden reproduktive kontrapunktische Verfahren abgelöst. Im Netz der permutatorischen Selbstähnlichkeiten bleiben allmählich Erinnerungen an charakteristische Klangphysiognomien hängen, die, wie einstmals textgebunde- ne Motive, mit Beckettschen Redeportionen korrespondieren. Doch das kom- positorische Gedächtnis ist schattenverhangen, sein Erinnerungsvermögen emi- nent ungenau. Becketts Worte sedimentieren zu echoartigen Klangzeichen, deren Gestalten zwar festgelegt und identifizierbar sind, aber nur sehr selten ex- akt reproduziert werden. Sie durchziehen die gesamte Komposition in leicht va- gierenden Spuren. Die einzelnen Gruppen erscheinen als textbezogene musikalische Schattenwür- fe. Es gibt Vorbilder, „Originale“, die mit Sicherheit wieder erscheinen, dann aber nie ganz genau zitiert werden können. Schon für die Musik der ersten Zeile ist dieser Erinnerungsfilter prägend und wirkt sich auf die rhythmische und in- tervallische Deformation der gesungenen Worte „… this world …“ aus. Der Re- 505 Was im Fall von „… die Stimme, die alte, schwächer werdende Stimme …“ (1973–74) im Hinblick auf Beckett geschieht. Vgl. auch Wildbergers Schriften Komponisten stellen eigene Werke vor: Jacques Wildberger, „… die Stimme, die alte, schwächer werdende Stimme …“, in: SMZ 177 (1977), Heft 6, S. 345ff. und Freiheit von der rationalen Zeit, in: Melos 22 (1955), Heft 12, S. 341ff.; auch: Michael Kunkel, Der Komponist Jacques Wildberger. Eine Portraitskiz- ze, in: Dissonanz 73, Februar 2002, S. 20ff.248 frain der Ich-Verneinung ist die zentrale Wiederholungsfigur des Stückes, die den amnestischen Variationsmodus, der alle Äusserungen früher oder später er- fasst, recht eigentlich aufstellt. Er erscheint „falsch zitiert“, indem er der oberen Ambitusgrenze des zweigestrichenen d halbtonweise zustrebt und sich schliess- lich (Zeile 151) über den gegebenen vokalen Existenzraum hinaus auszubreiten sucht.506 Die gesamte Komposition lässt sich als ein wörtlich gebundenes Beziehungsnetz aus Originalen und falschen Zitaten beschreiben. Die Zitatspur vieler Originale ist kontinuierlich genug, um oft von Anfang bis Ende des Stücks verfolgt werden zu können. Aber: Das Auftreten eines textuell determinierten Originals ist nicht mit der voraussetzungslosen Exposition eines völlig neuen musikalischen Mate- rials zu verwechseln. Alle Originale haben infolge der ausgreifend variativen Kompositionsweise strukturelle Vorläufer. Der Begriff kann die kompositorische Arbeit mit Textbezügen gleichwohl anschaulich machen. Deshalb gelte: Wenn eine deklamatorische Gruppe mit einem spezifischen Textelement erkennbar verbunden ist und Ausgangpunkt einer Zitatspur bildet, kann ihr erstes, prägen- des Erscheinen „Original“ genannt werden. Der Ursprung zu einer der markantesten Echoketten etwa (Zeile 23: „… oh long after …“) ist solch ein Original „mit Vorgeschichte“. Es wird in Zeile 23 über das kanonische Kopierverfahren aus der Rückkopplung der „Wanderepisode“ (vgl. Zeile 11f.) bezogen: Der Tritonusansatz as1–d2 („[…] in the field …“) und der Halbton c2–h1 („… to make a […]“) formieren sich zu einer neuen deklama- torischen Gruppe über „… oh long after …“, deren Abschluss gleichzeitig den kanonischen Halbton d2–cis2 („… looking […]“) weiterführt. Ganz seinem Text- gehalt entsprechend erfährt dieses „Original“ über „… oh long after …“ zu- nächst eine zitatmässig melismatische Streckung, um schliesslich in Zeile 143 auf eine Dreitongruppe über „… long[…]“ zusammenzuschrumpfen (Abb. 45). In sieben von elf Fällen ist Original wie Zitat von zwei anderen Gruppen umge- ben: Eine über die variable Textformel „… for her first thought was …“, eine andere über die konstante interjektionsartige Äusserung „… sudden flash …“. Dieser relativ enge Verbund aus drei Originalen verdeutlicht ein wichtiges Prin- zip zitatmässigen Projizierens: Die Objekte versagen sich einer bloss linearen Permutatorik und biegen die Struktur der Ausgangsgestalten in verschiedene Richtungen um; sie können tendenziell verlöschen („… for her first thought was …“) oder tendenziell expandieren („… oh long after …“); seltener können Vari- anten eine konstante Ausdehnung behaupten („… sudden flash …“), denn die Projektionsarten sind destruktiv motiviert. In Abb. 45 sind auch Nebenformen wiedergegeben. Alle Deformationen künden von der seit dem vorherigen Er- scheinen vergangenen Zeit, vom Altern der deklamatorischen Gruppen. Sie sind 506 Vgl. Abb. 37; auf andere Art ist Holliger auf diese Idee in seiner Komposition Ad Margi- nem (1983) aus dem Scardanelli-Zyklus zurückgekommen.249 23) 5 3 3 3 Abbildung 45: Varianten über „… for her first for her first thought was ... oh long af ter ... sud den flash ... thought was …“, „… oh 28) 5 3 long after …“ und „… sudden flash …“ in: 3 3 3 5 3 Heinz Holliger, Not I38) 3 till an o ther thought 5 46) 3 3 3 5 this o ther thought then 67) 3 3 since it has soun ded 85) 5 5 5 5 ’ 3 3 ’ 5 3 but this o ther aw ful thought 88) 3 3 55 3:2 3 then thin king „flash“-Nebenformen: 118) 5 3 5 27) 5 then thin king fla shed through her mind 3 3 132) 3 55 3 3 100) 3 ’ think of some thing else fla shes from all o ver 140) 139) 5 3 5 the long e ve nings sud den urge 143) 140) 5 long sud den urge250 das genuin musikalische Pendant zu Becketts bizyklisch realisierter Verschleiss- form. Holligers Schreibweise erfasst Einzelfiguren mittels musikalischer Konjugation, die von einer Grammatik des Selbstverlustes diktiert ist. Sie folgt den bekannten Gesetzen schattenhafter Imitation, die als „fast Webern’sche Stimmbehandlung“ auf syntaktischer und kontrapunktischer Ebene auszumachen waren. Aufs Neue greift fehlbares Wiedersingen vor allem anderen an fixen Tonorten und Halb- tonbeziehungen an. Für die Deformationslogik dieser Spur ist der Zusammen- hang der drei originalen Gruppen obigen Beispiels von entscheidender Bedeu- tung. So kommt die Melismatik der ersten Projektion (Zeile 28) zustande, indem die Töne b1 und a2 der ausfallenden dritten Gruppe („… sudden flash …“) in die übriggebliebene Kerngruppe hineingelegt sind, während der Ton e2 durch seinen oberen Halbton vertreten werden kann. Bei der ersten Wiederho- lung des kompletten Gruppenverbundes in Zeile 38 ist das diastematische Profil des Originals kaum angetastet – lediglich das f2 aus Zeile 28 wandert in die vor- dere Gruppe; ein Erzittern der originalen Konstellation ist hier rhythmisch zu verzeichnen: Kein Dauernwert befindet sich dort, wo er ursprünglich war. Das falsche Zitat in Zeile 46 bezieht seine neue Kontur aus halbtonmässiger Ver- schiebung und Vertauschung der Spitzentöne as2–f2 zu fis2–a2, die nach b2 und h2 weitergeführt werden. Die isolierte Kerngruppe von Zeile 67 greift auf den Parallelfall von Zeile 28, unter Anknüpfung an den lokalen Ansatzton e1 zurück. Entspricht der Kernbereich der Variante in Zeile 85 einer collageartigen Auf- schichtung aller bisherigen Kernvarianten, enstehen die äusseren Gruppen durch den Tausch originalen Tonmaterials ihrer Echos aus Zeile 23 (as¹- des2[→cis2–gis1] und e2–b1). Für die superlative Ausdehnung des Kernkomple- xes in Zeile 88 verdichten sich Varianten aus Zeile 46 (fis2–a2–b1– … –h2) und Zeile 23 (gis2– … –des2–c2–es1–d1) zu einer neuen Figur, die in weiteren Echos fortan immer stärker ausdünnt, bis hin zum Zitatrest der Zeile 143. Die Defor- mationen gehen auch am quantitativ konstanten Glied des Komplexes („… sud- den flash …“) nicht spurlos vorüber: Seine vormals stabile, blitzhafte Zickzack- Kontur geht beim letzten Erscheinen verloren. Das Original der „… sudden flash …“-Figur ist letztlich auf die Tritonus-Quint- Konstellation zurückzuführen, die das Spiel eröffnet. Ein ähnlicher Trichord ist durch das Original „… imagine! …“ in Zeile 19 gegeben. Seine Zitatspur ver- läuft auf ähnliche Weise, um in einer Permutation zu enden, die die Kontur des Klangzeichens auflöst (Abb. 46). Auch die Ausdehnung dieses Originals bleibt in seiner Zitatspur über ein unver- änderliches Textelement konstant und lässt sogar eine buchstäbliche Wiederho- lung zu (Zeile 19 und Zeile 66). Diese Eigenschaften liegen in der syntaktischen Funktion der Gruppe begründet: Denn sie ist als stabiles Störglied konzipiert, das ihrerseits lokale Repetitionen deformiert. Zitatschatten neigen sonst eher dazu, sich im Gestöber von Becketts Scheinwiederholungen über ein konkretes Textfeld hinaus auszubreiten, um sich zu verlieren. Schreibreflexe, ausgelöst251 Abbildung 46: Varianten über „… imagine! …“ in: Heinz Holliger, Not I 5 19) ... i ma gine! ... ( ) 29) 5 66) 76) 5 79) 5 86) 5 5 91) 5 94) 5 96) durch eine ausgesprochen kurzschlüssige Lektüre, führen zu neuen Nebenfor- men. Ein Stichwort genügt, um etwa den Funken der „… sudden flash …“-Figur überspringen zu lassen: Ihre charakteristische Kontur kann sich über ähnliche Formulierungen ausbreiten (Zeile 27: „… flashed through her mind …“; Zeile 100: „… flashes from all over …“) oder einwärts kehren, wie in den sekund- und terzmässig gestauchten Varianten über „… sudden urge …“ (Zeile 139f.). Es sind solche Subformen, die das Schattenlabyrinth der primären Zitatspuren in verborgenen Metonymien unterhöhlen und oftmals unerwartete Verbindun- gen zeitigen. Ausgehend von der ausserordentlich flexiblen Faktur des „buz- zing“-Komplexes, dessen Original in Zeile 16 feststellbar ist, lassen sich weite Verzweigungen verfolgen (Abb. 47). Eine Nebenspur erschliesst sich allein über das variable Textelement „[…]could[…]“ aus Zeile 16, dessen cis2 ab 51 einen Strang von Nebenformen stiftet, der den „buzzing“-Ton es bald als Zentrum akzeptiert. Die lokale Fort- führung der inneren Repetitionsstruktur des „buzzing“-Komplexes in Zeile 39 führt zur Ausbildung des Originals über „… dull roar in the skull …“ in Zeile 41, das ab Zeile 110 mit seinem Ursprung eng verbunden ist. Das Textelement „… all silent but for the buzzing …“ (Zeile 55) bildet den Konnex zur Kondukt- allusion über „… all silent but the grave …“ (Original in Zeile 54), die ihrerseits252 l Abbildung 47: Der „‚buzzing‘-Komplex“ und andere Varianten in: Heinz Holliger, Not I „could“-Nebenformen: 51) 5 3 could n’t make the sound 95) 5 98) 3 5 5 5 119) 5 124) 3 ’ 2) 5 what? „buzzing“-Komplex: 16) 3 3 18) for she could still hear the buzz ing so called in the ears but so dulled 39) 3 5 5 5 3 5 5 5 41) 5 3 what? the buzz ing? yes all the time the buzz ing so called in the ears dull roar in the skul 55) 5 5 3 3 3 3 what? the buzz ing? yes all si lent but for the buzz ing so called 64) 3 5 3 3 3 3 5 what? the buzz ing? yes all dead still but for the buzz ing 90) 5 3 3 5 3 what? the buzz ing? yes all the time the buzz ing so called 110) 5 3 5 3 5 5 ’ 3 what? the buzz ing yes all the time the buzz ing dull roar like falls 5 3 117) 3 3 5 5 3 what? the buzz ing? yes all the time the buzz ing dull roar in the skull 148) (’) 3 5 5 5 what? the buzz ing yes all the time the buzz ing dull roar like falls in the skull „silent“-Gruppe: 22) 3 3 still still in a way 5 54) 3 3 [ 5 ] all si lent as the grave 63) 3 3 5 5 sweet si lent as the grave 113) 3 3 3 3 121) 3 3 3 sink face down in the grass speech less all her days 130) 3 3 3 138) 3 3 5 face in the grass speech less all her days 154) 3 face in the grass253 auf „… still … still in a way …“ in Zeile 22 zurückgeht und auf das Original über „… sink face down in the grass …“ (Zeile 113) übergreift, dessen Nachhall bis in die letzte Zeile der Komposition vernehmbar bleibt. Die Liaison der musi- kalischen Gestalten über „… all silent but the grave …“ und „… sink face down in the grass …“ erschliesst sich nicht mehr durch ein identisches Schlüsselwort, sondern durch die anaphorisch akzentuierte Lautähnlichkeit der Sechssilbler, deren Kondukttopik mit einer semantischen Verortung der zweiten Gestalt ein- hergeht. Ein anderes Beispiel für eine weithin ausstrahlende Gestalt liefert das Original über „… all that early April morning light …“ in Zeile 14. Während die origina- le Gruppe in ihrem Zitatschweif verlöscht, kann sie sich in fremden Gruppen ausbreiten, weil die relativ häufige und unspezifische Wendung „all that“ fast immer als Signal für einen charakteristischen Erinnerungsreflex figuriert. Sobald dieses „Präfix“ erscheint, wandeln ursprünglich kohärente Zitatspuren ihre Ge- stalt und nähern sich jener der „April“-Gruppe an: So verändert sich das Origi- nal über „… no particular reason …“ (Zeile 34) angesichts der Textvariante „… all that vain reasonings …“ in Zeile 38; das gleiche Signal „verfestigt“ sich im Original über „… all that together …“ in Zeile 91; obschon das Echo über „… all that steady stream …“ (Zeile 89, vgl. Original Zeile 70) nicht mit dem cha- rakteristischen Halbton h1–b1 anhebt, gibt die Struktur des Melismas sich nun eindeutig als gestauchte Variante der „April“-Figur zu erkennen. Ein anderer Nebenstrang wird ab Zeile 17 („… and a ray of light came and went …“) über die Lichtthematik erschlossen (Abb. 48). Dies sind nur einige offensichtliche Bezüge innerhalb eines in sich stark ver- schlungenen Zeichensystems, das sich der Vorliebe für kompositorische Abwege verdankt. Wer einmal eine Spur aufgenommen hat, verirrt sich im monodischen Labyrinth der Selbstähnlichkeiten und Ich-Verneinungen. Hinzu kommt, dass musikalisch falsche Zitate nicht immer am konkreten Wortlaut ansetzen müssen, sondern sich auch in semantischen Feldern ausbreiten können. Ein Beispiel lie- fert die „punishment“-Thematik, die im Original über „… she was being punis- hed …“ in Zeile 26 erstmals greifbar ist. Diese Repetitionsfigur ist das Vorbild für die musikalische Anverwandlung der textuellen Thematik: Dazu zählt „suf- fering“ (Zeile 29, 31), „torment“ (Zeile 44), „straining“ (Zeile 89, 98, 144), „purged“ (Zeile 113), aber auch „painless“ (Zeile 118, 149). Eine Nebenform ist in Zeile 99 über „… raving away …“ zu verzeichnen. Sie wendet die None der originalen „punishment“-Figur zum Septimrahmen (e2–es1→es1–[…]–d2) um. Die wiederum durch ein semantisches Feld gebundenen Zitate „… raving/ flickering away …“ und „… ferreting/poking around …“) führen die bewegliche Kontur der Ausgangsfigur auf die Repetitionsformel zurück (Zeile 99, 108, 110, 118, 144, 149). Sämtliche Gestalten des „punishment“-Komplexes, Originale wie auch falsche Zitate, sind letztendlich auf eine einzige, unablässig Mangel ausstrahlende Figur zurückzuführen: „… tiny little thing …“ in Zeile 1. Schon ihr erstes Auftreten254 stellt die melischen Bedingungen des Gesangs gleich mehrfach in Frage: Die Be- festigung des Zentraltones erfolgt zum Preis der mechanischen Degenerierung einer Stimme, die sich in „unbotmässiger“ unumkehrbarer Deklamation und da- mit zeitlich ungerichtet äussert; hinzu kommt, dass sich diese septolische Grup- pe gegen die cardiorhythmische Tonika (5=2+3) sperrt. Doch vor allem der Singmodus, Grundbedingung zum Nachvollzug der anti-subjektiven diastemati- schen Schreibautomatik, wird mittels musikalischem Sprechen unterminiert. Der Rekurs auf eine „fast Webern’schen Stimmbehandlung“ erfolgt unter Win- nies singfeindlicher Prämisse: „Simply cannot sing. Pause. Not a note“.507 Bei Holliger ist Mouths erste, mittels dritter Person kaschierte Selbsterinnerung von einem musikalischen Sprechfehler gezeichnet, dessen prekäre Spur die Monodie durchzieht und zuletzt zur Repetition des zentralen Mono-Tons d zwingt („… pick it up …“, Zeile 154). Entsprechend imprägniert diese initiale Formel zumal musikalische Gebilde, die Worte über Mangelsituationen binden: Zum Beispiel Figuren des „speechless“-Komplexes (vgl. Zeile 7, 121, 138), die sich über „… still … still in a way …“ (Zeile 22) in Richtung der Kondukttopik (vgl. Zeile 54 und 113) verschieben; zum Beispiel die Bestandteile des gesamten „punish- ment“-Komplexes, der sich in Zeile 34 („… that notion of punishment …“) dem Vorbild aus Zeile 1 stark nähert. Manche Zitate wie in Zeile 44 („… just all part of the same wish to torment …“) oder 113 („… she’ll be purged …“) erfolgen in einem von Tonorten gänzlich gelösten Sprechen. Das Stichwort „brain“ evoziert neue Varianten, die ihrerseits mit einem kleineren „mouth“-Komplex gekoppelt erscheinen. Auch die Varianten über das „buzzing“-Element „… dull roar in the skull …“ gehören hierher (vgl. Zeile 40, 110, 117, 148). Nebenbei kommt Hol- liger mittels dieser strukturellen Bindung der Themen „punishment“, „mouth“, „brain“ und „buzzing“ einem verborgenen Textzusammenhang, den Beckett in seinen Skizzen festhielt, auf die Spur: „suffering begins with voice + thought w. buzzing“508 Eine besondere Art der Entwicklung und Wandlung von Klangzeichen lässt sich im Bereich des Sakralen beobachten. Der Ursprung der melismatischen Gebet- formel über „… in a mercifull God …“ (Original in Zeile 24f.) ist blasphemi- scher Natur: Die demütige Klanggeste ist die Ausformulierung des Fluches aus Zeile 2 und 3 („… godforsaken hole …“). Das falsche Zitat in Zeile 36 bildet zu- sammen mit dem Original über „… God is love …“ (Zeile 112) den Ausgangs- punkt für das „Kirchenlied“ in Zeile 128f., der einzigen taktgebundenen Passage der gesamten Komposition. Am Ende des Stücks wird der heilige Moment takt- voller Konsolidierung ausgetrieben: In Zeile 152 bildet das Textsegment „… then back …“ den Imperativ zu rückläufiger Sprechweise – die Töne des in frag- 507 Glückliche Tage/Happy Days/Oh les beaux jours, S. 88. 508 Siehe oben, Seite 173.255 Abbildung 48a: Der „‚April morning‘-Komplex“ in: Heinz Holliger, Not I „April“-Komplex: 7:6 14) 3 „all that“-Nebenformen ... all that ear ly A pril mor ning light... 7:6 34) 5 5 3 60) 5 ... no par ti cu lar rea son ... 7:6 38) 3 60) ... all that ... vain rea son ings... 3 7:4 58) 5 3 113) ... all that mois ture... 7:4 91) 5 129) ... all that to ge ther... 7:4 98) 5 154) ... all that to ge ther... „stream“-Nebenformen: 99) 5 5 70) 5 3 ...piece it to ge ther... ... and now this stream ... 109) 35 70) 3 ...all that to ge ther... ... stea dy strea m 5 3 112) 89) 5 5 ( ) ...all that to ge ther... ... stea dy strea m 3 3 150) 93) ...all that... stream of words... 96) 3 5 3 ... can’t stop the stream ... 141) 5 3 5 ... stea dy stream ...256 Abbildung 48b: Die „light“-Nebenformen aus dem „April morning“-Komplex in: Heinz Holliger, Not I „light“-Nebenformen: 5 3 3 5 17) ... and a ray of light came and went... 5 3 42) ... this ray or beam [...] 3 57) ... shut out the light... 62) 5 3 3 ... all gone out... all that light... 3 3110) ... and the beam... 118) 5 mentarischer Gestik wiedergegebenen Kirchenlieds werden nun im Krebs ge- sungen. Schon vorher erscheint die „merciful“-Figur sündhaft: Ihre Struktur ist leicht auf jene der „April“-Figur – als autobiographische Chiffre immer auf die Beckettsche Todsünde des Geborenwerdens bezogen und bei Holliger als „pu- nishment“-Charakteristikum septolisch formuliert – zurückzuführen und erfährt im Original über „… for her sins …“ (Zeile 26) ihr Gegenmelisma. Es sind diese drei Figuren, die in Zeile 26 und 36 in aussergewöhnlich luzider Kontrapunktik zusammenkommen. Auch die Wanderepisode des Beginns, als topisch verortbarer, leidlich geschlos- sener Komplex mit dem „Kirchenlied“ vergleichbar, ist ein ergiebiger Vorrat an Gestalten, die als falsche Zitatspuren im Laufe des Stückes erscheinen. Als Gan- zes findet die Episode ihr Echo nur noch einmal, in Zeile 100. Sie ist eines jener Materialien, die nachweislich über die ersten deklamatorischen Gruppen der Komposition bezogen wurden und in einem sich selbst unscharf reproduzieren- den Zeichensystem weit wuchern. Das Merkwürdige der formalen Konzeption von Not I liegt aber darin, dass sich die Schattenwürfe nicht nur niemals gänz- lich verlieren, sondern plötzlich auch wieder der Ausgangsgestalt zuneigen kön- nen. Wenn die deklamatorischen Gruppen des Anfangs in den Scheinreprisen der Zeilen 120 und 137 in leichter Deformation wieder erscheinen, sind sie bei- des: Falsche Zitate und Originale. Falsche Zitate, weil sie die monodische Grundschicht durchziehen wie jede andere Spur; Originale, weil sie in relativ scharf umrissener, junger Schattengestalt (die dem relativen Status meiner Defi-257 nition eines „Originals“ entspricht) mitten in ihre Enkel- und Urenkelgeneratio- nen eintreten. Indem Ausgangspunkt und Ziel der Umwandlungen sich beinahe in einem Punkt treffen, ist die Genealogie des Projektionsverfahren gestört. Es ist der repetitiven Überwucherung des Textes zuzuschreiben, dass sich die Monodie zunehmend aus klanglich verwackelten Echos zusammensetzt und dass gegen Ende des Monodramas falsche Zitate Originale an Häufigkeit weit überbieten. Hier greift Holliger das Not I-Prinzip sehr wörtlich auf und zieht sich selbst im Laufe des Stücks als komponierendes Subjekt zurück, bis er sich vom eigentlichen Erfinden der musikalischen Substanz gänzlich auf ihr Manipu- lieren, Zensieren verlegt. „… pick it up …“: Dieser finale Appell prägt die Schreibweise. Er führt naturgemäss immer wieder zum Ausgang zurück, evoziert ein potentiell unendliches Kreisen in unablässigem „Darauf-zurückkommen“. Vorläufiger Endpunkt der kompositorischen Selbstflucht ist die Eigenzensur, un- ter der sich das musikalische Material erschöpft. Es ist denkbar, dass sich innerhalb der monodramatischen Schnellschrift repeti- tiv/variative Unschärfen auch gewissermassen von selbst einstellen. Vielleicht lässt der Komponist das angesichts der überbordenden referentiellen Kombina- torik überforderte Erinnerungsvermögen auch für sich arbeiten. Ab einem ge- wissen Punkt werden Hilfsmittel erforderlich. Dieser Tatsache verdankt sich wohl das einzige unter den heute zugänglichen Not I-Manuskripten, das man als Skizze im üblichen Sinn bezeichnen kann.509 Es dokumentiert die kompositori- sche Gedächtnisarbeit gegen Ende des Schreibprozesses: Holliger notiert die wichtigsten Vorbilder, aus denen er das „Material“ bezieht, das er zur Monodie der letzten drei Formteile D (ab Zeile 117), E (ab Zeile 137) und F (ab Zeile 151) manipulieren wird. Hier wird anschaulich, wie Becketts Parataxis in musi- kalische Schattenformen umgewandelt wird. Diese Skizze ist kein sorgfältig angefertigter Arbeitsplan, sondern eine offenbar eilig erstellte Schnellschreibhilfe. Sie hält neben Originalen auch falsche Zitate als Überschreibvorlagen fest, die sich meist auf den unredigierten ersten Arbeits- gang des Partiturentwurfs beziehen lassen. Die Schreibweisen der deklamatori- schen Gruppen aber sind weder einheitlich noch konsequent. In den meisten Fällen werden alte Konturen festgehalten zu dem Zweck, sie ungenau zu kopie- ren. Einzelne Formen, wie jene letzte des ersten Systems auf der Skizze, sind be- reits umgewandelte Gruppen (vgl. Zeile 118), deren Ursprung durch das betref- fende Textelement angedeutet ist – das übrigens im angesprochenen Fall in Becketts Spiel nicht auszumachen ist („raving around“). Auch lokale Zitatspuren sind nicht eigens vorgezeichnet. Beim Einsatz der narrativen „life-scene“ erfolgt der Hinweis: „→(neu)“. Dies signalisiert den mittlerweile akzidentiellen Rück- fall in frühere Schreibphasen. Hier bleiben die letzten Originale noch im Schreibgedächtnis hängen. 509 SHH (Abb. 49).258 Abbildung 49: Heinz Holliger, Not I, Skizze (© by Paul Sacher Stiftung, Basel)259 Eine wichtige Grundregel zur Manipulation des skizzenmässig fixierten Materi- als liegt im Ausbalancieren der Ähnlichkeitsgrade zwischen Text und Musik: Je ähnlicher die Textsignale, desto unschärfer das musikalische Zitat – wie im über- wiegend halbtönigen Verschleifen der in der Skizze festgehaltenen „buzzing“- Form (Vorform für Zeile 39) ab Zeile 117 –, und umgekehrt: Bei grösseren Textabweichungen um ein wiedererkennbares Thema können zumal alte Tonor- te mit „neuem“ Wortmaterial besetzt werden – so bei „… then thinking …“ (Zeile 118), das den tonalen Ansatz von „… this other thought then …“ aus Zei- le 46 wörtlich verwendet; so im Fall der Figur über „… hours of darkness …“ in Zeile 140, die laut Skizze auf das Original über „… found herself in the dark …“ aus Zeile 15 zurückgeht. Zum Aufspüren falscher Zitatfährten ist diese Skizze ein wertvolles Hilfsmittel. Sie schärft das Ohr für weit entfernte Klangverwandtschaften. Aus ihr wird etwa ersichtlich, dass Holliger eine der letzten Gelegenheiten zur Formulierung noch unzitierter Gestalten ausschlägt und bei „… unanswered …“ (Zeile 146) den Konnex zu „… unheard …“ nutzt, um auf das korrespondierende Material aus Zeile 4 zu rekurrieren. Das zögerliche Abkadenzieren der formativen ersten vier Zeilen wird an den äussersten Rand der Grossform projiziert. * Heinz Holliger gebraucht eine „fast Webern’sche Stimmbehandlung“ dazu, ei- nen musikalischen Schwindel um Becketts Lautpfad zu organisieren. Er entwik- kelt ein variatives Prinzip, mithilfe dessen jene paradoxe Situation inszeniert wird, vor der die Hörspielversion von Becketts Lessness in der BBC gescheitert war: Beckett „would have preferred them [the voices] to sound all like varia- tions of the same voice, which, of course, would have produced the impression that there was only one voice speaking […].“510 Wiewohl sich Holliger schon mit der Imitationstechnik des Trios von seriellen Satztugenden emanzipierte511, berührt die performative Schreibart von Not I Karlheinz Stockhausens Vorstel- lung von Variation in einem wichtigen Punkt: „In der ‚Variation‘ geht es aber nicht um das zu Variierende (oder nur mittelbar), son- dern um das Variieren: Nicht das zu Variierende existiert, sondern Weisen des Variie- rens […]“.512 Auf seine „Weise“ versetzt Holliger ein „Nebeneinander von individualisierten Tonordnungen“513 in Schwingung. Falsche Zitate streben weg von einer „ein- 510 Martin Esslin, Samuel Beckett – Infinity, Eternity, S. 120. 511 In der Skizze zur Selbstanalyse des Trios notiert Holliger: „Sehr komplexe motivische Ar- beit, aber keine serielle Organisation“ (SHH); siehe oben, Seite 232f. 512 Karlheinz Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1, S. 20. 513 Ebd.260 heitlichen Bezogenheit des Einzelnen“514. Denn ihr Urprung liegt in Originalen, die ihrerseits vielfache Bezogenheiten aufweisen. Wenn Not I als kompositori- sche Versuchsanordnung eines beweist, dann dieses: Ein zu Variierendes exi- stiert nicht. Ein einheitliches Bezugssystem ist über keinen präformierten Steue- rungsmechanismus greifbar. Über Not I entwickelt Holliger ein Schreiben, das durch den Titel einer späteren kanonischen Komposition charakterisiert werden könnte: Variazioni su nulla (1988). Das Unergründliche der Situation von Mouth wird entfaltet in der musikalischen Disposition von Schattenformen. In der Entwicklung seiner neuen „Weise des Variierens“ nach „fast Webernschen“ Prinzipien nähert er sich jenem anderen Idol, von dem seine gültige komposito- rische Arbeit ihren Ausgang nahm: Alban Berg, dessen Vorstellung musikalischer Variation Adorno zu einem vielzitierten Vergleich bewog. „Er hat die Kunst der thematischen Arbeit, der strikten Motivökonomie, wie er sie in der Schule Schönbergs erwarb, mit dem Prinzip des kontinuierlichen Übergangs ver- schmolzen. Seine Musik pflegt ein wahrscheinlich aus der Lehrzeit stammendes Lieb- lingsverfahren. Von jedem Thema behält sie einen Rest, immer weniger, schliesslich ein differentialähnlich Kleines zurück, wodurch nicht nur das Thema als Nichts sich deklariert, sondern zugleich die formalen Beziehungen zwischen den sukzessiven Tei- len unendlich eng gewoben werden. […] Man mag diese Bergsche Manier – Manier so gross geschrieben wie Manierismus – mit jenem Kinderscherz verdeutlichen, der das Wort Kapuziner auseinandernimmt und wieder zusammenfügt: Kapuziner – Apuziner – Puziner – Uziner – Ziner – Iner – Ner – Er – R; R – Er – Ner – Iner – Ziner – Uziner – Puziner – Apuziner – Kapuziner. So hat er komponiert, so spielt seine ganze Musik in einer Kapuzinergruft des Schalken, und seine Entwicklung war wesentlich die zur Ver- geistigung jener Manier.“515 In Not I führt Holliger diese „Manier“ noch weiter, bis sich kleinste Übergänge mehr und mehr kreuzen, sich bald zur gegenläufigen Kapuziner-Form auswach- sen, in der gleichzeitig auseinandergenommen und zusammengesetzt wird: Zi- tatspuren verlieren sich und wuchern kontinuierlich, expandieren als Lautspre- cherstimmen kanonisch und schwinden in technischer Manipulation. Das Spiel besitzt jene Richtung, die Adorno der Bergschen „Manier“ konzediert: „Er hat keine Todesmetaphysik illustriert […]. Der Drang zum Verschwinden ergreift statt dessen die Musik selber.“516 Holligers Schattenform hat mit den grossen Bergschen Formen vor allem eines gemein: Sie bezieht ihr Dasein aus der „Negation ihrer Selbst.“517 514 Ebd. 515 Theodor W. Adorno, Berg – Der Meister des kleinsten Übergangs, in: ders., Die musikali- schen Monographien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 328. 516 Ebd., S. 329. 517 Ebd.261 2.2.6. Schattenform IV: Tonbänder, Interpolationen „Spool! [Pause.] Spooool! [Happy smile. Pause.]“ (Samuel Beckett) Es ist klar, dass die variantenübersättigte Monodie von Not I nicht in unverän- derter Form kanonisch sein darf. Dies verstiesse gegen das grundlegende Gebot repetitiver Deformation, das als Schattenform jede kompositorische Handlung bestimmt, ein Schreiben überhaupt erst in Gang setzt. Als Holliger knapp zwei Jahre nach Abschluss der Komposition von Mouths kanonisch ausufernder Mo- nodie die Vorbereitungen zur Uraufführung von Not I in Angriff nahm, kam er auf seine eigenen Spielregeln wieder zurück. Vorher hatte er sich „eine Art Schnellschrift, die stark vom Unterbewussten beeinflusst ist, angeeignet“ und hat diese „dann fast wie etwas Fremdes angeschaut.“518 Jene, auf die Vorgehens- weise seiner späteren Oper Schneewittchen (1997–98) bezogene Aussage kann auch für Not I gelten. Die erste „wilde“ Textschicht wird hier allerdings nicht in assoziativ wuchernder Orchestrierung neu „gelesen“; die letzte Arbeitsphase von Not I bot stattdessen Anlass, die Stimmen in magnetophoner und elektroni- scher Verschattung neu zu durchformen. Die konkrete Ausarbeitung technischer Manipulationen ist kein von aussen bei- gebrachter Kunstgriff, kein nachträgliches Aufmotzen der Stimme und ihrer Tonbandkanons. Womöglich wurzeln Satztechnik und Zeitmodell der Komposi- tion gerade in der technischen Konzeption des Ganzen: Die besondere Auffas- sung einer monomanischen Polyphonie aus disparaten Einzelschichten ent- spricht der Vorstellung eines Abspulens von Zeitsträngen; die übergeordneten Tempoangaben des Vokalparts, dessen nuancierte Notationsweise kleinste Zeitrelationen zu erfassen vermag, gleichen Geschwindigkeitsstufen eines „live“-Bandes; und vor allem das satztechnische Verfahren konsequent unschar- fer Projektionen gleicht letztlich dem Unschärfezuwachs im vielfachen magneto- phonen Überspielvorgang. Ihn wirkungsvoll einzusetzen ist das Ziel der letzten Arbeitsphase wie auch aller übrigen kompositionstechnischen Massnahmen. Hätte Holliger es auf einen getreueren Abbildungsmechanismus abgesehen, hät- te er zum Ende der siebziger Jahre auf schon wesentlich avanciertere Möglich- keiten zurückgreifen können – wie Theo Hirsbrunner519 und Thomas Kessler520 berichten, scheiterte die geplante Produktion des Stückes im IRCAM, von dem es in Auftrag gegeben worden war, weil die erforderlichen Maschinen veraltet waren und nach Ausmusterung dort nicht mehr zur Verfügung standen. 518 Ein schlafwandlerischer Umgang mit Struktur – Michael Kunkel im Gespräch mit Heinz Holliger; Zürich, 8. Oktober 1998, in: Heinz Holliger: „Schneewittchen“ (1997/98), hrsg. von Michael Kunkel, Saarbrücken: Pfau 1999 (= fragmen 29), S. 16. 519 Theo Hirsbrunner, Pierre Boulez und sein Werk, Laaber: Laaber 1985, S. 167. 520 Thomas Kessler im Gespräch mit dem Autor, Basel, 26. Juni 2002.262 Welch immense Bedeutung der Zersetzungstechnologie für die Kanontechnik von Not I zukommt, erschliesst sich aus Holligers eigenem Kommentar: Er habe „versucht, den Text ganz getreu, in präziser Deklamation und syllabisch zu behandeln, so dass die Verständlichkeit optimal gegeben ist, jedenfalls für den Anfang, und die Tonbandeinspielungen nur graduell verfremden; die erste Rückkoppelung ist so, dass sie sich fast wie ein Schwarz-Weiss-Foto vom Original unterscheidet, es ist eine Live-Aufnahme mit ganz kleinen Verfremdungen des Harmonizers, so dass in ganz minimalem Intervall eine zweite Schicht mitläuft, die sich nur manchmal etwas auswei- tet. Man hört, dass irgend etwas nicht ganz natürlich ist, aber man weiss noch nicht genau, was passiert. Dann kommen bei jeder folgenden Schicht grössere Verzerrungen dazu, weiten sich einzelne Schichten selbst wieder aus in Kanons; in schnellerem Tempo gespielt und wieder verlangsamt, bis sie sich wieder in einem Wort mit ihrem Original trifft oder umgekehrt, oder einzelne Ausrufe – leitmotivische Worte – werden in Echos oder Fugati dargestellt.“521 Eine Ebene sei „der Zerrspiegel der anderen, so dass auf dem Tonband gleichzeitig wie Schattenwürfe die Intervalle, die Dauern ver- grössert sind; man hört’s fast gleich, aber nie genau gleich […]“.522 Für Holliger eröffnen sich „neue Möglichkeiten imitatorischer Arbeit“523 im Rückgriff auf die zum Zeitpunkt von Not I bereits veraltete technische Ausstat- tung der Cardiophonie. Die imitatorischen Tonbandstimmen spielen bei Holli- ger eine Doppelrolle: Konzeptuell, auf dem Papier, erscheinen sie in unverän- derter diastematischer Gestalt wieder, um der monodischen Singflut als Überschreibvorlage zu dienen524; als reale Stimmen werden sie mithilfe techni- scher Manipulationen deformiert, die mit dem imperfekten kompositionstech- nischen Abbildungsmechanismus korrelieren. Zur Beschreibung der deformati- ven Funktion des Tonbandes verfällt Holliger in die Metaphorik der skizzierten Selbstanalyse seines Trios: Von „Verzerrungen“, „Zerrspiegeln“ und „Schatten- würfen“ war dort schon einmal die Rede.525 Zudem ist die graduelle Verformung der Stimme mit technischer Hilfe ein Aus- komponieren von Unschärfen, das dem Ähnlichkeitsverhältnis von Originalen und falschen Zitaten – respektive „Original“ und „Schwarz-Weiss-Foto“526 – ge- nau entspricht. Das Verfahren ist in einer reich annotierten Fotokopie der Rein- schrift dokumentiert.527 Die starken Abnutzungsspuren dieses Schriftstücks deu- ten darauf hin, dass es Tonbandregistranten als Aufführungsmaterial gedient 521 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 220f. 522 Ebd., S. 221. 523 Aus den Skizzen zum Trio-Vortrag; SHH – siehe oben, Seite 232f. 524 Siehe oben, „Schattenform II“, Seite 241. 525 Vgl. die Skizzen zum Trio-Vortrag; SHH – siehe oben, Seite 232f. 526 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 220. 527 SHH; vgl. das Faksimile in: Michael Kunkel, „Mouth“, „Auditor“ und ein anderer Ver- nehmer: Heinz Holligers Monodrama „Not I“ nach Samuel Beckett, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft, Neue Folge, Bd. 21 (2001), S. 154f.263 haben könnte. Es beinhaltet Korrekturen und Verdeutlichungen des Rückkopp- lungsparts, Hinweise zur Modifizierung (vor allem Kürzung) der Singstimme, um sie später als Tonband-Musik abzuspulen. Zudem notiert Holliger eine Zeile monodischen „ad-libbings“ und stellt sie als Einschwingmaterial vor den Beginn der Komposition, um Becketts Forderung eines dramatischen Einblendens der unablässig faselnden Stimme zu entsprechen.528 Doch besonders Anweisungen zur technischen Manipulation der Bandgeschwindigkeit, zum gezielten Einsatz von Harmonizer, Hall oder Filter sind hier festgehalten. An einigen Stellen wer- den Playbacks und auch die Livestimme akzidentieller Bearbeitung unterwor- fen.529 Das wesentliche Ereignis dieser Quelle liegt in der systematischen Interpolation 43 externer Playbackechos in den monodischen Strom. Das sind nachträglich festgehaltene Schreibreflexe, die sich in Echtzeit in die Livestimme einmischen. Diese Einspielungen können als lokale Fortschreibungen falscher Zitate, die sich nun auch klanglich verformen, gelten und werden durch bestimmte Textsignale ausgelöst: „… imagine! …“, „… oh long after …“, „… sudden flash …“, „sin“, „… all silent as the grave …“, „… she! …“ (Refrain der Ich-Verneinung), „… al- ways winter…“, sowie „laughs“ und „screams“. In der nachfolgenden Liste divergiert die laufende Aufzählung der Interpolatio- nen von den ungenauen Zählweisen Holligers im Manuskript, da er nach Ab- schluss seiner Numerierungen immer noch weitere Materialien einsetzte. Ver- zeichnet ist der jeweils interpolierte Text; wenn sich das mit dem Interpolationseinsatz verbundene, live vorgetragene Textfragment von diesem unterscheidet, wird es in runden Klammern hinzugefügt. Eckige Klammern hin- gegen bezeichnen fehlenden Interpolationstext. Hinzu kommen lose, aus den beiden letzten Zeilen abgeleitete Echos, die, analog zum Beginn hinter geschlos- senem Vorhang, als Ausschwingzone des Spiels fungieren. Als Schatten anderer Klangschatten folgen diese Interpolationen den bekannten Spielregeln und führen sie in klanglicher Auflösung weiter. Einige Beispiele: Die Dreitongruppen über „… imagine! …“ und „… sudden flash …“ blitzen in ma- gnetophonen Hohl- und Zerrspiegeln auf, die ihre Kontur in verwackelten Krebsen und Umkehrungen abbilden. Auch Doppel- (Zeile 66) und Tripelechos (Zeile 77) sind möglich. Der Zersetzungsgrad ist schon zu Beginn relativ hoch: Die Kontur des Originals über „… sudden flash …“ (Zeile 23) ist mittels inter- polierendem Echo bereits, wie die letzte Form der Zitatspur in Zeile 123, umge- 528 „As house lights down MOUTH’s voice unintelligible behind curtain. House lights out. Voice continues unintelligible behind curtain, 10 seconds. With rise of curtain ad-libbing from text as required leading when curtain fully up and attention sufficient into: [Mouth’s Mono- logue]“ (Samuel Beckett, Not I, S. 216); in der Donaueschinger wie in der Zuger Inszenierung von Holligers Not I wurde auf ein akustisches Einblenden des Singstroms verzichtet. 529 Vgl. zum Beispiel die Verzerrung des Playbacks in Zeile 27, den Einsatz des Harmonizers in Zeile 36; die „moonbeam“-Figur ist in der live-Stimme mit Hall versehen (Zeile 42, 111).264 Interpolation Zeile 1 19 „… imagine! …“ 2 23f. „… sudden flash …“ 3 25 [„… sudden flash …“] 4 29 „… imagine! …“ 5 33 „n“-Melisma („… for some sin or other …“) 6 36 „(brief laugh)“, „(good laugh)“ 7 39 „… oh long after sudden flash …“ 8 53 „(screams)“, „(screams again)“ 9 55 „… all silent […]“ 10 55 „… all silent […]“ 11 63 „… sweet silent as the grave …“ 12 64 „… all dead still …“ 13 65 [„… she! …] 14 66 [„… imagine! …“] 15 67 „… so long[…]“ 16 69 „… always winter[…]“ 17 70 „[…]stream[…]“ 18 72 „… always winter …“ („… with the bag …“) 19 77 [„… imagine! …“] 20 79 [„… imagine! …“] 21 85 „[…]long[…]“ 22 86 [„… imagine …“] 23 88f. „long[…]flash …“ 24 89 „[…]stream …“ 25 91 [„… imagine …“] 26 93 [„… stream of words …“] 27 94 [„… imagine! …“] 28 96 [„… imagine! …“], „[…]stream …“ 29 100 „… flash[…]“ 30 113 „silent as the grave“ („… sink face down in the grass …“) 31 116 „… she! …“ 32 118f. „[…]long[…]sh …“ 33 121 „… always winter …“ („… how she survived …“) 34 128 „… God is love … tender mercies … new every morning …“265 Interpolation Zeile 35 130 „… face in the grass … all silent as the grave …“ 36 133 „… sudden flash …“ 37 136 [„… she! …“] 38 139 „… always winter …“ 39 143 „… always winter …“ 40 144 „… pick it up …“ („… quick grab and on …“) 41 146 „God“ („… prayer unanswered …“) 42 151 [„… SHE! …“] 43 154 „… all silent as the grave …“ („… face in the grass …“) bogen. Später, ab Zeile 88, ist die Interpolation „… sudden flash …“ auf den konsonantischen Rest „… sh“ reduziert. Die halbkonsonantischen Melismen über „sin“ und „stream“ verschmelzen mit Gegenmelismen; die dadurch entste- henden Interferenzen werden mittels Harmonizer hervorgehoben, so dass ur- sprünglich rein intervallische Deformationen sich nun zu neuer Klangqualität wandeln. Die gleiche technische Massnahme erweitert das „Kirchenlied“ der Zeile 128f. zum „schlecht harmonisierten Choral“.530 Neben dem Harmonizer ist vor allem der Einsatz des Verzerrers vermerkt: Er wird etwa beim Echo des zweiten Schreis aus Zeile 53 verwendet. Diese Hilfsmittel unterstützen Mouth in ihrer Aversion gegen das unerhört Subjektive und tragen zur Auffächerung der Ultima des Ich-Verneinungsrefrains („… SHE! …“) zu einem stark geräuschhal- tigen Klanggemisch bei. Wie in den Themenfeldern der Originale und falschen Zitate können einzelne Signale assoziative Interpolationen auslösen: So löst „… with the bag …“ in Zeile 72 die „live-scene“-spezifische Interpolation von „… always winter …“ aus (vgl. auch Zeile 121); auf gleiche Art ist der bekannte mu- sikalische Konnex der Textelemente „… sink face down in the grass …“ und „… all silent as the grave …“ in Zeile 113, 130 und 154 realisiert. Auch dieses Manuskript ist weniger Kompositionsplan als vielmehr Auffüh- rungshilfe. Es erlaubt, vorgefertigte Materialien in den monodischen Fluss ein- zufügen. Deren Umrisse sind genau notiert, nahmen vermutlich erst in dieser Quelle Gestalt an. Über die exakte Beschaffenheit ihrer elektronischen Verfor- mung hingegen ist, sieht man von der Festlegung der zu benutzenden Apparate einmal ab, wenig bis nichts zu erfahren. Die gewohnt ungünstige Quellenlage live-elektronischen Komponierens, dessen Vollzug sich selten in partiturähnli- chen Medien niederschlägt, betrifft auch Not I. Gleichwohl sind es genau diese Mittel, mit denen Holliger Textauslöschung als wesentlichen Impuls der Kom- 530 Heinz Holliger zitiert nach Kristina Ericson, Die Ich-Verneinung als musikalischer Pro- zess. Studien zu Heinz Holligers Monodrama „Not I“ nach Samuel Beckett, in: Schweizer Jahr- buch für Musikwissenschaft, Neue Folge, Bd. 13/14 (1993/94), S. 376.266 position ins Werk setzt. Die Interpolationen bündeln falsche Zitatspuren und bringen sie auf einen neuen Weg, der zurück zum stillen „Haupttext“ führt. Die über Lautsprecher vernehmbare, kontinuierliche Zersetzung der texttragenden Stimme ist die ultimative Spielart einer Schattenform, die verschiedene Abnut- zungsarten miteinander engführt. In einer „Pedalisierung“ der ebenso kontinu- ierlich wie kontrastlos ablaufenden spezifischen Werkgeschichte öffnet sich eine neue Perspektive: Der Webernsche Duktus der live-Monodie bildet nicht nur keinerlei konstruktive Beziehungen aus, sondern erscheint am Ende der Kompo- sition wie ein Fremdkörper innerhalb einer Scheinpolyphonie beschädigter Ton- bandwiedergaben, nicht unähnlich den Espressivo-Resten innerhalb der Klang- wüste des dritten Aktes von Holligers Come and Go. Das gestische Potential des „echten“ Sopranvortrags ist nun an seiner vielfachen Projektion nachhaltig verschlissen – ohne dass sich die ursprüngliche, „fast We- bern’sche Stimmbehandlung“ dadurch mit Erfolg bannen liesse: Denn die Stim- me singt weiter und weiter. Gleichzeitig ereignet sich ihre Destruktion in ausgie- biger Projektion ihrer selbst. Entscheidend ist, dass die erst nach und nach ins Hörfeld rückenden demolierten Tonbandwiedergaben Konsequenz und zugleich Ursache eines destruktiv resonierenden musikalischen Zeitgefüges darstellen; sie sind konzeptuell untrennbar mit der intendierten Unschärfe des Tonsatzes ver- bunden. „Intervallbeziehungen sind die tragenden Elemente der ganzen Konstruktion, aber so, das sie sich fast von selbst ad absurdum führen und wieder als falscher Schein entlarvt werden wie bei Come and Go.“531 Die Verschattung des Tonsatzes korrespondiert mit einer technischen Störung, die Variierung im rhythmischen und diastematischen Bereich mit einem unrund laufenden Tonband. Der Zielpunkt dieser Komposition entspricht dabei dem Endbild von Krapp’s Last Tape: „The tape runs on in silence.“532 Holligers Rückgriff auf eine antiquierte Technik, die Beckett einst in der Zu- kunft verortet sah533, geschah gewiss nicht unbewusst. Seine Vorliebe für einen technischen Standard, den Jacques Wildberger auch als „Steinzeitelektronik“534 charakterisierte, kommt in anderen Werken zum Ausdruck535: Seine einzige rei- ne Tonbandkomposition Introitus (1986) beruht auf der technischen Auslö- 531 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 221. 532 Krapp’s Last Tape, S. 63. 533 „A late evening in the future.“ (ebd., S. 55). 534 „Das linke Ohr“ – Michael Kunkel im Gespräch mit Jacques Wildberger; Riehen, 27. Sep- tember 2001, in: Jacques Wildberger, hrsg. von Michael Kunkel, Saarbrücken: Pfau 2002 (= fragmen 38), S. 38. 535 Gleichwohl hält Holliger nicht um jeden Preis an der alten Technologie fest. Die meisten dieser Stücke werden heute mittels digital organisierter Live-Elektronik erfolgreich aufgeführt; so Not I und Cardiophonie in der Zuger Aufführung vom 14. April 2002.267 schung gregorianischer Pfingstgesänge536; in den Fünf Stücken für Orgel und Tonband (1980) sowie in Turm-Musik (1984) werden partiturmässig festgehalte- ne Klangereignisse in magnetophonen Rückkopplungen zerstört – was am Ende des fünften Orgelstücks „Choral-Nachspiel“ auf Paul Celans Gedicht Blume be- zogen erscheint: „Hier habe ich versucht, einen blinden Klang zu komponie- ren.“537 Dieser „blinde Klang“ entspricht erstaunlich genau den allerletzten, durch starke Drosselung der Bandgeschwindkeit und Shatter-Effekte hervorge- rufenen kanonischen Zuckungen der Rückkopplungsschicht von Not I.538 Das ist bemerkenswert, weil Holliger das in Not I realisierte Konzept schon 1968 an Celans Gedicht Engführung ausgebildet hatte. Im Programmheft der Donau- eschinger Musiktage 1981 benennt Holliger Skizzen zum Werkprojekt Engfüh- rung zusammen mit Cardiophonie als „Vorarbeiten“ zu Not I – wobei die er- wähnten Skizzen nach Aussage des Komponisten niemals stoffliche Konkretion erfuhren, sondern Idee blieben.539 Vielleicht offenbart sich der ursprüngliche Bezug in der auffälligen Ähnlichkeit der „blinden Klänge“ zum Schluss der Kompositionen Not I und Fünf Stücke für Orgel. Eine Affinität von Holligers Modell zu Celans Vorstellung vom „Atemkristall“, zur Poetik einer aus anschiessenden Elementen sich konstituierenden Sprache liegt auf der Hand. Warum verwarf Holliger die Konzeption kanonischer Rück- kopplungsschichten in Hinblick auf Celan? Warum war es möglich, solches über Beckett ins Werk zu setzen? Es würde sich lohnen, diese Fragen einmal nach- drücklich zu stellen. 2.2.7. Ein anderer Vernehmer Das Herz hört nach F (Zeile 151) nicht mehr auf zu schlagen und führt Mouth ihrer unausweichlich subjektiven Bestimmung zu. Die Stimme verschwindet nicht einfach, sondern ist im Stimmdickicht eines sie selbst vervielfachenden Projektionsverfahrens, einer superlativen „dritten Person“, in Begleitung des Herztodesrhythmus untergegangen. Die Projektionen der Monodie haben sich 536 Vgl. Jürg Stenzl, Heinz Holligers Introitus für Tonband, in: Annette Landau (Hrsg.), Heinz Holliger, S. 126ff. 537 Heinz Holliger im Gespräch mit dem Autor anlässlich der Aufführung der Fünf Stücke für Orgel und Tonband durch Bernhard Haas am 23. August 2000 in Luzern; in dieser Kompo- sition zitiert Holliger folgende, in einen Vocoder gesprochene Verse: „[…] Dein Aug, so blind wie der Stein. // Wir waren / Hände, / wir schöpften die Finsternis leer, wir fanden / das Wort, das den Sommer heraufkam: / Blume // Blume – ein Blindenwort. […]“ (Paul Celan, Blume, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 164). 538 In „I am sitting in a room“ (1969), einer akustischen Versuchsanordnung zur Auslö- schung von Sprache mittels unablässigen Überspielens eines besprochenen Tonbands, kommt Alvin Lucier unter anderen ästhetischen Voraussetzungen zu einem ähnlichen Klangergebnis. 539 Heinz Holliger im Gespräch mit dem Autor, Basel, 28. April 2002.268 weit über die Spielgrenzen, die durch Klangcharakteristik und Ambitus (b-d2) des Soprans gesetzt waren, hinaus ausgeweitet. Mouths Gesang löste sich von ih- ren Lippen. Sie muss trotzdem weiter machen. Bald nach diesem Punkt hört das Spiel auf – ohne zu enden: „… pick it up …“. Not I liefert ein charakteristisches Beispiel für Holligers wenig histrionischen Zugang zum Musiktheater: Wichtiger als die effektvolle Umsetzung spektakulä- rer Librettistik erscheint es, musikalische Zeiträume von einer gegebenen Text- struktur ausgehend zu erschliessen. Im musikalischen Monodrama Not I liegt das dramatische Ereignis in einer sich räumlich und zeitlich aufspaltenden Pro- jektion, die die Textgestalt in der Fortschreibung ihrer eigenen Gesetze mehr als nur antastet. Die Auslöschung des Textes stellt sich nach seinen eigenen Massga- ben dar, dessen Worte Holliger in Schattenwürfen der Intervallik und der Rück- kopplungen aufschichtet. Ausgangspunkt war der Rückgriff auf eine konventio- nelle Syntax, deren Auslöschungskeim bereits in den ersten, scheinbar direkten dramatischen Gebärden einer sozusagen „vertonenden“ Komponierweise ent- halten ist. Holliger hat seine Position einmal als die eines „anderen Verneh- mers“540 beschrieben. In dieser Position verlängert er Becketts zur Stille neigen- de Asymptote, indem er den Text wie in einem zunehmend erblindenden Klangspiegel widerscheinen lässt. Im Vernehmen der Dichtung entwickelt Holliger eine „Ordnung, die Musik zwi- schen den Menschen und die Zeit setzt.“541 Wie für Bernd Alois Zimmermann ist für ihn Musik eine Kunstform, die „kraft höchster Organisation der Zeit“ diese selbst überwindet und in eine Ordnung bringt, „die den Anschein des Zeit- losen erhält. ‚Wirkliche Zeit‘ […] wird erst wirklich in der Musik durch die Ord- nung des Ablaufes der ‚scheinbaren‘ Zeit.“542 Über den Charakter einer adäquat artikulierten Form „wirklicher Zeit“ hatte der junge Beckett nach ausgiebiger Proust-Lektüre Auskunft gegeben: „Time is not recovered, it is obliterated.“543 Es ist entscheidend, dass Holligers neue Unform nach Beckett auf einen höchst einfachen Auslöschungsmodus zurückgeht: „Man hört’s fast gleich, aber nie genau gleich.“544 Es ist die bereits im Trio greifbare Idee von „Schattenformen“, die nun in alle Winkel der Komposition geworfen werden, ohne sich jemals restlos verflüchti- gen zu können. Dies entspricht keiner herkömmlichen Vorstellung von musika- lischer Architektur, sondern wäre viel eher als ein unablässiges Einzirkeln eines nicht mit sich selbst identischen Zeitgefüges zu beschreiben. Becketts Text löst 540 Aus dem Programmheft der Donaueschinger Musiktage 1981. 541 Bernd Alois Zimmermann, Intervall und Zeit, Mainz: Schott 1974, S. 14. 542 Ebd., S. 12. 543 Proust, S. 75. 544 Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 221.269 einen musikalischen Schreibstrom aus, der als grosses, reichlich verwickeltes „Exerzitium“ sich nur quantitativ von der Arbeit an den einzelnen Stücken des Scardanelli-Zyklus unterscheidet. Wie dort „ist der Komponist nur noch Auslö- ser halb- und ganzautomatischer Prozesse; als Schöpfer-Instanz des Kunstwerkes hat er sich fast gänzlich zurückgezogen“.545 Genau dazu dient das extrem aus- ufernde Schreiben in Schattenvarianten über Not I. Es kann von den ersten ge- sungenen Tönen bis zur äussersten technischen Klangdeformation konsequent durchgehalten werden, weil alle Schreibhandlungen auf ein und dasselbe Prinzip struktureller Verschattung beruhen. Diese durch Becketts Worte determinierte Methode ist die notwendige Voraussetzung für eine „Schreibautomatik“, die nicht als schöpferisches Mysterium verklärt werden soll, sondern sich ungemein objektiv ausnimmt: In der distinguierten „Aktionspartitur“ von Not I, die den Dispositionen der kanonischen Sommer-Chöre aus den Jahreszeiten auffällig äh- nelt, lässt sich jedes Detail auf ein regelhaftes System von Fast-Kongruenzen hin überprüfen. Der ausgesprochen performative Charakter dieses Komponierens ist offensichtlich. Die beschriebenen vier Schattenformphasen sind Grade des Übergangs auf dem verschlungenen Weg einer werkmässigen Selbstaufzehrung, die ihrer Struktur nach nicht an ein Ende gelangen kann, sondern aufhört, wenn das Endspiel sich über die Wahrnehmungsschwelle und die Bedingtheiten der Aufführungssitua- tion hinaus verflüchtigt. Das Vakuum ist gleichwohl im Stoff der Komposition eingeschlossen: Ähnlich wie bei Holligers Come and Go ereignet sich Wesentli- ches im leeren Raum zwischen den eigenzeitlich auseinanderdriftenden Schich- ten, in der Lücke des ähnlichkeitsstiftenden Differentials, in der Leerstelle, die den „Haupttext“ der Komposition darstellt. Not I kann als neue Apotheose der „Einbahnstrassen-Form“546 gelten, die über die konsequente Diskreditierung eines einstmals intakten Intervallsystems aber mit einer zentralen Kategorie im musikalischen Denken Pierre Boulez’ überein- stimmt: Jener des Spielen-lassens von Klangordnungen.547 Was passiert, wenn man „Schreibweise und Wahrnehmung“548 spielen lässt? „Wenn das Hauptbild sich in einer regelmässig oder unregelmässig pulsierenden Zeit entrollt und wenn das abgeleitete Bild oder die abgeleiteten Bilder in einer freien und unabhängigen, nicht oder anders pulsierenden Zeit ablaufen – andere Geschwindig- keit, andere Dauernverhältnisse –, wenn der Raum ein zusätzlicher Trennungsfaktor ist, haben wir es […] mit einem divergierenden Hören zu tun. Wir nehmen das gleiche Gesamtphänomen unter verschiedenen Koordinaten wahr.“549 545 Roman Brotbeck, Komponieren als Exerzitium, S. 31. 546 Pierre Boulez, Sprechen, Singen, Spielen, in: ders., Werkstatt-Texte, S. 140. 547 Vgl. Pierre Boulez, Automatismus und Entscheidung, in: ders., Leitlinien – Gedankengän- ge eines Komponisten, Kassel: Bärenreiter – Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 146. 548 Pierre Boulez, Zwischen Ordnung und Chaos, in: ebd., S. 428.270 Vom Phänomen her trifft all dies auf Holligers kanonisches „Spielen-lassen“ ei- ner Monodie im Schnellschreibverfahren ziemlich genau zu – „Man hört’s fast gleich, aber nie genau gleich.“550 Doch ein Hauptbild – ein Original – existiert nicht. Holligers Spiel dient nicht der zeitlichen Potenzierung oder strukturellen Anreicherung einer Grundstruktur, die „Arpeggien von Arpeggien von Arpeggi- en …“ schafft oder „von der direktesten und unzweifelhaftesten Realität bis zur beliebig manipulierten Illusion“551 führt. Die Realität von Not I ist nie unzwei- felhaft. Boulez lässt kalkulierte Aufstellungen von Elementen spielen, um neue Flugbahnen musikalischer Formung zu beschreiben; Holliger benutzt eine ver- gleichbare Technik, um eine unendliche Enge schreibend zu aspektieren. Ein de- struktiver musikalischer Expansionsmechanismus wird ins Werk gesetzt, um die Grenzen von Identität schreibend in Schwingung zu setzen und erfahrbar zu ma- chen.552 549 Ebd. 550 Heinz Holliger zitiert nach Dramatik. Ein Gespräch mit Thomas Meyer, S. 221. 551 Pierre Boulez, Zwischen Ordnung und Chaos, in: Leitlinien, S. 428. 552 Boulez’ zitierter Kommentar bezieht sich auf seine Komposition Répons (1981–84). Die Uraufführung der ersten Fassung ereignete sich 1981 bei den Donaueschinger Musiktagen, wo auch Holligers Not I auf dem Programm stand. Auf dem Festival wurde die genau gegensätzli- che Ausrichtung der gemeinsamen „spielen lassenden“ Grundhaltung registriert. Klaus Schwei- zer stellt die Haltungen von Boulez und Holliger ausdrücklich als gegensätzlich dar (siehe Do- naueschinger Musiktage – Antipoden Boulez/Holliger, in: Basler Zeitung, 21. Oktober 1981, S. 47); Schattenformen um eine elektronisch rückgekoppelte instrumentale Monodie entwik- kelte Boulez wenig später mit dem Klarinettenstück Dialogue de l’ombre double (1985), das sich als dialogisch konzipierte Raumkomposition von Holligers Raummonologen wiederum grundsätzlich unterscheidet.271 272 Teil IV Schluss273 … Kurtág ← Beckett → Holliger …? „In dieser Dissonanz von Mitteln und Gebrauch wird man schon vielleicht ein Geflüster der Endmusik oder des Allem zu Grunde liegenden Schweigens spüren können.“ (Samuel Beckett) György Kurtágs und Heinz Holligers Musiken über Samuel Beckett weisen, zu- mal in Hinblick auf paradoxe Elementarkonstellationen, gewisse Ähnlichkeiten auf: In op. 30 und Not I schreiben beide Komponisten eine Monodie mit vielen Stimmen; beide beantworten Becketts bizyklische Formen in Scheinreprisen; Ausgangspunkt der Entwicklungen sind palindromische Strukturen, die musika- lische Form entfaltet sich aus hermetischen Strukturkomplexen; Gesang kippt jeweils schon ganz zu Anfang um in Sprechvortrag; die Formdynamiken wirken zerstörerisch im Verschleiss einer weiblichen Stimme, die bis zum Ende der Stücke auf den untersten Tonraumgrund absinkt; op. 30a und Not I gründen auf textsemantisch verankerten Deklamationsarten, die destruktiven Variationsprin- zipien ausgesetzt sind; wie op. 30b entsteht Not I in der auskomponierten Re- lektüre der Beckett-Monodie; op. 30b und Come and Go können nur in Gang kommen, nachdem die Artikulationsenergie in Katastrophen-Ouvertüren voll- kommen erschöpft ist; zudem konzentrieren sich die letztgenannten Arbeiten auf Textübertragungen. Kurtág und Holliger überwinden den ehemals „avant- gardistischen“ Imperativ einer „Suspension des deklamatorischen Prinzips“553 und komponieren dezidiert sprachorientiert, um in einem Grenzbereich des Sprachlichen musikalische Erkundungen anzustellen: Dieser Bereich ist definiert durch die Literatur Samuel Becketts. Sobald man sich vom blossen Phänomen, vom Vergleich der Mittel löst, zeigen sich grundverschiedene Auffassungen. Der wesentliche Unterschied der Schreib- weisen von Kurtág und Holliger äussert sich gerade in Bezug auf die zentrale dramatische Kategorie der Gebärde: Kurtág betreibt eine enorme Ausweitung musikalischer Mittel, um die eine gültige monodische Geste zu finden; je mehr er sich darum bemüht, desto sicherer zeigt sie sich, vorerst, nicht. Aber sie wird auch nicht einfach in Auslassung imaginiert, sondern erscheint erst nach der kompositorischen Recherche: Kurtág lässt noch nach dem Zusammenbruch sei- ner Monodie deklamieren, ringt selbst der Asphyxie eine konkrete Gestalt ab in der Figur, die dem Verstummen und dem Abgang der Protagonistin im Epilog zu 553 Werner Klüppelholz, Sprache als Musik. Studien zur Vokalkomposition bei Karlheinz Stockhausen, Hans G Helms, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel und György Ligeti, Saarbrücken: Pfau 21995, S. 15.274 op. 30b nachgeordnet ist. Dagegen greift Holliger Beckett auf, um jede direkte Gestik, jedes eindeutige Zeichensystem aus seiner Musik konsequent zu verban- nen. Er versucht Mouths Stimme in einem unerbittlichen Formmechanismus der falschen Vervielfältigung auszulöschen. Sie singt trotzdem weiter. Holliger de- monstriert, dass die Topoi sich nicht ausmerzen lassen. Bei Kurtág und Holliger lassen sich grundverschiedene Auffassungen über ein in komponiertem Gesang sich äusserndes (Schöpfer-)Subjekt erkennen: Kurtágs dyslexischer Schreibimpuls wird in der musikalischen Inszenierung sprachlicher Vorsubjektivität von op. 30 zumal vor dem pathologischen Hintergrund der In- terpretin Ildikó Monyók evident; Holliger setzt eine Polyphoniemaschine in Gang, um die Spuren einer ihrer Subjektivität fliehen wollenden Protagonistin zu verwischen; die Voraussetzung zum Scheitern dieser Flucht liegt in der poten- tiellen Infinitivität eines „Kanongedächtnisses“, das über die chronometrische Werkdauer und die Möglichkeiten der Sängerin hinausgreift und die Auffüh- rungssituation entgrenzt. Kurtág sucht musikalische Zeit in eine gestische Monade einzuschliessen, auf dass sich musikalische Form in einer realen Einzelgestalt einlöse. Was er in op. 30 dabei auf ungewöhnlich radikale Weise vergegenwärtigt, ist Sprachschwäche in der Musik. Kurtág verfolgt die Identifikation des Subjekts mit seiner Äusse- rungsweise. In gewissem Sinn erreicht er das auch: Denn die „Weise“ gewährt ei- nen eindeutigen Rückschluss auf die Verfassung der sich Mitteilenden, die er in „Nacktheit“ („Meztelenséget!!!“554) zu zeigen bestrebt ist. Ein Repertoire an Äusserungstypen ist noch vorhanden. Der Standpunkt des Komponisten wird erfahrbar darin, inwiefern er nicht mehr in der Lage ist, auf es zurückzugreifen – wobei Kurtág sehr viel Energie aufbringt, die Virtualität dieser Lage sowohl fak- tisch als auch subjektiv aufzuladen. Holliger verfolgt in Not I ein anderes Prinzip: Er sucht den Hang zur Nicht- Identität seiner Protagonistin zu gestalten, indem er ausgehend von einer ehe- dem „intakten“ musikalischen Syntax eine vokale Inkontinenz veranstaltet und eine Monodie in Scheinpolyphonie ausstreut, auf dass sich der akute Gesang von seiner empirischen Bedingtheit, seiner körperlichen Konstitution, seiner Subjekt-Zeit möglichst entferne. Kurtágs Sängerin möchte singen, kann aber nicht. Holligers Sängerin könnte singen, sucht aber ihr Artikulationsvermögen und die verfügbare Idiomatik so gut es geht zu desavouieren. Dieser fundamen- tale Unterschied der Schreibmotivationen bei Kurtág und Holliger wird auch deutlich in ihren musikalischen Hölderlin-Lektüren: In den Monodien seiner Hölderlin-Gesänge op. 35 nähert sich Kurtág durchaus der Darstellung eines „Dichter-Sängers“, indem er Hölderlin qua Komposition als solchen inszeniert – und dadurch einen Weg findet, sich selbst in mimetischer Gebärde zu äussern. Holligers Interesse dagegen gilt der Negierung eines solchermassen bei sich selbst Seienden. Im Scardanelli-Zyklus entwirft er ein Kompendium von musika- 554 Skizzenbuch 45, SGyK.275 lischen Nicht-Identitäten, gibt als Partitur lediglich einen Aktionsplan vor; die Musik entsteht als „Übung“ über Scardanellis Texte, der die dichterisch impul- sierte „Verstummung“ vorgängig ist: Entsprechend wird mit direkten musikali- schen Ausdrucksweisen nur noch in Überdämpfung der Artikulationsweisen, mithin der Physis der Ausführenden operiert. Der Komponist äussert sich, in- dem er die gewohnten Äusserungsweisen mutwillig blockiert und ihnen dadurch eine neue Ausdrucksqualität abgewinnt. Anstelle einer beziehungsfältigen Vor- stellung von Form tritt die schematische Generierung der Abläufe vieler Stücke des Scardanelli-Zyklus. Kurtágs und Holligers Beckett-Musiken sind nicht Beckett-Interpretationen, die sich ihrem Gegenstand dienend unterordnen würden. Viel eher werden Becketts Texte kompositorisch instrumentalisiert. In den Instrumentalisierungen wird nicht allein Beckett zur Sprache gebracht. Becketts Texte verlieren in Kurtágs op. 30 und Holligers Not I jegliche Autonomie, indem sie zu neuen Kunstwer- ken vollkommen verwandelt erscheinen – wobei die Verwandlungen in diame- tral entgegengesetzte Richtungen zu führen scheinen. Keiner der beiden Kom- ponisten spekuliert schreibend über poetische Primärintentionen; es werden vielmehr Texte zerstört aus einem Impuls, der durch sie gegeben wurde. Hier liegt die entscheidende Diskrepanz zu dem, was gerne abschätzig als kon- ventionelle oder traditionelle Vertonung bezeichnet wird. Kurtág und Holliger überschreiten sie – nicht indem sie an Sprachlichkeit vorbeikomponieren oder sich der Illusion Beckettscher Stille schweigend hingeben würden, sondern in- dem sie die Problematik des Unworte-Vertonens jeweils forcieren: Kurtág lauscht Wortbedeutungen und eindeutigen Sinngefügen nach in einem Text, der fast keine mehr hat; Holliger übertreibt die Tour de force des dramatischen Vor- trags, indem er die Stimme vervielfacht und Wort-Ton-Bezüge wuchern lässt, bis sie in einer Hypertrophie des Sinns und des Klangs fast gänzlich untergehen. Kurtág und Holliger sehen sich angesichts von Becketts Texten zur Komposition von Gesang herausgefordert: Sie führen Becketts topici fallaci, seine dichterisch organisierten Fehlschlüsse auf ihre Art weiter. Sie beziehen sich dabei auf eine Tradition monodischer Deklamation, indem sie alte Töne nach Massgabe Becketts „falsch“ setzen. Beckett kommt nie zu Ende. Auch Kurtág und Holliger können nicht schweigen. Wenn die Stimme im Begriff ist, zu verstummen, fan- gen sie an zu singen – und sagen Dinge neu, von denen wir nicht wissen, was sie sind: „dire cela, sans savoir quoi“555 555 L’Innommable, S. 7.276 Anhang277 Deklamationstypen in György Kurtágs Siklós István tolmácsolásá- ban Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval (Samuel Beckett: mi is a szó) op. 30a Typus (1): Stockende Deklamation Merkmale: Kurze, durch lange Pausen abgesetzte Dauern (oft dé- taché artikuliert); pppp, ppp, pp, mp; wesentliches Textelement: „mi is a szó“; als grossformale Klammer und Auflösungspunkt lo- kaler Zusammenhänge wichtigstes gliederndes Mittel. Takte 1–8, 16–17, 24, 48–50, 56, 57, 70–73 Typus (2): Gebundene Deklamation Merkmale: Meist chromatisch abwärts führende, angebundene kurze Dauern oder Achtel; ppp, pp, p, mp, mf; agogisch flexibel; wesentliches Textelement: „hiábavaló“; konstruktiver Ansatz- punkt für die Ausformung melodischer Topoi und der Deklama- tionstypen (3), (6) und (8). Takte 9–10, 11, 13, 20, 51, 54–56 Typus (3): Verzweifelte Ausbrüche Merkmale: In Terzen und Sekunden fallende Achtel; f, ff, fff; ago- gisch flexibel; wesentliches Textelement: „hiábavaló“; maximale affektive Aktivität im Ausdruck übersteigerter Klage. Takte 11, 12, (18), (19), 25, 29–30, 36, (69) Typus (4): Tanz-Typus Merkmale: Weite Quint-, Tritonus- und Non-Intervallik auf ab- wechselnd langen und kurzen Dauern; pp, molto und più p; we- sentliches Textelement: „látni“. Takte 14, 21, 26, 33–34, 52–53, 57 Typus (5): Statische Zonen Merkmale: Repetitive Stagnation auf einer Tonhöhe (e, auch d und h); pppp, ppp, pp; wesentliches Textelement: „mi“; maximale affektive Passivität. Takte 15, 31–32, 37, 62–63, (69)278 Typus (6): Melodische Introspektion Merkmale: Diatonische oder pentatonische Linien auf meist lega- to, dolce gebundenen, langen und sehr langen Dauern; molto p, pp; wesentliche Textelemente: „hiábavaló“ (diatonisch) und „el- tűnő“ (pentatonisch); als aus Typus (2) ableitbare, „elaborierte“ Deklamationsart Zentrum des Prozesses melodischer Sprachfin- dung. Takte 22–23, 46, 61, 64–66 Typus (7): Mechanische Deklamation Merkmale: Regelmässige Staccato-Achtel auf Oktaven und Tritoni (meist g und cis); pp, p; wesentliches Textelement: „pillantani“. Takte 27–28, 58–59, (44), (47), 67, (68) Typus (8): Fragende Wendungen Merkmale: In Achteln aufsteigende Halbton-Kleinterz-Gruppe; ppppp, pppp, pp; wesentliches Textelement: „odébb odaát“; Um- kehrung von Typus (2). Takte 18, 41–42, (66) Die Quellen von György Kurtágs Samuel Beckett: What is the Word (Siklós István tolmácsolásában Beckett Sámuel üzeni Monyók Ildikóval) op. 30b lalalalala (Wenn nicht anders angegeben, sind die aufgelisteten Handschriften in der SGyK zugänglich.) A „Budapest-Verőce Reinschrift von op. 30a; schwarze Tinte, 10 Seiten 1990 III 13–15“ A1 undatiert A, mit nachträglichen Eintragungen (Bleistift für die In- strumentation von op. 30b auf Seite 1) B „10 VI 90 vokale und instrumentale Skizze für op. 30b (Takt aaa); 15 II 5 III 91“ blauer [10 VI 90] und schwarzer Kugelschreiber [5 III 91], 1 Seite B1 nach „18 VI 89“ vokale Skizze für op. 30b (Takt aaa) auf die Photokopie einer Skizze der ersten beiden Takte von The Carenza Jig für Viola sola, die auf den „18 VI 89“ datiert; Blei- stift, 1 Seite.279 C1 „Verőce, erste Reinschrift der unveröffentlichten Komposition 1990 XI 13“ Utolsó utáni beszélgetés Kovács Zsuzsával [nach einem letzten Gespräch mit Zsuzsa Kovács] für Violine [auch „voce bianca“] und Klavier; 2 Seiten; kein Ms vorhan- den, nur als Photokopie in C2 C2 undatiert Photokopie von C1 mit Eintragungen (blauer Kugel- schreiber) für die Instrumentation des Epilogo scenico von op. 30b und einer Skizze (schwarzer Kugelschrei- ber) für die Takte i, j und k des Epilogo scenico; 2 Seiten C3 „Verőce, zweite Reinschrift von Utolsó utáni beszélgetes Kovács 1990 XI 13“ Zsuzsával; schwarzer Kugelschreiber, 2 Seiten D1 „15 VII 91“ verworfener Partiturentwurf zu einem instrumentalen Prolog zu op. 30b „Samuel Beckett: What is the word … Sinfonia I“; schwarzer Kugelschreiber, 1 Seite D2 „17 VII [1991]“ Partiturentwurf zum Epilogo scenico von op. 30b „Sin- fonia (ultima) (epilogo) scenica“; verso von D1, schwar- zer Kugelschreiber, 1 Seite D3 undatiert Partiturentwurf zum Epilogo scenico von op. 30b auf ei- nem abgebrochenen Partiturentwurf zu op. 30b (Takt kk; schwarzer Kugelschreiber) aus dem Umfeld von G; blauer Kugelschreiber, 2 Seiten D4 „22 VII 91“ begonnener Partiturentwurf zum Epilogo scenico von op. 30b „Sinfonia (epilogo scenico)“, bricht nach der Bezeichnung „Vl Solo e sua voce (bianca[)]“ und der Tempobezeichnung Halbe = 24 ab; schwarzer Kugel- schreiber, 1 Seite E1 „19 VII [1991]“ Partiturentwurf für den Beginn von op. 30b (Takt a-e); blauer und schwarzer Kugelschreiber, 1 Seite E2 undatiert Partiturentwurf für den Beginn von op. 30b (Takt a); unten mit Klebeband befestigter Streifen mit dem Be- ginn von op. 30a (Takt 1–2); blauer Kugelschreiber, 1 Seite F1 „20 VII 91“ Skizzen zur Aufstellung von Instrumenten und Sängern; recto mit vokaler Skizze für op. 30b, Takt kk (Bleistift); schwarzer Kugelschreiber, 2 Seiten F2 „20 VII 91“ Skizze zur Aufstellung von Instrumenten und Sängern; schwarzer und blauer Kugelschreiber, 1 Seite F3 undatiert Skizze zur Aufstellung von Instrumenten und Sängern; schwarzer Kugelschreiber, 1 Seite280 F4 „22 VII [1991]“ Skizze zur Aufstellung von Instrumenten und Sängern; „28 VII 91“ blauer Kugelschreiber, 2 Seiten; Zusatz der Enddatie- rung mit Bleistift („ez az utolsó [das ist das endgültige] 28 VII 91“) G „Verőce, kompletter Partiturentwurf zu op. 30b auf je zwei mit 1991 VII 28“ Klebeband verbundenen, 24linigen Notenseiten; Blei- stift, blauer und schwarzer Kugelschreiber, 15 Seiten G1 „Verőce-Budapest, Partiturentwurf zum Epilogo scenico von op. 30b „Sin- 1991 VII 30“ fonia (epilogo scenico)“; schwarzer Kugelschreiber, 2 Seiten H „Verőce 1991. komplette Reinschrift von op. 30b von fremder Hand; julius 28.“ kein Ms vorhanden, Reproduktion als Partitur Z. 13 990 bei EMB; 44 Seiten Die Quellen von Heinz Holligers Not I (Alle aufgelisteten Handschriften sind in der SHH zugänglich.) A undatiert Skizze; Bleistift, 1 Seite B „La Punt-Chamues-ch Partiturentwurf; Bleistift, 16 Seiten (20.)-29. Juli 1978“ C1 „La Punt-Chamues-ch Reinschrift; Bleistift, 21 Seiten; Reproduktion als (20.)-29. Juli 1978“ Ausgabe bei Schott C2 nach „29. Juli 1978“ Photokopie von C1 mit zahlreichen hss. Eintragun- [1980?] gen (Bleistift, rote Tusche) als Korrekturen und zur Ausführung der Tonbandrückkopplung; 21 Seiten D undatiert [1980?] Skizzen, Formplan zur Ausführung der Tonban- drückkopplung; Bleistift, 2 Seiten, 2. Seite auf ver- kleinerte Photokopie von C2, S. „12“ [S. 13].281 Bibliographie Diese Bibliographie gibt keinen vollständigen Überblick über die Literatur zu den berührten Forschungsgebieten, sondern orientiert über die wesentlichen Quellen zur vorliegenden Studie. 1. Siglen PSS Paul Sacher Stiftung Basel SGyK Sammlung György Kurtág, Paul Sacher Stiftung Basel SHH Sammlung Heinz Holliger, Paul Sacher Stiftung Basel Zeitschriften-, Zeitungstitel, Periodika, Lexika, Verlage werden vollständig oder durch die ge- bräuchlichen Kürzel angegeben. 2. Zitierte Werke und Werksammlungen Samuel Becketts Englisch Assumption, in: The Complete Short Prose 1929–1989, ed. by Stanley E. Gontarski, New York: Grove 1995, S. 3ff. Breath, in: Collected Shorter Plays, New York: Grove 1984, S. 209ff. Come and Go, in: Collected Shorter Plays, New York: Grove 1984, S. 191ff. Collected Poems in English & French, New York: Grove 1977. Company, London: Calder 1996. Dante … Bruno . Vico .. Joyce, in: Disjecta – Miscellaneous Writings and a Dramatic Fragment, ed. by Ruby Cohn, New York: Grove Press 1984, S. 19ff. Disjecta – Miscellaneous Writings and a Dramatic Fragment, ed. by Ruby Cohn, New York: Grove Press 1984. 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What Where, in: Collected Shorter Plays, New York: Grove 1984, S. 307ff.282 Französisch En attendant Godot, Paris: Minuit 1952. L’Innommable, Paris: Minuit 1953. Mal vu mal dit, Paris: Minuit 1981. Molloy, Paris: Minuit 1970. Nouvelles, Paris: Minuit 1987. Poèmes suivi de mirlitonnades, Paris: Minuit 21992. Pour finir encore et autres foirades, Paris: Minuit 1976. Têtes-mortes, Paris: Minuit 1972. Deutsch Erzählungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. Szenen, Prosa, Verse, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. Theaterstücke, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. Mehrsprachige Ausgaben Endspiel – Fin de partie – Endgame, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. Flötentöne, (Französisch/Deutsch) Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. Glückliche Tage – Happy Days – Oh les beaux jours, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. Stirrings Still – Immer noch nicht mehr – Soubresauts, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. Warten auf Godot – En attendant Godot – Waiting for Godot, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971. 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