Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW Hochschule für Soziale Arbeit HSA Masterstudium in Sozialer Arbeit Schwerpunkt Soziale Innovation Olten Subjektive Lebensqualität in der Evaluationsforschung der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit Eine qualitative Untersuchung der dynamischen Anteile quantitativ gemessener Lebensqualitätsverläufe Masterthesis von Nadja Hess Matrikelnummer: 09-461-922 Eingereicht bei Prof. Dr. Peter Sommerfeld Olten, im Januar 2020 Abstract Die vorliegende Arbeit zeigt das Potential und die Risiken von Subjektiven Lebensqualitätsmessungen als Outcome-Kriterium für die Evaluationsforschung in der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit auf. Mit Bezug auf die in der Lebensqualitätsforschung geführten Debatten zu Response Shift und zur Wohlbefinden-Homöostase wird anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse untersucht, inwiefern intraindividuelle Anpassungsprozesse quantitativ erhobene Lebensqualitätsverläufe beeinflussen. Die Ergebnisse betonen die Wichtigkeit der theoretischen Reflexion sowohl bei der Wahl der Lebensqualitätsinstrumente als auch bei der Interpretation der Lebensqualitätsverläufe. Es wird aufgezeigt, dass ein quantitativer Lebensqualitätsverlauf erheblich von dem sich verändernden subjektiven Bewertungsmassstab beeinflusst wird und ein Ausdruck der individuellen Lebensbewältigung darstellt. Zudem wird dargelegt, dass anhand des subjektiven Lebensqualitätsverlaufs keine eindeutige Aussage darüber gemacht werden kann, ob eine positive oder negative Entwicklung im Sinne einer gelingenderen Lebensführung stattgefunden hat. Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 1 1.1 Ausgangslage und Relevanz für die Soziale Arbeit 1 1.1.1 Herausforderungen in der Evaluationsforschung der Sozialen Arbeit 2 1.1.2 Subjektive Lebensqualität als Outcome-Kriterium 3 1.2 Ziel und Fragestellung 5 1.3 Methodisches Vorgehen 6 1.4 Aufbau der Arbeit 7 2 Interdisziplinäre Lebensqualitätsforschung 7 2.1 Entstehung der Lebensqualitätsforschung 8 2.2 Lebensqualitätsansätze 9 3 Lebensqualität als Zielperspektive in der Sozialen Arbeit 13 3.1 Integration und Lebensführung 13 3.2 Bedürfnistheorie nach Obrecht 16 3.2.1 Grawes Konsistenztheorie 17 3.2.2 Wohlbefinden und Soziale Gerechtigkeit 18 3.3 Capabilities Approach 19 3.4 Schlussfolgerungen für die Konzeption von Lebensqualität 21 4 Lebensqualität als Outcome-Kriterium im Gesundheitswesen 22 4.1 Seiqol-DW – Eine individuumszentrierte Operationalisierung 23 4.2 Empirische Befunde subjektiver Lebensqualität 24 5 Komplexität der Interpretation von Lebensqualitätsverläufen 26 5.1 Subjektive Lebensqualität im Längsschnitt 26 5.2 Response Shift Theorie 28 5.2.1 Coping als Mechanismus von Response Shift 32 5.2.2 Umgang mit Response Shift und Forschungsbedarf 33 5.3 Wohlbefindens-Homöostase 35 5.3.1 Externe und interne Puffer 38 5.3.2 Chronische Belastung und Soziale Dienstleistungen 39 5.4 Schlussfolgerungen für den empirischen Teil 40 6 Empirischer Teil- Datenanalyse 42 6.1 Datengrundlage: ALIMEnt- Studie 42 6.1.1 Datenerhebungsmethoden 43 6.1.2 Daten-Sample und Sorting 44 6.2 Methodisches Vorgehen 45 6.2.1 Triangulatives Vorgehen 45 6.2.2 Inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse 47 6.2.3 Reflexion des methodischen Vorgehens 50 7 Darstellung der Untersuchungsergebnisse 51 7.1 Ergebnisse zu Response Shift 51 7.1.1 Repriorisierungsmuster 52 7.1.2 Response Shift als bewertungsorientiertes Coping 57 7.1.3 Hohe Lebensqualitätswerte durch Vermeidungsverhalten 61 7.1.4 Tiefe Lebensqualitätswerte durch Annäherungsverhalten 66 7.1.5 Einfluss der sozialarbeiterischen Intervention 67 7.1.6 Zusammenfassung der Ergebnisse zu Response-Shift 70 7.2 Ergebnisse zur Wohlbefindens-Homöostase 71 7.2.1 Hohe Lebensqualitätswerte und ihre Stabilität 72 7.2.2 Tiefe Lebensqualitätswerte und ihr Steigerungspotential 75 8 Diskussion der Ergebnisse 77 9 Fazit und Ausblick 83 10 Quellenverzeichnis 85 11 Anhang 91 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildung 1: Lebensführungssystem und zirkuläre Kausalität (Sommerfeld et al 2011: 287)15 Abbildung 2: "Theoretisches Model von Response Shift und Lebensqualität (QOL) (In: Sprangers/Schwartz 1999: 1509) 31 Abbildung 3: Theoretisches Modell der Bewertungs- und Copingprozesse nach Folkman und Greer (2002) (zit. nach Jellite 2010: 65) 33 Abbildung 4: Homöostatische Kontrolle über das Subjektive Wohlbefinden (Cummins et al 2012: 84) 37 Abbildung 5: Role of caregivers nach Cummins (2005: 234) 40 Abbildung 6: Triangulatives Vorgehen (Eigene Darstellung) 46 Abbildung 7: Ablaufschema einer Inhaltsanalyse (Kuckartz 2016: 100) 48 Abbildung 8: Verlaufskurve Lebensbereich 3 KR02 (Eigene Darstellung) 53 Abbildung 9: Verlaufskurven Seiqol Lebensbereich KB03 (Eigene Darstellung) 55 Abbildung 10: Säulendiagramm Seiqol KB03 55 Abbildung 11: Verlaufskurven Seiqol Lebensbereich 1 KR02 (Eigene Darstellung) 57 Abbildung 12: Verlaufskurve Seiqol Lebensbereich 1 KB06 (Eigene Darstellung) 58 Abbildung 13: Verlaufskurven Seiqol Lebensbereich 4 KB04 (Eigene Darstellung) 63 Abbildung 14: Verlaufskurven Oxcap und Seiqol KB06 (Eigene Darstellung) 67 Abbildung 15: Verlaufskurven Seiqol Lebensbereich 2 KB08 (Eigene Darstellung) 69 Abbildung 16: Seiqol-Verlaufskurven (Eigene Darstellung) 72 Abbildung 17: Verlaufskurven Seiqol und Oxcap KR07 (Eigene Darstellung) 75 _________________________________________________________________ Tabelle 1: Lebensqualitätstypen nach Zapf (in: Zapf 1984: 25) 12 Tabelle 2: Forschungsfragen (Eigene Darstellung) 47 Tabelle 3: Vorläufiges Kategoriensystem (Eigene Darstellung) 48 Tabelle 4: Ankerbeispiel (Eigene Darstellung) 49 1 Einleitung “Men are disturbed not by things, but the views they take of them”. (Epictetus) Die Art und Weise, wie wir die Welt um uns erleben, ist geprägt durch unsere Wahrnehmung und durch unsere Bewertungen. Was für uns ein gutes Leben ist und wie zufrieden wir mit unserem Leben sind, hängt von unseren Wertvorstellungen und Erwartungen ab. Das unterscheidet sich nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern kann sich auch im Verlauf des Lebens verändern. Was bedeutet für wen, in welcher Situation ein gutes Leben? Wenn es das Ziel der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit ist, eine gute Lebensqualität herzustellen, ist es wichtig, zu wissen, was für die Klientin oder den Klienten ein gutes Leben ausmacht und ob die professionellen Interventionen zu einem solchen guten Leben beitragen. Um die Wirkungen von professionellen Interventionen auf die individuellen Entwicklungsverläufe nachzuvollziehen, bietet es sich für die Evaluationsforschung der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit an, die Lebensqualität aus der Perspektive des Klientels zu messen. Es ist davon auszugehen, dass dadurch Aussagen über die Entwicklung und schlussendlich über die objektive Wirksamkeit von Interventionen abgeleitet werden können. Dabei ist jedoch zu beachten, dass eine eindeutige Interpretation von subjektiven Lebensqualitätsverläufen durch den sogenannten «Response Shift» erschwert wird. Hiermit wird die Fähigkeit des Menschen bezeichnet, seine Sicht auf seine Lebensqualität im zeitlichen Verlauf anzupassen. Diese Problematik steht im Fokus der vorliegenden Masterarbeit. In diesem Kapitel wird das Thema genauer verortet und die Relevanz seiner Bearbeitung aufgezeigt. Anschliessend wird die Fragestellung eingegrenzt und das methodische Vorgehen sowie der Aufbau der Arbeit dargelegt. 1.1 Ausgangslage und Relevanz für die Soziale Arbeit Die vorliegende Masterarbeit verortet sich mit ihrem Thema in der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit. Von gesundheitsbezogener Sozialen Arbeit spricht man dann, wenn Gesundheit und Krankheit zum Schwerpunkt sozialberuflicher Tätigkeit werden (vgl. Franzkowiak 2014: 117). Dies umfasst sowohl die klinische Sozialarbeit, welche als behandelnde oder im Behandlungskontext stehende Soziale Arbeit definiert werden kann, als auch andere Tätigkeitsfelder der Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen (vgl. ebd.: 122). Sommerfeld definiert ihre Zuständigkeit in der spezialisierten Bearbeitung der sozialen Dimension des bio-psycho-sozialen Krankheits- respektive Gesundheitsgeschehens. Im Fokus steht die Förderung einer möglichst vollständigen Teilhabe erkrankter Menschen an der 1 Gesellschaft. Zu diesem Zweck wird der Mensch in der durch die Krankheit herausgeforderten Lebensbewältigung unterstützt und begleitet. Dabei leistet die Soziale Arbeit einen Beitrag dazu, dass die Erkrankung nicht zu einer zusätzlichen Belastung durch (weitere) soziale Problematiken führt, sondern dass die Funktionalität des Lebensführungssystems erhalten bleibt. Dies tut sie, in dem sie Potenziale des Lebensführungssystems aktiviert und erschliesst, wodurch eine möglichst gute Bewältigung der Krankheit und eine möglichst vollständige Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben ermöglicht wird. Eine behandelnde Funktion übernimmt die Soziale Arbeit insbesondere dann, wenn das Lebensführungssystem des erkrankten Menschen bereits vor der Erkrankung durch Mangel oder ungünstige Formen der Integration gekennzeichnet ist und sich die soziale Dimension als einen ursächlichen Faktor für das Auftreten der Krankheit zeigt (vgl. Sommerfeld 2019: 28–39). Die Wirkungen der Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen sind zurzeit noch kaum erforscht, obwohl ca. 20% der ausgebildeten Sozialarbeitenden im Gesundheitswesen tätig sind (vgl. Süsstrunk/Solèr/Hüttemann 2016: 16). Hingegen wurde bereits in zahlreichen Studien nachgewiesen, dass der Einfluss von sozialen Beziehungen, das heisst, wie Individuen untereinander verbunden und in die Gemeinschaft eingebettet sind, auf die Gesundheit und Langlebigkeit enorm ist (vgl. Berkman/Krishna 2014: 235). Es ist deswegen wichtig, dass die soziale Dimension von Gesundheit auch sozialpolitisch an Bedeutung gewinnt und durch die Soziale Arbeit professionell bearbeitet werden kann. Damit die Soziale Arbeit das biomedizinische Paradigma des Gesundheitswesens um die psychosoziale Perspektive professionell erweitern kann und zwischen den starken Professionen des Gesundheitswesens eine gleichwertige Position einnehmen kann, ist eine konsolidierte Wissensbasis unumgänglich. Für die Soziale Arbeit bedeutet dies, ihre Wissensgrundlage zu erweitern. Dies soll zum einen der wissenschaftlichen Weiterentwicklung des Fachs und im Sinne anwendungsorientierter Forschung der Weiterentwicklung der Praxis dienen. In Zeiten des Kostendrucks im Gesundheitswesen kann die Erweiterung der Wissensgrundlage zudem einen Beitrag dazu leisten, dass Leistungen der Sozialen Arbeit intern gesteuert und extern nachgewiesen werden können sowie die Qualitätssicherung und Kosten-Nutzen-Analysen gefördert werden (vgl. Süsstrunk et al. 2016: 26). 1.1.1 Herausforderungen in der Evaluationsforschung der Sozialen Arbeit Durch die Komplexität des Gegenstandes der Sozialen Arbeit ist die Wirkungsforschung vor besondere Herausforderungen gestellt. Aufgrund der ethisch limitierten Möglichkeit Kontrollgruppen zu bilden sowie der Kontextabhängigkeit und der Schwierigkeit der Kontrolle weiterer Einflüsse sind experimentelle oder quasi-experimentelle Forschungsdesigns 2 ungeeignet (vgl. Hüttemann et al. 2017: 4, Otto/Polutta/Ziegler 2010: 17–21). Hingegen erweist sich der Ansatz der «Realistic Evaluation», zu Deutsch «realistischer Ansatz», als vielversprechend (Pawson/Tilley 1997). Im realistischen Ansatz geht es darum, Daten über Kontexte, Mechanismen und Outcomes zu verknüpfen und so komplexe Interventionen und Interventionsbedingungen zu beschreiben und zu analysieren. Das Ziel ist es, zu erklären, wie Ergebnisse zu Stande kommen und so Wirkungen zu identifizieren. Für die klinische Soziale Arbeit liegen derzeit noch keine realistischen Studien vor. Die zurzeit laufende ALIMEnt-Studie zielt darauf ab, diese Lücke zu schliessen (vgl. Hüttemann et al. 2017: 4). Das Akronym steht für Akteure, die in aufeinander bezogenen Lebenswelt- und Interventionskontexten (gesundheitlich bedingte) Probleme der Lebensführung bearbeiten, sowie für Mechanismen, die in Verbindung mit den anderen Komponenten Entwicklungsverläufe erklären (vgl. ebd.: 5–6). Als Outcome werden Entwicklungsverläufe fokussiert, welche Ergebnisse längsschnittlicher Beobachtungen darstellen. Die Entwicklungsverläufe werden über das mehrmalige Messen der subjektiven Lebensqualität der Klienten und Klientinnen erfasst. Diese Daten bilden die Grundlage der in dieser Masterarbeit durchgeführten Sekundäranalyse (vgl. 6.1). 1.1.2 Subjektive Lebensqualität als Outcome-Kriterium Subjektive Lebensqualität stellt im Gesundheitswesen ein anerkanntes und viel verwendetes Outcome-Kriterium dar (vgl. Kapitel 4) und scheint in Anbetracht der hiesigen Gesundheitspolitik weiter an Bedeutung zu gewinnen (vgl. Martin 2016: 5). So ist die «Sicherung der Lebensqualität» eines der vier vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) formulierten Handlungsfelder in der Gesundheitsstrategie 2020 (vgl. BAG 2013: 7). Die Verwendung von Lebensqualitätsinstrumenten scheint noch wenig verbreitet in der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit. Für die stationäre Suchthilfe entwickelten Bayer- Oglesby und Schmid im Rahmen eines Pilotprojekts ein Messinstrument, um die Veränderung von Lebensqualität zu erfassen (Bayer-Oglesby/Schmid 2014). In der Behindertenhilfe hat sich das Messen von Lebensqualität bereits mehr etabliert (vgl. Schäfers 2008: 60, Oberholzer 2013). Aufgrund ihres Gegenstandes bietet sich das Messen von Lebensqualität durchaus für die Evaluationsforschung in der Sozialen Arbeit an (vgl. Kapitel 3). Schliesslich ist für die Soziale Arbeit die Verbesserung der Lebensqualität ein wesentliches Ziel. So wurde beispielsweise an der Konferenz der Social Worker 1979 in Chicago formuliert: «Ziel der Sozialen Arbeit ist es, eine gegenseitig befriedigende Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft zu fördern oder wiederherzustellen, um Lebensqualität zu verbessern.» (Lowy 1983, zit. nach Miller 2012: 35) 3 Auch Blom und Morén argumentieren dahingehend, dass die Soziale Arbeit primär auf den Erhalt einer guten Lebensqualität ihres Klientels ausgerichtet ist oder um die ungenügende Lebensqualität, von welcher sozial benachteiligte Personen oftmals betroffen sind, zu verbessern. Dieser normative Standpunkt fordere jedoch auch, dass Lebensqualität in der Evaluation der Praxis der Sozialen Arbeit als wichtigen Aspekt von Outcome fokussiert wird, wobei die Perspektive des Klientels wichtig sei. Zum einen aus ethischen Begründungen, zum andern aus methodischen Gründen, da die Erfahrungen der Klienten, eine wichtige Wissensbasis darstelle (vgl. Blom/Morén 2012: 72). Mit Outcome sind in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Blom und Morén Ergebnisse auf der Ebene der Lebenssituationen des Klientels gemeint: "Outputs are the actual achievements of the organization through various interventions, while outcomes refer to the impact of the interventions on the client's life situation." (Blom/Morén 2019: 87) Mit dem Hinweis auf die Komplexität des Gegenstandes betonen die beiden, dass der Outcome in der Sozialen Arbeit immer unter dem zeitlichen Aspekt, also als Prozesse betrachtet werden müssen (vgl. Blom/Morén 2012: 77–80, vgl. Blom/Morén 2019: 101–102). Dieser Argumentation folgend bietet sich für realistische Evaluationsstudien in der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit ein Längsschnittdesign an, welches als Outcome- Kriterium Subjektive Lebensqualität über einen längeren Zeitraum misst und somit einen Entwicklungsverlauf als dynamischen Prozess aufzuzeigen vermag. Ein Blick in die langjährige, interdisziplinäre Lebensqualitätsforschung zeigt, dass das Messen von Lebensqualität ein komplexes Unterfangen darstellt. Es werden unterschiedliche Positionen bezüglich der Konzeptualisierung und Operationalisierung von Lebensqualität in den verschiedenen Disziplinen eingenommen. Um mittels Lebensqualitätsmessungen Schlüsse über die Wirkung von Interventionen im Zusammenspiel mit anderen Einflussfaktoren ziehen zu können, müssen die Lebensqualitätswerte und deren Veränderungen im Zeitverlauf interpretiert werden können. In der quantitativen Forschung wird diese Frage unter dem Aspekt der klinischen gegenüber der statistischen Signifikanz reflektiert. Auch wenn ein statistisch signifikanter Unterschied gemessen wird, gilt es zu klären, welche Bedeutung dieser Unterschied für die Lebenssituation oder den Gesundheitszustand der Person hat (vgl. Bullinger 2014: 101). In diesem Zusammenhang stossen Forschende in unterschiedlichen Disziplinen immer wieder auf sogenannte paradoxe Ergebnisse. So berichten beispielsweise Menschen, bei welchen sich der Gesundheitszustand erheblich verschlechtert, über eine verbesserte Lebensqualität. Dazu bestehen unterschiedliche Erklärungen. Eine Theorie, welche an Bedeutung gewonnen 4 hat, ist die des Response Shifts. In dieser Theorie wird postuliert, dass subjektive Lebensqualität als Konzept kein stabiles Mass darstellt, sondern dass die subjektive Auffassung von Lebensqualität sowie die Beurteilungsmassstäbe sich im Verlauf der Zeit verändern können (vgl. Vanier et al. 2017: 2). Weitere Autorinnen und Autoren sind in ihrer theoretischen Aufarbeitung der vermeintlich paradoxen Forschungsergebnisse zum Schluss gekommen, dass das Erleben subjektiven Wohlbefindens homöostatischen1 Prozessen unterliegt, über welche Menschen ihre emotionale Stabilität unter dem Einfluss wechselnder Umweltbedingungen regulieren (vgl. Cummins et al. 2002; vgl. Angermeyer und Kilian 2006). Auf der einen Seite scheint das Messen von subjektiver Lebensqualität somit grosses Potential für die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit zu haben, auf der anderen Seite eröffnen sich methodische und inhaltliche Fragen, die es zu klären gilt. 1.2 Ziel und Fragestellung Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es zu explorieren, inwiefern sich Subjektive Lebensqualität als Outcome-Kriterium für die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit eignet. Dies soll anhand eines theoretischen und eines empirischen Teils erfolgen. In einem ersten theoretischen Teil soll geklärt werden, wie sich Lebensqualität für die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit konzeptualisieren lässt. Einerseits ist dabei der Einbezug wissenschaftlicher Literatur und Forschungsergebnisse aus der interdisziplinären Lebensqualitätsforschung von Bedeutung. Anderseits soll anhand der Theorien der Sozialen Arbeit hergeleitet werden, was unter einer guten Lebensqualität zu verstehen ist. Anschliessend stehen das Messen und Interpretieren von Subjektiver Lebensqualität im Längsschnitt und die damit verbundenen Herausforderungen im Fokus. Die Theorie des Response Shifts und die Theorie der Wohlbefindens-Homöostase sollen dabei genauer untersucht werden. Damit wird das Ziel verfolgt, methodisches und theoretisches Wissen aus der Lebensqualitätsforschung für die Verwendung in der Sozialen Arbeit zu erschliessen. Im zweiten Teil sollen die aus dem theoretischen Teil abgeleiteten Hypothesen und Forschungsfragen in einer Sekundäranalyse überprüft werden. Dies soll Aufschluss darüber geben, inwiefern intraindividuelle Anpassungsprozesse subjektive Lebensqualitätsmessungen beeinflussen und inwiefern dies 1 Mit Homöostase ist die Tendenz eines Organismus oder Systems gemeint, einen ausgeglichenen und konstanten inneren Zustand aufrechtzuerhalten. Beim Menschen wird der Blutzuckerspiegel oder die Körpertemperatur durch homöostatische Prozesse reguliert. Es ist ein für alle Lebewesen geltendes Prinzip, um das erreichte Gleichgewicht beispielweise gegenüber verändernden Lebensbedingungen zu erhalten bzw. wiederherzustellen (vgl. Stangl 2019). 5 für die Interpretation von Entwicklungsverläufen und die Evaluation von Interventionen von Bedeutung ist. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit sollen sowohl methodische als auch theoretische Erkenntnisse in Bezug auf subjektive Lebensqualitätsmessungen im Längsschnitt und dem damit verbundenen Phänomen des Response Shifts liefern. Daraus lässt sich die folgende Fragestellung ableiten: Inwiefern eignet sich subjektive Lebensqualität als Outcome-Kriterium für die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit vor dem Hintergrund der Debatten zu Response Shift und zur Wohlbefindens-Homöostase? Im nächsten Abschnitt wird das methodische Vorgehen genauer erläutert. 1.3 Methodisches Vorgehen Die Bearbeitung der Fragestellung erfolgte einerseits anhand einer ausführlichen Literaturrecherche der interdisziplinären Lebensqualitätsforschung und anderseits anhand einer Sekundäranalyse. Zur Aufarbeitung des Forschungsstandes und zur Vertiefung der Thematik wurden Literatur- Datenbanken wie Nebis, Psyndex, Web of Science, MEDLINE sowie Google-Scholar konsultiert. Aus den Erkenntnissen wurden Hypothesen und Forschungsfragen für die Sekundäranalyse abgeleitet. Datengrundlage für die Sekundäranalyse sind qualitative sowie quantitative Daten zum Entwicklungsverlauf der Klientinnen und Klienten aus der bereits erwähnten ALIMEnt- Studie (vgl. 6.1). Es handelt sich somit um ein triangulatives Vorgehen, in welchem quantitative Lebensqualitätsverläufe den qualitativen Daten gegenübergestellt und mit dem theoretischen Wissen verknüpft werden. Das methodische Vorgehen des empirischen Teils wird im Kapitel 6 weiter ausgeführt. Jedoch soll bereits an dieser Stelle erwähnt werden, dass es sich um ein exploratives, deskriptives Vorgehen auf der Ebene des Einzelverlaufs handelt und keine statistischen Berechnungen auf Individuums- oder Gruppenebene gemacht wurden. Für diese Masterarbeit wird das Vorgehen der Sekundäranalyse ausgewählt, um bereits erhobene Daten weiter ausschöpfen zu können. Sie soll dazu dienen, in der erweiterten Analyse ressourcenschonend und unter Anwendung anderer theoretischer Aspekte neue Erkenntnisse zu gewinnen. 6 1.4 Aufbau der Arbeit Das Kapitel 2 führt mit einem kurzen historischen Rückblick in die interdisziplinäre Lebensqualitätsforschung ein und klärt die wichtigsten Begriffe. Im Kapitel 3 erfolgt die theoretische Hinführung in das Thema Lebensqualität anhand von Theorien und Ansätzen der Sozialen Arbeit. Dazu dienen die Theorie «Integration und Lebensführung», Bedürfnistheorien und der Capabilities Approach. Anschliessend wird geklärt, wie Lebensqualität als Outcome- Kriterium operationalisiert werden kann. Weiter werden das Instrument «Seiqol» vorgestellt und damit erzielte empirische Befunde im Gesundheitswesen dargelegt (Kapitel 4). Das Kapitel 5 befasst sich mit Lebensqualitätsverläufen in der Evaluationsforschung und damit verbundenen Interpretationsschwierigkeiten. Es enthält Ausführungen über die Response Shift-Forschung und die Theorie der Wohlbefindens-Homöostase wird dargelegt. Anhand dieser theoretischen Grundlagen werden Forschungsfragen und Hypothesen für den empirischen Teil abgeleitet. Im Kapitel 6 folgt der empirische Teil. Dieser beginnt mit der Darstellung der Datengrundlage der Primärstudie ALIMEnt und der Beschreibung des Sampling und Sorting. Anschliessend wird das methodische Vorgehen genauer beschrieben und reflektiert. Die Ergebnisse der Untersuchung werden im Kapitel 7 dargelegt und interpretiert. In der anschliessenden Diskussion werden die Ergebnisse zusammengefasst und diskutiert, sowie die Fragestellung beantwortet (Kapitel 8). Die Arbeit schliesst mit einem Fazit und einem Ausblick im Kapitel 9. 2 Interdisziplinäre Lebensqualitätsforschung Begriffe wie Lebensqualität und Wohlbefinden sind in der Sozialen Arbeit geläufig. Jedoch hat sich die Soziale Arbeit bisher eher zurückhaltend an der akademischen Diskussion zu Lebensqualität und Wohlbefinden beteiligt (vgl. Spatscheck 2019: 41). Umso aktiver waren und sind Disziplinen wie die Soziologie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften und Gesundheitswissenschaften. Die Lebensqualitätsforschung hat sich in grossen Teilen unabhängig voneinander entwickelt. Es besteht in der wissenschaftlichen Literatur bis heute keine einheitliche Definition bezüglich des Begriffs der Lebensqualität (vgl. Daig/Lehmann 2007: 1, Kilian/Pukrop 2006: 316, Hofer 2006: 4, Spatscheck 2019: 42). Ebenfalls besteht Uneinigkeit in der begrifflichen Abgrenzung vom Begriff der Lebensqualität zu Konstrukten wie Wohlbefinden, Gesundheit, Lebenszufriedenheit und Glück (vgl. Daig/Lehmann 2007: 1). Um sich dem Thema der Lebensqualität zu nähern, wird deshalb in diesem Kapitel Einblick in die Forschung und Konzeptentwicklung unterschiedlicher Disziplinen gewährt. 7 2.1 Entstehung der Lebensqualitätsforschung Ihren Ursprung hat die interdisziplinäre Lebensqualitätsforschung in der Wohlfahrtsforschung und der Sozialindikatorenforschung. Der Begriff der Lebensqualität (quality of life) wird dem englischen Wohlfahrtsökonomen Arthur Cecil Piguo (1920) zugeschrieben, welcher damit die nicht ökonomischen Wohlfahrtsaspekte bezeichnete. Weiter verbreitet wurde das Lebensqualitätskonzept in den 60-er Jahren durch den Ökonomen Galbraight, welcher dem aus seiner Sicht sozial und ökologisch schädlichen Ziel des stetigen Wirtschaftswachstums, die Steigerung der Lebensqualität als gesellschaftliche Zielperspektive entgegensetzte. Durch seine Beratungstätigkeit beim damaligen amerikanischen Präsidenten Johnson fand der Begriff Einzug in die Politik und gewann an Popularität (vgl. Knecht 2010: 17, Kilian 2013: 171– 172). In den westlichen Industriegesellschaften entwickelte sich der Begriff der Lebensqualität zu einer komplexen, multidimensionalen Zielformel, welcher den fragwürdig gewordenen Wohlstandsbegriff ablöste. Damit einher ging die Befürwortung der Ausweitung gesellschaftspolitischer Verantwortlichkeiten im Sinne des Staatsinterventionismus und die Intention einer aktiven Mitgestaltung von gesamtgesellschaftlichen Prozessen (vgl. Noll 2000: 4–6, Knecht 2010: 18–20). Gleichzeitig entstand die Sozialindikatorenforschung, welcher als Antwort auf die mit dem Perspektivenwechsel verbundene erhöhte Informationsanforderung einer «active society» und aktiven Gesellschaftspolitik die Funktion zu kam, die neue Zielformel Lebensqualität zu operationalisieren und zu quantifizieren (vgl. Noll 2000: 6). In den darauffolgenden Jahren etablierte sich die offizielle Sozialberichterstattung, welche unter anderem auf internationaler Ebene von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und den Vereinten Nationen ausgebaut wurde mit dem Ziel, den Lebensstandard mittels unterschiedlicher, mehrdimensionaler Komponenten zu identifizieren (vgl. Knecht 2010: 21–22). Die Sozialberichterstattung hat sich auch in der Schweiz etabliert und weiterentwickelt. Das schweizerische Bundesamt für Statistik der Schweiz führt alle zwei Jahre eine Sozialberichterstattung durch. Der statistische Sozialbericht beschreibt die wichtigsten sozialen und wirtschaftlichen Tendenzen. Er enthält die Analyse der sozialen Sicherheit von Einzelpersonen und Bevölkerungsgruppen, die sozialen Risiken ausgesetzt sind (vgl. Bundesamt für Statistik 2019). Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive waren in Bezug auf die Vielzahl von unterschiedlichen Konzeptualisierungen und Operationalisierungen zwei theoretische Ansätze prägend für die Lebensqualitätsforschung, der schwedische Level of Living-approach und die amerikanische Quality-of-Life-Forschung. Diese werden in den nächsten zwei Unterkapiteln erläutert. 8 2.2 Lebensqualitätsansätze Im objektivistischen Ansatz, dem skandinavischen «level of living-approach» konstituiert sich Lebensqualität in einer optimalen Ressourcenausstattung, welche über objektive Indikatoren operationalisiert wird. Unter Ressourcen werden unter anderem Einkommen, Vermögen, Bildung, soziale Beziehungen und Sicherheitsaspekte verstanden, mit denen die Individuen ihre Lebensverhältnisse den Bedürfnissen entsprechend anpassen können. Aspekte der Lebensbedingungen, die nicht aktiv vom Individuum kontrolliert werden können, wie Gesundheit, Infrastrukturausstattung und die natürliche Umwelt werden als Determinanten bezeichnet. Handlungskontexte werden ebenfalls in den Blick genommen (vgl. Noll 2000: 8– 9). Dieser Ansatz lehnt die Erhebung von subjektiven Indikatoren wie die subjektive Zufriedenheit mit bestimmten Lebensumständen ab. Er geht davon aus, dass die subjektiven Angaben stark von der Bedürfnisstruktur und dem Erwartungsniveau der Person abhängen. Letzteres stehe wiederum im Zusammenhang mit vorangegangenen, subjektiven Lebenserfahrungen. Von Interesse seien stattdessen viel mehr Daten über aktuelle Bedingungen und das Abbilden solcher objektiven Indikatoren wie beispielsweise «Fähigkeit 100 Meter ohne Schwierigkeiten zu Gehen» oder «Verschiedene Symptome von Schmerzen und Krankheiten» (vgl. Knecht 2010: 24). In diesem Verständnis wird argumentiert, dass über objektive Indikatoren Aussagen über die Beschaffenheit eines Lebensraumes und davon abgeleitet, über die Befriedigung von Grundbedürfnissen gemacht werden können. Diesem objektivistischen Ansatz steht der subjektivistische Ansatz gegenüber (vgl. Hofer 2006: 4). Er entstand in der amerikanischen «Quality of Life»- Forschung und hat sich in der Sozialpsychologie und der «mental health»- Forschung entwickelt (vgl. Noll 2000: 9). Dieser Ansatz betont die subjektiven Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse und wird mit dem viel zitierten Satz von Campbell (1972, 442 zit. nach ebd.) auf den Punkt gebracht: «The quality of life must be in the eye of the beholder». Objektive Lebensbedingungen werden abhängig von Erwartungen, Einstellungen und Erfahrungen subjektiv unterschiedlich erfahren und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Lebensführung gewertet. Deswegen kann nach diesem Verständnis die Beurteilung der Lebensqualität nicht über die Erfassung von objektiven Indikatoren erfolgen. Mit der Betrachtungsweise, Lebensqualität müsse subjektiv beurteilt werden, wird das subjektive Wohlbefinden der einzelnen Individuen das zentrale Ziel und der zentrale Massstab, mit welchem die gesellschaftlichen Veränderungen zu bewerten sind. Demzufolge werden subjektiv messbare Indikatoren, wie Zufriedenheit und Glück, für die Bestimmung von 9 Lebensqualität bedeutsam. Diese subjektiven Indikatoren sind Ausdruck der Überzeugung, dass Lebensqualität durch immaterielle Komponenten bestimmt wird (vgl. ebd.). Subjektives Wohlbefinden ist zwar ein originär psychologisches Konzept, jedoch werden die Konzepte oftmals synonym mit Lebensqualität verwendet oder aber Lebensqualität wird über Aspekte des Wohlbefindens definiert. Ebenfalls werden in vielen Studien Wohlbefinden und Glück als synonyme Begriffe benutzt (vgl. Schumacher/Klaiberg/Brähler 2003: 4). Tay, Kuykendall und Diener zeigen auf, dass das Interesse in das Subjektive Wohlbefinden in den letzten Jahren stark angestiegen ist, weil man erkannte, dass herkömmliche ökonomische Indikatoren für Lebensqualität wie Einkommen und Erwerbstätigkeit nur begrenzt die subjektive Lebensqualität wiederspiegeln. Sie verstehen solche herkömmlichen Indikatoren als wichtige Prädiktoren und Glück bzw. Subjektives Wohlbefinden als direkten Indikator von Lebensqualität (vgl. Tay/Kuykendall/Diener 2015: 839). Forschungsaktivitäten in diesem Bereich konnten Faktoren, Aktivitäten und Charaktereigenschaften ermitteln, die ein subjektives Glücksempfinden begünstigen. So tragen beispielsweise die individuelle Wahrnehmung einer Bindung zu verlässlichen Bezugspersonen, sowie mitfühlende Beziehungen zu einem gesteigerten Wohlbefinden bei. Weitere Beispiele sind Aktivitäten der Achtsamkeit, aber auch die Erfahrung von Selbstachtung, Dankbarkeit und Optimismus (vgl. Spatscheck 2019: 43). Innerhalb der Glücks- und Wohlbefindensforschung gibt es unterschiedliche Ansätze. So fokussiert beispielsweise der hedonistische Ansatz auf herausragende Momente von Glück, Intensität, Freude und Lust und der eudaimonische2 Ansatz auf Kriterien wie Kompetenzen, Autonomie, Sinn und Ziele für die Definition der allgemeinen Lebenszufriedenheit (vgl. ebd.). Zwischen der objektivistischen und subjektivistischen Position entwickelte sich ein breites Spektrum an Lebensqualitätskonzepten, welche eine Mischform der beiden Ansätze darstellen. Zu nennen ist diesbezüglich das einflussreiche Lebensqualitätskonzept «Basic needs Approach» von Allardt (1993), in welchem Lebensqualität durch objektive und subjektive Indikatoren der Bedürfnisbefriedigung operationalisiert wurde (vgl. Noll 2000: 10). 2 Der Begriff eudaimonisch kommt aus der antiken griechischen Philosophie. Aristoteles beschrieb mit diesem Begriff das höchste Ziel einer guten, tugendhaften, gelingenden Lebensführung (vgl. Spatscheck 2019: 43). 10 In Deutschland war es Zapf, der die Lebensqualitätsforschung geprägt hat und sich dafür aussprach, dass Lebensqualität sowohl objektive als auch subjektive Komponenten beinhaltet. Er definiert Lebensqualität folgendermassen: «Unter Lebensqualität verstehen wir (…) gute Lebensbedingungen, die mit einem positiven subjektiven Wohlbefinden zusammengehen… Unter Lebensbedingungen verstehen wir (…) Einkommen, Wohnverhältnisse, Arbeitsbedingungen, Familienbeziehungen und soziale Kontakte, Gesundheit, soziale und politische Beteiligung. Unter subjektivem Wohlbefinden verstehen wir die von den Betroffenen selbst abgegeben Einschätzungen über spezifische Lebensbedingungen und über das Leben im Allgemeinen. Dazu gehören insbesondere Zufriedenheitsangaben, aber auch generelle kognitive und emotive Gehalte wie Hoffnungen und Ängste, Glück und Einsamkeit, Erwartungen und Ansprüche, Kompetenzen und Unsicherheiten, wahrgenommene Konflikte und Prioritäten.» (Glatzer/Zapf/Berger-Schmitt 1984: 23) Eine gute Lebensqualität setzt sich somit aus guten Lebensbedingungen und einem positiven subjektiven Wohlbefinden zusammen. Die Selbstbeurteilung enthält kognitive, aber auch gefühlsbezogene Komponenten und wird beeinflusst vom individuellen Aspirationsniveaus3. Paradoxe Ergebnisse m Zusammenhang mit der Kombination von objektiven und subjektiven Indikatoren stiess man in den 80- er Jahren auf paradoxe Ergebnisse. Zapf bezeichnet dies als ein «klassisches Erklärungsproblem». In seiner Gegenüberstellung von Objektiven Lebensbedingungen und Subjektivem Wohlbefinden wird deutlich, dass gute objektive Lebensbedingungen nicht unbedingt mit einem positiven subjektiven Wohlbefinden einhergehen müssen. Dieses Phänomen wird auch «Unzufriedenheitsdilemma» genannt. Die Kombination von schlechten Lebensbedingungen und gutem subjektivem Wohlbefinden bezeichnet er als Adaptation. Dies ist auch bekannt unter den Begriffen «Zufriedenheitsparadox» und «Wohlbefindensparadox». Im Hinblick auf das Verhältnis von objektiven Lebensbedingungen und subjektivem Wohlbefinden hat sich Zapf’s Unterscheidung in vier Wohlfahrtspositionen oder Lebensqualitätstypen etabliert (siehe Tabelle 1). 3 In Abgrenzung zur Definition von Zapf wird in der vorliegenden Arbeit für die Selbstbeurteilung der Lebenssituation das Begriffspaar Subjektive Lebensqualität verwendet. Damit wird die subjektive Einschätzung des Lebens gemeint. Unter Wohlbefinden wird in dieser Arbeit eine qualitative Aussage in Bezug auf eine ausgewogene Bedürfnisbefriedigung verstanden (vgl. Kapitel 3.2). 11 Objektive Subjektives Wohlbefinden Lebensbedingungen gut schlecht gut Well-Being Dissonanz schlecht Adaptation Deprivation Tabelle 1: Lebensqualitätstypen nach Zapf (in: Zapf 1984: 25) Personen, welche sich zu den Deprivierten und den Adaptierten zählen, stellen laut Zapf die traditionelle Zielgruppe der Sozialpolitik dar. Insbesondere die Adaptierten, welche sich mit ungünstigen Lebensbedingungen arrangiert haben und von Ohnmacht und gesellschaftlichem Rückzug betroffen sind, sind schwierig mit den üblichen sozialpolitischen Massnahmen zu erreichen (vgl. ebd.: 24–26). In den letzten Jahren sind in der Wohlfahrtsforschung neue für die Lebensqualität relevante Dimensionen und Konzepte dazugekommen4. Auch ist die Lebensqualitätsforschung in anderen Disziplinen gewachsen. Zu erwähnen sind hier Studien der Stadt- und Regionalplanung, der Geographie, der Gerontologie, der Behindertenhilfe und die des Gesundheitswesen (vgl. Knecht 2010: 27). Im Kapitel 4 wird ausführlicher auf die Lebensqualitätsforschung im Gesundheitswesen eingegangen, da sich die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit in diesem professionellen Kontext verortet. Die erfolgte Einführung in die Lebensqualitätsforschung zeigt, dass eine Vielzahl von Lebensqualitätsdefinitionen besteht und dass es eine Frage der Perspektive ist, wie das Konstrukt Lebensqualität verstanden wird. So müssen die jeweiligen Konzeptualisierungen und Operationalisierungen vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen betrachtet werden. Um der Frage nachzugehen, inwiefern sich Lebensqualität für die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit als Outcome-Kriterium eignet, sollen insbesondere theoretische Überlegungen dienen. So wird im nächsten Kapitel der Frage nachgegangen, wie Lebensqualität aus einer sozialarbeiterisch-spezifischen theoretischen Perspektive zu fassen ist. 4 Nicht abschliessend zu nennen, sind hier Konzepte wie die soziale Kohäsion, Human Development, Nachhaltige Entwicklung, Inklusion, Livability, Social Capital. Die neueren Wohlfahrtskonzepte fokussieren neben den auf materielle, individuelle Wohlfahrtserträge ausgerichteten Dimensionen, auf kollektive und ökologische Werte sowie auf Überlegungen, die die Generationengerechtigkeit miteinschliessen. Diese neuen Perspektiven stellen mit Konzepten wie Partizipation, Empowerment, sozialem Zusammenhalt und Gerechtigkeit Verteilungsfragen und integrative Aspekte der Gesellschaft in den Fokus (vgl. Noll 2000: 13–14). 12 3 Lebensqualität als Zielperspektive in der Sozialen Arbeit Für die Soziale Arbeit braucht es eine Konzeption von Lebensqualität, die das individuelle Empfinden und Vermögen des Individuums aber auch die gesellschaftlichen Bedingungen hinsichtlich der Ressourcenlage wechselseitig in den Blick zu nehmen vermag (vgl. Miller 2012: 62–63). Spatscheck teilt Millers Auffassung und begründet, dass Soziale Gerechtigkeit mit Lebensqualität und Wohlbefinden zusammengedacht werden muss, da sonst Individuen für ihr Wohlbefinden verantwortlich gemacht werden können und individualisierende Gesellschaftsmodelle gestärkt würden, was die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die soziale Teilhabe aller Menschen ausblenden würde (vgl. Spatscheck 2019: 53). In der Folge wird ausgeführt, wie der Gegenstand und das Ziel der Sozialen Arbeit gefasst werden und wie ein Verständnis von Lebensqualität geschaffen werden kann, das sowohl das individuelle Empfinden als auch die gesellschaftlichen Bedingungen einbezieht. Dies erfolgt unter Einbezug von verschiedenen theoretischen Ansätzen, insbesondere der Theorie «Integration und Lebensführung», der Bedürfnistheorie und des «Capabilities Approachs». 3.1 Integration und Lebensführung Wie in der Einleitung bereits dargelegt, befasst sich die (gesundheitsbezogene) Soziale Arbeit mit Individuen und ihren Lebensführungssystemen. Im theoretischen Verständnis von «Integration und Lebensführung» wird der Mensch als biopsychosoziales Wesen beziehungsweise als handelndes Subjekt gesehen, welches in verschiedene soziokulturelle Systeme eingebunden ist. Das Individuum mit seinen sozialen Systemen stellt das Lebensführungssystem dar. Wie Sommerfeld, Hollenstein und Calzafferi (2011: 53) ausführen, gestaltet der Mensch sein Leben indem er als biologisches und soziales Wesen ein Verhältnis zu sich und seiner Umwelt herstellt: «Die Akteure verhalten sich zum strukturierten sozialen Raum, indem sie sich in diesem sozialen Raum positionieren, ein Verhältnis zu ihm herstellen, indem sie die Wahrnehmung der Beschaffenheit des sozialen Raums und die Wahrnehmung ihrer subjektiven Situation darin mittels ihrer jeweiligen Deutungsmuster für sich selbst, aber in Abhängigkeit von der kulturellen Symbolwelt strukturieren, kodieren und bewerten. Mit anderen Worten: sie eignen sich den sozialen Raum durch ihr auf den sozialen Raum bezogenes Handeln an». In der Aneignung dieses sozialen Raumes nehmen Personen in der Interaktion mit anderen Akteuren eine bestimmte Position ein, wodurch eine bestimmte Art der Integration in das System (beispielsweise der Familie) erfolgt. Über die jeweilige Positionierung der Akteure zueinander entstehen prozesshaft, aufeinander abgestimmte Verhaltensmuster, aus welchen sich eine gewisse soziale Ordnung herstellt und reproduziert. Neben diesen Verhaltensmustern und Strategien entwickeln die Akteure innere psychische Strukturen und 13 sogenannte Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster, die das individuelle Fühlen, Denken und Handeln grundlegend prägen. Aus diesem Ordnungsbildungsprozess auf der Ebene des sozialen Systems kann unter Umständen eine optimale Bedürfnisbefriedigung für alle Akteure resultieren. Die konkret entwickelten Formen können für die Akteure jedoch auch höchst problematisch sein und als verletzende und pathogene Strukturen entgegentreten. In diesem Sinne kann die soziale Dimension als ein möglicher ursächlicher Faktor für das Auftreten einer Krankheit angesehen werden (vgl. Sommerfeld/Hollenstein/Calzaferri 2011: 124–126). Mitentscheidend dafür, wie die Individuen ihre Bedürfnisse befriedigen können, ist zudem wie ihre Lebensführungssysteme in die Gesellschaft integriert sind. Sommerfeld, Hollenstein und Calzafferi (2011: 306) zeigen auf, dass «im Zusammenhang mit der in die Gesellschaft integrierten menschlichen Lebensführung soziale, psychische und biologische Probleme des Individuums auftreten [können], die mit problematischen sozialen Situationen und Konstellationen in dessen Lebensführungssystems zusammenhängen, die im Grunde von den weitreichenden Interdependenzketten der Gesellschaft strukturiert werden.» Zudem entstehen Probleme für das Individuum dann, wenn es seine Bedürfnisse im Austauschverhältnis mit seiner Umwelt nicht ausreichend befriedigen kann (vgl. ebd.: 306). Das Lebensführungssystem und die zirkuläre Kausalität sind auf der Abbildung 1 dargestellt. In der Mitte ist das Individuum zu sehen, welches in unterschiedliche Systeme oder Lebensbereiche integriert ist und in der Interaktion sein Leben führt. 14 Familiensystem Private Sozial- Systeme Integrationsbedingungen und Lebensführung/ Beschäftigungssyst Bedürfnisbefriedigung em Familie Freunde Schattenwelten Soziale Prozesse Arbeit Drogen- Zirkuläre Kausalität mit... Schule szene Psychische Prozesse Hilfesysteme Kultur/Freizeit Kognitions-Emotions- Politik Verhaltensmuster Psychiatrie Vereine Zirkuläre Kausalität mit Biologische Prozesse Physiologische und neuro- physiologische Prozesse, u.a. biologische, bio- psychische und bio-soziale Bedürfnisse Abbildung 1: Lebensführungssystem und zirkuläre Kausalität (Sommerfeld et al 2011: 287) Der Gegenstand der Sozialen Arbeit ist nach diesem Verständnis das Individuum mit seinem Lebensführungssystem, welches in seiner Form problematisch für das Individuum geworden ist. Das Ziel der Sozialen Arbeit ist es, durch das Verändern der Formen der Integration und der damit zusammenhängenden Lebensführung Integrationsoptionen zu erhalten oder zu eröffnen, um Ausschlüsse aus der Gesellschaft zu vermeiden, respektive zu reduzieren. Es geht darum, durch das Schaffen von Möglichkeiten und die Bildung von Fähigkeiten, eine Lebensbewältigung unter den erschwerten Bedingungen zu ermöglichen, die weitgehend autonom und selbstbestimmt ist und in welcher die menschlichen Grundbedürfnisse befriedigt werden. Eine solche „gelingendere Lebensführung“ kann in Bezug auf die gesellschaftliche Teilhabe und auf das körperliche, psychische und soziale Wohlbefinden als „funktional gesund“ und aus der subjektiven Perspektive als „gutes Leben“ beurteilt werden (vgl. Sommerfeld et al. 2016: 178–179). Dies kann dem Ermöglichen einer guten Lebensqualität gleichgesetzt werden. Bevor vertieft auf die Integrationsbedingungen, also auf das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft eingegangen wird, wird anhand der Bedürfnistheorien nach Obrecht und Grawe dargelegt, wie Wohlbefinden mit der Bedürfnisbefriedigung zusammenhängt. 15 3.2 Bedürfnistheorie nach Obrecht Nach Obrecht (2005: 40) sind menschliche Bedürfnisse neuronale Prozesse im nichtplastischen Teil des Gehirns von Individuen, die bei allen Menschen vorhanden und somit universell sind. Bedürfnisse weisen auf eine Abweichung des bevorzugten Zustandes hin und sorgen dafür, dass der menschliche Organismus in einem für ihn gesunden, überlebensfähigen Zustand bleibt. Dadurch sind alle Menschen fortlaufend damit beschäftigt, Bedürfnisspannungen abzubauen und Bedürfnisse zu befriedigen. Ein drohender oder tatsächlicher defizitärer Zustand wird durch Affekte angezeigt. Diese emotionalen Bewertungen motivieren entsprechendes Verhalten, durch welches die Bedürfnisspannung gelöst und Wohlbefinden erzeugt wird. Eine hinreichende Befriedigung von Bedürfnissen resultiert in Wohlbefinden. Das sichtbare, bedürfnisbefriedigende Verhalten hängt von vorausgegangenen Lernprozessen ab. Es ist somit in sozialen Systemen erlernt worden, kulturell bedingt und veränderbar. Anstatt eines motorischen Verhaltens, welches zur Bedürfnisbefriedigung führt, kann jedoch auch eine innere Reaktion im Sinne einer Bedürfnisunterdrückung oder eines Bedürfnisaufschubs erfolgen. Bedürfnisse, ihre individuelle Priorisierung sowie die Massnahmen zu ihrer Befriedigung müssen somit getrennt voneinander betrachtet werden (vgl. Obrecht 2005: 40). Obrecht (2005: 43) unterscheidet zudem Bedürfnisse von Wünschen: « Während sich Bedürfnisse auf bevorzugte organismische Zustände beziehen (…) sind Wünsche in der Regel formuliert in Termini von äusseren Situationen, von denen sich das Individuum - bewusst oder nicht bewusst - die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse verspricht. Sie alle sind gelernt, während Bedürfnisse durch die Struktur der Organismen gegeben sind und sich auf deren Erhaltung und Konsolidierung beziehen.» Es ist somit wichtig zwischen Wünschen, die erlernt und formbar sind und Bedürfnissen, die ein organismischer Soll-Wert darstellen, zu unterscheiden. Obrecht (ebd.: 46) unterscheidet zudem zwischen den folgenden drei Arten von Bedürfnissen: - biologische Bedürfnisse, die der Selbsterhaltung des Organismus dienen - psychische Bedürfnisse, die durch das Nervensystem gesteuert sind und von bestimmten sensorischen Grundstimulationen abhängen - soziale Bedürfnisse, die sich auf die Beziehung des Organismus zu seiner sozialen Umwelt beziehen 16 Diese drei Arten von Bedürfnissen existieren nicht unabhängig voneinander, sondern setzen einander voraus.5 Die unterschiedlichen Bedürfnisse weisen eine unterschiedliche Elastizität auf. Das heisst, sie unterscheiden sich darin, wie lange eine Bedürfnisbefriedigung aufgeschoben werden kann und welche Folgen eine Nicht-Erfüllung haben kann6(vgl. ebd.: 48f). Durch eine langanhaltende Versagung der Bedürfnisbefriedigung, insbesondere auch psychischer und sozialer Bedürfnisse, steht der Organismus unter konstantem Stress, was zu einer Schädigung der psychischen und körperlichen Gesundheit und des Wohlbefindens führt (vgl. Grawe 2004: 185, Obrecht 2009: 28). Stress ist, so Obrecht (ebd.: 29) «eine unspezifische Antwort des Organismus auf alle Arten drohender oder faktischer schwerwiegender Bedürfnisversagung». Wenn sich ein Lebewesen einer Bedürfnisspannung bewusst ist und diese weder mit verfügbaren Verhaltensroutinen noch kognitiv zu reduzieren vermag, hat es ein praktisches Problem. Das erfolgreiche Lösen von praktischen Problemen aller Art gehört jedoch zum menschlichen Leben dazu und macht eine gelingende Lebensführung erst aus (vgl. ebd.: 48- 50). Wie bereits erwähnt, kann die Lösung praktischer Probleme und die Befriedigung der Bedürfnisse auf unterschiedliche Weise erfolgen. Menschen entwickeln in ihrem Sozialisationsprozess individuelle Präferenzen, Ziele, Mittel und Strategien, die der Bedürfnisbefriedigung dienen. Gelingt ihnen die Bedürfnisbefriedigung nicht in der gewünschten Weise, besteht die Möglichkeit, die Ziele und Präferenzordnung den gegebenen Umständen anzupassen, sprich das Anspruchsniveau zu verändern (vgl. Obrecht 2005: 62; 65). 3.2.1 Grawes Konsistenztheorie Um die unterschiedlichen Bewältigungsstrategien zu erläutern, eignet sich insbesondere Grawes Konsistenztheorie, welche hier in sehr verkürzter Form dargestellt wird. Der Begriff Konsistenz bezieht sich auf den Zustand des Organismus und meint die Übereinstimmung bzw. Vereinbarkeit der gleichzeitig ablaufenden neuronalen, psychischen Prozesse. Sie ist eine Anforderung oder Bedingung für eine gute Befriedigung der Grundbedürfnisse und für das menschliche Wohlergehen. Die Konsistenzregulation ist mit der 5 Der von Obrecht zusammengestellte Katalog biopsychosozialer Bedürfnisse ist im Anhang 1 zu finden. 6 So kann ein Mensch beispielsweise länger ohne menschlichen Kontakt sein, als er auf Flüssigkeit verzichten kann. 17 Bedürfnisbefriedigung über das Konstrukt der Kongruenz verbunden. Die Kongruenz ist die Übereinstimmung zwischen aktuellen motivationalen Zielen und realen Wahrnehmungen (vgl. Grawe 2004: 186). Grawe (2004: 188-192) unterscheidet zwei Arten motivationaler Schemata, das Annäherungsschemata zur Erzeugung von bedürfnisbefriedigenden Erfahrungen und das Vermeidungsschemata zum Schutz vor bedürfnisverletzenden Erfahrungen. Wächst ein Mensch in einer Umgebung auf, welche auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse ausgerichtet ist, so erwirbt er viele Erfahrungen mit der positiven Befriedigung und entwickelt überwiegend annähernde Schemata. Wächst der Mensch in einer Umgebung auf, die zu häufiger Versagung der Bedürfnisbefriedigung führt, eignet er sich vermeidendes Verhalten an, um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen. In der Interaktion mit der sozialen Umwelt sind in den meisten Situationen beide Formen von motivationalen Schemata aktiviert. Dominiert bei einer Person das vermeidende Verhalten, kann sie so zwar Bedürfnisverletzungen verhindern, jedoch erfolgt auch keine Bedürfnisbefriedigung. Vielmehr führen aktivierte Vermeidungsziele zu Anspannung und binden Energie, was pathologische Folgen haben kann. Diese Ausführungen verdeutlichen, dass der Mensch, in Abhängigkeit seiner Integrationsbedingungen, unterschiedliche Bewältigungsstrategien anwendet, um mit seinen Bedürfnissen umzugehen. Gewisse negative Formen der Bewältigung können sich dabei durchaus schädlich auf die Gesundheit und die Entwicklung einer Person auswirken. 3.2.2 Wohlbefinden und Soziale Gerechtigkeit Anspruchsniveaus, Präferenzen, Ziele und Bewertungsmassstäbe können durch Anpassungs- und Habituationsprozesse an objektive Chancen und soziale Strukturen, die das Lebensführungssystem charakterisieren, angeglichen werden. So zeigen empirische Ergebnisse der Glücksforschung, dass Menschen mit einem tiefen sozialen Status durchaus über ein hohes Wohlbefinden berichten. Otto und Ziegler (2007: 14) weisen auf die Gefahr hin, dass durch diese Ergebnisse falsche politische Schlüsse zur sozialen Ungleichheit und zum subjektiven Wohlbefinden gezogen werden wie beispielsweise die Befürwortung des Abbaus von Sozialen Rechten. Je länger eine sozial und materiell schwierige Situation andauert, desto stärker tendieren Betroffene dazu, ihre Aspiration und Neigungen dieser Situation anzugleichen, wodurch Menschen in marginalisierten Lebenslagen ein hohes Mass an Zufriedenheit und Aspirationsbefriedigung angeben können. Studienergebnisse verdeutlichen, dass ressourcenarme, statusniedrige Personen, die gut in ihr Milieu eingebettet sind, über ein höheres Wohlbefinden berichten als Personen, die weniger separiert leben und sich stets mit ressourcenstärkeren Personen vergleichen (vgl. Otto/Ziegler 2007: 14). 18 Die Zielgruppe der Sozialen Arbeit gehört typischerweise dieser unterprivilegierten Gruppe an. Die Selbstbeurteilung eines hohen subjektiven Wohlbefindens, welches mit widrigen Lebensumständen einhergeht und aufgrund gesenkter Ansprüche und Hoffnungen zustande kommt, widerspricht jedoch dem emanzipatorischen Anspruch der Sozialen Arbeit und kann zu einer Verharmlosung sozialer Ungerechtigkeit führen. Um den Anspruch der sozialen Gerechtigkeit in die Überlegungen zur Definition von Lebensqualität aufzunehmen, eignet sich der von Sen und Nussbaum entwickelte «Capabilities Approach», welcher in den letzten Jahren in der Sozialen Arbeit zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Er bearbeitet die Frage des Verhältnisses der individuellen Fähigkeiten von Einzelpersonen, zu den ihnen zugänglichen gesellschaftlichen Verwirklichungschancen. 3.3 Capabilities Approach Der «Capabilities Approach» ist ein Ansatz, der dem Vergleich von Lebensqualitätseinschätzungen und der Theoretisierung der grundlegenden sozialen Gerechtigkeit dient. Dabei geht es nicht nur um das Wohlbefinden einer Person, sondern um die Möglichkeiten, die einer Person für ihre Lebensgestaltung zur Verfügung stehen. Ziel ist es, möglichst weitgehende substantielle Freiheiten oder Möglichkeiten zu haben, das eigene Leben zu gestalten. Um die Gerechtigkeit einer Gesellschaft zu beurteilen, soll demzufolge danach gefragt werden, was jede einzelne Person tun und sein kann (vgl. Nussbaum 2011: 18). Für die Entwicklung ihres gerechtigkeitstheoretischen Ansatzes geht Nussbaum der Frage nach, was das menschliche Wesen ausmacht und was ein Mensch für ein «gutes Leben» benötigt. Dabei stützt sie sich zum einen auf die Philosophie von Aristoteles sowie auf verschiedene Mythen und Geschichten und versucht so, fern von lokaler Tradition, zu definieren, was ein gutes Leben ausmacht. Sie ist der Auffassung, dass der Staat die Menschen durch die Bereitstellung von Ressourcen und Ausbildung befähigen soll, die Tätigkeiten (functionings) auszuüben, die für die einzelne Person von Bedeutung sind. Wichtig sei dabei die Entscheidungsfähigkeit, die in der praktischen Vernunft eines jeden Menschen gründet. Ziel dürfe nicht sein, dass Menschen auf eine bestimmte Weise funktionieren, sondern dass sie die Freiheit haben, zu entscheiden, ob und welche Tätigkeiten sie ausüben möchten (vgl. Nussbaum 2012: 40-42). Um Raum für diese Entscheidungsfreiheit zu lassen, bestimmt Nussbaum eine objektive Liste von Befähigungen respektive Verwirklichungschancen, die ein gutes, menschliches Leben ausmachen. Ohne diese Grundfähigkeiten habe ein Leben zu viele Defizite, um ein gutes 19 menschliches Leben zu sein. Die Liste ist somit eine «minimale Konzeption des Guten», welche eine Schwelle darstellt (vgl. Nussbaum 2012: 56–57; 213).7 Indem danach gefragt wird, wie gut der einzelne Mensch dazu befähigt wird, die zentralen menschlichen Tätigkeiten auszuüben, und inwiefern er die entsprechende pädagogische und materielle Unterstützung dafür erhält, kann anhand dieser Liste die Lebensqualität von Menschen bewertet werden (vgl. ebd.: 205). Ob jemand wirklich fähig ist, eine Entscheidung bezüglich seiner Tätigkeiten zu treffen, ist zuweilen schwierig beurteilbar. Vor allem wenn traditionelle Hindernisse die Ausübung bestimmter Tätigkeiten verhindern, Menschen keine Alternativen kennen oder sie sich an ihren Lebensstandard gewöhnt haben. So wird beispielweise eine Frau im ländlichen Bangladesch kaum von sich aus den Wunsch nach Gleichberechtigung äussern, wenn sie durch ihre Sozialisation bereits verinnerlicht hat, dass Frauen weniger wert sind als Männer. Sie würde sich, hätte sie die Wahl, wahrscheinlich nicht dazu entschliessen, Lesen und Schreiben zu lernen, wenn sie diese Fähigkeiten für ihre häuslichen Tätigkeiten nicht benötigt. Doch weil sie ein Wesen ist, das mit der nötigen Unterstützung die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben hätte, sollte sie laut Nussbaum auch dazu befähigt werden (vgl. ebd.: 209). Entsprechend führt Nussbaum (2012: 205) aus: «Der Fähigkeiten-Ansatz geht von der grundlegenden Intuition aus, dass das Vorhandensein der menschlichen Fähigkeiten den moralischen Anspruch auf Entfaltung begründet.» Neben der Neuverteilung von Ressourcen und Gütern sollte der Staat gemäss dem «Capabilities Approach» somit auf die Beseitigung der Hindernisse abzielen, die Individuen oder benachteiligte Gruppen von der vollen Entfaltung ihrer Fähigkeiten abhalten, und berücksichtigen, dass nicht jede Person den gleichen Anteil an Unterstützung benötigt. In diesem Sinne plädiert Röh (2013: 254) für eine sich für Gerechtigkeit und das gute Leben einsetzende Soziale Arbeit, die sowohl einen kritischen Blick auf die sozialen Strukturen als auch auf das handelnde Subjekt wirft. So soll sie sich gegen behindernde soziale Strukturen einsetzen, welche eine daseinsmächtige Lebensführung8 von Einzelnen oder Gruppen verhindern und sich für ein klares Verständnis eines guten Lebens einsetzen. Dies bedeutet aber auch die Lebensführung eines Individuums dann zu kritisieren, wenn vorhandene Ressourcen nicht oder auf eine schädliche Weise genutzt werden. 7 Die Liste ist im Anhang 2 zu finden. 8 Lebensführung und Daseinsmächtigkeit meint in dieser sich auf den Capabilities Approach beziehenden Handlungstheorie Sozialer Arbeit das selbstbestimmte und selbstmächtige Handeln des Menschen innerhalb des gesellschaftlichen Kontexts (vgl. Röh 2013: 61). 20 3.4 Schlussfolgerungen für die Konzeption von Lebensqualität Die vorangehenden Ausführungen machen deutlich, dass es für die Soziale Arbeit eine Perspektive auf Lebensqualität braucht, welche die Integrationsbedingungen des Lebensführungssystems, im Sinne von vorhandenen Verwirklichungschancen, in Beziehung zu den individuellen Fähigkeiten der Person und zur Bedürfnisbefriedigung setzt. Um eine Aussage über die Lebensqualität machen zu können, muss eine subjektive Aussage über die Lebensqualität unter dem Aspekt der Sozialisation und Habituation kritisch reflektiert werden. Der folgende Definitionsversuch von Peter Sommerfeld (2016: 19) eignet sich, um dies zusammenzufassen und zu konkretisieren: «Die objektive und die subjektive Lebensqualität eines Individuums entstehen im Prozess der Entwicklung eben dieses Individuums in Auseinandersetzung mit sich, seinen materiellen und sozio-kulturellen Lebensbedingungen und den Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben, die sich in diesem Prozess stellen. Die Lebensqualität eines Individuums ist insofern ein dynamisches, immer wieder herzustellendes (resultantes) Produkt zwischen organismischer Bedürfnisbefriedigung und soziokulturell geformter Lebensführung. Sie ist insofern abhängig von den «Befähigungen» (…), die das individuelle Lebensführungssystem kennzeichnen. Die Lebensqualität als resultantes Produkt der Lebensführung unterliegt sowohl subjektiven als auch sozialen Bewertungen, die wiederum wechselseitig aufeinander bezogen sind.» In diesem Sinne wird Lebensqualität als adaptiver Referenzwert der komplexen und dynamischen menschlichen Lebensführung verstanden (vgl. ebd.: 4). Dies führt zur folgenden Arbeitsdefinition einer guten Lebensqualität: Wenn die Zielperspektive der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit also eine gute oder verbesserte Lebensqualität sein soll, bedeutet dies eine Entwicklung hin zu einer gelingenderen Lebensführung, in dem das Individuum in seinem Lebensführungssystem durch die nötige materielle und pädagogische Unterstützung befähigt und ermächtigt wird, wichtige Annäherungsziele zur erreichen, wodurch biopsychosoziales Wohlbefinden erzeugt werden kann. Dies bedeutet, dem Menschen Entwicklungsoptionen und Verwirklichungschancen zu ermöglichen, welche, neben den auf die Handlungsfähigkeit und Selbstaktivierungsfähigkeiten zielenden Interventionen, Interventionen auf der Systemebene des Lebensführungssystems des Individuums erfordern können. Dadurch kann die Durchbrechung bereits langanhaltender Reproduktion von Problemen begünstigt und Entwicklung erzielt werden. Ausgehend von diesen Überlegungen wird es nachvollziehbar, dass die Verbesserung der Lebensqualität, im Sinne eines Wandels des Lebensführungssystems, einen dynamischen, 21 zeitintensiven Prozess darstellt. Wenn Lebensqualität als Outcome-Kriterium für die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit gemessen werden soll, muss ein solcher Wandel erfasst werden können. Nachdem geklärt wurde, wie Lebensqualität aus einer sozialarbeiterischen, theoretischen Perspektive definiert werden kann, stellt sich nun die Frage, wie ein solches komplexes Konstrukt gemessen werden kann. Dafür braucht es geeignete Indikatoren. Lebensqualität wird im Gesundheitswesen seit geraumer Zeit als Outcome-Kriterium verwendet. Damit befasst sich das nächste Kapitel. Es zeigt Operationalisierungsmöglichkeiten und empirische Befunde aus der Evaluationsforschung auf. 4 Lebensqualität als Outcome-Kriterium im Gesundheitswesen Lebensqualität ist in den letzten Jahrzehnten zu einem wichtigen Evaluationskriterium in der Medizin geworden, insbesondere im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten (vgl. Bullinger 2014: 97, vgl. Schumacher et al. 2003: 1). Lebensqualität wird sowohl in epidemiologischen und klinischen Studien wie auch in Studien zur Qualitätssicherung gemessen (vgl. Hofer 2006: 5). Die Erweiterung der Vision und des Forschungsgegenstandes der Gesundheitsforschung wurde gefördert durch die Definition der Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Gemäss dieser Definition ist Gesundheit mehr als die Abwesenheit von Erkrankung und umfasst die körperliche, psychische und soziale Dimension von Wohlbefinden. Diese Entwicklung führte zu einem starken Anstieg an Aktivitäten und Analysen zur Erfassung der sozialen und gesellschaftlichen Dimension von Gesundheit (vgl. Spatscheck 2019: 43, Bullinger 2014: 98). Das subjektive Erleben des eigenen Gesundheitszustandes sowie die Fähigkeit den Alltag zu bewältigen und sich sozial zu integrieren wurden zu wichtigen Bewertungskriterien von medizinischen Behandlungsmassnahmen (vgl. Schumacher et al. 2003: 2). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Lebensqualität heute folgendermassen: «WHO defines Quality of Life as an individual's perception of their position in life in the context of the culture and value systems in which they live and in relation to their goals, expectations, standards and concerns. It is a broad ranging concept affected in a complex way by the person's physical health, psychological state, personal beliefs, social relationships and their relationship to salient features of their environment. » 9 9 https://www.who.int/healthinfo/survey/whoqol-qualityoflife/en/ 22 In der Online- Datenbank «Medline» wurden für den Zeitraum 1980 bis 2019 über 93 600 Publikationen aufgelistet, die den Suchbegriff «quality of life» im Titel tragen. Dies wiederspiegelt das grosse Interesse an diesem Konstrukt innerhalb der Medizin. Auch in der Medizin besteht eine Vielzahl von konzeptuellen Ansätzen, die sich in das bereits dargelegte Spektrum der unterschiedlichen Lebensqualitätskonzepte einordnen lassen. Anlehnend an die Definition der WHO hat sich im Gesundheitswesen eine subjektivistische Sicht auf Lebensqualität durchgesetzt. Diese umfassen Wohlbefindensmodelle, bei denen das subjektive Befinden im Vordergrund steht, sowie Zufriedenheitsmodelle, in welchen eine hohe Lebensqualität mit hoher Zufriedenheit in vielen Lebensbereichen einhergeht. Weiter bestehen Bedürfnismodelle, bei welchen die Lebensqualität von der Bedürfnisbefriedigung abhängt. Andere fokussieren die Erfüllung von relevanten, sozialen Rollen, wieder andere sind Vergleichsmodelle, bei welchen die Lebensqualität im sozialen Vergleich mit der Lebensqualität anderer Personen beurteilt wird (vgl. Bullinger 2014: 99). Anstelle von konzeptuellen oder theoretischen Lebensqualitätsdefinitionen haben sich jedoch vor allem operationale Definitionen durchgesetzt. Um den Einfluss von Krankheit und Therapie auf die Lebensqualität und deren Veränderung zu messen, wurden und werden unterschiedliche Instrumente entwickelt, welche gesundheitsbezogene Lebensqualität operationalisieren. Diese unterscheiden sich in der Anzahl und der Gewichtung der Dimensionen und in der Betonung eher globaler oder bereichsspezifischer Komponenten. Zudem kann zwischen krankheitsübergreifenden, krankheitsvergleichenden und krankheitsbezogenen Messinstrumenten unterschieden werden (vgl. Daig/Lehmann 2007: 6, Bullinger 2014: 99). Bekannte generische Messinstrumente sind der WHOQOL-Fragenbogen oder der SF-36 Health Survey, welche als standardisierte Fragebogen auch einen internationalen Vergleich ermöglichen (ebd.). 4.1 Seiqol-DW – Eine individuumszentrierte Operationalisierung Einige Forschende, darunter O’Boyle und Joice vertreten die Position einer individualisierten, subjektiven Definition von Lebensqualität. Da das subjektive Empfinden von Lebensqualität individuell, kultur- und kontextabhängig sei, sollen die befragten Personen für die Operationalisierung ihrer Lebensqualität ihre Indikatoren selber wählen und gewichten. O’Boyle und Joice haben entsprechend für die Erfassung der subjektiven Lebensqualität aus 23 einer persönlichen Perspektive das häufig verwendete Instrument namens Seiqol-DW entwickelt10. Diese Art Lebensqualität zu messen, entspricht einer phänomenologischen Perspektive, die davon ausgeht, dass sich Menschen darin unterscheiden, welche Lebensbereiche sie als wichtig betrachten und dass sich dies im Verlauf des Lebens und abhängig von kontextuellen Faktoren verändern kann. Mit dem Seiqol können die dynamischen Anteile der individuellen Lebensqualitätsmessung nachvollzogen werden. Dieses Instrument eignet sich deshalb insbesondere für individuelle Messungen. Mit dem Seiqol lässt sich ein Seiqol-Index berechnen, der den Wert der subjektiven Lebensqualität repräsentiert (vgl. O’Boyle 1994: 5– 6). Eine solche subjektive, individuumszentrierte Perspektive, welche die Subjektivität des Individuums in seinem Lebensführungssystem zu erfassen vermag, hat für die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit einen hohen ethischen Wert. Schlussendlich soll nicht etwas gemessen werden, was unbedeutend ist für die jeweilige Person, sondern es sollen Indikatoren berücksichtigt werden, welche die jeweils spezifische selbstbestimmte Lebensführung repräsentieren. Ebenfalls können die dynamischen Anteile von subjektiver Lebensqualität durch das Instrument erfasst werden. Es eignet sich somit sehr gut für eine längsschnittliche Untersuchung. Der Seiqol wurde in der Primärstudie ALIMEnt für die Erfassung der Lebensqualität verwendet und wird im Kapitel 6 noch genauer vorgestellt. Das nächste Kapitel befasst sich mit Forschungsergebnissen, die sich auf die mit Seiqol gemessene subjektive Lebensqualität von Menschen mit einer chronischen Erkrankung beziehen. 4.2 Empirische Befunde subjektiver Lebensqualität In Bezug auf die subjektive Lebensqualität von gesunden und erkrankten Menschen besteht eine Vielzahl an Studien, die sich mit dem Einfluss unterschiedlicher Faktoren auf die wahrgenommene Lebensqualität befassen. Da sich die Konzeptionen von Lebensqualität und damit die Messinstrumente erheblich voneinander unterscheiden und die Bezugnahme auf eine einheitliche verbindliche Theorie fehlt, ist die Darlegung des Forschungsstands und insbesondere der Vergleich von Forschungsergebnissen erschwert. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass sich unterschiedliche Forschungsergebnisse durchaus auch widersprechen können. Dieses Kapitel fasst hauptsächlich Forschungsergebnisse zusammen, 10 DW steht für «direct weighting», in der Folge wird zur besseren Lesbarkeit lediglich der Begriff Seiqol verwendet. 24 die mit dem Seiqol gemessen wurden und bezieht sich zudem auf gut bewiesene Zusammenhänge. In einem systematischen Review von 39 wissenschaftlichen Artikeln wurde der Seiqol als valides Instrument zur Lebensqualitätsmessung beurteilt. Es wurde festgestellt, dass der Seiqol-Index hohe Korrelationen mit globaler Lebensqualität, Lebenszufriedenheit und psychischer Gesundheit aufweist. So konnte beispielsweise in einer Studie 30% der Varianz durch die Depressionswerte der Probanden erklärt werden. In einer anderen Studie konnte 44% der Varianz des Seiqol-Indexes durch den Grad der wahrgenommenen Sozialen Unterstützung, der Religiosität, der Depression und dem sozialen Status erklärt werden. Zwischen dem Seiqol-Index und funktionalen, demografischen (Alter und Geschlecht) sowie klinischen Parametern wurden keine oder nur sehr schwache Zusammenhänge gemessen (vgl. Wettergren et al. 2009: 741). In einer Untersuchung der mit Seiqol gemessenen subjektiven Lebensqualität von Menschen mit einer Querschnittslähmung wurde eine signifikante positive Korrelation zwischen dem Seiqol- Index und der Zeit nach Eintritt der Querschnittslähmung gemessen. Je mehr Zeit nach der Diagnose vergangen war, umso höher war die Lebensqualität. Dies lässt auf einen Anpassungsprozess im Sinne eines Copings11 schliessen (vgl. Brodbeck 2010: 89). Der Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und subjektiver Lebensqualität wurde auch in anderen nicht mit Seiqol gemessenen Studien erforscht. So wurde mehrfach belegt, dass die subjektive Lebensqualität von Menschen mit psychischen Erkrankungen in hohem Masse von depressiven und Angst-Symptomen beeinflusst wird. Einer der konsistentesten Befunde ist zudem, dass die momentane Stimmung die kognitive Beurteilung deutlich beeinflusst. Ein weiterer viel belegter Einfluss ist das positive Selbstkonzept: Belegt ist vor allem ein Effekt des Selbstwertes und kognitiver Überzeugungen wie Selbstwirksamkeit und Kontrollgefühl. So wurde festgestellt, dass bewältigungsorientierte Interventionen, die eine Erhöhung der Selbstwirksamkeit zum Ziel haben, zu einer deutlichen Verbesserung der subjektiven Lebensqualität führen. Eine wahrgenommene Stigmatisierung hingegen verringert die subjektive Lebensqualität deutlich (vgl. Müller 2008: 15–17). Müller (2018: 123) kommt in einer qualitativen und quantitativen Untersuchung zu Lebensqualität vom Menschen mit einer psychischen Erkrankung in der Schweiz zum Ergebnis, dass psychisch erkrankte Personen mit einer Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt ihre Lebensqualität höher einschätzen, als Menschen in geschützten Arbeitsverhältnissen 11 Unter dem Begriff Coping bzw. Bewältigung wird die erfolgreiche Auseinandersetzung mit einer Belastung verstanden (vgl. Rusch 2019: 65). Im Kapitel 5.2.2 folgen weitere Ausführungen über das Konzept Coping. 25 oder ohne Arbeitsstelle. Die quantitative Analyse bezüglich des Einkommens zeigt keinen Einfluss auf die subjektive Lebensqualität. Hingegen wurde in der qualitativen Untersuchung deutlich, dass Geld und Lebensstandard wichtige Determinanten für Lebensqualität sind und weniger die Höhe des Einkommens ausschlaggebend ist, sondern das Gefühl, genügend finanzielle Mittel zu haben, um sich einen bescheidenen Lebensstandard zu leisten. Weitere wichtige Aspekte, die sich auf die subjektive Lebensqualität auswirken, sind gemäss ihrer Untersuchung Freizeitaktivitäten, Freundschaften, die wahrgenommene soziale Unterstützung, sowie Lebensereignisse bzw. chronische Stressoren (vgl. ebd.: 135). Es ist davon auszugehen, dass diese Aspekte auch bedeutend sind für gesunde Menschen und Menschen mit anderen chronischen Erkrankungen. Das nächste Kapitel befasst sich mit der Veränderung von Lebensqualität, also mit Befunden von Längsschnittstudien. 5 Komplexität der Interpretation von Lebensqualitätsverläufen Im Zusammenhang mit der Evaluation eines Angebots muss die Frage nach der Bedeutung einer Veränderung oder eines Unterschieds einer Lebensqualitätsbewertung geklärt werden. In der quantitativen Forschung wird diese Frage unter dem Aspekt der klinischen vs. der statistischen Signifikanz reflektiert. Neben der Bestimmung der statistischen Relevanz gilt es zu klären, welche Bedeutung ein statistisch signifikanter Unterschied für die Lebenssituation oder den Gesundheitszustand einer Person hat. Wenn das Angebot zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Person führt, besteht eine klinische Relevanz (vgl. Bullinger 2014: 101). 5.1 Subjektive Lebensqualität im Längsschnitt In der Anwendung von Seiqol in Längsschnittstudien wurden Ergebnisse erzielt, die diese Interpretationsschwierigkeit angesichts des dynamischen Charakters von subjektiver Lebensqualität verdeutlichen. So beobachteten Gribbin und Team den Einfluss des Erhalts eines Herzschrittmachers auf die Lebensqualität von Menschen mit einer Herzerkrankung. Die Mittelwerte des Seiqol-Indexes dieser Personengruppe stieg einen Monat nach dem Eingriff von 72,7 (SD 17.4) auf 81.2 (SD 15.2)12 an, was einen signifikanten Unterschied ausmachte. Nach einem Jahr war der Gruppenmittelwert auf 75.4 (16.7) gesunken und nach zwei Jahren wurde ein Mittelwert von 12 Bei einer Skala von 0-100, wobei 0 das absolute Minimum und 100 das Maximum darstellt. SD bezeichnet die Standardabweichung vom Mittelwert. 26 76.9 (10.6) berechnet. Diese Unterschiede waren nicht mehr statistisch signifikant (vgl. Gribbin et al. 2004: 555). Jakobsson Larsson und Team beobachteten die Seiqol-Werte einer Patientengruppe mit einer amyotrophen Lateralsklerose (ALS), einer nicht heilbaren, degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems. Sie stellten fest, dass die Personen trotz erheblicher Verschlechterung des Gesundheitszustandes über eine mit dem Seiqol gemessene stabile subjektive Lebensqualität berichteten. Der Seiqol-Index wiederspiegelt gemäss der Interpretation des Forschungsteams das effektive Copingverhalten und die Kapazität, wichtige, vor allem soziale Lebensbereiche zu schätzen, trotz eines schlechten Gesundheitszustandes (vgl. Jakobsson Larsson et al. 2017: 633; 636).13 In einer weiteren Studie wurde der Seiqol-Index vor dem Erhalt eines Zahnersatzes und drei Monate später gemessen. Während dieser Periode sank der Seiqol- Index Mittelwert von 75.3 Skalenpunkten auf 73.2. In einem sogenannten Then-Test, bei welchem die Befragten zum zweiten Messzeitpunkt in der Retrospektive nochmals ihre Lebensqualität zum ersten Messzeitpunkt einschätzten, wurde ein Mittelwert von 69.2 gemessen. Zum Anfangswert 75.3 erwies sich dieser Unterschied als signifikant. In dieser Studie haben 81% der Patienten nach drei Monaten einen neuen Lebensbereich gewählt, den sie als wichtig für ihre Lebensqualität erachten (vgl. Ring et al. 2005). Diese Ergebnisse zeigen auf, dass Lebensqualität ein dynamisches Konstrukt darstellt, das sich über die Lebensspanne und in Abhängigkeit verschiedener Faktoren wie bspw. dem Gesundheitszustand verändern kann, aber auch eine gewisse Stabilität aufweist. So zeigen weitere, zahlreiche Untersuchungen der psychologischen und sozialpsychiatrischen Forschung auf, dass die subjektive Lebensqualität über den Zeitverlauf und verschiedene Situationen hinweg stabil bleibt. Die Varianz der veränderten Werte im Zeitverlauf kann jeweils auf die Ausprägung des Wertes zum ersten Messzeitpunkt zurückgeführt werden. Wichtig zu erwähnen ist diesbezüglich, dass diese Werte aus quantitativen Untersuchungen jeweils die durchschnittlichen Veränderungen in einer Gruppe wiederspiegeln. Bei Untersuchungen der individuellen Werte und qualitativen Untersuchungen wird deutlich, dass durchaus Veränderungen in der individuellen Lebensqualität vorkommen, die nicht im Vergleich des Gruppendurchschnitts erkennbar sind (vgl. Müller 2008: 19). Weitere psychologische Einflussfaktoren, wie die verschiedenen Copingstile, Erwartungshaltungen, Optimismus und das Selbstkonzept, beeinflussen die Dynamik der 13 Moons et al. argumentieren eher dahingehend, dass der Seiqol weniger die Lebensqualität messe, sondern wichtige Bereiche (und zu 94,9% positive Bereiche) und sich daher eher dafür eigne, um Determinanten von Lebensqualität zu eruieren, aber nicht um Lebensqualität zu messen (vgl. Moons et al. 2004: 1). 27 wahrgenommen Lebensqualität (vgl. Güthlin 2004: 161). Einige Forschende empfehlen diese Faktoren als Kontroll- bzw. Moderatorvariabeln in die Untersuchung einzubeziehen, um eine Aussage darüber machen zu können, inwiefern sich die Intervention auf die Lebensqualität ausgewirkt hat (vgl. Daig/Lehmann 2007: 8). Nachfolgend werden sowohl methodische als auch theoretische Ansätze für den Umgang mit dem dynamischen Charakter subjektiver Lebensqualität aufgezeigt, welche es erlauben, die Ergebnisse zur subjektiven Lebensqualität in Längsschnittstudien besser nachzuvollziehen, namentlich die Response Shift Theorie und die Theorie der Wohlbefindens-Homöostase. 5.2 Response Shift Theorie Als mögliche Erklärung für die als paradox erscheinenden Werte subjektiver Lebensqualität ist Response Shift14 seit einigen Jahren ein Thema in der Evaluationsforschung. Unter Response Shift wird eine Veränderung des individuellen Bewertungshintergrundes für persönlich bedeutsame Lebensbereiche und Konzepte über den Zeitverlauf verstanden. Aus methodischer Perspektive ist dies von grosser Bedeutung und fordert in der Evaluationsforschung ein Umdenken bezüglich der Stabilität des zu messenden Konstrukts. So kann es sein, dass bei Veränderungsmessungen mit mehreren Messzeitpunkten, sich die Bedeutung dessen, was eine Person einschätzt, über den Zeitverlauf soweit verändert haben kann, dass die Vergleichbarkeit der durchgeführten Messungen in Frage zu stellen ist. Zwar sind die Messungen valide, jedoch ist es fraglich, ob die Differenzen der Messwerte aussagekräftig sind (vgl. Vanier et al. 2017: 2, vgl. Barclay-Goddard/Epstein/Mayo 2009: 336). Die «Response-Shift-Lebensqualitäts-Forschung» wurde im Gesundheitswesen massgeblich von Sprangers und Schwartz vorangebracht. Ihre Arbeitsdefinition von Response Shift baut auf gut erforschten und bereits bestehenden Konzepten und Theorien intraindividueller Veränderungen auf, kombiniert diese und thematisiert sie in Bezug auf messtheoretische Fragen im Rahmen der Lebensqualitätsforschung (vgl. Güthlin 2004: 164, vgl. Sprangers/Schwartz 1999: 1508). Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf ihre Definition von Response Shift: “The working definition of response shift (…) refers to a change in the meaning of one’s self evaluation of a target construct as a result of (a) a change in the respondent’s internal standards of measurement (scale recalibration, in psychometric terms); (b) a change in the respondent’s values (i.e. the importance of component domains constituting the target construct) or (c) a redefinition of the target construct (i.e. reconceptualization) (ebd.: 1507). 14 Mögliche Übersetzungen ins Deutsche sind «Neubewertung» oder «Veränderung des Bewertungsmassstabes» (vgl. Güthlin 2004: 161). In dieser Arbeit wird durchgehend der Begriff Response Shift verwendet, da dieser international gebräuchlich und unverwechselbar ist. 28 Die drei Komponenten, welche Veränderungen des Bedeutungsgehaltes von Lebensqualitäts- Selbstbeurteilungen über einen Zeitverlauf auslösen, können folgendermassen definiert werden: a.) Rekalibrierung meint die Veränderung der internen Skalierung oder des Bewertungsmassstabes bezüglich des zu messenden Konzeptes. Die Ankerpunkte einer Skala werden individuell verschoben. Beispielsweise bewertet eine Person ihre chronischen Schmerzen auf einer Schmerzskala mit einer 7 von 10, wobei 10 der schlimmstmögliche Schmerz darstellt. Nachdem die Person die Erfahrung eines viel extremeren Schmerzes gemacht hat, versetzt sie ihren individuellen Ankerpunkt von 10 nach oben und bewertet den vorhergemessenen chronischen Schmerz mit einer 4 von 10. b.) Repriorisierung meint die Veränderung des Wertesystems, welchem das Lebensqualitätskonstrukt zu Grunde liegt. So kann sich beispielsweise verändern, welche Lebensbereiche/Werte/Ziele im Verhältnis zueinander für die Lebensqualität einer Person von Bedeutung sind. Beispielsweise wird der Lebensbereich Familie nach einer chronischen Erkrankung wichtiger als der Bereich Arbeit. c.) Rekonzeptualisierung bezieht sich auf die Veränderung oder Neudefinition des Konstrukts. Beispielsweise wird ein zuvor wichtiger Lebensbereich gänzlich irrelevant, dafür kommt ein neuer Lebensbereich hinzu oder ein Lebensbereich wird bei der zweiten Messung inhaltlich anders interpretiert.15 Response Shift beschreibt somit die intraindividuelle Instabilität von Konzepten und Massstäben, die bei der subjektiven Beurteilung von Lebensqualität vorkommen kann. Forschungsergebnisse zeigen auf, dass Response Shift insbesondere bei Menschen, die von einem kritischen Lebensereignis oder von einer chronischen Erkrankung betroffen sind, von Bedeutung ist. Dahinter werden Anpassungsprozesse vermutet, die im Umgang mit den sich verändernden Lebensumständen erforderlich sind (vgl. Vanier et al. 2017: 2). Response Shift kann dazu führen, dass in Längsschnittstudien eine Verbesserung der Lebensqualitätswerte zu erkennen ist, aber keine «objektive» oder «faktische» Verbesserung stattgefunden hat, sondern dass das Ergebnis durch veränderte Bewertungsdimensionen der Person zustande kommt. So bietet Response Shift eine plausible Erklärung dafür, warum die 15 Diese Operationalisierung gründet auf der Veränderungstypologie von Golembievski und Kollegen, in welcher Rekalibrierung unter dem Begriff der Beta-Veränderung (beta change) und die Rekonzeptualisierung unter Gamma- Veränderung (gamma change) bekannt ist, während die Annahme der Stabilität des Konstruktes über die gesamten Messungen als Alpha-Veränderung (alpha change) bezeichnet wird (vgl. Vanier et al. 2017: 3–4). 29 Personen in obengenannter Studie von Ring und Team trotz neu erhaltenem Zahnersatz - also objektiv gesehen deutlich verbesserten Lebensbedingungen - nach drei Monaten über eine schlechtere Lebensqualität und in der Retrospektive über eine bessere Lebensqualität berichten. Dies weil die Bewertungsstandards der Befragten im Zeitverlauf an die neue Situation angepasst wurden. In Bezug auf Lebensqualitätsmessungen kann somit Response Shift zur varianzerklärenden Grösse werden. Das heisst Response Shift erklärt, warum eine Varianz zwischen den Werten festzustellen ist. Diese dynamischen Veränderungen in den individuellen Bewertungsdimensionen sollten deswegen bei der Interpretation von Lebensqualitätsmessungen berücksichtigt werden, da eine Vernachlässigung der Betrachtung adaptiver Umbewertungsprozesse zu vermeintlich paradoxen Befunden führen kann (vgl. Rapkin/Schwartz 2004: 2). Sprangers und Schwartz schlugen 1999 ein theoretisches Modell (siehe Abbildung 2) vor, welches Veränderungen von wahrgenommenen Lebensqualitätswerten über den Zeitverlauf als Resultat von Interaktionen zwischen den Komponenten Katalysatoren, Vorbedingungen, Mechanismen und Response Shift erklärt. Als Katalysatoren (Catalysts) bezeichnen sie Ereignisse, die sich auf die Lebensqualität auswirken, wie die Veränderung im Gesundheitszustand oder Interventionen. Diese lösen verhaltensbezogene, kognitive oder emotionale, affektive Bewältigungsprozesse aus, also Mechanismen, die einen Umgang mit den durch die Katalysatoren verursachten Veränderungen ermöglichen. Solche Mechanismen können beispielsweise soziale Vergleichsprozesse oder die Neuordnung von Zielen sein und können zu einer Veränderung des Bewertungsprozesses führen. Unter Vorbedingungen (Antecedents) werden Charaktereigenschaften der Person, soziodemografische Merkmale sowie die kulturelle Umgebung zusammengefasst, die den Prozess ebenfalls beeinflussen und sich direkt oder indirekt über die Mechanismen auf Response Shift auswirken.16 Das nachfolgende Modell zeigt einen iterativen und dynamischen Prozess auf, bei welchem insbesondere bei einer suboptimal wahrgenommenen Lebensqualität weitere Mechanismen ausgelöst werden, um diese anzupassen (vgl. Sprangers/Schwartz 1999: 1509). 16 Die Ausführungen und Begrifflichkeiten aus Sprangers und Schwartz 1999, sowie Schwartz und Rapkin 2004 sind Übersetzungen der Verfasserin. 30 Abbildung 2: "Theoretisches Model von Response Shift und Lebensqualität (QOL) (In: Sprangers/Schwartz 1999: 1509) Das Modell zeigt mögliche Zusammenhangshypothesen unterschiedlicher Faktoren auf, die für die Interpretation von Lebensqualitätsmessungen relevant sein können. Das Modell wurde von Rapkin und Schwartz im Jahr 2004 weiterentwickelt17. Im neuen Modell können Response Shift- Phänomene, die mit einer Neubewertung stehen und zu unvorhergesehenen Veränderungen in der Lebensqualitätsbeurteilung führen, von Lebensqualitätswerten unterschieden werden, welche über «Standardeinflüsse» durch Katalysatoren, der Vorbedingungen oder Mechanismen erklärt werden können (vgl. Rapkin/Schwartz 2004: 2). Als wichtige neue Komponente fügen sie den Begriff «Appraisal» in das Modell ein und postulieren damit, dass jede Antwort zu den Lebensqualitäts-Items als Funktion eines Bewertungsprozesses verstanden werden kann. Vanier et al (2017: 6) fassen dies folgendermassen zusammen: «Response Shift is an effect triggered by psychological mechanisms, mediated through a change in appraisal, leading into changes in observed HRQL scores that cannot be explained by standard influences». Der Bewertungsprozess «Appraisal» setzt sich gemäss Rapkin und Schwartz (2004: 9) aus den vier folgenden kognitiven Prozessen zusammen: 1.) «Frame of Reference»: Was eine Person unter dem Gefragten versteht oder damit assoziiert, ist abhängig vom jeweiligen Bezugsrahmen oder Bewertungshintergrund. Eine Veränderung im Bezugsrahmen bezieht sich auf die Rekonzeptualisierung. 17 Das Modell und die damit zusammenhängenden Hypothesen sind im Anhang 3 weiter ausgeführt. 31 2.) «Sample strategy»: Das Erinnern und Zusammenfassen entscheidender Erfahrungen innerhalb des Bezugsrahmens ist abhängig vom Kontext und der Messsituation. Eine Veränderung in der Samplingstrategie bezieht sich auf die Repriorisierung. 3.) «Standard of comparison»: Das Setzen von subjektiven Vergleichsmassstäben, innerhalb derer Erfahrung bewertet wird. Dieser kann auf persönliche Referenzwerte, Vergleiche mit früheren Situationen, verlorenen Fähigkeiten oder Möglichkeiten, Vergleiche zu anderen Personen basieren. Eine Veränderung im Vergleichsmassstab bezieht sich auf die Rekalibrierung. 4.) «Combinatory algorithm»: Ein subjektiver Algorithmus bestimmt die Selektion, Hierarchisierung und Kombination der Bewertungen. Eine Veränderung im Kombinationsalgorithmus bezieht sich auf eine Repriorisierung. In der Folge wird ein Modell aus der Coping-Forschung hinzugezogen, da es zur Klärung der beiden Mechanismen Coping und Appraisal beiträgt, die gemäss der Response-Shift Theorie auf die Lebensqualitätsbeurteilung einwirken. 5.2.1 Coping als Mechanismus von Response Shift Eine weitere Erklärung für das Phänomen des Response Shifts im Zusammenhang mit Lebensqualitätsbeurteilungen bietet das Coping-Modell. Es soll zum besseren Verständnis beitragen. Unter dem Begriff Coping bzw. Bewältigung wird die erfolgreiche Auseinandersetzung mit einer Belastung verstanden. Es geht somit um die Bemühungen einer Person sich mit internen und externen Anforderungen auseinanderzusetzen (vgl. Rusch 2019: 65). Wenn die Bewältigungsstrategie erfolgreich ist, ist der Stress beseitigt. Misserfolge hingegen führen zu anhaltendem Stress, welcher schädigende Folgen auf den Organismus haben kann (vgl. ebd.: 69). Dem Coping- Modell zufolge ist die individuelle Bewertung der Situation sowie der subjektiv wahrgenommenen Möglichkeiten mit situationellen Gegebenheiten umzugehen, ausschlaggebend für die Bewältigung von Anforderungen und Belastungen. Folkman und Greer haben das transaktionale Stressmodel von Lazarus und Folkman weiterentwickelt (vgl. Abbildung 3). Das Modell beschreibt den Bewertungsprozess (Appraisal) und den Prozess der Bewältigung (Coping). 32 Abbildung 3: Theoretisches Modell der Bewertungs- und Copingprozesse nach Folkman und Greer (2002) (zit. nach Jellite 2010: 65) Der Bewertungsprozess beschreibt die subjektive Wahrnehmung, Einschätzung und Beurteilung einer Situation oder einer Gegebenheit in Hinblick auf das Wohlbefinden des betroffenen Individuums. Im Bewertungsprozess werden einerseits die Bedeutung der Situation und anderseits die vorhandenen Ressourcen um mit der Situation umzugehen, eingeschätzt. Der Coping-Prozess beschreibt die Art der Bewältigung, wobei drei Möglichkeiten unterschieden werden: 1. Problemorientiertes Coping: Behebung der Ursache des Distress-Erlebens 2. Emotionsorientiertes Coping: Bewältigung des Distress-Erlebens durch Gedanken und Handlungen, die auf die Regulation negativer Emotionen zielen 3. Bewertungsorientiertes Coping: Aufrechterhaltung des psychischen Wohlbefindens durch die Neubewertung der Situation, Anpassung der Ziele und Überzeugungen, damit die Situation als Herausforderung wahrgenommen werden kann (vgl. ebd.: 68). Das heisst, bewertungsorientiertes Coping wird dann wichtig, wenn über das problem- und emotionsorientierte Coping kein Wohlbefinden hergestellt werden konnte und weiterhin Distress besteht. Response Shift tritt Richards und Folkman zufolge als Ergebnis von bewertungsorientiertem Coping auf und zwar dann, wenn bisherige Überzeugungen und Ziele nicht mehr länger haltbar sind aufgrund eines nicht zu bewältigenden Ereignis (vgl. Jelitte 2010: 65–67). 5.2.2 Umgang mit Response Shift und Forschungsbedarf In der Debatte rund um Response Shift werden in erster Linie zwei Sichtweisen vertreten. Einerseits wird Response Shift als ein zu korrigierendes Messproblem und Bias gesehen, welches mittels unterschiedlicher Methoden behoben werden soll. Andererseits wird 33 Response Shift als interessante Charakteristika interpretiert, welches als Phänomen zu bedeutungsvollen Veränderungen führt und deswegen als solches untersucht werden soll (vgl. Vanier et al. 2017: 6). So wird Response Shift beispielsweise als Wirkungsergebnis von Interventionen psychosozialer Beratung, Rehabilitation oder der Palliative Care antizipiert, insbesondere im Umgang mit chronischen Erkrankungen (vgl. Barclay-Goddard et al. 2009: 336). In Bezug auf Lebensqualitätsverläufe wird Response Shift als ein wichtig zu untersuchendes Phänomen erachtet. Insbesondere bietet es sich an, die Anpassungsprozesse, die zu Response Shift führen können, genauer zu untersuchen. Damit kann verhindert werden, dass falsche Schlüsse über den Entwicklungsverlauf einer Person und die Wirkung von Interventionen gezogen werden. Zudem kann die Untersuchung wichtige Erkenntnisse bezüglich der Lebensbewältigung von Menschen liefern. Die von Rapkin und Schwartz beschriebenen möglichen Zusammenhangshypothesen, die zu einer Veränderung in der subjektiven Lebensqualität führen können, werden auf der Grundlage der im Kapitel 4 und 5 dargelegten Forschungsergebnisse als plausibel erachtet. Sie werden für die Analyse von Lebensqualitätsverläufen als relevant angesehen und deswegen in die Untersuchung im Kapitel 6 einfliessen. Mittlerweile werden unterschiedliche Methoden im Umgang mit Response Shift angewendet. Einerseits wurden spezifische Methoden und Messinstrumente entwickelt, um Response Shift zu untersuchen. Andererseits werden statistische Methoden angewendet, um Response Shift im Datensatz zu erkennen und zu berechnen. Eine Übersicht über unterschiedliche Methoden befindet sich im Anhang 4. In der vorliegenden Arbeit werden mit der Untersuchung anhand von Seiqol und einem qualitativen Zugang zwei der vorgeschlagenen Methoden verwendet, die einen individuellen Ansatz verfolgen. Das Forschungsfeld rund um Response Shift ist hingegen noch jung und vieles müsste in zusätzlichen wissenschaftlichen Untersuchungen erforscht werden. Weiterer Klärungsbedarf besteht sowohl auf theoretischer, empirischer wie auch methodischer Ebene. So stehen beispielsweise empirische Untersuchungen aus, die das theoretische Modell von Rapkin und Schwartz testen. Die bestehenden Methoden, um Response Shift zu erforschen, sind weiterzuentwickeln, da sie alle auch gewisse Nachteile mit sich bringen. Unter anderem ist zu untersuchen, welche Rolle das Messinstrument spielt und ob gewisse Items oder Lebensbereiche mehr betroffen sind als andere. Weiter ist zu klären, warum bei gewissen Personen ein Response Shift erfolgt und inwiefern Response Shift mit kritischen Lebensereignissen zusammenhängt. Zu erforschen ist schliesslich, wie alle diese 34 Komponenten in Interaktion miteinander das Vorkommen und Ausmass von Response Shift beeinflussen (vgl. Vanier 2017: 14f) . Bevor im empirischen Teil der Response Shift untersucht wird, folgt die Darlegung der Theorie der Wohlbefindens-Homöostase. 5.3 Wohlbefindens-Homöostase Ein weiterer theoretischer Ansatz für die Erklärung der paradox erscheinenden Werte subjektiver Lebensqualität ist die Theorie der Wohlbefindens-Homöostase. Unterschiedliche Autoren haben in ihrer theoretischen Aufarbeitung der im Kapitel 2.2 erwähnten paradoxen Forschungsergebnisse, betreffend des geringen Zusammenhangs zwischen objektiven und subjektiven Faktoren von Lebensqualität, ähnliche Schlüsse gezogen. Sie postulieren, dass der Mensch, das Bedürfnis habe, sich gut über sich selber zu fühlen. Dies tut er in dem er eigene Ansprüche und Erwartungen an wahrgenommene Gegebenheiten anpasst. So könne er seine emotionale Stabilität unter dem Einfluss wechselnder Umweltbedingungen regulieren. Es wird davon ausgegangen, dass dieses Basisniveau menschlichen Wohlbefindens auf einem Niveau liegt, welches niedrig genug ist, um die Motivation zur Verbesserung der Lebensbedingungen aufrecht zu erhalten, aber hoch genug ist, dass die Hoffnung auf eine erfolgreiche Verbesserung von Lebensbedingungen aktives Handeln initiiert (vgl. Kilian/Pukrop 2006: 313, Kilian 2013: 184). Um zu verstehen, wie objektive, messbare Faktoren die subjektiv wahrgenommene Lebensqualität beeinflussen, schlagen der australische Lebensqualitätsforscher Cummins und sein Forschungsteam die Theorie der «Homöostase subjektiven Wohlbefindens» vor (vgl. Cummins 2005: 336). Cummins und Team gehen davon aus, dass Menschen ein internes Management subjektiven Wohlbefindens (SWB)18 betreiben, der mit dem Steuerungsmechanismus der Köpertemperatur zu vergleichen ist: »While the homeostatic management of body temperature lies within the autonomic system, SWB is considered to be managed by dispositional, genetically prewired, neurological systems. »(Cummins/Lau/Davern 2012: 83) 18 Cummins spricht von Subjective Wellbeing (SWB), was mit Subjektivem Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit oder Subjektiver Lebensqualität übersetzt werden kann (vgl. Kilian 2013). Wie bereits dargelegt, ist die Abgrenzung dieser Begriffe schwierig und disziplinbedingt. Die Erkenntnisse von Cummins et al. erweisen sich ungeachtet der unterschiedlichen Begrifflichkeiten als sehr erwähnenswert und passend für die Analyse der subjektiven Lebensqualität. In der Folge wird der Begriff «Subjective Wellbeing» (SWB) im Zusammenhang mit Cummins Arbeiten mit Subjektivem Wohlbefinden übersetzt oder die Abkürzung SWB verwendet. 35 Durch dieses interne Management bleibe das SWB einer Person relativ stabil. Jede Person habe einen bestimmten Soll-Wert (Set-Point), der im positiven Bereich liegt. Das wahrgenommene SWB bewegt sich rund um diesen Set-Point im persönlichen Normbereich. Die Varianz des SWB innerhalb einer Person und innerhalb unterschiedlicher Personen schätzen sie als gering ein (vgl. Cummins 2005: 336, vgl. Cummins et al. 2012: 83).19 Der Set-Point, welcher vom homöostatischen System verteidigt wird, sei der sogenannte «homeostatically protected mood» (HP mood): “It is a biologically determined positive mood that comprises the most basic experienced feeling. It is hardwired for each individual, comprising the tonic state of affect that provides the activation energy, or motivation, for behavior.” (ebd.: 91) In früheren Arbeiten von Cummins (2005: 336–337) wurde dies mit dem Begriff Kernaffekt (Core affect) beschrieben, womit ein unreflektiertes Grundgefühl gemeint wurde. Es ist allgegenwärtig, primitiv und universal und stellt eine Disposition des Menschen dar, ein positives Grundgefühl und Selbstbild zu haben. Es wird davon ausgegangen, dass das SWB und die objektiven Lebensbedingungen in einem fortwährenden Spannungsverhältnis zueinanderstehen. Das homöostatische System versucht über unterschiedliche Mechanismen dieses positive Grundgefühl aufrecht zu erhalten. In der Interaktion mit der Umwelt könne sich das SWB je nach Art und Stärke der äusseren Faktoren und je nach Robustheit des homöostatischen Systems für kurze Zeit nach oben oder unten bewegen, es kehre aber normalerweise wieder auf den individuellen Soll-Wert zurück. Ob das homöostatische System einer Person robust oder fragil ist, sei abhängig von der persönlichen Ausstattung, von ihrer Resilienzfähigkeit sowie von ihren Ressourcen (vgl. ebd.: 338): «Someone with a high set point has the advantage that their normal level of SWB is far away from the ‘danger zone’ of 50 points which signals an increased probability of depression. Moreover, their high set point will drive extraversion more than neuroticism, ensuring a socially oriented personality that is likely to garner the involvement of other people in the person’s life. Thus, their social capital is likely to be high. In addition, the high set point will deliver a robust sense of self-esteem, control and optimism, all of which will ensure a strong buffering system.» (ebd.) 19 Zu dieser Erkenntnis kamen Cummins und Team einerseits über die Analyse australischer Umfragen mit dem «Personal Wellbeing Index», in welchem die subjektive Lebensqualität über verschiedene Items erfragt wird und anderseits mittels Meta-Analysen diverser Lebenszufriedenheitsstudien von westlichen und nicht-westlichen Ländern. Es zeigte sich, dass der gesamte Gruppenmittelwert der Länder bei 70 Skalen-Prozentpunkten mit einer Standardabweichung von 5 Prozentpunkten liegt. Daraus kann abgeleitet werden, dass mit einer 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein positiver Wert innerhalb von 20 Skalenpunkten, zwischen 60 und 80, angenommen werden kann. Wird anstelle von Gruppen-Mittelwerten mit individuellen Werten gerechnet, so erhalten sie einen Normbereich von 55 bis 95 und einen Mittelwert von 75 Skalenpunkten (vgl. Cummins/Lau/Davern 2012: 79-83). 36 In der folgenden Abbildung ist dargestellt, wie das homöostatische System unter dem Einfluss herausfordernder Bedingungen (challenging conditions) bei einem Normbereich des Soll- Wertes von 70- 80 funktioniert. Abbildung 4: Homöostatische Kontrolle über das Subjektive Wohlbefinden (Cummins et al 2012: 84) Die folgenden Erklärungen beziehen sich auf die Abbildung 4: a) Im Bereich zwischen 70 und 80 liegt das SWB im Normbereich. In der Interaktion mit der Umwelt unterliegt es «normalen» Schwankungen. In diesem Bereich bestehen genügend Ressourcen, um Einflüsse auszugleichen, die sich auf das SWB auswirken. Die Magnitude des Normbereichs ist individuell unterschiedlich. b) Wenn die Stärke einer Bedrohung durch ungünstige Lebensumstände zunimmt, beispielsweise durch eine Krankheit oder zunehmende Armut, sinkt der Wert auf den Schwellenwert (threshold) von 70 und der homöostatische Abwehrmechanismus intensiviert sich. Durch den Abwehrmechanismus wird das SWB auf dem Niveau dieses Schwellenwertes gehalten trotz objektiver Belastungen. c) Wenn die Belastung (challenging agent) das homöostatische Vermögen übersteigt, fällt der Wert unter den Schwellenwert des Normbereichs. Das homöostatische System hat die Kontrolle über das Wohlbefinden verloren und der Einfluss des Belastungsfaktors auf das Wohlbefinden nimmt zu. Dies kann beispielsweise durch konstante materielle Unterversorgung oder durch chronische Krankheiten bedingt sein. Um wieder über den 37 Schwellenwert zu kommen, brauche es zusätzliche Ressourcen (vgl. Cummins et al. 2012: 83–85). Cummins unterscheidet im Wesentlichen zwischen zwei homöostatischen Abwehrmechanismen, welche das System regulieren und die negativen Einflüsse auf das subjektive Wohlbefinden abschwächen. Er nennt diese die internen und externen Puffer. 5.3.1 Externe und interne Puffer Zwei wichtige externe Puffer, welche als objektive Variablen einen erheblichen Einfluss auf das Wohlbefinden haben, sind laut Cummins der finanzielle Wohlstand und zwischenmenschliche Beziehungen. Forschungsergebnisse zeigen auf, dass das SWB mit wachsendem Einkommen ansteigt. Geld kann als flexible Ressource betrachtet werden, mit welcher die Wahrscheinlichkeit auf negative Lebensereignisse zu treffen, gesenkt werden kann. Je ärmer eine Person ist, desto stärker ist sie äusseren Umständen ausgesetzt, da sie sich keine «Bequemlichkeiten», wie beispielsweise eine Haushaltshilfe oder gute medizinische Behandlung leisten kann. Jedoch steigt der SWB-Wert nur bis zu einem gewissen Einkommensbetrag an. Wenn das Einkommen die «Wohlstandsabhängige Pufferkapazität» des homöostatischen Systems überschreitet, hebt es das subjektive Wohlbefinden nicht mehr weiter an. Ebenfalls steigt der Set-Point nur bis zu einem gewissen Punkt an, da der Set-Point einerseits genetisch bedingt ist und das SWB von weiteren Belastungsfaktoren beeinflusst wird. Eine weitere sehr bedeutende und mehrfach bewiesene Ressource ist eine Beziehung zu einer erwachsenen Person, welche geprägt ist durch gegenseitige Unterstützung und Intimität. Inwiefern die Beziehung als Ressource dienen kann oder eher als Belastung wahrgenommen wird, hängt von der Qualität der Beziehung ab (vgl. ebd.: 86–88). Neben den externen Puffern verfügen Menschen auch über interne Puffer. Diese kommen insbesondere dann zum Tragen, wenn die externen Puffer nicht mehr ausreichen, um das subjektive Wohlbefinden trotz negativer Lebensereignisse auf einem stabilen Level zu halten. Adaptation (Anpassung) und Habituation (Gewöhnung) sind beispielsweise solche automatischen Prozesse, durch welche die persönlichen Erwartungen und das Verhalten an die neue Situation wie beispielsweise eine körperliche Einschränkung angepasst werden. Anpassungsprozesse können aber auch über kognitive Puffer gesteuert werden. Die Realität wird rekonstruiert und die Auswirkungen von unausweichlichen, negativen Erfahrungen verringert. Dadurch wird die Person weniger mit der Einschränkung konfrontiert und sie wirkt sich weniger negativ auf das Wohlbefinden aus. Dies erfolgt beispielsweise indem ein positiver Sinn im negativen Erlebnis gesehen wird (Benefit finding) oder indem die positiven Aspekte im 38 Leben fokussiert werden und andere als nicht so wichtig erachtet werden20. Durch solche kognitiven Prozesse bleibe die Weltanschauung intakt, die Bedrohung wird eliminiert, und das SWB steigt zurück auf seinen Set-Point (vgl. ebd.: 90). Sind die negativen Belastungen sehr stark und werden sie chronisch, kann es dazu kommen, dass weder externe noch interne Puffer ausreichen, um das homöostatische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Das SWB fällt unter den Normbereich, was mit dem Verlust eines positiven Grundgefühls einhergeht. Die Belastung dominiert das Grundgefühl, der Kontakt zum HP- Mood geht verloren. Dies setzt Cummins mit dem Erleben einer Depression gleich. Damit erklärt er die tiefen Werte von Menschen, die in Armut leben oder anderen Dauerbelastungen ausgesetzt sind, wie beispielsweise durch das Pflegen eines Familienmitglieds mit einer Behinderung (ebd.: 93–96). 5.3.2 Chronische Belastung und Soziale Dienstleistungen Aufgrund einer Behinderung oder chronischen Erkrankung kann das homöostatische System einer Person herausgefordert sein aufgrund des zusätzlichen Stresses, der mit der gesundheitlichen Einschränkung einhergeht. Cummins suggeriert, dass Menschen mit einer Einschränkung zum einen über ein tieferes Einkommen als gesunde Menschen verfügen und zum anderen mehr Mühe haben, eine intime Beziehung aufzubauen. So sind im Alltag mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert und verfügen aber über weniger externe Ressourcen. Das homöostatische System ist dadurch unter konstantem Druck, was impliziert, dass die Person anfälliger auf unerwartete negative Lebensereignisse reagiert und dass ihr Vermögen mit unerwarteten negativen Lebensereignissen umzugehen, reduziert ist (vgl. Cummins 2005: 339–340). Cummins schlägt vor, dass die primäre Überlegung, die der Erbringung von Sozialen Dienstleistungen zugrunde liegt, die Ermöglichung einer guten Lebensqualität sein soll. Wie in der Abbildung 5 zu erkennen ist, kann dies einerseits durch das Empowerment des Klientels geschehen, also dem Stärken der internen Puffer, und anderseits in der Bereitstellung von genügend externen Puffern, durch welche die durch die Behinderung verursachten Defizite kompensiert werden können. 20 Die durch die internen und kognitiven Puffer ausgelösten Prozesse sind mit den hinter dem Konzept des Response Shift stehenden Mechanismen gleichzusetzen. Sie führen zu einer Neubewertung der Situation und somit zu Response Shift. 39 Abbildung 5: Role of caregivers nach Cummins (2005: 234) Um die Lebensqualität einer Person zu messen, müssen gemäss Cummins sowohl objektive wie auch subjektive Messungen durchgeführt werden. Diese sollen jedoch nicht in einer Messung integriert werden aufgrund der homöostatischen Prozesse (vgl. ebd.: 336). Kilian und Angermeyer sind ebenfalls zum Ergebnis gekommen, «dass subjektive Lebensqualität nicht als rekursiver Beurteilungsprozess betrachtet werden kann, sondern dass vielmehr die menschliche Fähigkeit, eigene Ansprüche und Erwartungen an wahrgenommene Gegebenheiten anzupassen, eine zentrale Rolle spielen» (Kilian/Pukrop 2006: 313). Vor dem Hintergrund des theoretischen Wissens, mit welchem die subjektive Lebensqualität als Regelgrösse eines homöostatischen Prozesses betrachtet werden kann, könne man nicht davon ausgehen, dass zwischen subjektiver Lebensqualität und Umweltbedingungen ein rekursiver Zusammenhang bestehe. In Bezug auf die angewandte Lebensqualitätsforschung kritisiert Kilian, dass aufgrund mangelnder theoretischer Reflexion des Lebensqualitätskonzeptes in der angewandten Forschung falsche Erwartungen an die eindeutige Aussagekraft an Forschungsergebnisse gestellt werden (vgl. ebd.: 312). So schlägt er vor, anstatt die korrelativen Zusammenhänge im Querschnitt zu messen, subjektive Lebensqualität im aufwändigen Längsschnitt zu erheben und die Veränderungen unter den gleichzeitig stattfindenden Veränderungen des Aspirationsniveaus zu interpretieren. Ebenfalls postuliert er, dass sich Lebensqualität in der psychiatrischen Versorgungsforschung hauptsächlich als Outcome-Indikator eigne, um Versorgungsdefizite aufzudecken (vgl. ebd.: 313). 5.4 Schlussfolgerungen für den empirischen Teil Die vorangehenden Ausführungen bieten plausible auf Forschungsergebnisse basierende Erklärungen bezüglich des dynamischen Charakters subjektiver Lebensqualität und betonen die damit verbundenen Herausforderungen, quantitative Lebensqualitätsverläufe zu interpretieren. Es wird deutlich, dass in Bezug auf Evaluationsforschungen mit dem Outcome- 40 Kriterium Lebensqualität zusätzliche, den Bewertungsprozess betreffende Zusammenhangshypothesen in Betracht gezogen werden müssen, um eine Aussage über einen Entwicklungsverlauf und Wirkungskonfigurationen machen zu können. Für die Evaluation von Interventionen lassen sich aus den Ausführungen zu Response- Shift und der Wohlbefindens-Homöostase zusammenfassend die folgende Forschungsfrage und Hypothesen ableiten. Diese werden in die empirische Untersuchung einbezogen. Basierend auf der Response Shift- Theorie können folgende Schlüsse für die Evaluationsforschung gezogen werden: Neben den Zusammenhangshypothesen betreffend Katalysatoren, Vorbedingungen, Mechanismen und Subjektiver Lebensqualität besteht eine weitere Familie von Hypothesen, die sich auf mit dem Bewertungsprozess beziehen: Veränderungen des internen Bewertungsstandards (Response Shift) können unter Umständen die Varianz von Lebensqualität erklären21. Wenn hinter Reponse Shift Copingprozesse stehen, können allenfalls auch wirkungsvolle Interventionen Response Shift hervorrufen. Folgende Forschungsfrage resultiert aus diesen Überlegungen. - Welche Anpassungsprozesse stehen hinter Response Shift und inwiefern beeinflussen sie die quantitativ gemessene subjektive Lebensqualität? Auf der Basis der Theorie der Wohlbefindens-Homöostase lassen sich folgende Hypothesen ableiten: Vorannahme: Jede Person hat einen bestimmten Soll-Wert des Subjektiven Wohlbefindens (ca 70-80 Skalenpunkte), wodurch das SWB durch das homöostatische System unter «normalen Schwankungen» im positiven Normbereich gehalten wird. 1. Hypothese: Wenn der momentane Wert des SWB im individuellen Normbereich liegt, ist es schwierig, den Wert auf ein höheres Niveau anzuheben. Der potentielle Einfluss einer Intervention ist in diesem Normbereich dadurch kaum durch den Anstieg des SWB-Wertes erkennbar. 21 Folgende Veränderungen des Bewertungsstandards sind möglich: a) Rekonzeptualisierung: Im Zeitverlauf kann sich der Bezugsrahmen verändern, wodurch sich verändert, was eine Person unter dem Befragten versteht oder damit assoziiert. b) Rekalibrierung: Im Zeitverlauf kann sich der Bewertungsmassstab verändern, wodurch gleiche Items mit einer veränderten internen Skala beurteilt werden. c) Repriorisierung: Im Zeitverlauf kann sich verändern, was eine Person als wichtig für das befragte Item oder die gesamte Lebensqualität betrachtet. 41 2. Hypothese: Wenn die wahrgenommenen Belastungen das Bewältigungsvermögen übersteigen, sinkt die Subjektive Lebensqualität aus dem Normbereich. 3. Hypothese: Wenn der Wert unter dem Normbereich liegt, kann die Bereitstellung von zusätzlichen Ressourcen, die Wiedererlangung des homöostatischen Gleichgewichts begünstigen und in einem Kurvenanstieg erkennbar werden. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen erwächst das Forschungsvorhaben Anzeichen von Response Shift sowie die dahinterstehenden Anpassungsprozesse in Beziehung zu den Messwerten der Lebensqualität zu stellen. Es wird erwartet, dass die Untersuchung wichtige Informationen über den Veränderungsprozess der Person liefert und möglicherweise verdeutlichen kann, ob und welche Entwicklung stattgefunden hat. Wie und mit welchen Daten diese Untersuchung erfolgte, wird im nächsten Kapitel dargelegt. 6 Empirischer Teil- Datenanalyse Für das im letzten Abschnitt hergeleitete Forschungsvorhaben wurde eine Sekundäranalyse durchgeführt. In diesem Kapitel wird die Primärstudie mit ihren Datenerhebungsmethoden vorgestellt und das Sample sowie das Sorting beschrieben. Ebenfalls wird das methodische Vorgehen genauer beschrieben und reflektiert. Dieses lässt sich der Triangulation oder dem Mixed-Methods- Ansatz zuordnen und orientiert sich in der Datenauswertung an der qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz. 6.1 Datengrundlage: ALIMEnt- Studie Die Datengrundlage für den empirischen Teil dieser Masterarbeit bietet die noch bis Mitte 2020 laufende, von SNF geförderte Studie «ALIMEnt: Kontexte, Mechanismen und Wirkungen klinischer Sozialer Arbeit». Das Forschungsprojekt ALIMEnt orientiert sich in seinem Design an der von Blom und Morén entwickelten CAIMER Theorie, in welcher Wirkungen als Ergebnisse von spezifischen Aktivitäten konzipiert werden, die in bestimmten Kontexten angesiedelt werden (vgl. Blom/Morén 2009). Sie verortet sich damit im Paradigma der «realistic evaluation» und hat das Ziel Wirkungszusammenhänge, sogenannte ALIMEnt- Konfigurationen zu rekonstruieren. „ALIMEnt“ steht für Akteure, die in aufeinander bezogenen Lebenswelt- und Interventionskontexten Probleme der Lebensführung bearbeiten, sowie für Mechanismen, die in Verbindung mit den anderen Komponenten Entwicklungsverläufe der Klientinnen und Klienten Sozialer Arbeit im Gesundheitswesen beeinflussen. Die Datenanalyse erfolgt über die Methode der «Grounded Theory» (vgl. Hüttemann et al. 2017: 42 4f). Der Forschungsgegenstand und die darauf bezogenen Datenerhebungsmethoden sind im Anhang 5 abgebildet. 6.1.1 Datenerhebungsmethoden Für die Sekundäranalyse wurde nicht der komplette Datensatz verwendet, sondern lediglich die Daten zu den Entwicklungsverläufen der Klient*innen. Der Entwicklungsverlauf wurde während eines sechsmonatigen Beobachtungszeitraums mit zwei Fragebögen abgebildet, nämlich Seiqol für die Lebensqualität und Oxcap für die Capabilities. Die Erhebung anhand der beiden Fragebogen erfolgte vier Mal im Abstand von ca. zwei Monaten, also in einem längsschnittlichen Design. Am Ende des Beobachtungszeitraumes wurde ein Interview durchgeführt. Die drei Erhebungsmethoden werden nun erläutert. Seiqol-DW Der Seiqol wurde bereits im Kapitel 4 vorgestellt. Nun wird dargelegt, wie die Messung der Subjektiven Lebensqualität mit Seiqol erfolgt. In einem strukturierten Interview werden die für die Person bedeutsamsten fünf Lebensbereiche erfragt. Diese fünf Lebensbereiche werden von der befragten Person genauer definiert. Anschliessend bewerten die Personen ihre Zufriedenheit mit den jeweiligen Lebensbereichen auf einer visuellen Skala zwischen «miserabel» und «ausgezeichnet». In einem weiteren Schritt gewichtet die befragte Person die fünf Lebensbereiche auf einer visuellen Skala zwischen «wichtig» und «nicht wichtig».22 Aus den Ausprägungen der aktuellen Zufriedenheitseinschätzungen der fünf bedeutsamsten Lebensbereiche in Kombination mit deren subjektiven Gewichtung wird ein Seiqol-Index für die allgemeine Lebensqualität berechnet. Der Seiqol eignet sich zudem für die Erfassung von Response Shift bei Mehrfachmessungen. Es kann geprüft werden, ob sich die Lebensbereiche inhaltlich verändern (Rekonzeptualisierung) oder ob eine Veränderung der Gewichtung (Repriorisierung) auftritt. Eine Rekalibrierung kann mit der aktuell konzipierten Form des Seiqol nicht erfasst werden (vgl. Jelitte 2010: 75, vgl. Ring et al. 2005: 3, vgl. Vanier et al. 2017: 8). Die Formblätter des Seiqols zu Beurteilung der Zufriedenheit und der Wichtigkeit sind im Anhang 7 zu finden. Oxcap-MH Der Oxcap-MH ist ein multidimensionales Instrument, welches darauf zielt, die Verwirklichungschancen zu operationalisieren und sie in der Forschung der Psychischen 22 In der Studie ALIMEnt wurde für die Erfassung der Gewichtung das beschriebene Vorgehen gewählt. Im Original Seiqol-DW nach O’Boyle et al. wird eine Drehscheibe verwendet, bei welcher die Gewichtung der Lebensbereiche im Verhältnis zueinander eingestellt werden kann. 43 Gesundheit23 für Outcome- Messungen zu nutzen. Der Oxcap-MH enthält folglich Fragen zu den Capabilities Bereichen, welche hauptsächlich betroffen sind bei einer psychischen Erkrankung (vgl. Simon et al. 2013: 1). Der Fragebogen besteht aus 16 Items, welche auf einer fünfstufigen Likert-Skala bewertet werden. Aus den Antworten kann eine standardisierte Gesamtpunktzahl zwischen 1 und 100 berechnet werden. Die im Fragebogen erfassten Capabilities-Bereiche sind: Gesundheitsbeeinträchtigung im Alltag, Soziale Netzwerke, Schlaflosigkeit aufgrund von Sorgen, Genuss von Sozial- und Freizeitaktivitäten, Geeignete Wohnmöglichkeit, Sicherheitsgefühl, Wahrscheinlichkeit von Diskriminierung und Übergriffen, Beeinflussung lokaler Entscheidungen, Meinungsfreiheit, Wertschätzung der Natur, Achtung und Wertschätzung von Menschen, Freundschaft und Unterstützung, Selbstbestimmung, Vorstellungskraft, Kreativität und Zugang zu interessanten Aktivitäten (vgl. Vergunst et al. 2014: 2). Simon et al. berichten über eine gute Responserate (> 70 %), Validität und Realisierbarkeit. Der OxCAP-MH wurde entsprechend den „Translation and Linguistic Validation Guidelines für Patient Reported Outcomes“ in die deutsche Sprache übersetzt (vgl. Baumgardt et al. 2018: 2) . Die verwendete Oxcap-MH Form ist im Anhang 6 zu finden. Rückblickendes Interview Am Anfang und am Ende der Beobachtungsperiode wurde in der Primärstudie je ein Interview durchgeführt. Für die Bearbeitung des Forschungsgegenstandes der Sekundäranalyse wurde jedoch lediglich das zweite Interview analysiert, da dieses Interview einen auf den Beobachtungszeitraum zurückblickenden narrativen Teil und einen auf die quantitativ erhobenen Daten bezogenen Teil enthielt, bei welchem deskriptive Grafiken besprochen und reflektiert wurden. Der Interviewleitfaden ist in verkürzter Form im Anhang 8 zu finden. 6.1.2 Daten-Sample und Sorting Die Datenerhebung von ALIMEnt wurde in drei unterschiedlichen Organisationen der klinischen Sozialen Arbeit durchgeführt. Es befinden sich somit Klient*innen mit unterschiedlichen gesundheitlichen Problematiken und Eigenschaften im Sample. Die Sekundäranalyse beschränkte sich auf Fälle von zwei dieser Organisationen. Es sind dies zum einen sechs Personen, die seit längerer Zeit mindestens ein Angebot der Suchthilfe «Organisation B» nutzen und eine längere Problemgeschichte hinter sich haben. Diese Klienten und Klientinnen werden in der Folge mit dem Kürzel KB bezeichnet. Zum anderen enthält das untersuchte Sample Daten von fünf Personen, die ein stationäres Angebot einer 23 MH steht für mental health. In der Folge wird zur besseren Lesbarkeit lediglich von Oxcap gesprochen. 44 Rehabilitationsklinik für querschnittgelähmte Menschen nutzten und somit von einem akuten Gesundheitsproblem betroffen sind. Sie wird in der Folge zur Gewährleistung der Anonymität «Organisation R» genannt und die Klientinnen und Klienten erhalten das Kürzel KR. Die erste Befragung dieser Personen fand kurz vor dem Austritt statt und die darauffolgenden Befragungen erfolgten in der Phase der Reintegration. Die Gesundheitsproblematik und Organisation war für die Untersuchung zweitrangig, da Anpassungsprozesse und Response Shift bei allen Personen zu vermuten sind. Die Beschränkung auf diese zwei Organisationen unterlag jedoch der Überlegung, dass es in Bezug auf Response Shift und Lebensqualität interessant sein könnte, Personen mit einer ähnlichen Problematik zu vergleichen und mit Personen einer anderen Problematik zu kontrastieren. Im Sample befanden sich Fälle mit unterschiedlichen Verlaufskurven, stabile Verläufe auf hohem Niveau, Verlaufskurven die stark ansteigen, und Verlaufskurven die starken Schwankungen unterliegen. 6.2 Methodisches Vorgehen Um den Forschungsgegenstand zu bearbeiten, wurde ein Vorgehen gewählt, bei dem die soeben beschriebenen qualitativen und quantitativen Daten einander gegenübergestellt und anhand einer inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse ausgewertet wurden. Diese so genannte Praxis der «mixed methods» wird mittlerweile als selbständiger methodologischer Ansatz betrachtet und wird auch unter dem Begriff der «Triangulation» diskutiert. Das in dieser Arbeit angewendete methodische Vorgehen wird in der Folge genauer dargelegt und begründet. 6.2.1 Triangulatives Vorgehen Die mit den Instrumenten Seiqol und dem Oxcap erhobenen Daten wurden zum Seiqol-Index respektive Oxcap-Score berechnet und pro Person als Lebensqualitäts-Verlaufskurve dargestellt. Die Verlaufskurven wurden den Aussagen aus den Interviews gegenübergestellt. Von Interesse waren demnach die Einzelverläufe und nicht die Gruppenmittelwerte. Ziel war es, einerseits im Sinne einer Validation zu prüfen, ob die Verlaufskurven mit den aus den Interviews gemachten Aussagen übereinstimmten und anderseits zu untersuchen, inwiefern die Lebensqualitätskurven von Response Shift und der Wohlbefindens-Homöostase beeinflusst werden. Dies diente der Einschätzung, ob die Entwicklung im Sinne einer gelingenden Lebensführung in der Kurve abgebildet wird. Da der Forschungsgegenstand von mindestens zwei Punkten aus betrachtet wird, kann dieses Vorgehen als triangulatives Vorgehen beschrieben werden. In der Triangulation erfolgt die Untersuchung über die Verwendung von unterschiedlichen methodischen Zugängen oder 45 Theorien. Dies führt zu der Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand bei der Beantwortung von Forschungsfragen (vgl. Flick 2008: 11–12). Dies soll dazu beitragen, die Reliabilität zu steigern durch die Validierung von Ergebnissen durch das Gegeneinander-Ausspielen von Methoden. Bei der Kombination von qualitativen und quantitativen Verfahren kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass der eine Ansatz das Gleiche zum Vorschein bringt, wie der andere oder dass ein Unterschied in den Ergebnissen auf ein falsches Resultat des einen oder anderen Ansatzes hinweist (vgl. ebd.: 17). In der vorliegenden Arbeit ging es darum, die vorliegenden unterschiedlichen Daten durch die Kombination und Verknüpfung unterschiedlicher Methoden und Theorien vertiefter analysieren zu können. Sowohl divergierend als auch konvergent erscheinende Daten können über den Einbezug bestimmter theoretischer Ansätze analysiert und zusätzliches Wissen generiert werden (vgl. ebd.:18). Über dieses Vorgehen sollen die Schwächen der einen Methode durch die Stärken der anderen Methode ausgeglichen werden. Die quantitativen Verlaufskurven liefern konkrete, zu vergleichende Werte und die qualitativen Daten ermöglichen eine ergänzende Analyse des Zustandekommens dieser Kurven und der dahinterliegenden subjektiven Anpassungsprozesse. Eine Untersuchung über Triangulation ermöglicht somit nicht nur eine Validation der Ergebnisse, sondern insbesondere auch eine Vertiefung der Analyse. Das Verfahren wird auf der Abbildung 6 veranschaulicht. Seiqol- Verlaufsfkurven Oxcap- Verlaufskurven Individuelle Entwicklungs- verläufe Theorien: Homöostase- Modell Rückblickendes Interview Response Shift Bedürfnistheorie Abbildung 6: Triangulatives Vorgehen (Eigene Darstellung) Im Seiqol wurden fünf Lebensbereiche nach ihrer Zufriedenheit und ihrer Wichtigkeit beurteilt. Im Oxcap wurden der Zugang zu Ressourcen, die Verwirklichungschancen sowie Fähigkeiten 46 beurteilt. Bei beiden Messinstrumenten fand per Item, resp. Lebensbereich ein Beurteilungsprozess statt, bei welchem zwischen den Zeitpunkten eine Veränderung der internen Standards durch Repriorisierung, Rekonzeptualisierung oder Rekalibirierung und somit ein Response Shift stattgefunden haben kann. Durch die Analyse der Seiqol-Lebensbereiche und die Untersuchung der Veränderung der Wichtigkeiten zwischen den Zeitpunkten konnten Repriorisierungen erkannt werden. Ebenfalls konnten Rekonzeptualisierungen erfasst werden, wenn sich die Inhalte der Lebensbereiche im Verlaufe der Zeit veränderten. Durch die Aussagen in den Interviews konnten zudem durch Veränderungen des Anspruchsniveaus sogenannte Rekalibrierungen untersucht werden. Bevor das sich an der Inhaltsanalyse orientierende Auswertungsverfahren dargelegt wird, werden die untersuchungsleitenden Forschungsfragen mit dem entsprechenden Datenmaterial aufgelistet (siehe Tabelle 2). Forschungsfragen Datenmaterial Wie schätzt die Person ihre Lebensqualität, ihr Wohlbefinden und die Interview Lebensbereiche ein? Sind wichtige Ereignisse im Leben passiert? Werden interne Ressourcen erwähnt? Werden externe Ressourcen erwähnt? Werden Interventionen erwähnt? Werden Belastungen und Herausforderungen erwähnt? Wie werden diese bewältigt? Sind in den Aussagen Copingprozesse oder Adaptationsprozesse zu erkennen? Wo liegen die Werte der Kurve? Ist 70 die Schwelle des homöostatischen Seiqol Gleichgewichts? Stimmen die Aussagen über die Lebensqualität mit der Kurve Oxcap überein? Gibt es Diskrepanzen? Sind Anzeichen von Response Shift zu erkennen? Repriorisierung? Interview Rekonzeptualisierung? Rekalibrierung? Oxcap Wie wirkt sich Response Shift auf den Lebensqualitätswert aus? Seiqol Tabelle 2: Forschungsfragen (Eigene Darstellung) 6.2.2 Inhaltlich-strukturierende Inhaltsanalyse Die Auswertung der qualitativen Interviews orientierte sich methodisch an der inhaltlich- strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz (Kuckartz 2016) und erfolgte anhand des Computerprogramms MAXQDA. Sowohl die Interviews als auch die Verlaufskurven wurden in MAXQDA eingelesen und computerunterstützt analysiert. Der Ablauf der qualitativen Inhaltsanalysen sieht unterschiedliche Phasen vor, die jedoch nicht linear zu durchlaufen sind (vgl. Abbildung 7). Rund um die Forschungsfragen gestaltete sich anlehnend an die sieben Phasen, ein iterativer Prozess durch die Tätigkeiten Textarbeit, Kategorienbildung, Codierung, Analyse und Ergebnisdarstellung. 47 Abbildung 7: Ablaufschema einer Inhaltsanalyse (Kuckartz 2016: 100) Die Kategorienbildung erfolgte deduktiv-induktiv. Aus den untersuchungsleitenden Forschungsfragen wurden erste deduktive, analytische Kategorien abgeleitet (vgl. Tabelle 3). Die Kategorien fungierten als eine Art Suchraster, anhand dessen das Material auf das Vorkommen entsprechender Inhalte durchsucht und grob kategorisiert wurde. Hauptkategorie Subkategorien Lebensqualität/Wohlbefinden/Zufriedenheit Hohe Lebensqualität Tiefe Lebensqualität Response Shift Repriorisierung Rekonzeptualisierung Rekalibrierung Werte der Verlaufskurve Tiefe Werte (unter 50) Werte im Bereich homöostatische Abwehr Hohe Werte (rund 80) Vergleich Kurve und Aussagen Divergenzen Übereinstimmungen Interne Faktoren/ Ressourcen Externe Einflussfaktoren/ Ressourcen Soziale Beziehungen Unterstützende Interventionen Unterstützung durch Familie/Freunde Materielle Ausstattung Ereignisse/Veränderungen in den Negative Ereignisse/ Belastungen Lebensbereichen Positive Ereignisse Tabelle 3: Vorläufiges Kategoriensystem (Eigene Darstellung) 48 Die wichtigen deduktiv gebildeten Kategorien wurden anfangs definiert und mit einem Ankerbeispiel versehen (siehe Tabelle 4): Kategorie Response Shift: Repriorisierung Definition Anpassung der Wichtigkeit eines Lebensbereiches Ankerbeispiel KR03: «Und meinen Vater sehe ich halt jetzt jeden Donnerstag und Freitag oder. Und daher habe ich jetzt wie das Gefühl, ich habe den Fokus jetzt nicht auf diesem. Darum habe ich gedacht, ich tue dies eher ein wenig, die Wichtigkeit etwas hinunterschrauben oder. Dies muss aber nicht heissen, dass es (die Familie) mir, also, egal wird oder so.Und es ist jetzt nicht so, dass ich speziell auf etwas schaue, oder, wie jetzt bei der Freundin, wo das jetzt natürlich etwas anderes ist….Darum habe ich jetzt dort schon etwas mehr den Fokus drauf.» Kodierregel Veränderungen der Wichtigkeit der bestehenden Lebensbereiche, nicht inhaltliche Veränderungen. Tabelle 4: Ankerbeispiel (Eigene Darstellung) Trotz dieses Vorgehens konnten die Textstellen nicht immer eindeutig den drei Response Shift Kategorien (Repriorisierung, Rekonzeptualisierung und Rekalibrierung) zugeteilt werden. Aus diesem Grund wurde eine weitere Kategorie «Anpassungen der Erwartungen an das Leben» gebildet, in welche nicht eindeutige Passagen zugeteilt werden konnten24. In diesem Sinne wurde das Kategoriensystem im Verlauf des Analyseprozesses immer wieder überarbeitet. Das Kategoriensystem wurde prozesshaft verfeinert und ergänzt durch induktive Subkategorien (vgl. ebd.: 96). Im Zuge des computergestützten Codierungsprozesses zeigte sich anhand der zahlreichen Memos und zusätzlichen Kategorien, dass das Datenmaterial viele Informationen in Bezug auf die Lebensqualität, Response Shift und damit zusammenhängenden Faktoren enthielt. Das Kategoriensystem ist im Anhang 9 zu finden. Hierbei ist anzumerken, dass nicht allen Kategorien die gleiche Bedeutung zugeschrieben werden kann. Einige Kategorien dienten eher der Orientierung um Zusammenhänge für die Fallrekonstruktion zu erkennen. Die Subkategorien von Response Shift wurden hingegen genauer in Bezug auf ihre Bedeutung und die dahinter liegenden Anpassungsprozesse untersucht. Das heisst, unterschiedliche Textstellen und Verlaufskurven wurden verglichen und auf Ähnlichkeiten und Unterschiede geprüft. Die Analyse erfolgte anhand der zwei strukturierenden Dimensionen Fall und Kategorie, anlehnend an die Themenmatrix nach Kuckartz (vgl. ebd.: 112). Einerseits wurden die Inhalte der Kategorien verglichen und auf mögliche Zusammenhänge untersucht und anderseits pro Fall Fallzusammenfassungen und vertiefte Fallanalysen erstellt. Dieser Prozess wurde über 24 Da in Bezug auf die Forschungsfrage die eindeutige Unterteilung in die drei Response-Shift Typen als weniger relevant erachtet wurde, sondern die dahinterstehenden Anpassungsprozesse von Bedeutung waren, wurde dies so gehandhabt. 49 das Schreiben von Memos dokumentiert und vorangebracht. Der Einbezug von zusätzlichem theoretischem Wissen erfolgte über den ganzen Forschungsprozess hinweg. Die vertieften Einzelfallinterpretationen stellten einen wichtigen und aufwändigen Schritt der Analyse dar. In Bezug auf die Forschungsfragen konnten so fallbasiert erste Antworten gefunden werden. Nicht alle Fälle wurden in der gleichen Tiefe analysiert. So wurde beispielsweise KB04 vertiefter analysiert als andere Fälle, da bei diesem Fall die grösste Divergenz zwischen der Verlaufskurve und dem Interview festgestellt wurde. Die Fallanalysen wurden anschliessend noch einmal zusammengefasst in einer Fallübersicht, damit sie auf Ähnlichkeiten und Unterschiede verglichen werden konnten. Durch das Vergleichen der Fälle und der Kategorien wurden die Fälle gruppiert und daraus wurden vorläufige Typen abgeleitet. Jedoch muss angemerkt werden, dass keine systematische typenbildende Analyse durchgeführt wurde (vgl. ebd.: 188f). Dies könnte in einer weiteren Untersuchung vertieft werden. In der Ergebnisdarstellung wird hauptsächlich auf den Typ eingegangen, welcher für das Messen von Lebensqualität als problematisch angeschaut wird. 6.2.3 Reflexion des methodischen Vorgehens Die Sekundäranalyse stellt im deutschsprachigen Raum wissenschaftliches Neuland dar und wird kontrovers diskutiert (vgl. Medjedović 2014: 15). Als zu beachtende Problembereiche in der qualitativen Sekundäranalyse wird die Kontextsensitivität qualitativer Interviewdaten genannt. In der vorliegenden Arbeit fand lediglich eine Entkoppelung statt, in dem die Daten unter einer neuen Fragestellung untersucht wurden. Die Daten wurden jedoch nicht losgelöst vom ursprünglichen Kontext untersucht, da sowohl entsprechende Kenntnisse über die Entstehung der Daten als auch der Zugang zu Erhebungsprotokollen bestanden (vgl. Medjedović 2014: 176; 220). Jedoch muss kritisch angemerkt werden, dass das Forschungsdesign der Primärstudie nicht zur Validierung der quantitativen Verläufe ausgelegt ist. Die Fragen des Interviews zielten somit nicht auf die Überprüfung der Kurve. Das Interview wird rückblickend gehalten, wodurch auch Erinnerungsverzerrungen von Seiten der Befragten zu erwarten sind. Ebenfalls ist es möglich, dass die momentane Stimmung während des Interviews die retrospektiven Aussagen beeinflusst haben. Optimaler wäre es, wenn zeitgleich zur quantitativen Erhebung eine qualitative Erhebung gemacht würde. In der vorliegenden Einzelarbeit fand in Bezug auf das Kategoriensystem und die Fallrekonstruktionen keine übereinstimmende Deutung und Konsensbildung zwischen verschiedenen Personen statt, was für eine Forschungsarbeit als kritisch betrachtet werden muss. Die nachfolgende Ergebnisdarstellung soll dazu beitragen, die Analyse anhand von Beispielen nachvollziehbar zu machen. 50 7 Darstellung der Untersuchungsergebnisse In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der empirischen Analyse dargestellt. Die empirische Analyse befasste sich mit der Frage, inwiefern Response Shift und homöostatische Prozesse die Subjektive Lebensqualität beeinflussen und inwiefern die Lebensqualitätsverläufe Entwicklung abbilden. Es wurde untersucht, wann und in welcher Form Response Shift vorkam, welche Anpassungsprozesse dahinterstehen, inwiefern Ressourcenlage und Bewältigungsvermögen sich auf diese Prozesse und auf die Subjektive Lebensqualität auswirkten. In der Folge werden auserwählte Ergebnisse der Analyse im jeweiligen Zusammenhang an unterschiedlichen Fallbeispielen präsentiert. Diese werden teilweise mit den Grafiken der Verlaufskurven und Zitaten veranschaulicht. Im ersten Teil werden unterschiedliche Ergebnisse zu den Response Shift-Formen Repriorisierung, Rekalibrierung und Rekonzeptualisierung dargelegt und deren Auswirkung auf die Subjektive Lebensqualität reflektiert. Es wird deutlich, dass unterschiedliche Bewältigungsmuster hinter Response Shift stehen und Repsonse Shift als bewertungsorientiertes Coping interpretiert werden kann. Aus diesen Beispielen geht hervor, dass es für den daraus resultierenden Lebensqualitätswert eine Rolle zu spielen scheint, ob das mit Response Shift einhergehende Coping im Vermeidungs- oder Annäherungsmodus erfolgt. In der Darstellung des Typs Adaptation wird entsprechend postuliert, dass die in den Daten gefundenen Diskrepanzen zwischen den qualitativen und quantitativen Daten einem ausgeprägten Vermeidungsverhalten zugeschrieben werden können. Zudem kann dies für das Messen von Subjektiver Lebensqualität als problematisch angesehen werden. Anschliessend wird aufgezeigt, dass hinter Response Shift effektive Bewältigungsstrategien stehen können und wie es dazu kommen kann, dass eine von Annäherungsverhalten geprägte, positive Entwicklung auch in dynamischen Schwankungen oder gar in einem tieferen subjektiven Lebensqualitätswert erkennbar sein kann. Im zweiten Teil werden die Ergebnisse zu den drei untersuchungsleitenden Hypothesen der Wohlbefindens-Homöostase präsentiert. Die Seiqol-Verlaufskurven werden vor dem Hintergrund homöostatischer Prozesse, Ressourcenlage und Bewältigungsvermögen interpretiert. 7.1 Ergebnisse zu Response Shift Für die Beantwortung der Fragestellung, welche Anpassungsprozesse hinter Response stehen und wie sich diese auf die quantitativen Lebensqualitätsverläufe auswirken, dienten die Subkategorien der Kategorie Response Shift. Einerseits liess sich Response Shift durch eine 51 Bewegung in der Wichtigkeitskurve der Lebensbereiche von Seiqol erkennen und anderseits über Aussagen im qualitativen Interview (vgl. Ankerbeispiel auf Tabelle 4). Die Analyse ergab, dass sowohl Rekonzeptualisierungen, Repriorisierungen, als auch Rekalibrierungen im Sample vorkommen. Bei allen Personen im Sample konnte zudem mindestens eine Form von Response Shift erkannt werden, jedoch in unterschiedlicher Ausprägung und Stärke. Es war somit unterschiedlich, wie stark sich die Veränderung des Bewertungsstandards auf die subjektive Lebensqualität auswirkte und in welche Richtung25. Ebenfalls liessen sich Unterschiede in den hinter Response Shift stehenden Anpassungsprozesse erkennen. In der Folge werden die sich in den Daten manifestierenden Zusammenhänge zwischen Response Shift, Copingstrategien und der subjektiven Lebensqualität dargelegt. Aufgrund der Konzipierung des Seiqols konnten Repriorisierungen leichter als die anderen beiden Formen erkannt und analysiert werden. Deswegen werden die Ergebnisse dazu im nächsten Kapitel separat dargestellt. 7.1.1 Repriorisierungsmuster Zunächst muss angemerkt werden, dass die befragten Personen gebeten wurden, ihre fünf wichtigsten Lebensbereiche zu nennen. Daher kann angenommen werden, dass es sich grundsätzlich um subjektiv wichtige Lebensbereiche handelt und den Veränderungen der Wichtigkeiten im Zeitverlauf auch eine subjektive Bedeutung zugeschrieben werden kann. Die Repriorisierungen, die sich im Sample finden liessen, unterscheiden sich dahingehend, wie sie mit den Zufriedenheitswerten zusammenhängen und wie diese Muster erklärt werden können. In der Folge werden zwei auffallende Muster anhand von Grafiken der Verlaufskurven der Lebensbereiche und Zitaten aufgezeigt. Muster 1: Je unzufriedener ich bin, desto wichtiger ist es. In einigen Lebensbereichen zeigte sich ein deutliches Muster in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Wichtigkeit und Zufriedenheit. So zeigt sich beispielsweise bei Herrn Otto (KR02)26 ein interessantes Muster in seinem Lebensbereich Persönliche Hygiene. Dieser Lebensbereich repräsentiert sein Blasen-Darmmanagement, bei welchem er seit seiner Querschnittlähmung auf Unterstützung angewiesen ist. Er bewertet diesen Bereich hinsichtlich der Funktionalität und der Selbständigkeit. Wie auf der Abbildung 8 zu sehen ist, bewegen sich die Wichtigkeit und Zufriedenheit in entgegengesetzte Richtung. Bei 53 Skalenpunkten auf der 25 Die Analyse beschränkte sich auf eine deskriptive und qualitative Auswertung. Es wurden keine statistisch signifikanten Unterschiede berechnet. Von Interesse war es, was inhaltlich hinter Response Shift steht. 26 Die Namen der Personen sind fiktiv gewählt und andere Pseudonyme als die, die im ALIMEnt-Projekt verwendet werden. Kürzel KR steht für Klient/Klientin der Organisation der Rehabilitation, Kürzel KB steht für Klient/Klientin der Organisation der Suchthilfe. 52 Zufriedenheitsskala scheint für ihn die Schwelle zu sein. Liegt seine Zufriedenheit unter dieser Schwelle, so steigt der Einfluss dieses Bereichs auf seine Lebensqualität. Steigt die Zufriedenheit über diese Schwelle, verliert der Bereich an Bedeutung. Erklärung der Grafik: Auf der X-Achse ist der Zeitverlauf zu sehen. Die Messzeitpunkte sind mit dem Datum dargestellt. Auf der Y-Achse sieht man die entsprechende Einschätzung der Zufriedenheit (schwarz) und die Einschätzung der Wichtigkeit (türkis) zwischen einer Skala von 0- 100. Die untere grüne Linie stellt den Verlauf dieses Lebensbereichs im Verhältnis zur Gesamtwichtigkeit dar. Alle Lebensbereiche zusammenaddiert ergeben den Seiqol-Index. Abbildung 8: Verlaufskurve Lebensbereich 3 KR02 (Eigene Darstellung) Es ist gut nachvollziehbar, dass ein dysfunktionales Blasen-Darmmanagement sich auf seine weiteren Lebensbereiche wie Freizeit, Arbeit und Soziale Kontakte und somit seine ganze Lebensqualität auswirkt, währenddessen ein funktionales Blasen-Darmmanagement selbstverständlich wird und keine besondere Bedeutung für die Lebensqualität hat. Es ist anzunehmen, dass dieser Lebensbereich bei einer sehr guten Zufriedenheit auf Dauer an Wichtigkeit verlieren würde und durch einen neuen wichtigen Lebensbereich abgelöst werden könnte im Sinne einer Rekonzeptualisierung. Dies zeigt den dynamischen Charakter von subjektiver Lebensqualität auf und wie durch eine Erkrankung oder Behinderung verändern kann, was inhaltlich wichtig ist für eine gute Lebensqualität. Mit dem Seiqol können sowohl das Subjektive als auch die Dynamik gut erfasst werden, da genau diejenigen Lebensbereiche gewählt werden können, die in der momentanen Lebenssituation das biopsychosoziale Wohlbefinden am meisten beeinflussen. Ähnliche Muster sind bei Herr Otto im Lebensbereich Wohnen zu beobachten, und bei Herr Nook (KB08) beim Wohnen und beim Einkommen. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass diese Lebensbereiche im Zusammenhang mit Grundbedürfnissen stehen, die aufgrund ihrer geringen Elastizität bei einem Spannungszustand oder einer Bedürfnisverletzung sehr wichtig und zudem bewusstwerden, jedoch bei einer Befriedigung 53 an Bedeutung für die Lebensqualität verlieren (vgl. Obrecht 2009: 31). Das heisst, aufgrund der geringen Elastizität der hinter diesen Lebensbereichen stehenden Bedürfnissen, und ihrem weitreichenden Zusammenhang mit weiteren, insbesondere auch sozialen Bedürfnissen, rutschen diese Lebensbereiche in der Präferenzordnung nach oben, wenn Bedürfnisspannungen wahrgenommen werden. Überträgt man dieses Muster des einzelnen Lebensbereichs auf die subjektive Lebensqualität, so scheint es, wie von Cummins postuliert, einen Schwellenwert zu geben, bei welchem das Vermögen, eine gute subjektive Lebensqualität aufrechtzuerhalten aufgrund der Stärke der Belastung überschritten wird. Der Einfluss der Belastung auf die wahrgenommene Lebensqualität nimmt folglich zu. Eine der Belastung entgegenwirkende Ressourcenausstattung kann dazu führen, dass das homöostatische Gleichgewicht der subjektiven Lebensqualität wiedererreicht wird. Sobald diese Schwelle nach oben überschritten ist, nimmt der Einfluss einer zusätzlichen Verbesserung der Lebensumstände bspw. Ressourcenausstattung auf die gemessene subjektive Lebensqualität aber wieder ab, da die Bedeutung durch das Erreichen eines akzeptablen Niveaus an Bedürfnisbefriedigung abnimmt. Muster 2: Je unzufriedener ich bin, desto weniger wichtig ist es mir. Eine andere Form von Repriorisierung, die in den Daten zu beobachten ist, ist die Wichtigkeit eines Lebensbereiches zu senken, wenn die Unzufriedenheit steigt. Diese Bewegung kommt bei einigen Personen (KB03, KR02, KB07, KR03, KB06) und Lebensbereichen (Partnerschaft, Hobbies, Gesundheit, Hilfesystem, Zukunft, Musik, Kollegen, Familie) im Sample vor. Dieser nicht zufriedenstellende Lebensbereich wird durch einen anderen positiv bewerteten Lebensbereich kompensiert und die subjektive Lebensqualität bleibt so auf einem stabilen Niveau. Diesbezüglich lässt sich bei einigen Fällen vermuten, dass eine Art Verdrängung oder Vermeidung stattfindet. Dies soll am folgenden Beispiel veranschaulicht werden. Herr Dirk (KB03) hat als ersten Lebensbereich seine Partnerschaft gewählt. Zu drei von vier Zeitpunkten schätzt er die Wichtigkeit als sehr hoch ein (vgl. Abbildung 9). Beim zweiten Messpunkt befinden sich der Befragte und seine Freundin in einer Krise. Diese Beziehungskrisen seien wiederkehrend. Er beschreibt sie als tragisch und schreibt sie seinen Verlustängsten zu (KB03, 44). Wie in der Abbildung zu erkennen ist, schätzt er zum zweiten Zeitpunkt nicht nur die Zufriedenheit sehr tief ein, sondern auch die Wichtigkeit. Diese fällt von 98.5 auf 13 Skalenpunkte (vgl. Abbildung 9). 54 Abbildung 9: Verlaufskurven Seiqol Lebensbereich KB03 (Eigene Darstellung) Interessanterweise senkt er auch die Wichtigkeit der Lebensbereiche Gesundheit und Würde und Selbstbestimmung, in welchen er ebenfalls unzufrieden ist. Durch diese tiefen Wichtigkeitsangaben der nicht zufriedenstellenden Lebensbereichen zum zweiten Zeitpunkt verändert sich sein Lebensqualitätsindex im Vergleich zum ersten Zeitpunkt leicht nach oben. Die beiden Lebensbereiche Arbeit und Abgabe kompensieren die Lebensbereiche Partnerschaft und Gesundheit, welche fast verschwinden. Dies ist auf dem gestapelten Säulendiagramm gut zu erkennen (siehe Abbildung 10). Erklärung der Grafik: Auf der X- Achse sieht man die vier Messzeitpunkte mit dem jeweiligen Datum. Auf der Y- Achse ist der Seiqol-Index auf einer Skala von 0-100 als Säule dargestellt. Es ist zu sehen, wie sich der Seiqol- Index aus den fünf Lebensbereichen zusammensetzt. Abbildung 10: Säulendiagramm Seiqol KB03 55 Bedürfnistheoretisch lässt sich diese Art von Repriorisierung mit dem aktivierten Vermeidungsmodus erklären. Seine Verlustängste und weitere Stellen im Interview, wie die erwähnten Missbrauchserfahrungen im Kindesalter (KB03, 26), weisen darauf hin, dass er in seiner Lebensgeschichte schwerwiegende Verletzungen der Bedürfnisse nach Kontrolle, Orientierung, Bindung und Selbstwerterhöhung/-Schutz erfahren hat. Die Wiedererlangung der Kontrolle in Form von Vermeiden ist eine Strategie, um mit Ängsten und Bedürfnisverletzungen umzugehen (vgl. Grawe 2004: 248–249). Mit Grawe lässt sich dies in Bezug auf das Bindungsbedürfnis folgendermassen erklären. Durch das Nicht-Erreichen von Annäherungszielen, die zur Befriedigung des Bindungsbedürfnisses hätten beitragen sollen, wurden jeweils negative Emotionen aktiviert. Die psychische Aktivität richtet sich nun in Situationen, in denen das wiederkehrend geschehen ist, vermeidend aus, um zu verhindern, dass negative Emotionen wieder auftreten. Anstelle des Annäherungsverhaltens tritt ein Vermeidungsverhalten. Dadurch kann zwar Kontrolle wiedererlangt werden, jedoch werden andere Bedürfnisse nicht befriedigt. Durch ein immer mächtiger werdendes automatisierendes Vermeidungsverhalten ist dem Betroffenen oftmals nicht mehr bewusst, dass und was vermieden wird (vgl. ebd.: 275). In Bezug auf Vermeidungsziele ist es wichtig hinzuzufügen, dass sie keine echte Zielerreichung ermöglichen. Sie binden viel Aufmerksamkeit, Energie und werden von ängstlicher Anspannung und anderen negativen Emotionen begleitet und führen nie zum Zufriedenheitsgefühl, etwas erreicht zu haben. Sie führen insgesamt zu einer beeinträchtigten Bedürfnisbefriedigung, da durch die Aktivierung des Vermeidungsverhaltens keine Annäherungsziele verfolgt werden, welche zu einer wirklichen Bedürfnisbefriedigung führen würden (vgl. ebd.: 279) . Diesbezüglich lässt sich festhalten, dass Response Shift Ausdruck von Vermeidungsverhalten sein kann, was dazu führt, dass Bedürfnisspannungen oder Bedürfnisverletzungen nicht im gemessenen Wert der Subjektiven Lebensqualität zu erkennen sind, weil dieser stabil bleibt. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass homöostatische Prozesse auch vermeidende Prozesse sein können, wodurch der subjektive Lebensqualitätswert nicht ein Ausdruck von biopsychosozialem Wohlbefinden ist, sondern eine vermeidende Lebensbewältigung wiederspiegelt. Dies kann in extremer Form zum Typ Adaptation führen, welcher im Abschnitt 7.1.3 dargelegt wird. Durch die Konzipierung des Seiqol’s lässt sich dies, wie im dargelegten Beispiel, in den Verlaufsbewegungen der Zufriedenheit mit der Wichtigkeit rekonstruieren. Nicht zu erkennen, ist dies jedoch in der Kurve, wenn Vermeidung durch eine Rekalibrierung stattfindet, also durch eine Senkung des Anspruchsniveaus. 56 Der nächste Abschnitt zeigt Beispiele auf, in welchen Response Shift in Form von Repriorisierung und Rekalibirierung zu mehr Zufriedenheit führt und inwiefern dies als bewertungsorientiertes Coping interpretiert werden kann. 7.1.2 Response Shift als bewertungsorientiertes Coping Das folgende hinter Response Shift stehende Muster konnte im Zusammenhang mit gesundheitlichen Problemen und Erwartungen in sozialen Bereichen rekonstruiert werden. Insbesondere dann, wenn die Situation als nicht kontrollierbar und die Selbstwirksamkeitserwartung in Bezug darauf als tief eingeschätzt wurde. Im Lebensbereich Gesundheit passt Herr Otto (KR02) nach wiederholten Infektionserkrankungen sein Anspruchsniveau an seine gesundheitliche Situation an. Er meint, er wäre unterdessen schon «happy», wenn er einfach mal zwei, drei Monate keinen Infekt hätte (KR02, 13). Ebenfalls passt er im Lebensbereich Familie sein Anspruchsniveau an. So erzählt er, dass er nach seiner Rückkehr aus der Rehabilitation erwartet hätte, dass seine Familie sich mehr Zeit nehmen würde für ihn und öfters zu Besuch käme. Herr Otto: «Das ist (..), nein das ist einfach, eben, das ist einfach, die Vorfreude (betont) ist da und höchst-wahrscheinlich ist einfach auch die Erwartungshaltung auch viel zu hoch, das ist so, das ist natürlich schwierig, oder, weil in einer Vorfreude hat man natürlich immer eine Erwartungshaltung, oder, und äh, die ist vielleicht halt wirklich einfach zu hoch oder falsch gesteckt gewesen, oder, und äh, ja aber das äh, da sind wir schon längstens auf gutem Weg, oder // ja? //, ja ja ja, das hat sich schon geändert, eben». (KR02, 61) Auf der Grafik (siehe Abbildung 11) ist dieser Prozess gut ersichtlich. Abbildung 11: Verlaufskurven Seiqol Lebensbereich 1 KR02 (Eigene Darstellung) 57 Zum zweiten Zeitpunkt kehrt er nach Hause zurück, zum dritten Zeitpunkt ist die Zufriedenheit gesunken. Die Anpassung seiner Erwartung führt zum vierten Zeitpunkt wieder zu einer gesteigerten Zufriedenheit. Mit dieser Rekalibrierung geht auch eine leichte Senkung der Wichtigkeit zum dritten Zeitpunkt einher. Die Aussagen im Interview lassen darauf schliessen, dass der Anstieg der Kurve zum letzten Zeitpunkt vor allem mit seiner angepassten Erwartungshaltung einhergeht und weniger mit einer qualitativen Veränderung in diesem Lebensbereich. Diese Art von Response Shift lässt sich als bewertungsorientiertes Coping interpretieren, da eine als unbefriedigend empfundene Situation durch das bewusste Anpassen der Erwartungen wieder zu mehr Zufriedenheit führt (vgl. 5.2.2). Ein ähnliches Muster ist bei Herr Reim (KB06) zu erkennen. Auch bei ihm führt das Verändern der Erwartungshaltung in einem wichtigen sozialen Lebensbereich zu einer erhöhten Zufriedenheit. Durch die wiederkehrenden Enttäuschungen im Zusammenhang mit dem Verhalten seiner Ex-Frau, verändert er seine Erwartung an diesen Lebensbereich, was dazu führt, dass er zufriedener wird. Auf der Grafik (siehe Abbildung 12) ist zu sehen, dass er dies nicht nur durch eine Rekalibrierung tut, sondern auch durch das Senken der Wichtigkeit zum dritten Zeitpunkt. Abbildung 12: Verlaufskurve Seiqol Lebensbereich 1 KB06 (Eigene Darstellung) Herr Reim: «Ich gehe eigentlich gar nicht mehr mit der Erwartung daran, dass es wirklich eh etwas bringt oder. Ich sage einfach, das könntest du machen. Aber es ist deines. Du musst das selber. Es ist dein Leben. (.). An dem habe ich schon ziemlich gekonnt, ja eben man sagt, Erfolge, oder einfach, dass es mir besser geht. (KB06, 161)». 58 Ein weiteres Zitat zeigt auf, wie die sozialarbeiterische Beratung ihn im Umgang mit diesem belastenden Lebensbereich unterstützt und er sich neben dem bewertungsorientierten Coping auch emotionsorientierte Bewältigungsstrategien aneignet. Herr Reim: «Ich habe mir dort auch einfach zu viel erhofft, dass sie jetzt wirklich dorthin geht. Und ja. Aber ich habe jetzt eben auch ein paar Strategien mit der Fr. Sozialarbeiterin angeschaut, wie ich das machen kann. Wie ich mich abgrenzen kann, dass ich einfach aus der Situation hinausgehe. Dass ich laufen gehe oder so. Dass ich einfach so, mehr abgrenzen, wenn sie wirklich extrem drauf ist und sie mich nervt und alles.» (KB06, 154). Diese Beispiele zeigen auf, wie durch bewertungsorientiertes Coping das Anspruchsniveau wie auch die Wichtigkeit eines Lebensbereichs gesenkt werden, was zu einer gesteigerten Zufriedenheit im Lebensbereich führt. Wie im Zitat von Herr Reim ersichtlich ist, führt die Kombination von bewertungsorientiertem und emotionsorientiertem Coping dazu, dass es ihm besser geht. Daraus lässt sich schliessen, dass hinter Response Shift die Anpassung des Bewertungsstandards, also bewertungsorientiertes Coping stehen kann als Folge einer Situation, die nicht zufriedenstellend bewältigt werden kann. Durch das Anpassen des Bewertungsstandards wird die gleiche Situation als zufriedenstellender erfahren, was zu einer Erhöhung der subjektiven Lebensqualität führt. Diese Art von Response Shift konnte im Sample auch als Form der Krankheitsbewältigung erkannt werden. Response Shift als Krankheitsbewältigung Bei den Personen aus der Organisation R, welche eine akute Veränderung des Gesundheitszustandes erlebten, zeichnet sich insbesondere ab, dass bewertungsorientiertes Coping ein wichtiger Teil der Krankheitsbewältigung darstellt. Rekalibirierungen, Repriorisierungen und Rekonzeptualisierungen, tragen dazu bei, dass sich die zum ersten Zeitpunkt als tief eingeschätzte Lebensqualität im Verlauf der Zeit stetig verbessert. In der Form von Rekonzeptualisierungen kann dies bedeuten, dass innerhalb eines wichtigen Lebensbereichs, neue inhaltliche Komponenten dazu kommen. So passt beispielsweise Herr Ruckli (KR03) an, was ihm inhaltlich für den Lebensbereich „Sport“ wichtig ist. So war ihm ursprünglich im Bereich „Sport“ die körperliche Anstrengung, die Fitness und das Erreichen persönlich gestellter Ziele wichtig. Durch die Paraplegie erhält der Bereich „Sport“ eine zusätzliche soziale Komponente, da es ihm wichtig ist, mit anderen Rollstuhlfahrern in Kontakt zu sein (KR03, 88). Der soziale Austausch mit anderen Betroffenen stellt auch für Frau Karo (KR05) eine wichtige Komponente für die Rekonzeptualisierung ihrer Lebensqualität dar. Es sei hilfreich und motivierend zu sehen, wie andere Personen die Paraplegie erlebt haben und es geschafft 59 haben, trotz Paraplegie wieder eine gute Lebensqualität zu erreichen. Dies habe ihr geholfen auch für sich selber wieder eine Perspektive zu entwickeln (KR05, 81, 85). Das Anpassen der Erwartungen an die veränderte Lebenssituation und entsprechendes Handeln sind aus Sicht von Herr Ruckli wichtige Komponenten dafür, wieder eine gute Lebensqualität zu erhalten. Als Metapher für eine gelingende Lebensführung meint er zum Abschluss des Interviews: Herr Ruckli: „Wenn du jetzt von einer Strasse kommst, und du hast hier einen Randstein, 15 Zentimeter, und du kommst dort nicht herauf, sollte man vielleicht einmal schauen, ob es irgendwo eine Abflachung hat zum darauf hinaufgehen. Und dann muss man auch damit klarkommen, dass man jetzt einfach nicht von hier nach hier gehen kann und dies halt so machen muss, oder. Und wenn man damit klar kommt, dann glaube ich, ist vieles möglich (lachen).“ (KR03, 118) Das Anpassen des Referenzrahmens an die neue Situation, an die veränderten Verwirklichungschancen und das veränderte Bewältigungsvermögen stellt sich als wichtige Bewältigungsstrategie heraus im Umgang mit der Paraplegie oder einer akuten Erkrankung. Den Vergleichsrahmen anzupassen und realistische, erreichbare Ziele zu setzen, erweist sich für das Erleben von Selbstwirksamkeit, und das Wahrnehmen einer guten Lebensqualität als grundlegend. Frau Ferdinand: «Also es ist, ich muss es auch im Rahmen halten. Natürlich hätte ich jetzt gedacht, ja, ich möchte, dass der Sommer so wird, wie der vor zwei Jahren, und dass ich alles kann. Das wäre unrealistisch. Natürlich wäre das mein innigster Wunsch. Aber jetzt im Rahmen des Möglichen, erfreue ich mich, dass ich die Ziele, die ich mir gesetzt habe, dass ich die bis jetzt auch alle so erreicht habe in der Zeit, die ich dafür vorgesehen hatte». (KR07, 22) In der Kontrastierung der unterschiedlichen Fälle und den darin vorkommenden Formen von Response Shift wurde deutlich, dass unterschieden werden kann, ob bewertungsorientiertes Coping mit Annäherungs- oder Vermeidungsverhalten einhergeht. So lässt sich vermuten, dass bewertungsorientiertes Coping, welches ohne zusätzliche, annähernde problem- oder emotionsorientierte Bewältigungsstrategien erfolgt, auf Dauer keine nachhaltige Bedürfnisbefriedigung erzeugt. Es ist anzunehmen, dass beispielsweise bei Herr Otto (KR02) das Bedürfnis nach Nähe und sozialer Anerkennung, welche er über den Lebensbereich Familie zu befriedigen versucht, durch das Senken des Anspruchsniveaus noch nicht befriedigt ist. Es ist naheliegender, dass auch bei ihm eine Art Bedürfnisunterdrückung resp. Vermeidung stattfindet, welche die Funktion hat, sich vor negativen Emotionen zu schützen. Dies könnte auf Dauer schädigende Auswirkungen haben, wenn das Bedürfnis nicht über andere soziale Interaktionen befriedigt werden kann. Diese Überlegungen führen zu der Annahme, dass das hinter Response Shift stehende bewertungsorientierte Coping vor allem dann das Potential auf Wohlbefinden erhöht, wenn es mit problemorientiertem oder emotionsorientiertem Coping im Annäherungsmodus einhergeht. Das heisst mit Verhalten, das auf bedürfnisbefriedigende Erfahrungen gerichtet ist (vgl. 3.2.1 und 5.2.1). 60 Demgegenüber ist es anzunehmen, dass es die vermeidende Form von Response Shift ist, welche in extremer Ausprägung zu dem von Zapf beschriebenen Lebensqualitätstypen «Adaptation» führen kann, bei welchem Personen über eine gute subjektive Lebensqualität berichten trotz nicht bedürfnisbefriedigenden Lebensbedingungen (vgl. Kapitel 2.2). Mit diesem für die Evaluationsforschung problematischen Fall befasst sich der nächste Abschnitt. 7.1.3 Hohe Lebensqualitätswerte durch Vermeidungsverhalten Wie bereits beschrieben, wurden die sich in den Daten manifestierenden Übereinstimmungen und Divergenzen zwischen den qualitativen und quantitativen Daten analysiert. In der Folge wird ein Fallbeispiel dargelegt, bei welchem Divergenzen festgestellt werden konnten. Anhand eines Lebensbereichs wird exemplarisch aufgezeigt, wie diese zustande kommen können. Anhand einer Typisierung wird argumentiert, dass es eine Personengruppe gibt, bei welcher das Messen von Subjektiver Lebensqualität in der Sozialen Arbeit ein Problem darstellt. Im Sample befinden sich Fälle, bei welchen Divergenzen zwischen der mit Seiqol gemessenen subjektiven Lebensqualität, den Oxcap- Werten und den qualitativen Aussagen festgestellt werden konnten (KB04, KB08, KB03). Dies waren alles Fälle der Organisation B, deren Biografie von einer langjährigen Problemgeschichte und einer chronischen Suchterkrankung geprägt ist. Bei Herr Roi konnten die grössten Diskrepanzen festgestellt werden, weswegen sein Fall ausführlicher dargestellt wird. Seine Seiqolwerte sind vergleichsweise sehr hoch: 75, 88, 82 und 90. Interpretiert man diese Werte mit den Annahmen von Cummins und Team würden solche hohen Werte darauf hinweisen, dass das homöostatische Gleichgewicht der Subjektiven Lebensqualität nicht bedroht ist und es sich bei Herr Roi um «normale» Schwankungen handelt (vgl. 5.3). Auch im Vergleich mit den Mittelwerten der Gesamtstichprobe27 (60,71,73,70) sind die Werte überdurchschnittlich hoch. Herr Roi’s Oxcap-Werte liegen hingegen mit 54, 57, 46, 53 Skalenpunkten auf einem tiefen Niveau. Es sind die tiefsten Werte der Personen der Organisation B und auch tief im Vergleich mit den Mittelwerten der Gesamtstichprobe (67,73,72,73). Diese Diskrepanz lässt annehmen, dass er seine Verwirklichungschancen resp. Befähigungen tief einschätzt, aber trotzdem eine relativ hohe subjektive Lebensqualität erlebt, beispielsweise weil er sich an die vorhandenen Lebensumstände angepasst hat. Zum Zeitpunkt des zweiten Interviews erlebt Herr Roi jedoch seit einiger Zeit keine gute Lebensqualität. Er steht unter 27 Dies sind die Mittelwerte der Gesamtstichprobe des Samples von ALIMEnt (n=23). 61 einer hohen Stressbelastung und ist mit den Anforderungen seines Lebens überfordert, sprich er erlebt keineswegs Wohlbefinden im Sinne einer ausgewogenen Befriedigung seiner biopsychosozialen Grundbedürfnisse (vgl. ebd.: 303). Er leidet unter Schlafstörungen und Suizidgedanken. Weil er befürchtet, dass er durch die überfordernde Lebenssituation entweder Ausrasten oder wieder den Drogen verfallen könnte, wünscht er sich dringend ein Time-Out, um Abschalten und Abstand gewinnen zu können (vgl. KB04, 13-15). Herr Roi:«Es wird mir zu viel. Es, ich, vom, also dass sind, einfach alles darum. Von Kindern, Arbeiten, dann, es kommt Wohnen, es kommt alles irgendwie einfach dazu. Ich, ich bin irgendwie in einem Kreis, komme nicht da heraus. Oder wenn ich ein wenig rauskomme, falle ich gerade wieder zurück. Und dort habe ich eben Angst, dass ich danach wieder wie irgendwie in die Drogen, in die Drogen hineinfalle, wenn es, wenn es, wenn ich die Schnauze voll habe, auf deutsch gesagt» (KB04, 17). Herr Roi’s Fallrekonstruktion weist darauf hin, dass seine Seiqol-Kurve ein Ausdruck einer Lebensbewältigung ist, welche durch starkes Vermeidungsverhalten geprägt ist. So scheinen nicht nur seine gängigen Lösungsstrategien vermeidenden Charakter zu haben, sondern auch seine Samplingstrategie während des Bewertungsprozesses des Seiqols (vgl. Kapitel 5.2.1). Während des Bewertungsprozesses ist es entscheidend, welche Erinnerungen, Erfahrungen und Empfindungen in das Rating eines Lebensbereichs einbezogen werden. Herr Roi bewertet die Zufriedenheit und die Wichtigkeit seiner Lebensbereiche Kinder und Mutter über alle Zeitpunkte hinweg als sehr hoch. Im Interview erzählt er jedoch über grosse Belastungen und Sorgen in diesen Lebensbereichen. Diese Gedanken und Empfindungen bezieht er jedoch nicht in das Rating mit ein. Wenn nun wie bei ihm, belastende Aspekte aus dem Rating ausgeschlossen werden und beispielsweise über optimistische Zukunftserwartungen, eine hohe Zufriedenheit angegeben wird, ergibt sich ein hoher subjektiver Lebensqualitätswert. Über «defensive» Bewältigungsstrategien wie Verleugnen, Verdrängen oder Optimismus entsteht so ein «verzerrtes Bild» der Lebensqualität der Person. Dieses stimmt folglich nicht mit der faktischen Lebensqualität oder dem Grad der Bedürfnisbefriedigung überein. Jedoch ermöglicht dies der Person, sich trotz widrigen Lebensumständen einigermassen gut zu fühlen, jedenfalls über eine gewisse Zeitspanne hinweg. Exemplarisch soll dies nun an Herr Roi’s Lebensbereich Wohnen aufgezeigt werden, inwiefern Divergenzen zwischen dem Seiqol, dem Oxcap und den qualitativen Aussagen vorkommen und wie diese erklärt werden können. Diskrepanzen im Lebensbereich Wohnen Herr Roi wohnt in einer Wohnung, die nicht seinen Bedürfnissen entspricht und die er selbst als ein «Loch» beschreibt. Wie er im Interview ausführt, ist in der Verlaufskurve zum 62 Lebensbereich Wohnen die Wohnungssuche abgebildet und die damit verbundene Hoffnung auf bessere Wohnverhältnisse (vgl. KB04, 71). Durch seine optimistischen Erwartungen in Bezug auf eine mögliche neue Wohnung steigt der Zufriedenheitswert um 50 Skalenpunkte an (siehe Abbildung 13). Zum dritten Zeitpunkt senkt sich die Zufriedenheit um 10 Skalenpunkte, da er die erhoffte Wohnung doch nicht erhält, gleichzeitig senkt er die Wichtigkeit auf das gleiche Niveau. Durch diese Repriorisierung wird der negative Effekt dieser bestehenden Bedürfnisspannung in Bezug auf die subjektive Lebensqualität abgeschwächt. Die beiden Werte steigen wieder an infolge der Hoffnung auf eine andere Wohnung. Herr Roi’ s realen Wohnverhältnisse bleiben aber über die ganze Beobachtungsperiode unverändert. Dies ist im Oxcap gut abgebildet, in welchem er beim Item «Wie geeignet oder ungeeignet ist ihre Wohnsituation für ihre derzeitigen Bedürfnisse» vier Mal «sehr ungeeignet» ankreuzt. Abbildung 13: Verlaufskurven Seiqol Lebensbereich 4 KB04 (Eigene Darstellung) Am Lebensbereich Wohnen kann veranschaulicht werden, wie Herr Roi im Seiqol ein positiveres Bild einer Situation, die überhaupt nicht seinen Bedürfnissen entspricht, aufrechterhalten kann und wie er so seine subjektive Lebensqualität auf einem hohen Niveau hält. Cummins postuliert entsprechend, dass es für den Menschen normal sei, sich gut über sich selbst zu fühlen. Er erklärt dies mit dem Grundgefühl des «homeostatically protected mood», 63 welches vom homöostatischen System verteidigt wird und eine Disposition des Menschen darstelle, ein positives Grundgefühl und Selbstbild zu haben (vgl. Cummins et al. 2012: 91, vgl. Cummins 2005: 336–337). Die Tendenz, die Lebenssituation besser darzustellen, als sie tatsächlich ist, kann zudem bedürfnistheoretisch mit dem Bedürfnis nach Selbstwertschutz respektive Selbstwerterhöhung erklärt werden. Es sei zutiefst menschlich, sich gut über sich selber zu fühlen und ein gutes Selbstbild respektive Selbstwertgefühl aufrecht zu erhalten (vgl. Grawe 2004: 250). Sich vorzumachen, dass es um die eigenen Bedürfnisse bessergestellt ist, als es wirklich ist, führt zu positiveren Gefühlen und hat eine, wenn auch begrenzte, bedürfnisbefriedigende Funktion (vgl. ebd.: 259). Wie das Beispiel von Herr Roi jedoch deutlich macht, ermöglicht dies keine längerfristige, ausgewogene Bedürfnisbefriedigung, sondern führt auf Dauer zum psychischen Zusammenbruch. Dies führt zur Schlussfolgerung, dass es Personen gibt, bei welchen eine mit Seiqol gemessene hohe subjektive Lebensqualität ein Ausdruck von Vermeidung ist als Folge einer längeren Problemgeschichte. Lebensqualitätstyp Adaptation Der Lebensqualitätstyp «Adaptation» ist dann zu erwarten, wenn es sich um eine Person handelt, die sich über eine längere Zeitspanne hinweg in einer Lebenssituation befand, in welcher biopsychosoziale Bedürfnisse aufgrund von einem Ungleichgewicht zwischen den Lebensanforderungen und den verfügbaren Ressourcen unbefriedigt waren respektive Bedürfnisverletzungen stattgefunden haben. Mit verfügbaren Ressourcen sind sowohl soziale, materielle, finanzielle als auch interne Bewältigungsstrategien gemeint. Die Person hat sich im Verlaufe der Zeit jedoch an diese Situation angepasst, indem der Bewertungsstandard (bewusst oder unbewusst) an das subjektiv wahrgenommene Bewältigungsvermögen angeglichen wurde. Dies kann beispielsweise durch das Senken des Anspruchsniveaus erfolgen, durch das Repriorisieren von Lebensbereichen oder durch das selektive Sampeln von Erinnerungen und Eindrücken in Bezug auf die Lebenssituation. Problematisch ist dies dann, wenn die Wünsche, Präferenzen und Ziele so angepasst wurden, dass Bedürfnisspannungen bestehen bleiben und nicht anderweitig befriedigt werden. Das heisst, wenn anstatt Annäherungsziele, Vermeidungsziele verfolgt werden durch welche zwar Bedürfnisverletzungen verhindert werden, aber auch keine Bedürfnisbefriedigung stattfindet. Dieses vermeidende Verhalten kann auf Dauer zu Schädigungen des Organismus führen. In Bezug auf das Messen und Interpretieren von Subjektiver Lebensqualität stellt dies insofern ein Problem dar, da eine Diskrepanz besteht zwischen der gemessenen subjektiven Lebensqualität und dem faktischen Wohlbefinden. Die quantitativ gemessenen subjektiven 64 Lebensqualitätswerte dieses Typs befinden sich im positiven Bereich, im vermeintlichen Normbereich, bei welcher man davon ausgehen würde, dass die Wohlbefindens-Homöostase im Gleichgewicht ist und Ressourcen ausreichen, bestehende Bedürfnisspannungen auszugleichen. Der Bewertungsprozess der Person wiederspiegelt aber eher die vermeidende Lebensbewältigung unter erschwerten Bedingungen und nicht das biopsychosoziale Wohlbefinden. Selbstbeurteilungen können somit bei chronischen Problemen ein verzerrtes Bild über das faktische Wohlbefinden geben. Dies kann auch anhand der Generalized Unsafety Theory of Stress (GUTS) erklärt werden, welche besagt, dass chronische Unsicherheit zu einer anhaltenden Stressreaktion führt, die nicht bewusst wahrgenommen wird, da sie chronisch ist. Da diese Theorie eine weitere plausible Erklärung für den oben dargestellten Typ bietet, wird sie in aller Kürze präsentiert. Grundlage dieser Theorie sind neurobiologische und evolutionstheoretische Erkenntnisse, die darauf hinweisen, dass die Stressreaktion eine Standardreaktion des Hirns ist, die immer aktiv ist, und nur dann durch den präfrontalen Kortex gehemmt wird, wenn Sicherheit wahrgenommen wird. Darauf basierend postuliert das wissenschaftliche Team mit der GUTS, dass anhaltende Stressreaktionen auf generalisierte und weitgehend unbewusst wahrgenommene Unsicherheit und nicht wie angenommen auf Stressoren zurückzuführen sind. Dies erkläre, warum Menschen, die von niedrigem sozialem Status und Einsamkeit betroffen sind, chronisch unter körperlichem Stress stehen und dadurch von erhöhtem Krankheitsrisiko betroffen sind. Dies resultiere daraus, dass ihre Lebensbedingungen unsicher seien und die Standard-Stressreaktion deswegen nicht unterdrückt werden (vgl. Brosschot/Verkuil/Thayer 2018: 1). Brosschot und Team gehen davon aus, dass diese Stressreaktion nicht bewusst wahrgenommen wird, weil sie kontinuierlich im Gange ist, da viele unsichere Bedingungen, wie ein eingeschränktes soziales Umfeld ebenfalls chronisch seien: “Thus, a continuous emotional-visceral state typically goes undetected by conscious awareness, even in humans. As a result, the default stress response is likely to be misinterpreted as one’s “normal” state. It seems bitterly ironic that precisely because of the feature that makes it most harmful to health, namely its chronicity, the default stress response remains under the radar of conscious awareness, and thus undetected and sub-optimally coped with. Thus, the default response, and GU (Generalized Unsafety) as its cause, can often not, and therefore will not be measured by self-report". (Brosschot/Verkuil/Thayer 2018: 7) Ferner wird argumentiert, dass Menschen sich oftmals erst bei einer Veränderung und Unterbrechung dieser Stressreaktion bewusst werden, dass sie überhaupt existiert (vgl. ebd.: 7). Als Interventionen können somit das Bereitstellen von Bedingungen und Aktivitäten, die bei 65 der Person ein erhöhtes Sicherheitsgefühl erzeugen, zu einer Reduktion von Stress führen (vgl. ebd.: 17). Für den Typ «Adaptation» würde das heissen, dass das Bereitstellen von sicherheitserzeugenden Bedingungen zu einer Bewusstmachung von Bedürfnisspannungen führen könnte, wodurch sich der Lebensqualitätswert erst einmal senken würde. Im nächsten Abschnitt wird aufgezeigt, dass eine positive Entwicklung durchaus zu einer zeitlichen Verschlechterung der subjektiven Lebensqualität führen kann und zwar dann, wenn neue Annäherungsziele gestellt werden. 7.1.4 Tiefe Lebensqualitätswerte durch Annäherungsverhalten Es lassen sich im Sample Beispiele erkennen, bei denen eine Unzufriedenheit in einem Lebensbereich, mit dem Anheben des Anspruchsniveaus und dem Formulieren von neuen Annäherungszielen einhergeht. So hat sich beispielsweise Herr Reim (KB06) das Ziel gesetzt, von einer IV-geschützen Arbeitsstelle in den ersten Arbeitsmarkt zu wechseln. Interviewer: «Sie wollen auf den ersten Arbeitsmarkt. Ist das so ein bisschen ihr Ziel? //Ja,// Ihre Vision? //Ja// Und was erhoffen Sie sich denn, wenn Sie wieder so eine Stelle haben?» Herr Reim: «Ja einfach, ehm, wieder ein normales Leben führen. Auch ein bisschen mehr Geld haben und nicht vom Staat abhängig sein müssen. (zieht Atem geräuschvoll ein). Und es ist einfach auch, ja, von mir ausgesehen, eine interessante Arbeit. Eigentlich noch mehr als hier oder.» (KB06, 74) Das Erhöhen des Anspruchsniveaus im Zusammenhang mit einem solchen Annäherungsziel kann dazu führen, dass sich die Zufriedenheit in einem Lebensbereich, einem Item oder dem gesamten Leben senkt. Dies ist beispielsweise auf seiner Oxcap- Bewertung zu erkennen, in welcher er den «Zugang zu interessanten Tätigkeiten/Erwerbstätigkeit» zum letzten Zeitpunkt schlechter einschätzt als zu den ersten drei Zeitpunkten (vgl. KB06, Oxcap). Dieser neuen Zukunftsvision ging bei Herr Reim eine Zeit voraus, in der er von einer starken Unzufriedenheit in mehreren Lebensbereichen und einer depressiven Phase berichtet, welche ungefähr im März stattgefunden habe (KB06, 140). Seine Seiqolkurve bildet diesen dynamischen Prozess ab (siehe Abbildung 14). Die Kurve zeigt starke Schwankungen. Zweimal sinkt der Wert unter 50 Skalenpunkte, was seine depressive Phase abbildet. Auch der Oxcap senkt sich etwas zum dritten Zeitpunkt, bleibt aber mit 71 Skalenpunkten auf einem relativ hohen Niveau angesichts seines Leidensdrucks zu diesem Zeitpunkt. Seine Kurve lässt darauf schliessen, dass eine positive Entwicklung nicht unbedingt in einer ansteigenden Kurve zu erkennen ist, sondern durchaus Schwankungen enthalten kann. 66 Erklärung der Grafik: Auf der X-Achse ist der Zeitverlauf zu sehen. Die Messzeitpunkte sind mit dem Datum dargestellt. Auf der Y-Achse ist der Wert des Seiqol-Index (blau) und der Oxcap- Score (rot) abgebildet auf einer Skala von 0-100. . Abbildung 14: Verlaufskurven Oxcap und Seiqol KB06 (Eigene Darstellung) In der Folge wird auf Herr Reim’s Entwicklung und den positiven Einfluss der professionellen Intervention eingegangen. 7.1.5 Einfluss der sozialarbeiterischen Intervention In Herr Reim’s Fallrekonstruktion zeigt sich, dass die Interventionen der Sozialarbeiterin sich positiv auf seine Entwicklung auswirken. In der Beratung kann er seine Situation reflektieren, für den Umgang mit bestehenden Belastungen Copingstrategien aneignen und er fühlt sich genug unterstützt, um es zu wagen, neue Annäherungsziele zu stellen. In Bezug auf seine Unzufriedenheit bei der Arbeit und seinem Annäherungsziel, die Arbeit zu wechseln, erhält er professionelle Unterstützung durch seine Sozialarbeiterin (vgl. KB06, Abschnitt 19, 21, 87). Herr Reim: «…Ja und mir tut es auch gut, wenn ich mit jemandem so ein bisschen reden kann. Und eh, es gibt mir auf meinem Weg auch ein bisschen eh einen Halt. Wenn ich dort (.) kann gehen. Und sie (die Sozialarbeiterin) sieht manchmal auch Sachen, die ich noch gar nicht sehe...» (KB06, 91) Dass er durch die Beratung Halt erfährt, lässt sich mit der Befriedigung des Kontrollbedürfnisses erklären. Interventionen, die darauf abzielen, besser mit Herausforderungen im Leben umzugehen und sie zu bewältigen, bewirken eine positive Kontrollerfahrung bei der betroffenen Person und lindern damit die Verletzung des Kontrollbedürfnisses. Dies hat positive Auswirkungen auf das Wohlbefinden und wirkt sich zudem, wenn solche Erfahrungen kontinuierlich gemacht werden, positiv auf die Arbeitsbeziehung aus (vgl. Grawe 2004: 233; 382). Laut Grawe hat eine solche Arbeitsbeziehung das Potential, ein «motivationales Priming» auszulösen: Durch emotional 67 positive Erfahrungen ist das Annäherungssystem aktiviert und erhöht die Tendenz zu weiteren positiven Emotionen und annäherndem Verhalten. In diesem Aktivierungsmodus besteht von Seiten des Klienten oder der Klientin eine grössere Bereitschaft, eigene annähernde Ziele anzugehen (vgl. ebd.: 382). Dies führt zur Feststellung, dass eine (zeitliche) Verschlechterung der Lebensqualität durchaus im Zusammenhang mit einer wirkungsvollen Intervention sein kann, nämlich dann, wenn sich die Person in den Annäherungsmodus begibt. Wenn sie neue Annäherungsziele stellt, respektive ihr Anspruchsniveau erhöht und in Folge dessen eine Abweichung zwischen Ist- und Soll-Zustand registriert, kann es sein, dass sie die subjektive Lebensqualität entsprechend schlechter bewertet. Wenn Personen sich in den Annäherungsmodus begeben, werden dadurch auch Veränderungen in anderen Lebensbereichen angeregt. Es kommen neue Ansprüche, aber auch neue Anforderungen und eventuell auch Belastungen dazu, die es zu bewältigen gibt. Was sich in den Lebensbereichen dann zeigt, ist ein dynamisches Zusammenspiel von sich gegenseitig beeinflussenden, unterschiedlichen Faktoren. Dynamische Wechselwirkungen zwischen den Lebensbereichen Eine positive Entwicklung bildet sich nicht zwingend auf dem Lebensqualitätswert ab, da dynamische Wechselwirkungen zwischen den Lebensbereichen stattfinden und eine positive Entwicklung in einem Lebensbereich sich vorerst «negativ» auf einen anderen Lebensbereich auswirken kann. So lassen sich interessante Wechselwirkungen bei Herr Nook (KB08) feststellen, welcher sich durch das Eingehen einer festen Beziehung mit neuen Anforderungen und Erwartungen konfrontiert sieht, sowohl als Partner sowohl als auch Bezugsperson für den Sohn seiner Partnerin. Die durchaus positive Veränderung in einem Lebensbereich wirkt sich durch das erhöhte Anspruchsniveau auf die Zufriedenheit in den anderen Lebensbereichen (Einkommen, Konsumverhalten) aus. So hat er beispielsweise seinen Drogenkonsum erhöht, als er alleine war. «Ja ich habe halt viel Zeit gehabt, als ich alleine was, als ich nicht mehr mit der Partnerin zusammen war und dort war es mir einfach egal. Dann habe ich angefangen zu kiffen wieder.» (KB08, 133) Durch die Beziehung ist ihm sein Drogenkonsum nun nicht mehr gleichgültig. Einerseits wird er sehr unzufrieden im Lebensbereich Kokainkonsum, da er merkt, wie die Sucht wieder stärker wird und der Konsum kein Genuss mehr darstellt. Anderseits verändert sich durch die Beziehung zur Freundin auch inhaltlich etwas an diesem Lebensbereich. Sie vereinbaren das Ziel, weniger zu konsumieren, wodurch die Erwartungshaltung steigt und er sich unter Druck fühlt. Gleichzeitig gelingt es ihm nicht, wie vorgenommen Sport zu treiben, um zu entspannen 68 und sich abzulenken (KB08, 23). Eine weitere Wechselwirkung wird durch den verbesserten Lebensbereich Wohnen ausgelöst. So hat er es geschafft, aus dem Betreuten Wohnen in eine selbständigere Wohnform zu wechseln. Einerseits werden dadurch einige Bedürfnisse besser befriedigt, anderseits fühlt er sich öfters alleine, was sich ebenfalls negativ auf sein Konsumverhalten auswirkt (KB08, 141-151). Wie in der Abbildung 15 zu erkennen ist, löst dies eine starke Unzufriedenheit in Bezug auf sein Konsumverhalten aus. Dass er die Wichtigkeit dieses Lebensbereichs stetig senkt, entspricht nicht dem faktischen Einfluss dieses Bereichs auf sein wahrgenommenes Wohlbefinden, da er von erhöhtem Suchtdruck spricht. Diese Diskrepanz könnte jedoch Ausdruck davon sein, dass er diesen Lebensbereich anders zu konzeptualisieren beginnt und der Kokainkonsum im Verhältnis zu anderen Lebensbereichen an Wichtigkeit verliert. Abbildung 15: Verlaufskurven Seiqol Lebensbereich 2 KB08 (Eigene Darstellung) Diese sich abspielende Dynamik zwischen den Lebensbereichen, die sich in der subjektiven Lebensqualität abzeichnen kann- aber unter Umständen auch nicht erkennen lässt- steht bei einigen Fällen im Zusammenhang mit der Einnahme einer neuen Rolle, also faktischen Veränderungen in den Lebensbereichen. Damit geht ein Anpassen des Anspruchsniveaus und die Veränderung von Präferenzordnungen in Bezug auf unterschiedliche Bedürfnisse einher. Herr Nook’s Lebensqualitätswerte sind beispielsweise folgendermassen zu den vier Zeitpunkten: Oxcap 66, 78, 67, 64 und Seiqol: 45, 60, 64, 60. Obwohl zum letzten Zeitpunkt viel in Bewegung ist und er einige Ziele erreichen konnte, ist dies nicht im Wert zu erkennen, da daraus neue Ziele und Erwartungen entstehen. 69 Dies lässt den Schluss zu, dass das Anregen von Veränderung in den Lebensbereichen sowie die Durchbrechung bereits langanhaltender Reproduktion von Problemen durch die sozialarbeiterische Intervention nicht unbedingt als ansteigende Lebensqualitätskurve zu erkennen ist. Positive Veränderungen in einem Lebensbereich können sich durch den systemischen Zusammenhang auf weitere Lebensbereiche auswirken und durchaus vorerst zu einem tieferen Lebensqualitätswert führen. Dies führt zur Überlegung, dass Lebensqualitätsmessungen über eine längere Zeit gemacht werden müssten und in möglichst kurzen Abständen damit dynamische Veränderungen nachvollzogen werden können. 7.1.6 Zusammenfassung der Ergebnisse zu Response-Shift Der folgende Abschnitt fasst die Antwort auf die Frage nach den Anpassungsprozessen, die hinter Response Shift stehen und ihrem Einfluss auf die Subjektive Lebensqualität zusammen. Es wurde deutlich, dass Veränderungen des Bewertungsmassstabes ein möglicher Grund für Veränderungen der subjektiven Lebensqualität darstellen kann. Response Shift beeinflusst somit die intraindividuellen Veränderungen von Lebensqualität. Dahinter können bewertungsorientierte Bewältigungsmechanismen stehen, die dann aktiviert werden, wenn die eigene Situation als herausfordernd oder belastend wahrgenommen wird und die problem- und emotionsorientierten Bewältigungsstrategien nicht ausreichen, um gestellte Ziele zu erreichen. Beispielsweise kommt dies im Umgang mit einem sich akut verändernden Gesundheitszustand, aber auch in sozial anspruchsvollen Situationen vor. Das bewertungsorientierte Coping kann sich durchaus positiv auf das biopsychosoziale Wohlbefinden auswirken, insbesondere dann, wenn es mit gleichzeitigem Annäherungsverhalten einhergeht und zu einer langfristigen Bedürfnisbefriedigung führt. Dies muss jedoch nicht in einem Anstieg der Lebensqualitätskurve zu erkennen sein. Es können aber auch Anpassungsprozesse mit Response Shift einhergehen, welche dem vom Grawe beschriebenen Vermeidungsverhalten zugeordnet werden kann. Im Sample zeigen sich diese durch verdrängende oder verleugnende Bewertungsstrategien oder dadurch, dass eine hohe Zufriedenheit dadurch zustande kommt, weil optimistisch in die Zukunft geschaut wird. Die bestehenden, auf Dauer schädigenden Bedürfnisspannungen sind dadurch im subjektiven Lebensqualitätswert nicht ersichtlich und vermitteln einen «falschen» Eindruck des faktischen biopsychosozialen Wohlbefindens, was insbesondere das Beispiel von KB04 zeigt. Es wird deutlich, dass hinter Response Shift komplexe Bewältigungsformen stehen, die sich in die eine oder andere Richtung auf die subjektive Lebensqualität auswirken können. 70 Wenn nun, wie in der Analyse deutlich wird, hinter Response Shift bewertungsorientiertes, annäherndes Coping oder auch vermeidendes Coping stehen können, dann ist es naheliegend, dass professionelle Interventionen sich durchaus auf diese Anpassungsprozesse auswirken können. So können Beratungsprozesse, die eine reflexive Situationsklärung herbeiführen und die motivationalen Mechanismen des Veränderungslernens begünstigen, sich darauf auswirken, wie die eigene Situation bewertet wird. Eine Arbeitsbeziehung sowie ein Interventionskontext, der den Abbau von Bedürfnisspannungen und die Erfahrung von Wohlbefinden begünstigt und in Form von Verwirklichungschancen, annehmbare Möglichkeiten zur Bedürfnisbefriedigung bietet, kann dazu beitragen, dass die Person in den Annäherungsmodus wechselt (vgl. Grawe: 382–383). Wie in den Daten, insbesondere am Beispiel von Herrn Reim zu erkennen ist, kann dies zu einer Veränderung des Bewertungsmassstabes führen. Das heisst, es kann vorkommen, dass eine wirkungsvolle Intervention zu Response Shift führt. Da sich sowohl die faktische Lebensqualität als auch die Bewertungsmassstäbe im Zeitverlauf verändern können, geben Lebensqualitätsverläufe keine eindeutigen Aussagen über die Entwicklungsprozesse. Entsprechend ist es schwierig, daraus abzulesen, ob Interventionen wirkungsvoll waren. 7.2 Ergebnisse zur Wohlbefindens-Homöostase In einigen den vorangehenden Beispielen wurde deutlich, dass die hinter Response Shift stehenden Anpassungsprozesse homöostatische Prozesse sein können, welche dazu führen, dass die subjektive Lebensqualität im Gleichgewicht respektive stabil gehalten wird. Ausgehend von den Hypothesen, welche sich aus der Homöostase-Theorie ableiten liessen, wurde zudem untersucht, inwiefern diese homöostatischen Prozesse mit der Ressourcenlage und dem Bewältigungsvermögen zusammenhängen. So wurden die individuellen Seiqol- Kurven mit dem «Homöostase-Modell» verglichen und im Hinblick auf Ressourcenausstattung, Bewältigungsvermögen und Anpassungsprozesse analysiert. In der Folge werden die Ergebnisse wiederum exemplarisch entlang der untersuchungsleitenden Hypothesen dargestellt. In der Abbildung 16 sind zur Veranschaulichung alle Seiqol-Kurven des Samples abgebildet. 71 Abbildung 16: Seiqol-Verlaufskurven (Eigene Darstellung) Auf der X- Achse sind die Messzeitpunkte zu sehen und auf der Y-Achse die Höhe des Seiqol- Index. Auf der rechten Seite ist vermerkt, wie die Werte anhand des Modells der Wohlbefindens-Homöostase einzuschätzen sind (vgl. S.37). So zeigt die grüne Färbung den Normbereich auf, in welchem zu erwarten ist, dass das SWB durch homöostatische Prozesse ausgeglichen wird. Die orange Färbung zeigt den Bereich, in welcher die Belastungen dominierend sind. Die Einzelkurven wurden wiederum mit den qualitativen Aussagen verglichen und es wurde untersucht, ob sich die Hypothesen anhand der Daten bestätigen liessen. 7.2.1 Hohe Lebensqualitätswerte und ihre Stabilität Zuerst werden die Ergebnisse zu den Kurven im grünen Bereich dargelegt. 1.Hypothese: Wenn der momentane Wert des SWB im individuellen Normbereich liegt, ist es schwierig, den Wert auf ein höheres Niveau anzuheben. Der potentielle Einfluss einer Intervention ist in diesem Normbereich dadurch kaum durch den Anstieg des SWB-Wertes erkennbar. Diese Hypothese lässt sich bestätigen. Bei den Personen, bei welchen sich der Wert zum ersten Messzeitpunkt auf einem hohen Niveau befindet, lassen sich positive Veränderungen nicht in einem ansteigenden Lebensqualitätswert erkennen. Ob die homöostatische Abwehr stark im Gange ist oder eine zufriedenstellende Bedürfnisbefriedigung dahintersteht, lässt sich jedoch nicht an der Kurve erkennen. Die beiden Verlaufskurven von Herrn Meier (KB01) sind beide «stabil» und bewegen sich im «Set-Point»- Bereich zwischen 75 und 90 Skalenpunkten mit leichten Schwankungen nach oben und unten. Dies stimmt überein mit seinen Aussagen im Interview, in dem er von einer 72 durchgehend guten Lebenszufriedenheit mit leichten Schwankungen spricht (KB1: 5,9,19). Die professionelle Unterstützung durch die Suchtberatung nimmt er als sehr wertvoll wahr. Die regelmässigen Reflexionsgespräche und die langjährige Arbeitsbeziehung geben ihm Sicherheit (KB1, 13-15). Ein wichtiger Faktor für die Stabilität seiner Lebensqualität ist somit die professionelle Unterstützung durch die Soziale Arbeit. Dies lässt sich in der Kurve nicht durch einen Anstieg der Lebensqualität erkennen, sondern in der Stabilität seiner subjektiven Lebensqualität. Herr Meier: «also, ich wache jeden Morgen mit einem guten Gefühl auf, es sind jetzt nicht irgendwie so, extreme Dinge, aber es ist einfach so wirklich so ein, also so einfach zufrieden, ich bin einfach zufrieden mit dem was ich habe und so wie es m-, wie es -, wie es mir geht. Ist eigentlich, äh blödgesagt es ist eigentlich eine durchgehende Zufriedenheit.» (KB1, 9) Die Fallrekonstruktion von Herr Meier ergibt, dass seine hohe Lebensqualitätskurve eine gelingende Lebensführung in gesellschaftlicher und sozialer Teilhabe wiederspiegelt, die Wohlbefinden, im Sinne einer ausgewogenen Befriedigung aller Grundbedürfnisse ermöglicht (vgl. Grawe 2004: 303). Auch Herr Ruckli (KR03) schätzt seine subjektive Lebensqualität (Seiqol) zum letzten Zeitpunkt auf 87 Skalenpunkten ein und seine Verwirklichungschancen/Befähigungen mit dem Oxcap auf 81 Skalenpunkten. Zu diesem Zeitpunkt ist er sehr zufrieden mit seiner jetzigen Lebenssituation und sieht kaum Steigerungspotential in Bezug auf seine Lebensqualität: «Mhm, ich glaube nicht, dass dies, also ich glaube nicht, dass es noch viel weiter wird nach oben gehen. Aber ich glaube, schlecht ist es nicht. Weil ich habe einfach das Gefühl, ich bin (so) ein wenig auch zu der Erkenntnis gekommen, (so), dass der Rollstuhl eigentlich gar nichts Leides ist, oder…()...Höher würde es wahrscheinlich nur gehen, wenn ich jetzt irgendwie wieder könnte eh, gewisse Sachen wieder spüren, welche vorhin nicht gewesen sind, oder so. Einfach so Euphoriemässig. Aber, ja.“ (KR03,98) Interessant ist, dass sich bei beiden Personen der Oxcap-Wert und der Seiqol-Wert über 80 Skalenpunkten befindet. Dies lässt die Annahme zu, dass diese Personen wahrgenommene Verwirklichungschancen nutzen können, was zu einer guten Bedürfnisbefriedigung und einer guten sozialen, gesellschaftlichen Teilhabe führt. Ebenfalls zeigt sich, dass der Einsatz von zwei unterschiedlichen Lebensqualitätsinstrumenten sinnvoll sein kann, um ein besseres Bild über die Situation der Person zu erhalten. Die theoretische Reflexion der Instrumente stellt sich dabei als wichtig heraus. Hohe subjektive Lebensqualität kann also durchaus eine ausgewogene Bedürfnisbefriedigung aller Grundbedürfnisse wiederspiegeln. Das heisst, Bedürfnisspannungen werden bewusst wahrgenommen und als praktische Probleme aller Art bewältigt. Dies macht laut Obrecht eine gelingende Lebensführung aus (vgl. Obrecht 2009: 48-50). Wenn man so möchte, können diese beiden Fälle dem Lebensqualitätstyp «Well-Being» nach Zapf zugeordnet werden, bei welchem gute Lebensbedingungen mit einem guten Wohlbefinden einhergehen (2.2). 73 Dies steht in Kontrastierung zum bereits beschriebenen Typ «Adaptation», bei welchem der hohe Seiqol-Wert Ausdruck einer Lebensbewältigung ist, die geprägt ist durch starkes Vermeidungsverhalten in Folge langanhaltender Bedürfnisverletzungen und nicht psychosoziales Wohlbefinden wiederspiegelt. Unabhängig davon, wofür die Werte stehen, in diesem Bereich können Wirkungen der Interventionen der Sozialen Arbeit auf die Lebensqualität nicht an einer erhöhten Lebensqualität erkannt werden, sondern höchstens in der Stabilität der Kurve, wie es bei Herr Meier (KB01) beschrieben wurde. Denn auch wenn eine positive Entwicklung stattfindet, zeigt sich dies aufgrund der homöostatischen Anpassungsprozesse nicht in der Lebensqualitätskurve, wenn sich diese bereits auf einem hohen Niveau befindet. Dies soll am folgenden Beispiel illustriert werden. Homöostatische Prozesse verbergen positive Entwicklung Frau Ferdinand (KR07) befindet sich zum ersten Befragungstermin kurz vor dem Austritt aus der Rehabilitation, wo sie aufgrund innerer Verletzungen neun Monate verbracht hat. Sie befindet sich trotz erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen mit ihren Kurven auf einem relativ hohen Niveau (Seiqol: 77-88-88-73 Oxcap: 66-80-83-73). Im Verlauf der Zeit passt sie immer wieder ihre Bewertungsmassstäbe an, sie passt ihre Ziele an und sie verändert die Wichtigkeiten der Lebensbereiche im Verhältnis zu ihrem Bewältigungsvermögen (KR07,22, siehe Zitat auf S.60). Ihre internen und externen Ressourcen scheinen ausreichend zu sein um die gesundheitlichen Belastungen, welchen sie während der Beobachtungsperiode faktisch ausgesetzt ist, zufriedenstellend zu bewältigen. Die Seiqol-Lebensbereiche sind Ausdruck ihrer effektiven Krankheits- und Lebensbewältigung und es wird deutlich, dass ihre homöostatische Abwehr stark im Gange ist. Das heisst, interne sowie externe Ressourcen stehen ihr zur Verfügung und können mobilisiert werden. Externe Ressourcen sind beispielsweise eine gute finanzielle und materielle Ausstattung sowie ein funktionierendes soziales Umfeld, von welchem sie unterstützt wird. Dies zeigt sich auch in ihren Lebensbereichen Partnerschaft und Familie, bei welchen sie sowohl die Wichtigkeit als auch die Zufriedenheit durchgehend hoch einschätzt. Ihre gute Ressourcenausstattung führt zusammen mit ihrem ausgeprägten Annäherungsverhalten dazu, dass sie stetig Fortschritte erzielen kann. Zum letzten Messzeitpunkt senkt sich ihr Seiqol-Index und widerspiegelt die Erhöhung ihres Anspruchsniveaus und die damit einhergehende wachsende Unzufriedenheit (siehe Abbildung 17). 74 Frau Ferdinand: «…und hier (letzter Zeitpunkt) wiederspiegelt sich jetzt wahrscheinlich eh wieder, dass ich mir viel mehr Zeit für persönliche Erholung oder ehm, Regeneration vorgestellt hätte, als es jetzt eigentlich ist. Es ist viel mehr Bürokram, Papierkram. Dann die Gesundheit, hat sich schon noch deutlich verbessert. Aber ich hätte mir da auch noch mehr erhofft. Und die berufliche Weiterentwicklung ist für mich auch klar, ist bis zum jetzigen Zeitpunkt weder wichtig noch zufriedenst-, also es ist, eigentlich ist es mir gerade gleichgültig» (KR07, 99). Abbildung 17: Verlaufskurven Seiqol und Oxcap KR07 (Eigene Darstellung) Frau Ferdinand ist ein Beispiel dafür, dass in der Beobachtungsperiode sowohl objektiv als auch subjektiv gesehen, eine positive Entwicklung stattgefunden hat. Diese ist aber durch die homöostatischen Prozesse respektive durch Response Shift nicht in einem Anstieg der Kurve erkennbar ist, sondern in einer relativ hohen, stabilen Verlaufskurve, die sich am Ende wieder etwas senkt. Ihre Kurve zeigt noch einmal auf, dass Annäherungsverhalten im Zusammenhang mit Response Shift auch zu einem tieferen Lebensqualitätswert führen kann. Des Weiteren wird deutlich, dass Frau Ferdinand ihr Bewältigungsvermögen und ihre Ressourcen genügend hoch einschätzt um die Belastungen, welchen sie ausgesetzt ist, zu bewältigen. Dies steht in Kontrastierung zur nächsten Hypothese. 7.2.2 Tiefe Lebensqualitätswerte und ihr Steigerungspotential 2. Hypothese: Wenn die wahrgenommenen Belastungen das Bewältigungsvermögen übersteigen, sinkt die Subjektive Lebensqualität aus dem Normbereich. Alle Personen, die ihren Seiqol-Wert unter 70 einschätzen, befinden sich zu diesem Zeitpunkt in einer starken Belastungssituation. Diejenigen Personen, welche im Verlauf einen Lebensqualitätswert unter 50 aufweisen, berichten über vielfältige Bedürfnisspannungen. Sowohl biologische, psychische wie auch soziale Bedürfnisse sind unbefriedigt (KR04, KR02, 75 KB06). Die vorhandenen externen und/oder internen Ressourcen werden als nicht ausreichend wahrgenommen um die Belastungen und Anforderungen, mit denen sie sich in der jeweiligen Lebenssituation konfrontiert sehen, auf eine zufriedenstellende Weise zu bewältigen und Bedürfnisse zu befriedigen. Zwei Personen sprechen von einer depressiven Phase (KB06, KR02). Eine Person nimmt einen erhöhten Unterstützungsbedarf wahr und bemüht sich, zusätzliche professionelle Unterstützung zu organisieren (KR04). Auf Basis des analysierten Samples kann somit resümiert werden, dass tiefe Werte darauf hinweisen, dass unterschiedliche Bedürfnisse unbefriedigt sind und dies auf einen erhöhten Unterstützungsbedarf verweist. Entweder sind die materiellen oder sozialen Ressourcen respektive Teilhabemöglichkeiten nicht ausreichend oder die verfügbaren Bewältigungsstrategien, Fähigkeiten führen nicht zu einem ausgewogenen biopsychosozialen Wohlbefinden. Diese Ergebnisse stützen die Aussagen von Kilian, welcher postuliert, dass sich subjektive Lebensqualität in der psychiatrischen Versorgungsforschung vor allem als Outcome-Indikator eigne, um Behandlungsdefizite aufzudecken (vgl. Kilian/Pukrop 2006: 313). Bei zwei Personen, welche unter dem Normbereich beginnen, konnte jedoch eine positive Entwicklung in der Lebensqualitätskurve erkannt werden. Dies stimmte mit den Aussagen aus dem Interview überein. Diese Beispiele werden in der Folge dargelegt. 3. Hypothese: Liegt der Wert unter dem Normbereich, kann die Bereitstellung von zusätzlichen Ressourcen, die Wiedererlangung des homöostatischen Gleichgewichts begünstigen und in einem Kurvenanstieg erkennbar werden. Im Sample befinden sich zwei Personen, die mit einem tiefen Wert beginnen und die Lebensqualität um über zwanzig Skalenpunkten ansteigt (KR03, KR05). Es sind Personen aus der Organisation R, die aufgrund eines Unfalls querschnittgelähmt sind und zum ersten Messzeitpunkt kurz vor dem Austritt aus der Rehabilitation standen. Frau Karos Seiqol-Kurve steigt stetig von 47 auf 82 Skalenpunkte an. Am Anfang der Beobachtungsperiode geht es ihr nicht gut und sie zieht sich sozial zurück (KR05, 27). Die Mobilisierung von externen sowie internen Ressourcen tragen im Verlauf dazu bei, dass sie sich in den Annäherungsmodus begeben kann und zunehmend positive Erfahrungen macht, was ihre Selbstwirksamkeitserwartung stärkt und zu weiterem Annäherungsverhalten beiträgt. In diesem Zusammenhang betont sie die professionelle Unterstützung, die beispielsweise durch die finanzielle Absicherung zu einem gesteigerten Sicherheitsgefühl beiträgt. Als weiterer wichtiger Faktor nennt sie ihre sozialen Kontakte und der Austausch mit anderen Betroffenen (vgl. KR05, 63, 89, 85). 76 Frau Karo: «Ohne die Leute, die einem ja Halt gegeben oder was auch immer, kommt man ja auch nicht hinaus. Wenn man so Leute nicht hätte, dann ist man logisch ja auch isolierter» (KR05, 59). Auch Herr Ruckli (KR03) ist sozial gut eingebunden, ist finanziell gut abgesichert und erhält vielfältige soziale Unterstützung. Zusätzlich haben beide gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt, erhalten diesbezüglich professionelle Unterstützung und nehmen in Bezug auf ihre berufliche Reintegration gute Verwirklichungschancen wahr. Dies bestätigt die theoretische Annahme von Cummins, welche besagt, dass die Bereitstellung von externen als auch internen Ressourcen zu einer Erhöhung der subjektiven Lebensqualität beitragen kann und auch ersichtlich ist, wenn der Anfangswert unter dem persönlichen Normwert liegt. Dem anzufügen ist, dass neben der Ressourcenausstattung, das Erkennen von realistischen Verwirklichungschancen und dementsprechendem Verfolgen von realistischen Annäherungszielen sich positiv auf die Entwicklung und die subjektive Lebensqualität auswirkt. Lebensqualitätsverläufe können somit durchaus unter gewissen Umständen eine positive Entwicklung aufzeigen. Es ist jedoch sinnvoll anhand von weiteren Messungen, respektive Kontrollparameter zu kontrollieren, ob dies der Fall ist oder ob die Kurve durch vermeidende Anpassungsprozesse zustande kam. In der anschliessenden Diskussion werden die Ergebnisse der vorangehenden Kapitel, wie auch dieses Kapitels zusammengefasst und diskutiert, weswegen an dieser Stelle darauf verzichtet wird. 8 Diskussion der Ergebnisse In diesem Kapitel werden die in den vorangehenden Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse zusammengeführt und in Bezug auf die Fragestellung diskutiert und reflektiert. Die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit steht im Rahmen der Evaluationsforschung vor der Herausforderung, anhand geeigneter Verfahren, die durch Interventionen erzeugte Wirkung auf Ebene des Individuums und seines Lebensführungssystems zu untersuchen und nachzuweisen. Im realistischen Paradigma werden Wirkungszusammenhänge zwischen Akteuren, Interventionen und Kontexten rekonstruiert, um Entwicklungsprozesse auf der Ebene des Individuums erklären zu können (vgl. Kapitel 1). Diesbezüglich stellt sich die Frage, inwiefern sich das Messen von subjektiver Lebensqualität als Outcome-Kriterium für diesen Zweck eignet. In der Aufarbeitung der Literatur der interdisziplinären Lebensqualitätsforschung wurde deutlich, dass zwischen und innerhalb der Disziplinen grosse Unterschiede darin bestehen, 77 wie Lebensqualität konzipiert und operationalisiert wird und dass die jeweiligen Konzeptualisierungen vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen betrachtet werden müssen (vgl. Kapitel 2). Auch für die methodische Anwendung der Subjektiven Lebensqualität als Outcome-Kriterium besteht im Gesundheitswesen eine Vielzahl an unterschiedlichen Lebensqualitätsinstrumenten, die spezifische Aspekte von Lebensqualität abbilden (vgl. Kapitel 4). Ob sich Subjektive Lebensqualität als Outcome-Kriterium für die Soziale Arbeit eignet, hängt somit erheblich vom verwendeten Messinstrument und den dahinterstehenden theoretischen Überlegungen ab. Ferner wurde in der Aufarbeitung des Forschungsstandes und der anschliessenden empirischen Analyse deutlich, dass nicht nur die Wahl des Instruments, sondern auch die Interpretation der Lebensqualitätswerte theoretische Reflexion erfordert. Letzteres ist aufgrund von Anpassungsprozessen nötig, die die Bewertung subjektiver Lebensqualität beeinflussen (vgl. Kapitel 5 und Kapitel 7). Die Untersuchung führt zum Schluss, dass sich subjektive Lebensqualität nur bedingt als Outcome-Kriterium eignet, da anhand der gemessenen Werte keine eindeutige Aussage darüber gemacht werden kann, ob eine positive Entwicklung im Sinne einer gelingenderen Lebensführung stattgefunden hat. Um zu beurteilen, ob als Folge der Intervention eine positive Entwicklung stattgefunden hat, müssen zu den in der realistischen Evaluation bereits zu beachtenden Wirkungshypothesen, zusätzliche den Bewertungsprozess betreffende Zusammenhangshypothesen in Betracht gezogen werden. Dadurch erhöht sich die Komplexität der Untersuchung um ein weiteres. In der Folge wird diskutiert, welche Erkenntnisse zu diesem Schluss führen und differenziert auf Potentiale und Risiken von subjektiven Lebensqualitätsmessungen als Outcome-Kriterium eingegangen. Theoretische Überlegungen aus Sicht der Sozialen Arbeit Um zu klären, was ein Outcome-Kriterium in der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit aufzeigen muss, wurde im Kapitel 3 der Frage nachgegangen, wie eine gute Lebensqualität aus einer sozialarbeiterisch-spezifischen theoretischen Perspektive zu verstehen ist. Mit der Theorie «Integration und Lebensführung» wurde eine systemische Perspektive eingenommen, in der Menschen als soziale Wesen mit biospsychosozialen Bedürfnissen gesehen werden, die ein Verhältnis zu sich und der Umwelt herstellen müssen. In dieser Aneignung des Lebensraums entsteht eine bestimmte Integration in das Lebensführungssystem und in die Gesellschaft. Auf der Ebene der Person bilden sich entsprechende psychische Strukturen und Deutungsmuster in Abhängigkeit der jeweiligen Symbolwelt. Mit welchen Strategien, Zielen und Mitteln der Mensch seine Bedürfnisse zu 78 befriedigt, ist demnach stark geprägt vom jeweiligen Sozialisationsprozess und von der jeweiligen Lebenssituation. Es kann sich folglich im Verlauf des Lebens verändern (vgl. 3.1). Können Bedürfnisse nicht auf die gewünschte Weise befriedigt werden, ist eine mögliche Reaktion, das Anspruchsniveau an die vorhandenen Integrationsbedingungen anzupassen. Das auf negativen Erfahrungen beruhende Vermeidungsverhalten, welches zum Ziel hat, Bedürfnisverletzungen zu verhindern, aber auf Dauer schädigende Auswirkungen auf den Organismus haben kann, erklärt wie die Lebensbewältigung unter ungünstigen Bedingungen destruktive Züge annehmen kann. Dies macht deutlich, wie wichtig es ist, dass der Lebensraum so gestaltet ist, dass der Mensch Fähigkeiten entwickeln kann, um seine Bedürfnisse durch Annäherungsverhalten zu befriedigen (vgl. 3.2). Der «Capabilities Ansatz» verdeutlicht diesen emanzipatorischen Anspruch, in dem er fordert, dass jeder Mensch durch das Bereitstellen von Verwirklichungschancen befähigt wird, selbstbestimmt die Tätigkeiten auszuführen, die für ihn ein gutes Leben ausmachen (vgl. 3.3). Wenn die Zielperspektive der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit also eine gute oder verbesserte Lebensqualität ist, bedeutet dies eine Entwicklung hin zu einer gelingenderen Lebensführung, in dem das Individuum in seinem Lebensführungssystem durch die nötige materielle und pädagogische Unterstützung befähigt wird, subjektiv wichtige Annäherungsziele zu erreichen, die zu einer ausgewogenen biopsychosozialen Bedürfnisbefriedigung führen. Zudem muss die spezifische Lebensbewältigung einer Person als Ausdruck eines langjährigen Sozialisationsprozess kritisch reflektiert werden, damit die Reproduktion destruktiver Muster unterbrochen werden kann. Aus diesen theoretischen Überlegungen erwächst der Anspruch an die Lebensqualitätsverläufe, dass sie aufzeigen, ob biopsychosoziale Bedürfnisse in der spezifischen Lebensführung durch die Nutzung vorhandener Verwirklichungschancen befriedigt werden können. Zudem sollen subjektiv relevante Veränderungen erkennbar sein. Einfluss von Anpassungsprozessen auf die subjektive Lebensqualität Ein Fokus dieser Arbeit war es folglich zu untersuchen, ob sich eine Entwicklung hin zu einer gelingenderen Lebensführung in den Lebensqualitätsverläufen erkennen liess. Im Kapitel 5 wurde auf vermeintlich paradoxe Ergebnisse, Messprobleme, sowie methodische und theoretische Erklärungen im Zusammenhang mit der Interpretation von Lebensqualitätsverläufen eingegangen. Die Response Shift-Forschung zeigt auf, dass sich über den Zeitverlauf der Bedeutungsgehalt von Lebensqualitäts-Selbstbeurteilungen verändern kann. Mit der Wohlbefindens-Homöostase wird postuliert, dass die dahinterliegenden Anpassungsprozesse dazu dienen, ein stabiles Wohlbefinden unter verändernden Lebensbedingungen aufrechtzuerhalten. 79 Die durchgeführte empirische Untersuchung bestätigt, dass die Varianz der Subjektiven Lebensqualität zwischen den Messzeitpunkten durch Response Shift beeinflusst werden kann. Response Shift kommt aufgrund des subjektiven Bewertungsprozesses zustande und zwar dann, wenn sich der interne Bewertungsrahmen zwischen den Messzeitpunkten durch Repriorisierungen, Rekonzeptualisierungen oder Rekablibrierungen verändert hat. Die dahinterstehenden Anpassungsprozesse sind vielfältig, einige lassen sich als bewertungsorientiertes Coping interpretieren (vgl. 5.2.1 und 7,1.2). Es stellt sich heraus, dass der aus der subjektiven Bewertung resultierende Lebensqualitätswert davon beeinflusst wird, ob das hinter Response Shift stehende bewältigungsorientierte Coping im Vermeidungs- oder im Annäherungsmodus erfolgt. So zeigt sich einerseits, dass bewertungsorientiertes Coping, welches mit Annäherungsverhalten einhergeht, zu gesteigertem Wohlbefinden führt, jedoch nicht unbedingt in einem Kurvenanstieg zu erkennen sein muss. Durch erhöhte Ansprüche und Ziele wird die gleiche Lebenssituation negativer beurteilt als zuvor. Umgekehrt kann bewertungsorientiertes Coping, das darauf zielt, Bedürfnisverletzungen durch Vermeidungsverhalten zu verhindern, in einem hohen Lebensqualitätswert resultieren. Dadurch kann ein verzerrtes Bild über das biopsychosoziale Wohlbefinden der befragten Person entstehen. Daraus lassen sich folgende Herausforderungen für die subjektive Lebensqualität als Outcome-Kriterium ableiten. Risiken und Potential von Lebensqualitätsmessungen Es kann anhand des subjektiven Lebensqualitätswerts nicht direkt auf das biopsychosoziale Wohlbefinden einer Person geschlossen werden. Insbesondere bei Personen, die durch eine lange soziale Problemgeschichte geprägt sind, muss eine Diskrepanz zwischen dem biopsychosozialen Wohlbefinden und dem subjektiven Lebensqualitätswert geprüft werden. Der beschriebene Lebensqualitätstyp «Adaptation» stellt ein extremes Beispiel dafür dar, dass vorhandene Lebensbedingungen und Bewältigungsstrategien nicht zu einem ausgewogenen biopsychosozialen Wohlbefinden führen, aber trotzdem eine hohe subjektive Lebensqualität gemessen wird. Dies kann durch die Chronizität von unsicheren Lebensbedingungen und damit unbewusst werdenden Stressreaktionen als auch mit dem Bedürfnis nach Selbstwertschutz und damit einhergehenden Anpassungsprozessen erklärt werden (vgl. 7.1.3). Da die Personengruppe mit langjährigen Problemgeschichten typischerweise zu der Klientel der Sozialen Arbeit gehört, stellt dies eine ernstzunehmende Problematik für die Verwendung von Subjektiver Lebensqualität als Outcome-Kriterium dar. Dadurch lassen sich vorliegende Belastungssituationen sowie den damit verbundenen Unterstützungsbedarf nicht erkennen. 80 Ferner können wirkungsvolle Interventionen unter Umständen zu einem tieferen Lebensqualitätswert führen, wenn langanhaltende destruktive Bewältigungsmuster unterbrochen werden und die eigene Situation unter veränderten Bewertungsmassstäben beurteilt wird. Es lässt sich folglich nicht eindeutig am Kurvenverlauf ablesen, ob eine positive Entwicklung im Sinne einer gelingenderen Lebensführung stattgefunden hat und wie sich die Intervention auf die Entwicklung auswirkte. Es zeigt sich in der Analyse der Lebensqualitätsverläufe insbesondere, dass sich eine stattfindende positive Entwicklung nicht erkennen lässt, wenn der Wert sich bereits auf einem hohen Niveau, im sogenannten Normbereich befindet. Denn solange das Bewältigungsvermögen im Verhältnis zu den wahrgenommenen Belastungen als ausreichend eingeschätzt wird, halten homöostatische Prozesse den Lebensqualitätswert hoch und auf einem relativ stabilen Niveau (vgl. 5.3 und 7.2). So wird die aktuelle Situation im Verhältnis zum Erwartbaren eingeschätzt, wobei Ziele und Erwartungen an die vorhandenen Umstände angepasst werden. Die Untersuchung zeigt jedoch auch das Potential von subjektiven Lebensqualitätsmessungen auf. So lässt sich anhand von tiefen subjektiven Lebensqualitätswerten (unter 70) feststellen, dass sich Personen in einer starken Belastungssituation befinden, in welcher sie ihr Bewältigungsvermögen als nicht ausreichend wahrnehmen. Dies kann als Indikator angesehen werden, dass die Unterstützung durch die Soziale Arbeit weiterhin notwendig oder selbst unzureichend ist (vgl. 7.2.2). Wenn Lebensqualitätskurven als Ausdruck des Spannungsverhältnisses zwischen Anforderungen, Bewältigungsvermögen und Verwirklichungschancen betrachtet wird und die den Bewertungsprozess betreffenden Zusammenhangshypothesen in die Interpretation der Verläufe einbezogen werden, lassen sich interessante Bewältigungsmuster der Person erkennen. Insbesondere beim Seiqol können Veränderungen zwischen den Lebensbereichen sowie die Muster zwischen Wichtigkeits- und Zufriedenheitsangaben in den einzelnen Lebensbereichen analysiert werden. Die vorliegende Arbeit hat keine systematische Prüfung der verwendeten Lebensqualitätsinstrumente durchgeführt. Die Ergebnisse der Analyse machen jedoch deutlich, dass unterschiedliche Lebensqualitätsinstrumente zu unterschiedlichen Verlaufskurven führen können. Für die Untersuchung der subjektiven Lebensqualität in der Evaluationsforschung ist die Verwendung von mehreren Instrumenten zu empfehlen. Die Ergebnisse müssen zudem vor dem Hintergrund der theoretischen Konzeption des 81 Instruments reflektiert werden. So sollen im nächsten Abschnitt die Chancen und Risiken dieser beiden Lebensqualitätsinstrumente reflektiert werden. Reflexion der verwendeten Instrumente Die beiden Instrumente Oxcap-MH und Seiqol-DW welche in der Primärstudie verwendet wurden (vgl. Kapitel 6.1.1), zeigen exemplarisch auf, wie je nach Instrument unterschiedliche Ergebnisse resultieren können. So zeigt sich, dass Fragen zu gleichen Lebensbereichen aufgrund der Art der Operationalisierung unterschiedliche Antworten hervorrufen, da unterschiedliche Erinnerungen und Empfindungen in die Bewertung einbezogen werden. So ergibt der Oxcap-MH ein Bild darüber, wie aktuelle Teilhabe-Möglichkeiten, Einschränkungen sowie die eigenen Fähigkeiten wahrgenommen werden. Die 16 gestellten Fragen sind standardisiert. Im Gegensatz zum Seiqol widerspiegelt der Oxcap weniger, wie sich die individuelle Lebensführung in ihrer Dynamik gestaltet. So vermag er hingegen ein objektiveres Bild darüber zu geben, wie die Verwirklichungschancen wahrgenommen werden. Die Untersuchungsergebnisse lassen darauf schliessen, dass er weniger anfällig auf subjektive Verzerrungen ist, die der Aufrechterhaltung eines guten Selbstwertgefühls dienen. Jedoch ist es wichtig anzumerken, dass auch die Oxcap-Werte das Ergebnis eines subjektiven Beurteilungsprozesses darstellen, bei welchem der subjektive Bewertungsrahmen die Werte erheblich beeinflusst. In der vorliegenden Arbeit lag der Fokus auf der Untersuchung der Seiqol-Kurven. Eine systematische Untersuchung der Oxcap-Verläufe steht somit aus. Beim Oxcap lässt sich Response-Shift nicht ohne zusätzliche Erhebungsmethode erkennen, weswegen dies für eine weitere Untersuchung zu empfehlen ist. Der Seiqol-DW hat den Vorteil, dass jede Person ihre fünf wichtigsten Lebensbereiche selber wählen kann. So kann erfasst werden, was für die Person aus der subjektiv spezifischen Perspektive in der momentanen Lebenssituation zu einer guten Lebensqualität beiträgt. Zudem können die dynamischen Prozesse, welche die Lebensführung kennzeichnen, erfasst werden. Die Ergebnisse zeigen auf, dass einige Personen im Beobachtungszeitraum verändern, welche Aspekte für ihre Lebensqualität bedeutend sind. Dies erfolgt insbesondere dann, wenn eine neue soziale Rolle (wie Vater, Partner) eingenommen wird oder sich aufgrund von gesundheitlichen Veränderungen (Paraplegie, Sucht) die Lebenssituation verändert. Zudem wurde deutlich, dass die mit Seiqol gemessene Subjektive Lebensqualität ein Ausdruck der subjektiven Lebensbewältigung ist. Durch die Methodentriangulation konnten funktionale und destruktive Bewältigungsstrategien aufgedeckt werden und die stattfindende Entwicklung nachvollzogen werden. Wie sich in der Untersuchung gezeigt hat, kann die Diskussion der Seiqol-Kurve mit der Person eine 82 differenzierte Reflexion auslösen. Diese Vorgehensweise verdeutlicht das Potential dieses Instruments für die Anwendung in der Praxis der Sozialen Arbeit. Für weitere Untersuchungen ist es zu empfehlen, zu den erfassten Lebensbereichen spezifische Angaben zu den Zielen und Erwartungen zu machen. Dies ermöglicht eine exaktere Reflexion. Weitere Erkenntnisse zur Lebensqualität Durch die Kombination der qualitativen und quantitativen Daten in der empirischen Untersuchung liessen sich einige der in Kapitel 4.2 dargelegten empirischen Befunde bestätigen. So kann der Einfluss des Copingstiles, der Erwartungshaltung, des Optimismus und der Selbstwirksamkeitserwartung auf die Dynamik der wahrgenommenen Lebensqualität bekräftigt werden. In Bezug auf wichtige Faktoren, die sich positiv auf die Lebensqualität auswirken, lässt sich bestätigen, dass soziale Aspekte wie soziale Beziehungen und soziale Unterstützung erheblich zu einer gelingenderen Lebensführung beitragen. Ebenfalls zeigte sich, dass eine gute Ressourcenausstattung, ein gutes Sicherheitsgefühl sowie wahrgenommene Verwirklichungschancen dazu beitragen, dass Menschen in den Annäherungsmodus wechseln. Dies begünstigt eine Lebensführung, welche zu einem erhöhten Wohlbefinden und einer besseren sozialen Teilhabe führen. Die Ergebnisse verdeutlichen, wie wichtig die Rolle der Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen mit ihrer Aufgabe der Bearbeitung der sozialen Dimension des biopsychosozialen Wohlbefindens ist. Dies hebt die Dringlichkeit hervor, geeignete Verfahren zu entwickeln, mit welchen ihre Wirkungen nachgewiesen werden können. 9 Fazit und Ausblick Die vorliegende Arbeit hat das Potential und die Risiken von Subjektiven Lebensqualitätsmessungen für die realistische Evaluationsforschung in der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit aufgezeigt. Sie bietet einen Überblick über unterschiedliche Diskurse in der Lebensqualitätsforschung und vertieft den Diskurs über die Dynamik von subjektiven Lebensqualitätsbeurteilungen. Ihre Ergebnisse bestätigen bekannte Erkenntnisse aus der Lebensqualitäts- und Response-Shift- Forschung und verdeutlichen deren Bedeutsamkeit für die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit. Die Ergebnisse betonen die Wichtigkeit der theoretischen Reflexion sowohl bei der Wahl der Instrumente als auch bei der Interpretation der Lebensqualitätsmessungen und weisen auf die Begrenzung ihrer Aussagekraft hin. So zeigt sie auf, dass quantitative Lebensqualitätsverläufe keine eindeutigen Aussagen darüber geben können, ob eine positive oder negative 83 Entwicklung im Sinne einer gelingenderen Lebensführung stattgefunden hat, solange homöostatische Anpassungs- und Bewältigungsprozesse unberücksichtigt bleiben. Inwiefern diese Schwierigkeiten auch bei anderen längsschnittlichen Lebensqualitätsmessungen auftreten und die in dieser Arbeit gemachten Erkenntnisse repräsentativ sind, kann nicht abschliessend beurteilt werden. So ist jedoch zu vermuten, dass Response Shift auch bei anderen subjektiven Lebensqualitätsinstrumenten, wie auch bei anderen subjektiven Indikatoren die Messung beeinflusst. Da die subjektive Sicht für die Ergebnisse auf der Ebene des Klientels nicht durch objektive Indikatoren zu ersetzen ist, werden weitere Forschungsaktivitäten zur Methodenoptimierung im Zusammenhang mit Response Shift als wichtig erachtet. Um der Subjektivität gerecht zu werden, empfehlen sich N=1-Studiendesigns mit vielen Messzeitpunkten und kurzen Abständen, wodurch sich individuelle Muster der Lebensführung und die damit zusammenhängenden Anpassungsprozesse besser eruieren lassen. Zudem hat sich die Methodentriangulation mit der Gegenüberstellung von qualitativen und quantitativen Daten als erkenntnisreich herausgestellt. Die in dieser Arbeit verwendete Methodentriangulation könnte durch ein spezifisches Design optimiert werden. Vielversprechend wäre es, die quantitativen Erhebungen durch qualitative Erhebungen pro Messzeitpunkt zu ergänzen. So könnte die jeweilige Lebensqualitätsbewertung durch weitere Informationen zum Anspruchsniveau, den emotional motivierten Tendenzen oder zu unerwarteten Lebensereignissen, die sich auf die Lebensführung auswirken, verortet werden. Ergänzend könnten auch objektive Parameter dazu beitragen, die subjektive Bewertung einzuordnen. Für die realistische Evaluation, in welcher die gemessenen Outcomekriterien mit den Daten zu Kontexten, Aktivitäten, Akteure und Mechanismen verknüpft werden und ein komplexes Unterfangen darstellt, könnte es geeigneter sein, weniger abstrakte Indikatoren zu erheben, die nicht multidimensional sind und mit dem Ziel der Intervention zusammenhängen. Diese würden deutlichere Aussagen über die Resultate einer Intervention liefern und sich somit unter Umständen besser für die realistische Evaluationsforschung eignen. Die Erkenntnisse und weiterführenden Gedanken dieser Arbeit machen jedoch deutlich, dass es wohl für komplexe Sachverhalte keine einfachen Lösungen gibt und es darum gilt, sich der Komplexität anzunehmen. Dies erfordert sowohl den Einbezug unterschiedlichster Zusammenhangshypothesen als auch die kritische Reflexion erzielter Forschungsergebnisse. Im Sinne des einleitenden Zitates von Epictetus ist es somit wichtig, dass die Sicht auf die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven erfolgt und allenfalls zu einer Beunruhigung führt. 84 10 Quellenverzeichnis Barclay-Goddard, Ruth/Epstein, Joshua D./Mayo, Nancy E. (2009). Response Shift: A Brief Overview and Proposed Research Priorities. In: Quality of Life Research. 18. Jg. (3). S. 335–346. Baumgardt, Johanna/Daum, Marcel/von dem Knesebeck, Olaf/Speck, Andreas/Röh, Dieter (2018). Verwirklichungschancen unter chronisch psychisch erkrankten Menschen: erste Erfahrung in der Anwendung einer deutschen Vorabversion des OxCAP-MH im Rahmen des BAESCAP-Forschungsverbunds. In: Psychiatrische Praxis. 45. Jg. (03). S. 140– 147. DOI: 10.1055/s-0043-101903. Bayer-Oglesby, Lucy/Schmid, Holger (2014). Eintrittsprofile in der ambulanten und stationären Suchthilfe. SuchtMagazin, 40(5) 24-27. S. 24–27. Berkman, Lisa F./Krishna, Aditi (2014). Social Network Epidemiology. 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Anhang: Weiterentwickeltes Response Shift Model .............................................95 IV. Anhang: Response Shift- Erfassungsmethoden ...................................................96 V. Anhang: Aliment- Forschungsgegenstand ...............................................................97 VI. Anhang: OxCAP-MH ................................................................................................98 VII. Anhang: Seiqol-DW Formblätter ...........................................................................1 00 VIII. Anhang: Interviewleitfaden ...................................................................................1 03 IX. Anhang: Code-System aus MAXQDA ................................................................... 104 91 I. Anhang: Bedürfniskatalog Obrecht’s Katalog von biologischen, psychischen und sozialen menschlichen Bedürfnissen: Die nachstehende Liste enthält eine Reihe von Bedürfnissen, geordnet nach dem organismischen Bereich, den sie betreffen und dem Wirklichkeitsbereich, aus dem die Ressourcen zu ihrer Befriedigung stammen. I. Biologische Bedürfnisse 1. nach physischer Integrität d.h. nach Vermeidung von Verschmutzung, das Wohlbefinden reduzierenden (schmerzhaften) physikalischen Beeinträchtigungen (Hitze, Kälte, Nässe), Verlet- zungen, sowie der Exposition gegenüber (absichtsvoller) Gewalt; 2. nach den für die Autopoiese erforderlichen Austauschstoffen: 1. verdaubarer Biomasse (Stoff- wechsel); 2. Wasser (Flüssigkeitshaushalt); 3. Sauerstoff (Gasaustausch); 3. nach Regenerierung; 4. nach sexueller Aktivität und nach Fortpflanzung; II. Biopsychische Bedürfnisse 5. nach wahrnehmungsgerechter sensorischer Stimulation durch a) Gravitation, b) Schall, c) Licht, d) taktile Reize (sensorische Bedürfnisse); 6. nach schönen Formen in spezifischen Bereichen des Erlebens (Landschaften, Gesich- ter, unversehrte Körper (ästhetische Bedürfnisse; B. nach ästhetischem Erleben); 7. nach Abwechslung/Stimulation (Bedürfnis nach Abwechslung); 8. nach assimilierbarer orientierungs- & handlungsrelevanter Information: a. nach Information via sensorischer Stimulation (Bedürfnis nach Orientierung) b. nach einem der gewünschten Information angemessenen Code (Bedürfnis nach (epistemi- schem) „Sinn“ , d.h. nach dem Verstehen dessen, was in einem und um einen herum vorgeht und mit einem geschieht, insofern man davon Kenntnis hat (vgl. 8.1) ). Im Bereich des bewuss- ten Denkens entspricht diesem Bedürfnis das Bedürfnis nach subjektiver Sicherheit/ Gewiss- heit bzw. nach «Überzeugung» in den subjektiv relevanten Fragen); 9. nach subjektiv relevanten (affektiv besetzten) Zielen und Hoffnung auf Erfüllung (Bedürfnis nach subjektivem “Sinn” ); 10. nach effektiven Fertigkeiten, (skills), Regeln und (sozialen) Normen zur Bewälti- gung von (wiederkehrenden) Situationen in Abhängigkeit der subjektiv relevan- ten Ziele (Kontroll- oder Kompetenzbedürfnis); III. Biopsychosoziale Bedürfnisse 11. nach emotionaler Zuwendung (Liebe, Freundschaft, aktiv & passiv) (Liebesbedürf- nis); 12. nach spontaner Hilfe (Bedürfnis zu helfen); 13. nach sozial(kulturell)er Zugehörigkeit durch Teilnahme (Mitgliedschaft in Familie, Gruppe, Gesellschaft (Sippe, Stamm, „Ethnie“, Region, Nationalstaat) (Mitglied zu sein, heisst, Rechte zu haben, weil man Pflichten erfüllt) (Mitgliedschaftsbedürfnis); 14. nach Unverwechselbarkeit (Bedürfnis nach biopsychosozialer Identität) 15. nach Autonomie (Autonomiebedürfnis); 16. nach sozialer Anerkennung (Funktion, Leistung, «Rang») (Anerkennungsbedürfnis); 17. nach (Austausch-)Gerechtigkeit (Gerechtigkeitsbedürfnis) (Obrecht 2005: 47) 92 II. Anhang: Konzeption des Guten Die menschlichen Grundfähigkeiten 1. Die Fähigkeit, ein menschliches Leben von normaler Länge zu leben, nicht vorzeitig zu sterben oder zu sterben, bevor das Leben so reduziert ist, daß es nicht mehr lebenswert ist. 2. Die Fähigkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen, sich angemessen zu ernähren, eine angemessene Unterkunft und Möglichkeiten zu sexueller Befriedung zu haben, sich in Fragen der Reproduktion frei entscheiden und sich von einem Ort zum anderen bewegen zu können. 3. Die Fähigkeit, unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle Erlebnisse zu haben. 4. Die Fähigkeit, seine Sinne und seine Phantasie zu gebrauchen, zu denken und zu urteilen und diese Dinge in einer Art und Weise zu tun, die durch eine angemessene Erziehung geleitet ist, zu der auch (aber nicht nur) Lesen und Schreiben sowie mathematische Grundkenntnisse und eine wissenschaftliche Grundausbildung gehören. Die Fähigkeit, seine Phantasie und sein Denkvermögen zum Erleben und Hervorbringen von geistig bereicherndem Werken und Ereignissen der eigenen Wahl auf den Gebieten der Religion, Literatur Musik usw. einzusetzen. Der Schutz dieser Fähigkeit, so glaube ich, erfordert nicht nur die Bereitstellung von Bildungsmöglichkeiten, sondern auch gesetzliche Garantien für politische und künstlerische Meinungsfreiheit sowie für Religionsfreiheit. 5. Die Fähigkeit, Beziehungen zu Dingen und Menschen außerhalb unserer selbst einzugehen, diejenigen zu lieben, die uns lieben und für uns sorgen, traurig über ihre Abwesenheit zu sein, allgemein Liebe, Kummer, Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden. Diese Fähigkeiten zu unterstützen bedeutet, Formen des menschlichen Miteinanders zu unterstützen, die nachweisbar eine große Bedeutung für die menschliche Entwicklung haben. 6. Die Fähigkeit, eine Vorstellung des Guten zu entwickeln und kritische Überlegungen zur eigenen Lebensplanung anzustellen. Dies schließt heutzutage die Fähigkeit ein, einer beruflichen Tätlichkeit außer Haus nachzugehen und am politischen Leben teilzunehmen. 7. Die Fähigkeit , mit anderen und für andere zu leben, andere Menschen zu verstehen und Anteil an ihrem Leben zu nehmen, verschiedene soziale Kontakte zu pflegen; die Fähigkeit, sich die Situation eines anderen Menschen vorzustellen und Mitleid zu empfinden; die Fähigkeit, Gerechtigkeit zu üben und Freundschaften zu pflegen. Diese Fähigkeit zu 93 schützen bedeutet abermals Institutionen zu schützen, die solche Formen des Miteinanders darstellen, und die Versammlungs- und politische Redefreiheit zu schützen. 8. Die Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben und sie pfleglich zu behandeln. 9. Die Fähigkeit zu lachen, zu spielen, sich an erholsamen Tätigkeiten zu erfreuen. 10. Die Fähigkeit, sein eigens Leben und nicht das eines anderen zu leben. Das bedeutet, gewisse Garantien zu haben, daß keine Eingriffe in besonders persönlichkeitsbestimmende Entscheidungen wie Heiraten, Gebären, sexuelle Präferenzen, Sprache und Arbeit stattfinden. 10.a Die Fähigkeit, sein Leben in seiner eigenen Umgebung und seinem eigenen Kontext zu führen. Dies heißt Garantien für Versammlungsfreiheit, gegen ungerechtfertigte Durchsuchungen und Festnahmen; es bedeutet auch eine gewisse Garantie für die Unantastbarkeit des persönlichen Eigentums, wenngleich diese Garantie durch die Erfordernisse sozialer Gebrechlichkeit auf verschiedene Weise eingeschränkt werden kann und im Zusammenhang mit der Interpretation der anderen Fähigkeiten immer verhandelbar ist, da das persönliche Eigentum im Gegensatz zur persönlichen Freiheit ein Mittel und kein Selbstzweck ist. (Nussbaum 2012: 200-202) 94 III. Anhang: Weiterentwickeltes Response Shift Model Weiterentwickeltes theoretisches Response Shift Model von Rapkin und Schwartz. In: (Rapkin/Schwartz 2004: 3). «Accounting for changes in standard influences (S), coping processes (C) and appraisal variables (A». Mit Standardeinflüssen (S1, S2, S3) sind Hypothesen gemeint, die sich direkt auf die Lebensqualität einwirken und im Zusammenhang mit Persönlichkeitsmerkmalen und Lebensereignissen stehen. Copingprozesse (Coping/C1) können dabei wichtige Mechanismen darstellen, welche im Umgang mit Katalysatoren (Krankheit, Lebensereignisse) vorkommen können. Dabei wird zwischen unterschiedlichen Formen von Bewältigung unterschieden. Problemorientierte Bewältigung (C3) hat einen direkten Einfluss auf die Auswirkung des Katalysators und somit auf die Lebensqualitätseinschätzung (S1) und führt nicht zu Response Shift. Andererseits kann Bewältigungsverhalten auch zu Veränderungen im Bewertungsprozess (Appraisal) führen (A3). Über emotionsorientiertes Coping kann eine absichtliche, bewusste Veränderung darüber erfolgen, wie Lebensqualität oder Lebensqualitätsbedrohungen verstanden werden. So können beispielsweise über emotionsorientiertes Coping persönliche Ziele angepasst oder neupriorisiert werden. Dies passiert über den Bewertungsprozess (Appraisal), welcher bestimmt, inwiefern sich diese Ziele verändern. Jedoch können Neubewertungen, welche zu Response Shift führen, auch über unbewusste, nicht beabsichtigte Mechanismen erfolgen, wie beispielsweise durch Habituation, Trauma oder durch Sozialisierung zum Patientenstatus (vgl. ebd.: 9). 95 IV. Anhang: Response Shift- Erfassungsmethoden (Vanier et al 2017: 28-29) 96 V. Anhang: Aliment- Forschungsgegenstand Modellierung von ALlMEnt-Konfigurationen: Konzeptueller Rahmen und Methoden im Überblick (Hüttemann 2017: 6) 97 VI. Anhang: OxCAP-MH 1 Wenn Sie sich mit gleichaltrigen Menschen vergleichen, schränkt Ihr Gesundheitszustand  Immer Ihre Alltagsaktivitäten auf irgendeine Weise  Meistens ein?  Manchmal [Bitte kreuzen Sie eine Antwort an]  Sehr selten  Nie 2 Haben Sie die Möglichkeit, Freunde oder Verwandte in geselligem Rahmen zu  Immer treffen?  Meistens [Bitte kreuzen Sie eine Antwort an]  Manchmal  Sehr selten  Nie 3 Wie oft haben Sie in den vergangenen 4 Wochen weniger Schlaf gefunden, weil Sie  Immer sich Sorgen gemacht haben?  Meistens [Bitte kreuzen Sie eine Antwort an]  Manchmal  Sehr selten  Nie 4 Wie oft hatten Sie in den vergangenen 4 Wochen die Möglichkeit, Freizeitaktivitäten  Immer zu genießen?  Meistens [Bitte kreuzen Sie eine Antwort an]  Manchmal  Sehr selten  Nie 5 Wie geeignet oder ungeeignet ist Ihre Wohnsituation für Ihre derzeitigen  Sehr geeignet Bedürfnisse?  Ziemlich geeignet [Bitte kreuzen Sie eine Antwort an]  Teils geeignet, teils ungeeignet  Ziemlich ungeeignet  Sehr ungeeignet 6 Bitte geben Sie an, wie sicher Sie sich fühlen, wenn Sie allein in der Nähe Ihrer Wohnung zu  Sehr sicher Fuß unterwegs sind:  Ziemlich sicher [Bitte kreuzen Sie eine Antwort an]  Teils sicher, teils unsicher  Ziemlich unsicher  Sehr unsicher 98 7 Bitte geben Sie an, wie wahrscheinlich es Ihrer Meinung nach  Sehr wahrscheinlich ist, dass Sie in Zukunft angegriffen  Ziemlich wahrscheinlich werden (einschließlich sexueller und häuslicher Gewalt):  Weder wahrscheinlich noch unwahrscheinlich [Bitte kreuzen Sie eine Antwort an]  Ziemlich unwahrscheinlich  Sehr unwahrscheinlich 8 Wie wahrscheinlich ist es Ihrer Meinung nach, dass Sie  Sehr wahrscheinlich (Weiter mit 8a) diskriminiert werden?  Ziemlich wahrscheinlich (Weiter mit 8a) [Bitte kreuzen Sie eine Antwort an]  Weder wahrscheinlich noch unwahrscheinlich (Weiter mit 9)  Ziemlich unwahrscheinlich (Weiter mit 9) 8a Aufgrund welcher der folgenden  Zuschreibungen meinen Sie, Volkszugehörigkeit/ethnische Zugehörigkeit diskriminiert zu werden?  Geschlecht [Bitte kreuzen Sie bis zu drei  Religion Antworten an]  Sexuelle Orientierung  Alter  Gesundheitszustand oder Behinderung 9 Bitte geben Sie an, wie sehr Sie den folgenden Aussagen zustimmen oder nicht zustimmen: [Bitte kreuzen Sie bei jeder Frage jeweils eine Antwort an] 9a Ich habe die Möglichkeit, Entscheidungen zu beeinflussen, die sich auf meine nähere Umgebung auswirken. 9b Ich kann meine Ansichten frei äußern, auch meine politischen und religiösen Ansichten. 9c Ich bin in der Lage, Pflanzen, Tiere und die Natur würdigen und wertschätzen. 9d Ich respektiere, wertschätze und würdige die Menschen in meiner Umgebung. 9e Mir fällt es leicht, die Liebe, Fürsorge und Unterstützung meiner Familie und/oder Freunde anzunehmen und zu genießen. 9f Ich kann selbst frei entscheiden, wie ich mein Leben lebe. 9g Ich kann meiner Fantasie freien Lauf lassen und mich kreativ ausdrücken (z.B. durch Kunst, Literatur, Musik, usw.). 9h Ich habe Zugang zu interessanten Aktivitäten (oder Erwerbstätigkeit). 99 Stimme voll und Stimm e eher zu Stimme weder zu Stimm e eher n ic h t Sti m me überhaupt i h VII. Anhang: Seiqol-DW Formblätter Formblatt 1: «Definitionen der Lebensbereiche» 1. Lebensbereich (Bezeichnung): Beschreibung (Stichworte) 2. Lebensbereich (Bezeichnung): Beschreibung (Stichworte) 3. Lebensbereich (Bezeichnung): Beschreibung (Stichworte) 4. Lebensbereich (Bezeichnung): Beschreibung (Stichworte) 5. Lebensbereich (Bezeichnung): Beschreibung (Stichworte) 100 Formblatt 2: 101 Aktuelle Zufriedenheit mit den fünf Lebensbereichen miserabel ausgezeichnet 1) ……………………………………………………………………………………. 2) ……………………………………………………………………………………. 3) ……………………………………………………………………………………. 4) ……………………………………………………………………………………. 5) ……………………………………………………………………………………. Formblatt 3: 102 Aktuelle Wichtigkeit der Lebensbereiche im Vergleich gar nicht wichtig extrem wichtig 1) ……………………………………………………………………………………. 2) ……………………………………………………………………………………. 3) ……………………………………………………………………………………. 4) ……………………………………………………………………………………. 5) ……………………………………………………………………………………. VIII. Anhang: Interviewleitfaden Erzählstimulus «Zu Beginn wäre ich also interessiert zu erfahren, was sich in den letzten Monaten in Ihrem Leben getan hat. Ich möchte Sie darum jetzt bitten, auf das letzte halbe Jahr zurückzublicken und mir zu erzählen, wie Ihr Leben in dieser Zeit verlaufen ist. Ich sage jetzt erst einmal gar nichts mehr und höre einfach zu.» Zeige dem Klienten, der Klient die Visualisierung der Ergebnisse und lege diese zwischen dich und den Klienten, die Klientin, so dass er/sie gut sehen kann. Erläutere kurz, wie die grafische Darstellung (methodisch) zustande gekommen ist, ohne auf die Ergebnisse inhaltlich einzugehen. Mögliche Fragen zu Haben Sie einen ersten Eindruck vom Verlauf, der sich zeigt? Fällt den Verlaufsdarstel- Ihnen etwas auf? lungen Uns ist aufgefallen, dass xxx Ausserdem haben wir yyy beobachtet. Haben Sie eine Vermutung, wie dieser Verlauf zustande kam? Was war in dieser Zeit los? Hat es etwas mit xxx zu tun? Ausblick/Zukunfts- Wie geht es mit Ihnen weiter? Welche Pläne haben Sie? perspektive Welche Entwicklungen (in Ihren wichtigen Lebensbereichen) erwarten Sie in naher Zukunft? Wie sieht ihre mittel-/längerfristige Zukunftsperspektive aus? 103 IX. Anhang: Code-System Liste der Codes – Codesystem Normale Schwankungen in der Lebensqualität Wohlbefinden, Zufriedenheit Übereinstimmung Quali und Quanti Divergenz Quali und Quanti Tiefes Wohlbefinden Veränderungen in den Lebensbereichen Erreichen/Nicht Erreichen persönlicher Ziele Negativ Positiv Veränderung der Rolle Response Shift Rekalibrierung Rekonzeptualisierung Repriorisierung S:RS: Wichtigkeit bewegt sich mit Zufriedenheit S:RS: Zufriedenheit und Wichtigkeit verhalten sich gegenteilig Samplingstrategie Anpassungen der Erwartungen an das Leben Interne Faktoren Sozialer Vergleich Annäherungsziel Annäherungsverhalten Vermeidungsverhalten Positiver Blick, Optimismus, Hoffnung Externe Faktoren Unterstützung durch Freunde/Familie Unterstützende Interventionen Interventionen im Zusammenhang mit Druck Soziale Beziehungen Finanzielle, Materielle Ausstattung Diverses Teilhabe am gesellschaftlichen Leben Mobilität (Selbständigkeit) Belastungsfaktoren Depression, Einsamkeit Soziale Stressoren Gesundheitliche Probleme Verlaufskurve Hoher Oxcap Wert rund 80 Tiefer Oxcap Wert Oxcap und Seiqol bewegen sich ähnlich Oxcap und Seiqol bewegen sich unterschiedlich Tiefer Seiqolwert (rund 50) Werte im Bereich 70-80 Hoher Seiqolwert 104