Sozial Extra 4 2021: 251–256 https://d oi.org/ 10.1007/s 12054- 021- 00395-7 Online publiziert: 15. Juni 2021 © Der/die Autor(en) 2021 Extrablick: Urteilsbildung in der Sozialen Arbeit  Vom Problem mit der Bestimmung des Fallproblems Herausforderungen bei der interaktiven Fallkonstitution als ein Kernprozess professioneller Praxis im Kontext (möglicher) Kindeswohlgefährdungen Sozialarbeitende haben beim Auftreten von Erziehungs- und Entwicklungsproblemen in Familien oder auch bei potenziellen Kindeswohlgefährdungen mit konkreten realen Fällen zu tun. Ausgangspunkt des Beitrages ist die These, dass der Fall nicht objektiv gegebenen ist, sondern in der organisational gerahmten Interaktion zwischen den Klienten und Klientinnen und den Professionellen Sozialer Arbeit hergestellt wird. Diese interaktive Fallkonstitution wird hier als levanzordnungen der jeweiligen Profession sind sie das ein Kernprozess professioneller Praxis –  und Produkt der Konstitutionsleistungen von Professionel-damit auch der professionellen Urteilsbildung – len, die aus einem Sachverhalt erst einen Fall herstellen verstanden. Anhand der Befunde aus einer qualitativen (Bergmann 2014). In der Sozialen Arbeit wird die ent- Studie wird aufgezeigt, dass die Fallkonstitution eine vo- sprechende Phase als soziale Diagnostik oder Fallverste- raussetzungsvolle und folgenreiche Herstellungsleistung hen bezeichnet. Dabei wird kontrovers diskutiert (bspw. ist und welche Herausforderungen damit einhergehen. Kunstreich et al. 2003), wie Professionelle und ihre Kli- enten und Klientinnen zu einer Einschätzung darüber Wer hat welche Probleme und was ist zu tun? kommen sollen, was der Fall ist, oder wie es Burkhard- Für Angehörigen von Professionen verweist der Fall Müller (1997) formulierte: wer hat welche Probleme auf ein aktiv zu lösendes Problem und er stellt den zen- und was ist aus fachlicher Sicht zu tun? tralen Modus ihres Denkens und Handelns dar. Fälle Vor diesem Hintergrund werden in der Praxis Sozia- liegen aber nicht einfach als gegebene Bezugsgrössen ler Arbeit tagtäglich auf der Basis von Schriftstücken, des professionellen Handelns vor. Auf der Basis der Re- Hausbesuchen und im Gespräch mit den Klienten und Klientinnen in mehr oder weniger bewussten sozialdia- gnostischen Prozessen (Rüegger et al. 2019) Falldeutun- Cornelia Rüegger gen mit entscheidungsrelevanten Kategorien produziert. FHNW University of Applied Sciences and Arts Northwestern Dies erfordert Herstellungsleistungen unterschiedlicher Switzerland, Olten, Schweiz Art (auch Hall et al. 2003; Messmer und Hitzler 2007; *1968; Dr. des., Sozialwissenschafterin und Sozialarbeiterin MA. Wolff 1983) die mitbestimmt sind durch: Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Professionsfor- schung und -entwicklung an der HSA FHNW. • die Sozialarbeitenden und ihre Praktiken im Umgang cornelia.rueegger@fhnw.ch mit diagnostischen Instrumenten (Ackermann 2021); impliziten Logiken (Schmidt 2012), Deutungsmus- Zusammenfassung ter (Hüttemann 2008); Erfahrungswissen, Intuition Der Beitrag geht der Frage nach, wie Sozialarbeitende ein Wissen darüber entwickeln, was die Fall- (Bastian et al. 2018; Becker-Lenz et al. 2017); alltäg- problematik ausmacht und welcher Hilfe es bedarf. Es zeigt sich, liche und professionelle Wissensbestände (Klomann dass die Fallkonstitution eine komplexe Herstellungsleistung ist et al. 2019; Rüegger et al. 2019); Moralvorstellungen und welche Herausforderungen und Fallstricke damit einher- (White 2003); professionelle Einstellungen und deren gehen. Dabei sticht die Selektivität bezüglich der verarbeiteten Informationen ebenso hervor wie die Bedeutung organisational Einfluss auf die Beurteilung der Kindeswohlgefähr- vorgegebener Relevanzen. dung (Gautschi 2021) u. a. m., • die Klienten und Klientinnen und ihre Erfahrungen im Schlüsselwörter Fallkonstitution, Fallwissen, Soziale Diagnostik, Arbeitsbeziehung, Kindeswohlgefährdung Umgang mit Hilfesystemen (Maeder und Nadai 2004) 251 Sozial Extra 4 2021 Extrablick: Urteilsbildung in der Sozialen Arbeit  sowie ihre Muster und Strategien der Problempräsen- Reduktion der komplexen Ausgangslage der beteilig- tation (Rüegger 2021a) u. a. m., ten Familie in der Problemformulierung „Erziehungsstil • die organisationalen Rahmenbedingungen, wie z. B. Mutter“ erweist sich auf seiner hidden agenda3 über den organisationale Konventionen und Routinen, Res- untersuchten Fallverlauf hinweg stabil und interventi- sourcen für die Fallarbeit, Formulare, Klienten- und onswirksam in der Auswahl der Mittel und Methode Klientinnen-Klassifizierungen (Bauer 2010; Busse (auch Becker-Lenz et al. 2015). et al. 2016; Rüegger et al. 2019); Formen interpro- fessioneller und interinstitutioneller Zusammenarbeit Produktion des Falles in der Interaktion – zur (Silkenbeumer und Thieme 2019); Angebots- und Ver- Relevanz der Gesprächseröffnung sorgungsstruktur im jeweiligen Hilfesystem (Hansjür- Nach der Preconstruction kommt es mit Beginn des gens 2018; Rüegger et al. 2017). Erstgespräches zur Produktion des Falles in der In- teraktion mit den Klienten und Klientinnen. In den Die Bestimmung der Fallproblematik in der Praxis untersuchten Gesprächen lassen sich verschiedene stützt sich folglich nicht allein auf die Anwendung wis- Handlungssegmente unterscheiden, in denen von den senschaftlichen Wissens auf die praktische Problemstel- Sozialarbeitenden segmentspezifische Handlungsaufga- lung hin. Die Praxis Sozialer Arbeit agiert vielmehr in ben kommunikativ bearbeitet werden. Für die Fallkons- einem Spannungsfeld von sozialstattlichem Auftrag bzw. titution ist vor allem die Gesprächseröffnung sowie die organisational vorgeprägten Hilfeleistungen, den Anlie- Problemschilderung und Exploration relevant. gen ihrer Klienten und Klientinnen und professionellem Mit der Gesprächseröffnung bearbeiten die Sozialar- Handlungsverständnis (auch Bommes und Scherr 2012). beitenden zunächst die Aufgabe, das Gespräch als or- Den Sozialarbeitenden stellt sich hierbei die Heraus- ganisational gerahmtes professionelles Gespräch mit forderung, die verschiedenen Wissensbestände im Hin- einem bestimmten Zweck und Ziel zu konstituieren. blick auf die praktische Problemlösung und die Frage Darüber wird auch die Beziehungsgestaltung aufgenom- der angemessenen Hilfe aufeinander zu beziehen und men, die organisationale Einbettung der Fallkonstituti- zu relationieren (Dewe et al. 1992) und dies in Koope- on angelegt, die Rolle als Klient_in und Sozialarbeiter_in ration mit den Klienten und Klientinnen. Das ist kein eingerichtet sowie der Einstieg zur Problemexploration trivialer Prozess, dessen Hergang bisher zudem wenig inhaltlich vorbereitet. Zum Ausdruck kommen kom- untersucht ist. In einer qualitativ-explorativen Studie1 munikative Praktiken der Sozialarbeitenden, die den (Rüegger 2021a) zu den Prozessen und Praktiken der Interaktionsteilnehmenden in verschiedener Hinsicht Fallkonstitution wurde deshalb der Frage nachgegan- Orientierung geben, wie z. B. zum Handlungszweck des gen, wie das fallrelevante Wissen in der Interaktion zwi- Gespräches oder zu sich als (Fach-) Person. Gleichzeitig schen Sozialarbeitenden und ihrer Klienten und Klien- wird deutlich, dass sich die Sozialarbeitenden über die tinnen „in actu“ generiert, verschränkt und in Bezug auf Art und Weise der Thematisierung dieser orientierenden Fragen der konkreten Hilfe handlungswirksam gemacht Aspekte darum bemühen, günstige Bedingungen für das wird. Im Fokus stehen hierbei Fälle2, die in der Schulso- nachfolgende Reden über Probleme der Lebensführung zialarbeit, der der Sozialpädagogischen Familienbeglei- und die Inanspruchnahme Sozialer Arbeit zu schaffen. tung und einem Abklärungsdienst für Kindeswohlab- Zum Beispiel: klärungen angesiedelt sind und bei denen ein Verdacht • die Inanspruchnahme der Sozialen Arbeit wird nor- auf eine Kindeswohlgefährdung im Raum steht. malisiert • Interventionen Sozialer Arbeit werden als Hilfe zur Wie wird der Fall zum Fall? Erweiterung von Möglichkeiten und nicht als Ein- Anhand der Fallanalysen wird sichtbar, dass der Pro- griffshandeln dargestellt zess der Fallkonstitution mit einer Preconstruction be- • Sozialarbeitenden präsentieren sich als kompetente ginnt, die der Interaktion mit den Klienten und Klientin- und erfahrene (Fach)Personen, die Expertise und Hil- nen vorausgeht. Im Fall aus der Schulsozialarbeit wird fe anbieten in der Preconstruction eine organisationsbezogene Pro- • inhaltliche Engführung (Intransparenz) bezüglich je- blemwahrnehmung und entsprechend selektive Rah- ner Aspekte des konkreten (Abklärungs-)Auftrages, mung und Eingrenzung des Falles deutlich. Innerhalb die aus Perspektive der Klienten und Klientinnen po- der organisationsbezogenen Fallschablone zeigen sich tenziell auch ein Risiko darstellen könnten oberflächliche Deutungsprozesse des Sozialarbeiters auf der Basis von beruflichem Erfahrungswissen und kultu- Zudem wird eine Reihe kommunikativer defensiver ralistischen Deutungsmustern. Die frühe Verortung und Praktiken sichtbar, wie zum Beispiel: 252 • Vermeidung achtungsbedrohender Mitteilungsfor- In einem starken Kontrast dazu steht die Arbeitsweise men in der Gesprächseröffnung in der Problemschilderung und Exploration im Fall aus • Vermeidung oder Abschwächung der eindeutigen Be- der Sozialpädagogischen Familienbegleitung. Sie lässt nennung heikler Themen oder Tatsachen (z. B. wie es sich charakterisieren als ein Ausbreiten und Identifizie- zu diesem Gespräch gekommen ist; weshalb es ge- ren von Fallthemen mit einer starken Orientierung des führt wird) Sozialarbeiters an den Anliegen der Kindsmutter und ih- ren Verhaltensweisen und weniger bei Fragen des Kin- Diese defensiven Praktiken sind zu verstehen als ein Be- deswohls. Mittels einer selektiven Thematisierung und mühen, die Klienten und Klientinnen als Interaktions- De-Thematisierung einzelner Aspekte aus den Prob- teilnehmende nicht in ein schlechtes Licht zu rücken und lemschilderungen der Klientin durch den Sozialarbeiter den Beziehungsaufbau dadurch zu erschweren oder gar wird das Wissen zum Fall relationiert und der Fall als zu verunmöglichen. Denn es geht bei den untersuchten Fall für die Sozialpädagogische Familienhilfe hergestellt. Fallkonstitution immer auch um Sachverhalte und Si- Nochmals anders präsentiert sich die Problemschil- tuationen, die implizit mit Fragen von Schuld und Mo- derung und Exploration im Fall aus dem Abklärungs- ral verbunden sind. Alle zuvor genannten Aufgaben der dienst. Die diagnostische Arbeitsweise des Sozialarbei- Gesprächseröffnung werden also auf eine Weise kom- ters lässt sich als ein Vorgehen charakterisieren, in dem munikativ bearbeitet, die nicht nur das nachfolgende einer Art diagnostischen „Spürens“ wie auch seinem Er- Reden über die Probleme begünstigt, sondern auch den fahrungswissen zentrale Bedeutung zukommt. Die Pro- Beziehungsaufbau möglichst wenig belastet. blemexploration dient vor allem der Erzeugung von Beschreibungswissen zum Fall auf der Basis der Prob- Produktion des Falles in der Interaktion – lemschilderungen der Klientin, wobei der Sozialarbei- zur Problemschilderung und Exploration ter ein spezielles Interesse an ihrem subjektiven Erleben Die Analysen zeigen weiter, dass nach der Gesprächs- und ihren biographischen Krisen zeigt. Auf dieser Basis eröffnung die Problemschilderung und Exploration bildet er sich ein im Gespräch nicht explizit kommuni- folgt. Sie beginnt mit der an die Klienten und Klientin- ziertes, günstiges Bild von der Klientin als „Mutter mit nen gerichteten Aufforderung, allfällige Anliegen oder Herz“. Er produziert aber im interaktiven Geschehen ihre Sicht auf einen bestimmten Sachverhalt zu schil- keine expliziten Falldeutungen. Ein potenziell heikles, dern. Der thematische Zuschnitt ist durch die Sozialar- aber im Sinne der Abklärung des Kindeswohls wichti- beitenden über die Gesprächseröffnung angelegt und es ges Thema (Verdacht von Gewalt des Partners gegen- ist nicht gänzlich offen, worüber die Klienten und Klien- über dem Kind) wird von ihm nicht angesprochen, um tinnen nun erzählen sollen. Die weitere Vorgehenswei- die Beziehungsebene nicht zu gefährden. Die Abklärung se4 der Sozialarbeitenden innerhalb der Problemschil- der Kindeswohlgefährdung bleibt durchgehend an der derung und Exploration ist jedoch sehr unterschiedlich: Oberfläche. In der bereits erwähnten Fallkonstitution im Kontext Trotz dieser Unterschiede lassen sich bestimmte Kern- der Schulsozialarbeit handelt es sich um eine strategisch prozesse in der Herstellung von fallrelevantem Wissen ausgerichtete diagnostische Suchbewegung des Sozial- herausarbeiten, nämlich das: arbeiters mit verstehenden Anteilen. Diese zielt aber 1. Hervorbringen von Fallwissen, weniger auf das Explorieren und Verstehen des Falles. 2. Selektionieren, Vielmehr geht es um das Auffinden von potenziellem 3. Verschränken/Relationieren sowie Leidensdruck beim Klienten (Kindesvater). 4. Etablieren als geteiltes fallrelevantes Wissen (com- Darüber versucht der Sozialarbeiter einen motivatio- mon ground). nalen Ansatzpunkt bei dem nicht an der Hilfe interes- sierten Klienten zu lokalisieren um seine hidden agenda Mittels dieser Kernprozesse wird zunächst das lebens- zu bewerben und ein strategisches Bündnis einzurichten. weltliche Wissen der Klienten und Klientinnen zu ihren Eine Art geteilte Problemsicht wird hergestellt in Bezug Anliegen und Problemen der Lebensführung hervorge- darauf, dass es einen ehelichen Paarkonflikt gibt. Doch bracht. Im Fall aus der Familienbegleitung und jenem der vorhandene Dissens zwischen dem Kindesvater und aus dem Abklärungsdienst wird den Klienten und Kli- dem Sozialarbeiter bezüglich der Erklärung des Konflik- entinnen dabei ermöglicht, in sequenzieller Erstposition tes in der Form von Falldeutungen macht der Sozialar- Wissen einzuführen und dabei eigene Relevanzsetzun- beiter im Gespräch nicht explizit, um die Entstehung des gen vorzunehmen. Die epistemische Autorität für die- von ihm gewünschten Bündnisses nicht zu gefährden. ses Wissen bleibt bei den Klienten und Klientinnen. Die Problemschilderung der Klienten und Klientinnen wird 253 Sozial Extra 4 2021 Extrablick: Urteilsbildung in der Sozialen Arbeit  durch die Sozialarbeitenden über Zuhören, Rückmel- Auf Basis der empirischen Befunde werden aber auch designale, Verstehensdokumentationen unterstützt und Herausforderungen und Fallstricke professionellen über Fragen aktiviert. Auch in den Problemschilderun- Handelns in der Fallkonstitution sichtbar. Hierbei sticht gen der Klienten und Klientinnen werden fallübergrei- die Selektivität der verarbeiteten Informationen ebenso fende Praktiken sichtbar (bspw. Problemaufwertungen, hervor wie Blindstellen der Sozialarbeitenden bezüglich Verortung von Schuld bei anderen) und sie versuchen organisational vorgegebener Relevanzen. Durch die je- sich in ihren Problempräsentationen auf eine Weise dar- weilige Organisation wird die interaktive Fallkonstitu- zustellen, dass sie ihr „Image“ (Goffman 1986) mög- tion ermöglicht, aber eben auch eingeschränkt. Insofern lichst wahren können. sind die organisationsbezogenen Fallschablonen, wie sie Aus den Problemschilderungen der Klienten und Kli- sich in der Preconstruction noch vor einem Erstgespräch entinnen bzw. dem kommunikativen Fluss an so hervor- mit den Klienten und Klientinnen in den Akten der So- gebrachtem Fallwissen, werden von den Sozialarbeiten- zialarbeitenden zeigen, ebenso wenig überraschend wie den selektiv bestimmte Aspekte aufgegriffen und andere die Tatsache, dass der Fall in der Interaktion mit den nicht thematisiert. Über dieses Selektionieren vollzieht Klienten und Klientinnen so hergestellt wird, dass er sich ein Dimensionieren, eine Art Zuschneiden des Fal- mit den Mitteln der Organisation bearbeitbar ist. Der les im Sinne eines Aufgreifens wie auch Weglassens be- Charakter des dabei erzeugten Fallwissens, das dann im stimmter Aspekte aus den Erzählungen eigenerlebter Gespräch aktualisiert wird, ist den beteiligten Sozialar- Erfahrungen der Klient_innen durch die Sozialarbei- beitenden selbst nur begrenzt bewusst. In Bezug darauf tenden. wird deutlich, dass die Praxis der Sozialen Arbeit viel- Diese Aspekte werden dann mehr oder weniger ex- fach nur begrenzt dem Anspruch einer wissenschaftli- plizit mit den Wissensbeständen der Sozialarbeitenden chen Fundierung – im Sinne einer bewussten und reflek- verschränkt bzw. relationiert und darüber in alltags- tierten Wissensverwendung – gerecht wird. weltliche Kategorien der Sozialarbeiter transferiert und Die interaktiven Prozesse der Fallkonstitution sind transformiert wie auch in solche, die sich dem Fach- aber nicht nur fachlich-inhaltlich herausfordernd. Deut- wissen der Profession zuschreiben lassen. Im Fall aus lich wird die dynamische Verzahnung von diagnosti- der Sozialpädagogischen Familienbegleitung sind es schem Handeln und der Gestaltung der Arbeitsbezie- Kategorien aus dem Fachwissen der Profession (z. B. hung in der Interaktion. Strukturell ist angelegt, dass als Fall von fehlendem „Grenzen setzen“), die aber den sich Soziale Arbeit als gesellschaftlich institutionali- Fall zugleich in eine Passung mit dem Zuständigkeits- siertes Hilfesystem mit problematischen Formen der bereich der Organisation und ihren Unterstützungsan- Lebensführung beschäftigt. Es geht hier also um eine geboten bringen lassen. Es lässt sich stark vermuten, Ist-Soll-Diskrepanz, die im Moment der Fallkonstitu- dass die beschriebene Selektion der Sozialarbeitenden tion in den Blick kommt und je nach Arbeitsfeld auch und somit die Herstellung des Falles von diesem Ende explizit ausgewiesen werden muss, um als unterstüt- her, also den Unterstützungsangeboten der Organisati- zungswürdig anerkannt zu werden oder allenfalls auch on, bedingt wird. eine Kindeswohlgefährdung sichtbar zu machen. Em- Über meist kooperativ verlaufende Verständigungspro- pirisch zeigt sich, dass dies mit Prozessen der Herstel- zesse wird das so hergestellte Wissen zum Fall als ge- lung von Hilfsbedürftigkeit der Erziehungsberechtigten teiltes Wissen etabliert – oder noch Überzeugungsarbeit oder auch der Schutzbedürftigkeit der Kinder und Ju- geleistet. Im ganzen Prozess bemühen sich die Sozialar- gendlichen sowie der meist impliziten Verhandlung von beitenden, wie schon in der Gesprächseröffnung, um Schuld und Moral einher geht, was diese Prozesse der kommunikative Formate, die achtungsbedrohende Mit- Fallkonstitution als situatives Beziehungsgeschehen so teilungsformen möglichst vermeiden. heikel macht (ausführlicher Rüegger 2021a). Die Sozi- alarbeitenden reagieren darauf mit den erwähnten de- Fazit und Diskussion fensiven Praktiken zur Vermeidung und Abschwächung Die skizzierten Befunde veranschaulichen, wie die So- (moralisierender) Inhalte. Oder wie der Sozialarbeiter zialarbeitenden in den untersuchten Fallkonstitutionen aus dem Abklärungsdienst, der bestimmte Hinweise auf ein Wissen darüber entwickeln, was den Fall und seine eine Kindeswohlgefährdung im Gespräch nicht direkt Problematik ausmacht und welcher Hilfe es bedarf. Es anspricht und so seine Diagnostik begrenzt, um eine wurde deutlich, dass die organisationale und interakti- (vermeintliche) Gefährdung der Arbeitsbeziehung zur ve Produktion des Falles eine voraussetzungsvolle, an- Kindsmutter zu vermeiden, womit aber mögliche Leiden spruchsvolle und folgenreiche Herstellungsleistung ist. ihres Kindes nicht in den Blick kommen. 254 Im Interview formuliert dieser Sozialarbeiter: „Verste- Literatur hen braucht Beziehung und Vertrauen“. Dem ist mit Ackermann, T. (2021). Risikoeinschätzungsinstrumente und professionel- Blick auf eine professionalisierte Praxis Sozialer Arbeit les Handeln im Kinderschutz. Sozial Extra, 45, 42–48. hinzuzufügen: (Fall-) Verstehen braucht Beziehung, Ver- Bastian, P., Schrödter, M., Becker-Lenz, R., Gautschi, J., Grosse, M., Hu-nold, M., & Rüegger, C. (2018). Bauchgefühle in der Sozialen Arbeit. In trauen, Wissen und Können der Professionellen und im- Sozialpädagogik, Kommission (Hrsg.), Wa(h)re Gefühle? Sozialpädagogi- sche Emotionsarbeit im wohlfahrtsstaatlichen Kontext (S. 128–140). Basel: mer wieder der Reflexion der interaktiven Prozesse und Beltz Juventa. Praktiken der Fallkonstitution und ihrer organisationa- Bauer, P. (2010). Organisatorische Bedingungen der Fallkonstitution in len Bedingungen.   s der Sozialen Arbeit. Ein Literaturbericht. Zeitschrift für Pädagogik, 56(2), 249–266. ∑ Becker-Lenz, R., Gautschi, J., & Rüegger, C. (2015). Nicht-standardisier-tes Wissen und nicht-methodisiertes Können in der sozialen Diagnostik. Einblick in eine empirische Analyse im Feld der Kinder- und Jugendhilfe. neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, Eingegangen. 20. April 2021 45(3), 270–279. Angenommen. 14. Mai 2021 Becker-Lenz, R., Gautschi, J., & Rüegger, C. (2017). Die Bedeutung von nicht-standardisiertem Wissen in der Diagnostik Sozialer Arbeit - Eine Fall- Funding. 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Weinheim: Beltz einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Juventa. Änderungen vorgenommen wurden. Busse, St., Ehlert, G., Becker-Lenz, R., & Müller-Hermann, S. (2016). Pro- Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial fessionalität und Organisation. Wiesbaden: Springer VS. unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, so- Dewe, B., Ferchhoff, W., & Radtke, F.-O. (1992). Das „Professionswis- fern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern sen“ von Pädagogen. Ein wissenstheoretischer Rekonstruktionsversuch. das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Com- In B. Dewe, W. Ferchhoff & F.-O. Radtke (Hrsg.), Erziehen als Profession. Zur Logik professionellen Handelns in pädagogischen Feldern (S. 70–91). mons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach ge- Opladen: Leske + Budrich. setzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Goffman, E. (1986). Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kom- Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen munikation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Rechteinhabers einzuholen. Gautschi, J (2021). Urteile und Entscheidungen unter Unsicherheit in Kin- Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformati- deswohlabklärungen. Einflussfaktoren auf Fallbeurteilungen in einer mul- on auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de. tifaktoriellen, experimentellen Vignettenstudie. Pädagogische Hochschule Freiburg. Dissertation. 1. Das Datenmaterial wurden im Rahmen der Studie zu „Diag- Hall, C., Juhila, K., Parton, N., & Pöso, T. (2003). Constructing Cli- nostik und Arbeitsbeziehungen“ (z. B. Becker-Lenz et al. 2015) im enthood in social work and human services. Interaction, identities and practices. London: Jessica Kingsley. Feld der Kinder- und Jugendhilfe erhoben. Als Datenbasis liegen aus sieben Fällen Tonaufzeichnungen von Gesprächen zwischen Hansjürgens, R. (2018). In Kontakt kommen. Analyse der Entstehung ei- ner Arbeitsbeziehung in Suchtberatungsstellen. Baden Baden: Tectum. Sozialarbeitenden und ihrer Adressaten und Adressatinnen aus der Phase der Fallkonstitution sowie Protokolle teilnehmender Beob- Hüttemann, M. (2008). Was ist der Fall? Eine rekonstruktive Untersu- chung diagnostisch relevanter Deutungsmuster von Fachkräften Sozialer achtung vor. Ergänzt wurden diese Daten durch Dokumente, die Arbeit. Schweizerische Zeitschrift für Soziale Arbeit., 3(5), 32–56. im Rahmen der Fallkonstitution eingesetzt oder hergestellt wurden Klomann, V., Schermaier-Stöckl, B., Breuer-Nyhsen, J., & Grün, A. (2019). (Akten, Abklärungsbericht) und durch Daten, in denen sich ein Professionelle Einschätzungsprozesse im Kinderschutz. Forschungsbericht. organisationsspezifischer Blick auf den Fall manifestiert (Konzepte, Aachen: Katholische Hochschule NRW. Anamnesebögen), wie auch durch Interviews mit den Klient_innen Kunstreich, T., Müller, B., Heiner, M., & Meinhold, M. (2003). Diagnose und den Professionellen. Die Datenauswertung erfolgte mittels der und/oder Dialog? Ein Briefwechsel. Widersprüche. Zeitschrift für sozialisti- Methode der objektiven Hermeneutik (Oevermann et al. 1979). sche Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, 23(88), 1–31. Maeder, Ch, & Nadai, E. (2004). Organisierte Armut. Sozialhilfe aus wis- 2. Im Laufe der Dissertationsstudie wurden Ergebnisse zu unter- senssoziologischer Sicht. Konstanz: UVK. schiedlichen Aspekten bereits publiziert in Rüegger (2017, 2019, Messmer, H., & Hitzler, S. (2007). Die soziale Produktion von Klienten. 2021b). Hilfeplangespräche in der Kinder- und Jugendhilfen. In B. Ludwig-Mayrho- 3. Für die Bezeichnung hidden agenda gibt es keine treffende fer & A. Sondermann (Hrsg.), Fallverstehen und Deutungsmacht. Akteure in der Sozialverwaltung und ihre Klienten (S. 41–74). Wiesbaden: Verlag deutsche Übersetzung. Sinngemäss geht es um eine Absicht, die aus Barbara Budrich. taktischen Überlegungen verborgen bleibt. Müller, B. (1997). Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur multi- 4. Bezüglich der diagnostischen Arbeitsweisen gibt es eine Über- perspektivischen Fallarbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus. schneidung mit dem gemeinsamen Forschungsprojekt mit Roland Oevermann, U., Allert, T., Konau, E. & Krambeck, J. (1979). Die Metho- Becker-Lenz und Joel Gautschi (Becker-Lenz et al. 2015, 2017; dologie einer 'objektiven Hermeneutik' und ihre allgemeine forschungslogi- Rüegger et al. 2019). sche Bedeutung für die Sozialwissenschaften. In: Soeffner, H-G (Hrsg.), In- terpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften (S. 352-434). Stuttgart: Metzler. 255 Sozial Extra 4 2021 Extrablick: Urteilsbildung in der Sozialen Arbeit  Rüegger, C. (2017). Die interaktive Herstellung des Falles und seiner Pro- blematik in Gesprächen der Sozialen Arbeit. 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