BAC HELOR-THESIS Zu fern – Zu nah? Die Bedeutung von Nähe und Distanz für eine sichere Bin- dung in der stationären Arbeit mit Kindern Nadine Jäger 14-462-238 EINGEREICHT IM JULI 2020 BEI Prof. Linus Marcello Schumacher Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW Hochschule für Soziale Arbeit HSA Bachelor-Studium in Sozialer Arbeit, Muttenz Abstract Die vorliegende Thesis befasst sich mit dem Thema Nähe und Distanz in der Bindungs- theorie im Heimkontext. Die Fragen, welche Bedeutung das Spannungsfeld Nähe und Distanz in der Bindungstheorie bei Kindern im Heimkontext einnimmt, welche Voraus- setzungen erfüllt sein müssen, damit Fachkräfte eine angemessene Nähe-Distanz-Ba- lance gewährleisten können und welche Gefahren im Umgang mit dem Spannungsfeld bestehen, sollen beantwortet werden. Zunächst werden die Grundlagen der Bindungstheorie erklärt und die Bedingungen er- läutert, die für eine gelingende sichere Bindung nötig sind. Der zweite Teil der Thesis wird sich mit Nähe und Distanz im Heimkontext und den Gefahren im Umgang dieses Spannungsfeldes beschäftigen und die notwendigen Rahmendbedingungen herausar- beiten, um diese zu minimieren. Eine angemessene Nähe-Distanz-Regulation in der Heimerziehung ist wichtig für eine sichere Bindungsentwicklung. Es bedarf einer ständigen Reflexion der Fachkräfte und Feinfühligkeit, um das richtige Mass zu finden und auf institutioneller Ebene genügend Reflexionsräume und entsprechende Leitlinien und Konzepte. Inhaltsverzeichnis 1 EINLEITUNG ......................................................................................................... 1 1.1 FRAGESTELLUNG ...................................................................................................... 2 1.2 RELEVANZ FÜR DIE SOZIALE ARBEIT .............................................................................. 3 2 DIE BINDUNGSTHEORIE ...................................................................................... 5 2.1 GRUNDLAGEN ......................................................................................................... 5 2.1.1 Entwicklung der Bindungstheorie ....................................................................... 5 2.1.2 Definition Bindung ............................................................................................ 7 2.1.3 Bindung und Bindungsverhalten ........................................................................ 7 2.1.4 Bindungshierarchie ........................................................................................... 8 2.2 ENTSTEHUNG DER BINDUNG ....................................................................................... 9 2.2.1 Konzept der Feinfühligkeit ................................................................................. 9 2.2.2 Internale Arbeitsmodelle .................................................................................. 13 2.2.3 Phasen der Bindungsentwicklung ...................................................................... 13 2.3 BINDUNGSQUALITÄT ................................................................................................ 16 2.3.1 Die Fremde Situation ....................................................................................... 16 2.3.2 Die sichere Bindung ......................................................................................... 19 2.3.3 Die unsicher-vermeidende Bindung ................................................................... 19 2.3.4 Die unsicher-ambivalente Bindung .................................................................... 20 2.3.5 Die desorganisierte Bindung ............................................................................. 20 2.4 GESTÖRTES BINDUNGSVERHALTEN ............................................................................... 21 2.4.1 Bindungsstörungen .......................................................................................... 21 2.4.1.1 Reaktive Bindungsstörung (F94.1) ......................................................................... 22 2.4.1.2 Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2) ............................................................. 22 2.4.2 Psychopathologie ............................................................................................. 23 2.5 KRITIK AN DER BINDUNGSTHEORIE .............................................................................. 24 3 NÄHE UND DISTANZ IN DER STATIONÄREN ARBEIT MIT KINDERN ................. 26 3.1 ENTWICKLUNG DER HEIMERZIEHUNG ............................................................................ 26 3.2 DIE HEUTIGE HEIMERZIEHUNG IN DER SCHWEIZ .............................................................. 29 3.3 DER RECHTLICHE RAHMEN DER BEZIEHUNGSGESTALTUNG .................................................. 30 3.4 DER ETHISCHE RAHMEN DER BEZIEHUNGSGESTALTUNG ..................................................... 31 3.5 DAS SPANNUNGSFELD NÄHE UND DISTANZ .................................................................... 32 3.6 ENTWICKLUNGSFÖRDERLICHE DISTANZ ......................................................................... 33 3.7 FORMEN VON NÄHE UND DEREN BEDEUTUNG FÜR DIE KINDLICHE ENTWICKLUNG ...................... 34 3.7.1 Körperliche Nähe ............................................................................................. 34 3.7.2 Emotionale Nähe ............................................................................................. 35 3.7.3 Mentale Nähe .................................................................................................. 36 3.8 MÖGLICHE GEFAHREN IN DER STATIONÄREN ARBEIT MIT KINDERN IM UMGANG MIT NÄHE UND DISTANZ ......................................................................................................................... 37 3.8.1 Grenzüberschreitungen .................................................................................... 38 3.8.2 Körperliche und sexuelle Gewalt ....................................................................... 39 3.8.3 Vernachlässigung ............................................................................................. 40 3.8.4 Über den Umgang mit der Macht ...................................................................... 40 3.9 REGULATION VON NÄHE UND DISTANZ IN SOZIALPÄDAGOGISCHEN EINRICHTUNGEN .................. 42 4 SCHLUSSFOLGERUNGEN .................................................................................... 46 4.1 ZUSAMMENFASSENDE ERKENNTNISSE ............................................................................ 46 4.2 BEANTWORTUNG DER FRAGESTELLUNG ......................................................................... 47 4.3 BEDEUTUNG FÜR DIE PRAXIS UND AUSBLICK ................................................................... 49 5 LITERATURVERZEICHNIS ................................................................................... 50 5.1 ABBILDUNGSVERZEICHNIS / TABELLENVERZEICHNIS .......................................................... 55 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Kontinuum von Nähe und Distanz (vgl. Volmer 2019: 89).................................43 Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Feinfühligkeits-Skala (vgl. Ainsworth 1974: 418-421)...........................................11 Tabelle 2: Ablauf "Fremde Situation" (vgl. Ainsworth/Wittig 1969: 115–116).......................17 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER 1 Einleitung In der Schweiz lebten gemäss einer Hochrechnung von PACH (Pflege- und Adoptivkin- der Schweiz in den Jahren 2015 bis 2017 ungefähr 18'000 bis 19'000 Kinder und Ju- gendliche jährlich in Fremdplatzierung, wovon gut 30% in Pflegefamilien und knapp 70% in Kinder- und Jugendheimen untergebracht waren (vgl. PACH/Integras 2017: 1). Das sind rund 13'000 Kinder und Jugendliche, die aus unterschiedlichen Gründen zumindest zeitweise nicht in ihrer Herkunftsfamilie leben können und in Heimen auf Fachkräfte der Sozialen Arbeit treffen, die zu unterschiedlich grossen Teilen die Erziehungs- und auch Beziehungsarbeit übernehmen. Diese Kinder haben mit dem Verlust ihrer wichtigsten Bindungspersonen, den Eltern, zu kämpfen und müssen die Trennung von ihnen verar- beiten (vgl. Schleiffer 2014: 15). Ihr Bedürfnis nach Nähe, Liebe und Sicherheit sowie ihr «Wunsch nach engen, gefühlvollen und dauerhaften Beziehungen» (ebd.) machen deut- lich, wie wichtig Beziehungsarbeit in der stationären Arbeit mit Kindern ist. Unzner (vgl. 2009: 317–318) betont die Notwendigkeit von stabilen Bezugs- und Bindungspersonen, um somit Bindungsstörungen sowie Defizite in der Entwicklung hemmen zu können, wo- bei Strichproben von Studien belegen, dass kaum ein Kind eine enge Bindung zu der Betreuungsperson entwickeln konnte (vgl. ebd.: 317). Grossmann (2014: 41) bestätigt die Wichtigkeit einer verlässlichen Bindungsperson mit treffenden Worten: «Psychologi- sche Sicherheit, Verlässlichkeit und Vertrauen in Bindungspersonen in der Kindheit ist kostbar und unersetzlich. Sie lässt sich später nicht einfach, sondern nur mühsam viel- leicht und mit grossen Anstrengungen nachholen». Die Bindungstheorie wurde zwar Anfang der 50er Jahre aufgestellt, wegen der schockie- renden Zuständen der Betreuungsbedingungen, die damals in Heimen, Krippen und Krankenhäusern vorherrschten (vgl. Brisch/Hellbrügge 2009: 79) und Bowlby, der Be- gründer der Theorie, war sogar davon überzeugt, dass »...ein Kinderheim auch bei al- lerbestem Willen nicht für eine zufriedenstellende emotionale Umgebung für Säuglinge und kleine Kinder sorgen kann» (ebd.), jedoch wurde diese Schlussfolgerung inzwischen widerlegt. Somit wird die Bindungstheorie durchaus auch interessant für die sozialpäda- gogische Arbeit mit Kindern im Heimkontext. 1 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Im Praxisalltag gehört das Thema Nähe und Distanz gemäss Erfahrungen der Autorin zu einem immer wiederkehrenden Thema in Teamsitzungen und Supervisionen. Es stel- len sich Fragen wie: Wann und wie viel Nähe ist angebracht? Wann ist körperliche Nähe legitim und wann nicht? Da die Geschichte der Kinder- und Jugendheime geprägt ist durch häufigen Machtmissbrauch seitens der Professionellen der Sozialen Arbeit gegen- über deren Klientel (vgl. Müller 2012: 145), gilt es auch, eine gesunde Form von Distanz im professionellen Alltag zu finden. 1.1 Fragestellung Begründet auf den beschriebenen Überlegungen soll folgende Fragestellung die Basis dieser Thesis bilden: Welche Bedeutung hat das Spannungsfeld Nähe und Distanz in der Bindungstheorie im Kontext der stationären Arbeit mit Kindern? Die Fragestellung bezieht sich auf Kinder im Säuglingsalter bis und mit sechs Jahren, da die Bindungserfahrungen besonders im Kleinkindalter prägend sind (vgl. Braun/Helmeke/Bock 2009: 53). Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt im Heimkontext und die stationäre Unterbringung in Pflegefamilien soll nur kurze Erwähnung finden, auf- grund der Tatsache, dass die Bedingungen für eine Bindungsentwicklung in Pflegefami- lien günstiger ist als in Heimen. Unter dem Begriff Heimerziehung wird folgendes verstanden: «Allgemein kann Heimerziehung verstanden werden als die (meist auf Dauer ange- legte) Übernahme der Verantwortung für die Erziehung und Entwicklungsbegleitung junger Menschen durch spezialisierte Organisationen. Ein Merkmal der Heimerzie- hung ist, dass sie berufsmässig erbracht wird und das Personal mehrheitlich über eine auf die Aufgaben der Heimerziehung ausgerichtete Ausbildung verfügt.» (Schnurr 2012: 83–84) Im Verlauf dieser Thesis soll neben der Beantwortung der zentralen Fragestellung auch untersucht werden, wie viel Nähe Kinder in institutionellen sozialpädagogischen Einrich- tungen auf dem Weg zur sicheren Bindung benötigen und inwiefern und unter welchen Voraussetzungen diese Nähe durch die Professionellen der Sozialen Arbeit gewährleis- tet werden kann. Ausserdem sollen auch die Risiken und Gefahren aufgezeigt werden, die zu viel Nähe oder im Umkehrsatz zu viel Distanz bergen. 2 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER 1.2 Relevanz für die Soziale Arbeit Zu den Zielen und Pflichten in der Sozialen Arbeit zählt unter anderem, die Entwick- lungsförderung, bzw. -sicherung oder -stabilisierung der Menschen sicherzustellen, so- wie deren Begleitung, Betreuung oder Schutz zu gewährleisten (vgl. AvenirSocial 2010: 7). Soziale Arbeit hat also mit Menschen zu tun, die in irgendeiner Form der Hilfe bedür- fen und immer wenn es um Menschen geht, geht es auch gleichzeitig um Beziehungen. Zur Ausgestaltung der Beziehung mit dem Klientel beschreibt der Berufskodex von Ave- nir Social handlungsleitende Prinzipien. So soll in der Praxis der Sozialen Arbeit bei aller beruflichen Routine darauf geachtet werden, «durch reflektierte und zugleich kontrol- lierte emphatische Zuwendung die Persönlichkeit und Not des oder der Anderen einge- hend wahrzunehmen und sich gleichwohl gebührend abzugrenzen» (ebd.: 13). Dabei sollen sich Professionelle der Sozialen Arbeit stets des Machtgefälles zwischen ihrem Klientel und sich bewusst sein, einen verantwortungsvollen Umgang damit pflegen und sich dabei auch der eigenen Grenzen und Kompetenzen bewusst sein (vgl. ebd.). Die hier angesprochen Empathie und gleichzeitig auch eine gewisse Abgrenzung sug- gerieren einen Balanceakt zwischen Nähe und Distanz, welche in dieser Arbeit im Kon- text von sozialpädagogischer Arbeit mit fremdplatzierten Kindern im Heimkontext näher beleuchtet werden soll. Dass die Beziehungsarbeit in der Sozialen Arbeit von zentraler Bedeutung ist wird auch an der zahlreichen Fachliteratur deutlich, die sich mit diesem Thema befasst. Das Thema Nähe und Distanz wird dort seit Jahren besonders in Bezug auf Missbrauch kontrovers und kritisch diskutiert. (vgl. Müller 2012: 147). Professionelles Handeln lässt sich im Unterschied zum Alltagshandeln daran erkennen, dass es in der Lage ist, eine kunstvolle Verschränkung von Nähe und Distanz zum Klientel zu vollbrin- gen und beides miteinander zu vermitteln (vgl. ebd.). Müller (ebd.) beschreibt treffend die besonderen Merkmale einer Beziehung zwischen Professionellen der Sozialen Arbeit und deren Klientel: «Handeln von Menschen in ihrer jeweiligen Lebenswelt geht entweder von nahen, ver- trauten, intimen Beziehungen aus (zu Familie, Freunden, Liebsten) oder von distan- zierten, sachlichen, oberflächlichen Beziehungen (zu Unbekannten, Funktionsträgern, Marktpartnern etc.); vielleicht liegen sie auch zwischen beiden (zu Nachbarn oder zu Arbeitskollegen). Professionelle Arbeitsbeziehungen sind im Unterschied zu beidem nahe und distanziert zugleich: Sie können Intimeres betreffen als die intimste private Beziehung und gleichzeitig distanzierter sein als die meisten bloß funktionalen Bezie- hungen.» 3 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Dieser Kunst der Vermittlung zwischen Nähe und Distanz soll sich diese Arbeit widmen und dabei auch versuchen, eine sinnvolle Balance zu finden, die eine sichere Bindung in stationären sozialpädagogischen Einrichtungen ermöglicht. Nach eingehender Re- cherche hat sich aus der Sicht der Autorin in den vergangenen Jahren in der Bindungs- forschung einiges getan, jedoch scheint gerade in Bezug zur Heimerziehung noch deut- licher Nachholbedarf zu bestehen. Es gibt vereinzelte Autoren, welche die Bindungstheorie in Pflegefamilien aufgreifen, doch scheinen gemäss Schleiffer (vgl. Schleiffer 2014: 15) die Erkenntnisse der modernen Bindungstheorie bislang noch nicht für die Heimerziehung nutzbar gemacht worden zu sein. Diese Bachelor-Thesis soll bestenfalls dazu beitragen, diese Lücke etwas zu schliessen oder zumindest aufzudecken, in welche Richtung sich die Soziale Arbeit bewegen müsste und welche Rahmenbedingungen gegeben sein müssten, um auch in Heimkon- texten sichere Bindungen bei Kindern zu ermöglichen und die Frage zu klären, ob diese überhaupt möglich sein können unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich in der stationären Arbeit immer um Arbeitsbeziehungen handelt, die auch zeitlich begrenzt sind. 4 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER 2 Die Bindungstheorie Die Bindungstheorie hat ihren Ursprung im englischen Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby (1907 – 1990), der in den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts anfing, sich mit dem Thema «Mutterentbehrung» und deren Folgen auf die Persönlichkeitsent- wicklung zu beschäftigen (vgl. Bowlby 2006: 9–10). Durch Beobachtungen entwickelte er die Bindungstheorie, welche dann später durch empirische Forschung von Mary Ains- worth bestätigt und weiterentwickelt werden konnte (vgl. Brisch 2015: 33). Die Bindungs- theorie befasst sich mit den frühen Einwirkungen, die grundlegend für die emotionale Entwicklung eines Kindes sind und versucht eine Erklärung zu schaffen, wie starke emo- tionale Bindungen zwischen Individuen entstehen und wie sie sich verändern (vgl. ebd.). Somit schafft sie eine Verbindung zwischen ethologischem, entwicklungspsychologi- schem, systemischem und psychoanalytischem Denken (vgl. ebd.). 2.1 Grundlagen Für ein besseres Verständnis der Theorie, sollen nachfolgend zunächst die wesentlichen Aspekte der Bindungstheorie erläutert werden, die als Grundlage dienen sollen. Dazu werden nach dem Überblick der historischen Entwicklung der Bindungstheorie der Bin- dungsbegriff an sich definiert und im Anschluss die Bedeutung der Begrifflichkeiten Bin- dung und Bindungsverhalten sowie die Bindungshierarchie erklärt werden. 2.1.1 Entwicklung der Bindungstheorie Bowlby’s Interesse an der Bindungsforschung lässt sich gemäss Roland Schleiffer (vgl. Schleiffer 2015: 15) in seiner eigenen Biographie begründen. Er wuchs in einem privile- gierten Elternhaus auf ohne materielle Sorgen. Sein Vater war ein anerkannter und zum Adelsstand zählender Chirurg, der selten zu Hause gewesen sein soll. Bowlby’s Mutter wurde als eher kühl und unnahbar beschrieben und sie soll auch kaum Interesse am Gefühlsleben ihrer Kinder bekundet haben (vgl. ebd.: 15–16). Ab dem Alter von sieben Jahren kam er in ein Internat, welches ihn sehr geprägt hat und Zeit seines Lebens im- mer wieder der Anlass dazu gewesen war, die dort und auch in vielen Heimen vorherr- schenden Erziehungsgepflogenheiten stark zu kritisieren (vgl. ebd.: 16). Bereits während seines Medizinstudiums begann er sich für Psychologie und vor allem für alternative 5 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Erziehungsstile in Heimen zu interessieren und entschied sich dazu, nach Abschluss des Studiums Kinderpsychiater zu werden. Während Bowlby’s dreijähriger Arbeit für eine Child Guidance Clinic in London, hielt er Beobachtungsdaten fest von Kindern und Ju- gendlichen und entdeckte in deren Vorgeschichte häufig eine über einen längeren Zeit- raum hinweg andauernde Trennung von der Mutter. Er verfasste und veröffentlichte ei- nen Fallbericht mithilfe damals in der psychoanalytischen Forschung unüblichen, wissenschaftlichen Methoden wie Statistiken und Kontrollgruppenvergleichen. Nach dem zweiten Weltkrieg begann er in der Travistock Clinic zu arbeiten und wurde damit beauftragt, dort eine Abteilung für Kinderpsychotherapie einzurichten (vgl. Brisch 2015: 30). Während des Aufbaus gründete Bowlby eine neue Forschungsgruppe, der sich unter anderem auch der Sozialpädagoge James Robertson anschloss, der von Anna Freud eine psychoanalytische Ausbildung erhalten hatte und dann später auch bei der Weiterentwicklung der Bindungstheorie von Bedeutung war (vgl. ebd.: 30-31). Zu- sammen mit seiner Frau Joyce Robertson und John Bowlby drehte er eine Reihe Doku- mentarfilme (vgl. Brisch/Hellbrügge 2009: 29), angefangen mit dem Film «A two year old goes to hospital», der aufzeigt, wie ein zweijähriges Mädchen verschiedene Phasen des Verhaltens durchläuft, als es ohne seine Mutter in einem Krankenhaus aufgenommen wird (vgl. Brisch 2015: 31). Zunächst zeigte es Protest, dann Trauer und am Ende passte es sich dann an (vgl. ebd.). Auch die aus Toronto stammende klinische Psychologin und Persönlichkeitsforscherin Mary D. Salter Ainsworth schloss sich 1950 Bowlby’s Forschungsgruppe an, die später ausschlaggebend daran beteiligt war, dass die Bindungstheorie ihren festen Platz in ei- ner methodisch neuen psychologischen Orientierung einnahm (vgl. Grossmann/Grossmann 2020: 14). Ainsworth war zwar von Bowlby’s Gedankengängen begeistert, stand aber dem ethologischen Bezug zur Bindung anfangs skeptisch gegen- über. Ihre Skepsis legte sich erst, als sie mit ihrem Ehemann für eine ethologische Feld- studie nach Uganda ging und dort täglich viele Stunden ugandische Familien beobach- tete und in ihren täglichen Abläufen sowohl das Pflegeverhalten dokumentierte, als auch das Verhalten der Kinder in Bezug auf Bindung und Trennung zu ihren Müttern. Die Beobachtungen in Uganda überzeugten Ainsworth schliesslich von Bowlby’s Bindungs- theorie. (vgl. Brisch 2015: 35) 6 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Durch seine frühen Veröffentlichungen wurde die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf Bowlby aufmeksam, in dessen Auftrag er das Schicksal von Kindern zu untersuchen begann, die aufgrund des zweiten Weltkriegs eine sehr plötzliche Trennung von den Eltern erleben mussten (vgl. Brisch/Hellbrügge 2009: 25). Die daraus resultierten psy- chischen und auch physischen Folgen hielt er in dem 1951 erschienenen Buch «Mater- nal Care and Mental Health» fest. Bowlby veröffentlichte die Bindungstheorie in den drei Bänden «Attachment» (Bindung), «Seperation; Anxiety and Anger» (Trennung) und «Loss: Sadness and Depression» (Verlust), die in der genannten Reihenfolge 1969, 1973 und 1980 in der englischen Originalausgabe erschienen (vgl. Grossmann/Grossmann 2020: 14). 2.1.2 Definition Bindung Um in die Bindungstheorie einsteigen zu können, muss zunächst der Begriff «Bindung» an sich definiert werden. Mary Ainsworth (1970: 147) führt den Begriff wie folgt aus: «Bindung kann definiert werden als das gefühlsmässige Band, welches eine Person oder ein Tier zwischen sich selbst und einer bestimmten anderen Person/einem be- stimmten anderen Tier knüpft - ein Band, das beide räumlich verbindet und das zeitlich andauert.» Ainsworth sieht Bindung demnach als ein emotionales Band zwischen zwei Lebewesen, welches auch über einen längeren Zeitraum hinweg besteht und auch eine räumliche Verbindung herstellt. Bowlby ergänzt dazu noch, dass sich dieses emotionale Band in der Kindheit entwickelt, jedoch nicht nur die frühe Entwicklungsphase beeinflusst, son- dern auch alle anderen Lebensabschnitte und damit eine emotionale Basis für das ganze Leben darstellt (vgl. Brisch 2015: 34). Bowlby beschreibt ausserdem Bindung als ein Teil eines selbstregulierenden Systems, wobei er das Kind und die primäre Bezugsperson als Teile dieses wechselseitig bedingenden Systems sieht (vgl. ebd.: 35). 2.1.3 Bindung und Bindungsverhalten Die Bindungstheorie unterscheidet zwischen Bindung und Bindungsverhalten. Während eine Bindung kontinuierlich besteht und weder räumlich noch zeitlich begrenzt ist, wird Bindungsverhalten nur unter grosser Belastung gezeigt, oder wenn der Wunsch nach Nähe besteht (vgl. Grossmann/Grossmann 2012: 73). Die menschliche Bindung soll ein 7 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Gefühl von Sicherheit und Vertrauen beim Kind vermitteln, wenn es emotional belastet ist oder wenn es die eigenen Ressourcen aufgebraucht hat. Im Gegensatz zum Bin- dungsverhalten ist Bindung nicht unmittelbar beobachtbar (vgl. Grossmann/Grossmann 2020: 33). Je mehr Nähe eine Person zur Bindungsperson benötigt, desto deutlicher kann Bindungsverhalten beobachtet werden. Dies geschieht unter andrem bei Krank- heit, Müdigkeit und Erschöpfung, Traurigkeit oder wenn die Gefahr droht, dass die Bin- dung getrennt werden könnte, wie etwa bei Trennung aufgrund einer gefährlichen Situ- ation oder aber auch wenn eine andere Person um die Gunst der Bindungsperson wirbt (vgl. Grossmann/Grossmann 2012: 73). Das Bindungsverhalten besteht aus austauschbaren Signalen oder Verhaltensweisen wie zum Beispiel weinen, klammern oder rufen, die nur dann in Erscheinung treten, wenn das sogenannte Bindungsverhaltenssystem aktiviert wird. Dieses dient als Warnsystem und tritt dann zutage wenn beim Kind negative Emotionen auftreten (vgl. Grossmann/Grossmann 2020: 33). Bowlby (2001: 159–160) definiert Bindungsverhalten treffend mit folgenden Worten: «Unter Bindungsverhaten wird jede Form des Verhaltens verstanden, das dazu führt, dass eine Person die Nähe irgendeines anderen differenzierten und bevorzugten In- dividuums, das gewöhnlich als stärker und/oder klüger empfunden wird, aufsucht oder beizubehalten versucht. Wenngleich das Bindungsverhalten während der Kindheit be- sonders deutlich sichtbar ist, [...] ist es besonders offenkundig, wenn eine Person un- glücklich, krank oder ängstlich ist.» Bowlby misst der Unterscheidung zwischen Bindung und Bindungsverhalten eine grosse Bedeutung zu, da Bindungsverhalten nicht zwingend automatisch darauf hinweist, dass auch eine Bindung vorhanden ist. Er geht sogar davon aus, dass besonders stark ge- äussertes Bindungsverhalten eher gefühlte Unsicherheit anzeigt und weniger ein Indiz für eine starken Bindung darstellt. Um eine Aussage über die Angemessenheit, bzw. Unangemessenheit von beobachteten Bindungsverhaltensweisen machen zu können, bedarf es der Berücksichtigung der näheren Umstände der gesamten Situation und auch der Erwartungen aller beteiligten Personen. (vgl. Grossmann/Grossmann 2020: 33–34) 2.1.4 Bindungshierarchie Im Verlauf seines ersten Lebensjahres entwickelt ein Kind nicht nur zu seiner primären Bezugsperson, die auch als Bindungsperson bezeichnet wird, eine Bindung sondern 8 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER auch zu einigen anderen Personen, die dem Kind nahestehen und erstellt eine Rang- folge basierend auf der Verfügbarkeit der jeweiligen Bezugsperson und entsprechend der mit ihnen erlebten Trennungsangst (vgl. Brisch 2015: 37). Bei Abwesenheit der pri- mären Bezugsperson, welche meist, jedoch nicht zwingend, die Mutter ist, kann das Kind somit bei drohender Gefahr auf eine sogenannte sekundäre Bezugsperson zurückgrei- fen, die ihm Schutz und Geborgenheit vermitteln kann (vgl. Grossmann/Grossmann 2012: 72). Neben der Mutter kann auch der Vater oder eine Betreuungsperson zur pri- mären Bezugsperson werden, je nach der Qualität der Interaktion, der Feinfühligkeit und Verlässlichkeit, die sie zeigt (vgl. Brisch 2015: 37). Die Bindung zu jeder Bezugsperson fällt individuell und unterschiedlich aus. So kann ein Kind zu der einen Bezugsperson ein sicheres Bindungsmuster entwickeln und zu einer anderen eine unsichere Bindung (Veith 2008: 8). 2.2 Entstehung der Bindung Wie entsteht eine Bindung? Was ist dazu notwendig? Welche Phasen werden bei der Entwicklung einer Bindung durchlaufen? 2.2.1 Konzept der Feinfühligkeit Die Feinfühligkeit der primären Bindungsperson bildet gemäss der Bindungstheorie eine wesentliche Basis für die Qualität der Bindung, welche das Baby nach und nach entwi- ckelt (vgl. Brisch 2015: 43). Im weitesten Sinne lässt sich Feinfühligkeit mit der Fähigkeit zur Empathie beschreiben, also mit der Fähigkeit, «sich in die Handlungsabsichten und Motivationen sowie Gedanken und Gefühle eines Gegenübers hineinzuversetzen und dessen Innenwelt in der eigenen Innenwelt gespiegelt wiederzuerleben» (ebd.: 44). Der Ausdruck des Babys, also alle seine Äusserungen, Zustände und Verhaltensweisen, vermittelt der primären Bezugsperson Informationen und dienen ihr als Rückmeldung dafür, ob sich das Kind verstanden fühlt oder nicht und ob das Verhalten die gewünschte Wirkung hatte (vgl. Grossmann/Grossmann 2012: 121). Entwickelt wurde das Konzept der Feinfühligkeit von Mary Ainsworth, die das Pflegever- halten von Müttern bei ihren Babys in Uganda studierte und die Ergebnisse in die Bin- dungstheorie hat einfliessen lassen (vgl. Brisch 2015: 44). Feinfühligkeit setzt sich laut 9 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Ainsworth (vgl. 1974: 414) aus den folgenden vier essentiellen Komponenten zusam- men: 1) Wahrnehmung der Signale 2) Korrekte Interpretation der Signale 3) Angemessene Antwort 4) Prompte Reaktion Wahrnehmung der Signale Um einfühlsam sein zu können, muss die Mutter zunächst in der Lage sein, Signale des Kindes wahrnehmen zu können, mit denen es zu kommunizieren versucht (vgl. Brisch 2015: 45). Dabei gibt es unterschiedliche Abstufungen von Wahrnehmungsschwellen. Ainsworth (vgl. 1974: 414–415) unterscheidet zwischen Müttern mit sehr niederen Schwellen, die als besonders einfühlsam gelten und auch auf die feinsten Mitteilungen ihrer Zöglinge achten und Müttern, deren Wahrnehmungsschwelle sehr hoch ist, die also als wenig einfühlsam, unachtsam und gar als sehr unzugänglich gegenüber den Mittei- lungen ihrer Babys gelten. Dazwischen gibt es unzählige Abstufungen von Wahrneh- mungsschwellen (vgl. ebd.: 415). Korrekte Interpretation der Signale Neben der Wahrnehmung der Signale des Kindes, muss die Bezugsperson auch in der Lage sein, diese richtig zu deuten, um zum Beispiel erkennen zu können, ob das Baby weint, weil es sich nicht wohl fühlt, Hunger hat, sich langweilt oder Schmerzen hat (vgl. Brisch 2015: 45). Die Gefahr besteht jedoch auch bei einer sehr feinfühligen Bindungs- person, dass Signale aufgrund von Verzerrung durch Projektion, Abwehrhaltung oder Verleugnung falsch interpretiert werden (vgl. Ainsworth 1974: 415). Bindungspersonen, die sich ihrer eigene Wünsche und Launen bewusst sind und darüber hinaus auch oft ein Bild davon haben, wie ihr eigenes Verhalten und ihre Laune das Verhalten des Kin- des beeinflussen können, verzerren die Wahrnehmung der Signale am wenigsten (vgl. ebd.). Angemessene Antwort 10 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Eine gute Wahrnehmung und die korrekte Interpretation der Signale allein, sind jedoch noch kein Garant dafür, dass die Bindungsperson feinfühlig ist, da auch eine angemes- sene Reaktion, bzw. Antwort für die Feinfühligkeit von Bedeutung ist (vgl. Brisch 2015: 45). Ainsworth (vgl. 1974: 415–416) bezeichnet sogar die angemessene Interaktion mit dem Kind als wichtigster Hinweis auf Feinfühligkeit. Eine besonders feinfühlige Bezugs- person ist in der Lage mit der richtigen Intensität und mit einem angemessenen Tempo mit dem Kind zu interagieren und dabei auch zu erkennen, wie lange die Interaktion dauern und wann sie gegebenenfalls angepasst werden muss, indem sie laufend Sig- nale von beispielsweis beginnender Unruhe oder übermässiger Spannung erkennt, kor- rekt interpretiert und dann wieder angemessen darauf antwortet (vgl. ebd.: 416). Ains- worth (vgl. ebd.: 417) verweist jedoch darauf, dass eine feinfühlige Antwort nicht immer auch gleich bedeutet, dass die Bindungsperson sich dem Wunsch des Kindes fügen muss, sondern sie kann den Wunsch des Kindes auch sanft ablehnen und das Kind warmherzig zu einer anderen Verhaltensweise ermutigen. Prompte Reaktion Der letzte Faktor, der den Grad der Feinfühligkeit beeinflusst, stellt die Promptheit der Reaktion dar. Eine feinfühlig Reaktion auf ein Signal erfolgt umgehend und innerhalb der vom Kind tolerierbaren Frustrationszeit, die sich mit zunehmendem Alter weiter ausdehnt (vgl. Brisch 2015: 45). Ausserdem ist ein Baby nicht in der Lage die Reaktion in Zusam- menhang mit seinem eigenen Signal zu bringen, wenn sie verzögert erfolgt (vgl. Ainsworth 1970: 417). Die nachfolgende Tabelle veranschaulicht die Feinfühligkeits-Skala nach Ainsworth. Tabelle 3: Feinfühligkeits-Skala (vgl. Ainsworth 1974: 418-421) GRAD DER FEINFÜHLIGKEIT VERHALTEN UND EIGENSCHAFTEN • Ausgezeichnete Einstimmung auf Signale • Prompte und angemessene Reaktion • Kann Dinge aus der Sicht des Kindes sehen • Wahrnehmung ist nicht durch eigene Bedürf- nisse verzerrt Hochgradig feinfühlig • Erkennung der subtilen, minimalen und un- (highly sensitive) betonten Signale • Zeitliche und dem Rhythmus des Kindes ent- sprechende Anpassungen der Reaktionen • Taktvolle und akzeptable Alternativ-Ange- bote bei Nichtgewährung der Wünsche des Kindes 11 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER • Wahrnehmung und richtige Interpretation der Signale • Prompte und angemessene Reaktion auf klare und deutliche Signale Feinfühlig (sensitive) • Kann Dinge aus der Sicht des Kindes sehen • Keine verzerrte Wahrnehmung • Achtet weniger auf subtile Signale • Gelegentliche kleine Missverständnisse • Gelegentlich etwas weniger angepasste Re- aktionen • Manchmal sehr feinfühlig, manchmal sehr unfeinfühlig • Gelegentliches Desinteresse • Verzerrte Wahrnehmung der Signale in Be- Unbeständig feinfühlig (in- zug auf ein oder zwei Aspekte consistently sensitive) • Unterschiedlich genaue Beachtung von Sig-nalen • Manchmal prompte und angemessene Re- aktionen, manchmal unangemessene und langsame Reaktionen • Insgesamt häufiger feinfühlig als unfeinfühlig • Oftmals unzugänglich für Signale • Meist falsche Interpretation von Signalen • Nur gelegentlich feinfühlige Reaktionen und Interaktionen • Häufig unangemessene und langsame Re- aktion • Immer wieder verzerrte Wahrnehmung auf- grund eigener Wünsche und Abwehrhaltun- Unfeinfühlig (insensitive) gen • Gelegentlich angemessene Reaktion jedoch frühzeitiger Abbruch der Interaktion • Feinfühliges Verhalten wenn Wünsche und Ziele des Kindes nicht zu stark von denen der Bezugsperson abweichen • Anpassung des Verhaltens und der Ziele der Bezugsperson bei besonders energischen und ausdrücklichen Signalen • Keine, bzw. unangemessene oder unvoll- ständige Reaktion auf Signale Hochgradig unfeinfühlig • Interaktion mit dem Kind fast ausschliesslich (highly insensitive) abhängig von eigener Motivation der Be-zugsperson • Reaktion nur bei starken, anhaltenden und häufig wiederholten Signalen Es gibt immer mehr empirische Nachweise dafür, dass durch Feinfühligkeit und indem das Kind als ein fühlendes, denkendes und auch schützenswertes Wesen anerkannt 12 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER wird, sowie durch die Fähigkeit, sich in das Kind hineinversetzen zu können, psychische Sicherheit entsteht (vgl. Grossmann 2014: 40–41). 2.2.2 Internale Arbeitsmodelle Bereits in seinem ersten Lebensjahr beginnt ein Kind allmählich eine Vorstellung von sich selbst, seiner Umwelt und auch von den wichtigen Bezugspersonen zu entwickeln (vgl. Gloger-Tippelt/Schlager 2017: 209). Die Informationen, die das Kind durch die Bin- dungserfahrungen mit seinen Bindungspersonen jeden Tag erhält, werden von ihm in seinem Gehirn gewissermassen gebündelt und zu abstrakten Durchschnittswerten ab- gewandelt, die ihm dann als mentale Repräsentanzen dienen, die in der Bindungstheorie auch «internale Arbeitsmodelle» bezeichnet werden (vgl. Schleiffer 2014: 42). Sie haben die Funktion, das Verhalten der Bindungsperson zu interpretieren und Vorhersagen hin- sichtlich deren Verhaltens treffen zu können und sie ermöglichen es auch, die eigenen Gedanken und Gefühle, sowie das eigene Bindungsverhalten zu regulieren (vgl. Neubert 2016: 30). So entwickelt beispielsweise ein sicher gebundenes Kind ein internales Arbeitsmodell einer feinfühligen, liebvollen und zuverlässigen Bindungsperson und eines Selbst, wel- ches würdig ist, Aufmerksamkeit zu bekommen und geliebt zu werden (vgl. Holmes 2006: 100). Auf der anderen Seite konstruiert ein Kind, welches unsicher gebunden ist ein inneres Arbeitsmodell, in dem es die Welt als einen gefährlichen Ort sieht und in dem es Menschen mit grosser Vorsicht behandeln muss, während es sich selbst als unwirk- sam und nicht liebeswürdig erlebt (vgl. ebd.). 2.2.3 Phasen der Bindungsentwicklung Ein Kind kommt nicht bereits mit einer veranlagten Bindung auf die Welt, sondern muss diese im Laufe seiner ersten Lebensmonate erst noch entwickeln (vgl. Grossmann/Grossmann 2012: 72). Ein Neugeborenes ist jedoch mit bereits angebore- nen Verhaltensweisen ausgestattet, die es ihm ermöglichen, durch seine Bewegungen, Laute, Mimik und Gestik und sogar durch seine Hautfarbe, zu signalisieren, was es ge- rade benötigt (vgl. ebd.) Die Entwicklung einer Bindung lässt sich in vier Phasen unterteilen (vgl. Bowlby 2006: 257–258, Grossmann/Grossmann 2012: 74–79): 13 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER 1) Phase der unspezifischen sozialen Reaktionen 2) Phase der unterschiedlichen sozialen Reaktionsbereitschaft (zielorientierte Phase) 3) Phase des aktiven und initiierten zielkorrigierten Bindungsverhaltens 4) Phase der zielkorrigierten Partnerschaft Dabei weist Bowlby (vgl. Bowlby 2006: 256) darauf hin, dass zwischen den einzelnen Phasen keine deutlichen Abgrenzungen bestehen. In den folgenden Unterkapiteln sollen nun die einzelnen Phasen näher beleuchtet werden. Phase 1: Phase der unspezifischen sozialen Reaktionen Die erste Phase umfasst mindestens die ersten 2 Lebensmonate eines Säuglings, häu- figer jedoch auch bis zu 3 Monate, wobei dies unter ungünstigen Bedingungen auch länger dauern kann (vgl. ebd.: 257). Während dieser Zeit zeigt das Kind Nähe fördernde soziale Reaktionsweisen wie Weinen, Horchen, Nuckeln, Umklammern, Brustsuchen so- wie Lächeln, die jedoch fast reflexartig und noch nicht auf eine spezifische Person ge- richtet sind (vgl. Ainsworth 1970: 147, Grossmann/Grossmann 2012: 75–76). Durch diese Verhaltensweisen wird eine genetische Grundlage für die Bindungsentwicklung gelegt (vgl. Ainsworth/Bell 1970: 147). Die Fähigkeit zwischen Personen zu unterschei- den ist noch sehr eingeschränkt, da es während dieser Phase bloss durch Hören Unter- scheidungen treffen vermag (vgl. Bowlby 2006: 257). Phase 2: Phase der unterschiedlichen sozialen Reaktionsbereitschaft (zielori- entierte Phase) Die zweite Phase dauert bis etwa 6 Monate, kann aber, wie in der ersten Phase, je nach Bedingungen auch länger dauern (vgl. ebd.). Das Kind zeigt nun nach wie vor die in Phase 1 beschriebenen Reaktionsweisen, jedoch ausgeprägter und vermehrt auf ver- traute Personen (meist die Mutter) beschränkt (vgl. Spangler/Reiner 2017: 26–27). Aus diesem Grund wird diese Phase auch die zielorientierte Phase genannt, da das Kind bevorzugt auf die Mutter oder eine andere primäre Bezugsperson reagiert und nur auf wenige andere Vertraute (vgl. Grossmann/Grossmann 2012: 76). Phase 3: Phase des aktiven und initiierten zielkorrigierten Bindungsverhaltens Der Beginn der dritten Phase kann normalerweise zwischen 6 und 7 Monaten markiert werden, was sich aber insbesondere bei Kindern mit wenig Kontakt zu einer Hauptfigur 14 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER bis nach dem ersten Geburtstag hinauszögern kann (vgl. Bowlby 2006: 258). Während dieser Phase wird das Repertoire seines Sozialverhaltens nach und nach – unter ande- rem durch selbstständige Fortbewegung, zielorientiertes Greifen, sowie einer wachsen- den geistigen Vorstellung seiner Mutter – weiter ausgebaut (vgl. Grossmann/Grossmann 2012: 77). Das Kind kann nun der Mutter aktiv Nachfolgen oder sie rufen und suchen, wenn sie weggeht und bei vielen Babys wird die Freude bei der Rückkehr der Mutter deutlich sichtbar durch Grusslaute oder aufgeregten Bewegungen und einer aufhellen- den Mimik (vgl. ebd.). Seine Laute werden insgesamt differenzierter und das Kind lernt vorherzusagen, wie die Bindungsperson auf sein Verhalten reagiert. Sein Bindungsver- halten kann es jetzt nicht nur auf ein Ziel (Person) hin richten, vielmehr ist es nun in der Lage, sein Ziel der Bindungsperson anzupassen, weswegen in dieser Phase auch von zielkorrigiertem Bindungsverhalten die Rede ist (vgl. ebd.). Wenn die Bindungsperson zunächst unbemerkt den Raum verlassen kann, protestiert es, sobald es merkt, dass sie nicht mehr da ist und ohne sein Einverständnis weggegangen ist. Das Kind hat nun eine Vorstellung seiner Bindungsperson als sichere Basis, von wo er Schutz, Trost und Wohl- behagen erfährt (vgl. ebd.). Die Bindung ist nun für alle sichtbar, während das Kind auf Fremde vorsichtig reagiert und früher oder später Alarm schlägt oder sich von ihnen zurückzieht (vgl. Bowlby 2006: 257–258). Phase 4: Phase der zielkorrigierten Partnerschaft Bis anhin konnte das Kind zwar versuchen, die primäre Bezugsperson durch sein Bin- dungsverhalten auf sich aufmerksam zu machen und sie von ihrem aktuellen Vorhaben abzubringen und sie somit zu sich zu locken, jedoch fehlte noch das Verständnis für die Beweggründe des Verhaltens der Bindungsperson (vgl. Grossmann/Grossmann 2012: 79). Dass es möglich sein sollte, die Bindungsperson durch das eigene Verhalten beein- flussen zu können und zu verstehen, dass diese auch eigene Ziele haben könnte, lag dem Kind bislang noch weit ausserhalb seiner Vorstellungskraft (vgl. Bowlby 2006: 258). Im Verlauf der vierten Phase wächst nach und nach das Verständnis der momentanen Ziele der Bezugsperson und damit kann es auch nachvollziehen, wo möglicherweise die Interessen, Wünsche und Pläne der Bindungsperson mit den eigenen kollidieren und im Konflikt stehen könnten (vgl. Grossmann/Grossmann 2012: 79). Das Kind lernt durch Beobachtung des Verhaltens der Bindungsperson und was deren Verhalten beeinflusst, die Gefühle und Motive seiner Bezugsperson kennen, wodurch sein Denken und Planen und sein Weltbild komplexer wird (vgl. Bowlby 2006: 258). Dies bildet die Grundlage für eine partnerschaftliche Beziehung, die nun wesentlich vielschichtiger und gegenseitig ist 15 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER (vgl. ebd.). Die jeweiligen Ziele können von beiden Partnern in die Beziehung einge- bracht, reflektiert und am Ende partnerschaftlich verhandelt und korrigiert werden. Wann genau diese letzte Bindungsphase beginnt, ist nicht ganz klar, wird aber um den 3. Geburtstag herum oder noch viel später vermutet, (vgl. ebd.) und beginnt sicher erst, wenn das Kind in der Lage ist zu sprechen und wenn es nachvollziehen kann, was die Bindungsperson beabsichtigt (vgl. Grossmann/Grossmann 2012: 78) 2.3 Bindungsqualität Wie bereits in den vorigen Kapiteln angedeutet, kann sich Bindung qualitativ stark un- terscheiden. Gemäss Bowlby ist die sich in den ersten Lebensmonaten entwickelnde Bindungsqualität zwischen einem Säugling und seiner primären Bezugsperson nicht un- veränderbar (vgl. Brisch 2015: 34). Vielmehr entwickelt sie sich kontinuierlich im Verlaufe des Lebens eines Menschen durch neue emotionale Erfahrungen in unterschiedliche Richtungen weiter (ebd. vgl.). 2.3.1 Die Fremde Situation Die Fremde Situation ist eine Methode zur Erfassung von Bindungsqualität, die in den 60er Jahren von der Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth entwickelt wurde (vgl. Holmes 2006: 128). Es handelt sich um eine strukturierte Methode, bei der beobachtete nonverbale Kommunikation zwischen Kindern und deren Bezugspersonen vor ihrem Spracherwerb untersucht werden und wobei Unterschiede im Bindungsverhalten zum Vorschein kommen können (vgl. Höfer 2010: 63). Am sinnvollsten ist die Fremde Situa- tion für etwa 1-jährige Kinder, wobei sie oftmals bei Kindern zwischen 11 und 24 Mona- ten angewendet wurde (vgl. Hochflizer 2008: 11). Andere Autoren wie zum Beispiel Ro- land Schleiffer (vgl. 2014: 44) empfehlen die Methode bei 12 bis 15 Monate alten Kindern und sowohl Karl Heinz Brisch (vgl. 2015: 49), als auch Christel Hopf (vgl. 2005: 48–49) erwähnen die Durchführung des Tests bei Kindern von 12 bis 19 Monaten. Die Auswer- tung bei den älteren Kindern erwies sich jedoch manchmal auch als problematisch, auf- grund der zum Teil bereits erworbenen Kompetenz, Trennungssituationen kompetent zu meistern (vgl. Hochflizer 2008: 11). 16 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER In der folgenden Tabelle wird der Ablauf in der Fremden Situation dargestellt, welcher in acht Episoden unterteilt ist. In der Darstellung steht die Abkürzung «M» für Mutter, «K» für Kind, «B» für Beobachter und «F» für die fremde Person. Tabelle 4: Ablauf "Fremde Situation" (vgl. Ainsworth/Wittig 1969: 115–116) EPISODE BETEILIGTE HANDLUNG DAUER Die M. trägt das K. unter der Führung vom Mutter, Kind, B. in den vorbereiteten Raum und setzt es 1 30 Sekun-Beobachter in die Mitte des aus 3 Stühlen gebildeten Dreiecks mit Blick auf das Spielzeug. Der den B. verlässt den Raum. Die M. setzt sich still auf einen Stuhl, wäh- rend sie so tut, als würde sie in einer Zeit- 2 M, B schrift lesen. Sie antwortet und handelt ru- 3 Minuten hig und nur dann, wenn das K. von sich aus die Aufmerksamkeit sucht. F. betritt das Zimmer, grüsst die M. und setzt sich still auf einen Stuhl. Nach einer Minute fängt sie an mit der M. zu sprechen. 3 F, M, B Nach einer weiteren Minute sucht F. die Aufmerksamkeit des K., nähert sich ihm 3 Minuten nach und nach und versucht mit ihm zu in- teragieren. Die M. bleibt still und spricht nur, wenn sie von F. angesprochen wird. Die M. verlässt unauffällig den Raum wäh- rend F. das K. ablenkt. Danach zieht sich F. ruhig auf den Stuhl zurück, reagiert aber bei Annäherungsversuchen des K. und 3 Minuten 4 F, B wenn es unruhig wird, tröstet sie es und oder weni- versucht bei K. das Interesse am Spiel- ger zeug wieder zu wecken. Wenn das K. nicht beruhigt werden kann, wird diese Episode abgekürzt. Die M. spricht vor der Tür für das K. deut- lich hörbar, macht eine kurze Pause, öffnet dann die Tür und steht für einen Augen- blick im Türrahmen, damit das K. Zeit hat, eine spontane Reaktion zu zeigen. Dann 5 M, B begrüsst die M. das Kind. F. verlässt un-auffällig den Raum. Weitere Vorgaben für Variabel das weitere Vorgehen erhält die M. nicht. Ihr wird nur gesagt, dass sie das K. vor dem erneuten Weggehen auf den Boden setzten und sein Interesse wieder auf das Spielzeug lenken soll. Die M. sagt «Auf Wiedersehen» und ver- 6 B lässt daraufhin den Raum erneut. Wenn 3 Minuten sich das K. zu extrem und länger andau- oder weni- ernd schreit, wird die Episode abgekürzt. ger 17 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER F. tritt ein. Wenn das K. in Episode 4 ex- ploriert hat, als es mit F. alleine war, dann nähert sich F. nun dem K., um zu sehen, wie viel Nähe es von einem Fremden tole- rieren kann und interagiert während 2 Mi- nuten mit dem K. Wenn es zuvor keine Ex- 7 F, B ploration gezeigt hat, gibt F. dem K. nun 3 2 oder 5 Minuten Zeit zu explorieren und geht dann Minuten zu den 2 Minuten der Interaktion und des sich Annäherns über. Wenn das Kind zu- vor verzweifelt und bekümmert war, weil es alleine gelassen wurde, versucht F. das K. zu trösten. Ist dies nicht erfolgreich, wird die Episode abgekürzt. Die M. kommt zurück in den Raum, bleibt 8 M, B im Türrahmen stehen, spricht das K. an und nimmt es in den Arm. Danach wird die variabel Situation beendet. Ziel dieser Vorgehensweise und der konkreten Abfolge der Episoden ist es, das Bin- dungssystem des Kindes zu aktivieren (vgl. Ainsworth et al. 1978 in Brisch 2015: 49). Dies ist eine wichtige Bedingung dafür, dass verlässliche Aussagen über die kindliche Bindungsqualität nach der Beobachtung des Verhaltens zwischen dem Kind und der Bindungsperson erhoben werden können (vgl. ebd., Hochflizer 2008: 9–10). Die Be- obachtungen während des Tests werden im Anschluss ausgewertet, wobei ein beson- deres Augenmerk auf folgende drei Aspekte des kindlichen Verhaltens gelegt wird: «a) wie das Baby seine Mutter als sichere Basis nutzte, um die Welt zu erkunden; b) seine jeweilige Reaktion, wenn seine Mutter das Zimmer verliess und wenn sie zurückkehrte; c) seine Reaktion auf eine fremde Person» (Ainsworth/Wittig 1969: 112). Die aus der Fremden Situation gezogenen Rückschlüsse auf die verschiedenen Bin- dungsmuster (siehe Kapitel 2.3.2 – 2-3-5) stehen unter der Kritik, dass die Fremde Situ- ation bloss eine Momentaufnahme der Mutter-Kind-Interaktion darstellt und dass bei der Auswertung der Fokus auf dem Kind liegt und die Beachtung der Reaktionen der Mutter vernachlässigt werden (vgl. Brisch 2015: 49). Dennoch hat sich diese Methode als vali- des und verlässliches Instrument erwiesen, um die Bindungsqualität eines Kindes zu untersuchen (vgl. ebd.). 18 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER 2.3.2 Die sichere Bindung Als sicher gebunden eingestufte Kinder zeigen offen Trennungsleid durch zum Beispiel weinen, schreien und zur Tür rennen, wenn sie merken, dass die Mutter verschwunden ist, sie zeigen jedoch genauso offenkundig ihre Freude durch aktives auf sie Zugehen, Nähe Suchen und schnelles Beruhigen, sobald die Mutter zurückkommt (vgl. Schleiffer 2014: 45). Eine sichere Bindung zeichnet sich dadurch aus, dass die Mutter als sichere Basis genutzt werden kann, von der aus ein Kind die Umgebung explorieren und sich schnell wieder dem Spielzeug zuwenden kann (vgl. ebd.: 44). In Angst- oder Stresssitu- ationen hat das Kind die Gewissheit, dass die Elternfigur ihm emotional und konsequent zur Seite steht (vgl. Bowlby 2008: 101). Ausserdem zeigen sich diese Kinder fröhlicher, weswegen sie auch mehr positive Zuwendung bekommen und dementsprechend weni- ger fordernd auftreten als Kinder mit unsicher-vermeidender oder unsicher-ambivalenter Bindung (vgl. ebd.: 103). Sicher gebundene Kinder werden auch als kooperativ, kreativ, anpassungsfähig und kreativ beschrieben (vgl. ebd.). 2.3.3 Die unsicher-vermeidende Bindung Auf die Trennung protestieren diese Kinder nur sehr wenig und Bindungsverhalten wird nicht deutlich gezeigt. Auch wenn weniger neugierig und ausdauernd, bleiben sie an ihrem Platz und spielen weiter. Gelegentlich schauen sie auf und verfolgen die Mutter mit den Augen sobald sie den Raum verlässt, womit deutlich wird, dass das Weggehen der Mutter registriert wird. Die Reaktion bei der Rückkehr ist eher ablehnend bei unsi- cher-vermeidend gebundenen Kindern und sie wollen in der Regel weder auf den Arm genommen, noch getröstet werden, womit es folglich auch zu keinem intensiven Körper- kontakt kommt (vgl. Brisch 2015: 51–52). Solche Kinder haben offenbar durch frühere Erfahrungen mit der Mutter bereits gelernt, ihr Bildungsverhalten nicht zu zeigen und es kann manchmal auch eine Bevorzugung des Kontakts der fremden Person gegenüber der Mutter beobachtet werden (vgl. Schleiffer 2014: 45). Oftmals isolieren sie sich auch emotional, zeigen sich eher feind- selig und unsozial, während sie zugleich eine ichbezogene Haltung an den Tag legen (vgl. Bowlby 2008: 104). 19 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER 2.3.4 Die unsicher-ambivalente Bindung Den offenkundig grössten Bindungsstress bringen unsicher-ambivalent eingeschätzte Kinder zum Ausdruck. Nach der Trennung der Mutter zeigen sie heftiges Weinen und sind nicht in der Lage, den Raum zu explorieren oder sich mit dem Spielzeug zu be- schäftigen (vgl. Schleiffer 2014: 45). Selbst wenn die Mutter zurückkehrt, sind diese Kin- der nur schwer zu beruhigen und es dauert in der Regel lange, bis sich ihr emotionaler Zustand stabilisiert und gelegentlich sind sie selbst nach einigen Minuten noch nicht in der Lage, sich wieder dem Spielzeug zu widmen (vgl. Brisch 2015: 52). Die Ambivalenz kommt vor allem bei der Rückkehr der Bindungsperson zum Vorschein, wenn das Kind einerseits die Nähe sucht und andererseits seine Wut und den Ärger gegenüber der Mutter zum Ausdruck bringt (vgl. Ainsworth 1978 zit. nach Hochflizer 2008: 16). Unsi- cher-ambivalent gebundene Kinder wurden auch «entweder als angespannt, impulsiv und leicht frustrierbar oder aber als passiv und hilflos» (Bowlby 2008: 104) beschrieben. 2.3.5 Die desorganisierte Bindung Dieses Bindungsmuster zählt nicht zu den ursprünglichen drei klassischen, von Mary Ainsworth konzipierten Muster und wird auch nicht als eigene Verhaltensklassifikation angesehen, sondern als Unterbrechung des organisierten Verhaltens (vgl. Hochflizer 2008: 18). Nach einer gewissen Zeit fiel auf, dass es eine gewisse Anzahl an Kindern gab, die keiner der drei traditionellen Bindungsmuster zugeteilt werden konnte (vgl. Bowlby 2008: 101). In der Fremden Situation zeigten sie sich verstört und/oder unorga- nisiert, verharrten teilweise wie gelähmt, verhielten sich stereotypisch (vgl. ebd.) und schienen insgesamt ängstlich und verwirrt zu sein (vgl. Schleiffer 2014: 45). Diese wi- dersprüchlichen Verhaltensweisen werden so gedeutet, dass trotz aktiviertem Bin- dungssystem, das Bindungsverhalten der Kinder sich nicht durch eindeutige Verhaltens- strategien und nicht in ausreichender Konstanz in Erscheinung tritt (vgl. Brisch 2015: 52). Zunächst wurde dieses Verhaltensmuster, als unklassifizierbar bezeichnet und erst spä- ter von Mary Main und Judith Solomon unter dem Begriff desorganisiert-desorientiert gekennzeichnet und heute als desorganisiertes Bindungsmuster bekannt ist (vgl. Ainsworth 1990: 387). Diese Kategorie wird immer als zusätzliche Codierung zusammen mit einer der drei ursprünglichen Klassifikationen vergeben (vgl. Hochflizer 2008: 18, Brisch 2015: 52). 20 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER 2.4 Gestörtes Bindungsverhalten Gestörtes Bindungsverhalten zeichnet sich durch individuell manifestierte beziehungs- bezogene Probleme und Störungen aus, wozu zum einen die zuvor beschriebene des- organisierte Bindung zählt und zum anderen die Bindungsstörungen (vgl. Fegert et al. 2014: 252). Während die desorganisierte Bindung der entwicklungspsychologisch-bin- dungstheoretischen Forschung entstammt, wurden die Bindungsstörungen im klinisch- diagnostischen Kontext des internationalen Klassifikationssystems ICD-10 der Weltge- sundheitsorganisation WHO definiert (vgl. ebd.). Nachfolgend sollen zunächst die Bindungsstörungen erläutert werden und anschlies- send soll weiter ausgeführt werden, wie unsichere Bindung, aber vor allem die zum ge- störten Bindungsverhalten zählende desorganisierte Bindung mit der Psychopathologie zusammenhängen. 2.4.1 Bindungsstörungen Mit Verweis auf Zeanah, Mammen und Lieberman, spricht Brisch (vgl. 2015: 60) von verschiedenen Bindungsstörungen, die in klinischen Stichproben zu finden sind und des- sen Ursache auf tiefgreifende Veränderungen und Deformierungen in der Bindungsent- wicklung zurückzuführen sind. Er fügt an, dass bei allen Bindungsstörungen die funda- mentale Gemeinsamkeit zugrunde liegt, «dass frühe Bedürfnisse nach Nähe und Schutz in Bedrohungssituationen und bei einer Aktivierung der Bindungsbedürfnisse in ängsti- genden Situationen in einem extremen Ausmass nicht adäquat, unzureichend oder wi- dersprüchlich beantwortet wurden» (ebd.: 60–61). Brisch und Hellbrügge (vgl. Brisch/Hellbrügge 2009: 356) fügen zudem an, dass im Säuglings- bzw. Kleinkindalters erlebte Gewalt durch Bindungspersonen (beispielsweise in Form von physischer, sexu- eller oder emotionaler Misshandlung) die Bedingungen dafür schaffen, dass das Kind eine Bindungsstörung entwickeln kann. Doch was genau ist unter dem Begriff «Bindungsstörung» zu verstehen? Eine einheitli- che Verwendung dieses Begriffs ist in der Literatur nicht zu finden. Ein Grossteil der empirischen Schriften nehmen jedoch Bezug zur Störungsdefinition gemäss der Klassi- fikationssysteme DSM-IV (in USA gültiges Klassifikationssystem) und ICD-10, wogegen 21 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER andere darunter alle möglichen psychischen Störungsbilder und psychopathologischen Symptombilder verstehen, die mit den unterschiedlichen Bindungsmustern zusammen- hängen (vgl. von Klitzing 2009: 14). In dieser Arbeit wird zwischen den psychopatholo- gisch interpretierbaren unsicheren Bindungen (inkl. desorganisierte Bindung) und den Bindungsstörungen nach ICD-10 unterschieden, wobei der Begriff Bindungsstörung als «eine voll ausgebildete psychische Störung des Kindesalters» (Fegert et al. 2014: 252) definiert wird. ICD-10 unterscheidet zwischen den folgenden zwei Typen von Bindungsstörungen: Die «reaktive Bindungsstörung im Kindesalter» (F94.1) und die «Bindungsstörung des Kin- desalters mit Enthemmung» (F94.2) (vgl. DIMDI 2019: o.S.). Im Konsens haben beide Störungsbilder, dass sie vor dem fünften Lebensjahr einsetzen und dass die im ICD-10 (F84) definierten primären organischen Ursachen und tiefgreifenden Entwicklungsstö- rungen ausgeschlossen werden können (vgl. Ziegenhain/Steiner 2018: 318). 2.4.1.1 Reaktive Bindungsstörung (F94.1) Die reaktive Bindungsstörung ist durch anhaltende Auffälligkeiten im sozialen Bezie- hungsmuster gekennzeichnet, welche von einer emotionalen Störung begleitet wird und auf Wechsel in den Milieuverhältnissen reagiert. Charakteristisch für diesen Typ von Störung ist, dass das Kind sehr furchtsam, übervorsichtig und oft unglücklich ist. Darüber hinaus zeigen sie eingeschränkte soziale Interaktionen mit Gleichaltrigen, gelegentlich auch Wachstumsverzögerungen und sie verhalten sich anderen oder sich selbst gegen- über aggressiv. Als wahrscheinliche Ursachen werden schwere elterliche Vernachlässi- gung, Missbrauch oder schwere Misshandlung genannt (vgl. DIMDI 2019: o.S.) 2.4.1.2 Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2) Die Bindungsstörung mit Enthemmung wird im internationalen Klassifikationssystem ICD-10 als «abnormes soziales Funktionsmuster» (ebd.) bezeichnet. Im Gegensatz zu der reaktiven Bindungsstörung, tendiert ein Kind mit der enthemmten Form der Störung dazu, trotz deutlicher Änderungen in den Umweltbedingungen keine Reaktion zu zeigen, sondern zu persistieren. Das Störungsbild kann zum Beispiel geprägt sein durch diffuses und wahlloses Bindungsverhalten, indem das Kind situationsübergreifend und distanzlos mit unvertrauten Personen interagiert und Bindungsbedürfnisse sowohl bei Bezugsper- sonen, als auch bei fremden Personen zum Ausdruck bringt (vgl. ebd., 22 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Ziegenhain/Steiner 2018: 320). Aber auch kaum angepasste Interaktionen mit Gleichalt- rigen können zum Störungsbild gehören, genauso wie nichtselektiertes freundliches und aufmerksamkeitssuchendes Verhalten (vgl. DIMDI 2019: o.S.). Je nachdem wie die Um- stände beim Kind geschaffen sind, können auch emotionale Verhaltensstörungen nicht ausgeschlossen werden (vgl. ebd.) 2.4.2 Psychopathologie Inzwischen gibt es eine wachsende Anzahl von Studien, die bei unterschiedlichen Risi- kogruppen Verbindungen zwischen einem unsicheren Bindungsmuster und psychischen Störungsbildern aufzeigen konnten, wobei vor allem das desorganisierte Bindungsmus- ter häufig in den klinischen Stichproben vorkommt und somit eine grössere Bedeutung für die psychopathologische Entwicklung zu haben scheint (vgl. Schleiffer 2014: 94–95). Sowohl Brisch (vgl. 2015: 95) als auch Schleiffer (vgl. 2014: 69) betonen jedoch, dass bislang kein konkretes Bindungsmuster einer spezifischen Psychopathologie zugeord- net werden konnte und sehen dies auch in Zukunft als eher unwahrscheinlich. Hingegen kann eine sichere Bindung als Schutzfaktor und eine unsichere Bindung als Risikofaktor betrachtet werden für die Entwicklung von psychopathologischen Symptomen, da diese die psychische Vulnerabilitätsschwelle für Belastung zu beeinflussen scheinen, wobei hierzu noch dringend mehr geforscht werden müsste (Schleiffer 2015: 95). Nach heutigem Wissensstand gibt es zwei Störungen, die eine gesicherte Verbindung zu den Bindungsmustern in der Kindheit vorzeigen. Gemäss Schleiffer (vgl. 2014: 72) sind das zum einen die Angststörungen, welche durch eine gefährdet erlebte Beziehung mit einem unsicher-ambivalenten Bindungsmuster in Zusammenhang gebracht werden können, zum anderen sind es die dissoziativen Störungen, die einem desorganisiertem Bindungsmuster in Folge von Missbrauchs- und/oder Misshandlungserlebnissen zu- grunde liegen. Es gibt Längsschnittstudien, die Kinder von depressiven oder schizophrenen Eltern un- tersuchten, aufgrund der für die Bindungsentwicklung als Risikofaktor geltenden Erkran- kungen (vgl. Brisch 2015: 94). Dabei tendieren diese Kinder dazu, ein unsicheres Bin- dungsmuster zu entwickeln (vgl. ebd.). Somit zählen psychisch erkrankte Eltern zu den Risikofaktoren, welche die Wahrscheinlichkeit einer unsicheren Bindung und der Ent- wicklung von psychopathologischen Symptomen erhöhen. Die Bindungsrepräsentation 23 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER hat demnach einen Einfluss auf die Entwicklung der Bindungsqualität eines Kindes. Brisch (vgl. ebd.: 95) verweist auf Forschungsergebnisse von Lyons-Ruth und Jacobvitz, die einen Zusammenhang zwischen ungelösten Traumata bei den Eltern und ein desor- ganisiertes Bindungsmuster bei deren Kindern feststellten. Pathogene negative Bin- dungserfahrungen können, wenn sie über einen längeren Zeitraum hinweg auftreten, schliesslich zu den bereits beschriebenen Bindungsstörungen führen. Die desorganisierte Bindung kann sich auch bis in die Adoleszenz oder gar bis ins junge Erwachsenenalter dahingehend auswirken, dass wenn stressvolle Lebensbedingen wei- ter bestehen, sich auch Symptombilder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung entwi- ckeln können (vgl. Brisch/Hellbrügge 2009: 356–357). Zu den Stressvollen Lebensbe- dingungen zählen vor allem Gewalterfahrungen mit Bezugspersonen, die, wenn sie sich als Muster der kindlichen Bindungserfahrung entwickeln, mit hoher Wahrscheinlichkeit später zu «Bindungsstörungen als Form der Bindungspsychopathologie» (ebd.: 357) führen. Bezeichnend für das Auftreten von entwicklungspsychopathologischen Symptombildern bei unsichereren und desorganisierten Bindungsmustern ist das Zusammentreffen von Risikofaktoren bei gleichzeitigem Fehlen von ausreichenden Schutzfaktoren (vgl. Schleiffer 2014: 72). Dass Längsschnittstudien hauptsächlich Hochrisikogruppen unter- suchen, also Kinder, die mehreren Risikofaktoren ausgesetzt sind, bietet darin eine Er- klärung, dass bei Kindern mit ausreichend vorhandenen anderen Schutzfaktoren zu er- warten ist, dass sie selbst bei einem unsicheren Bindungsmuster keine psychiatrischen Auffälligkeiten entwickeln (vgl. ebd.). 2.5 Kritik an der Bindungstheorie Obwohl die Bindungstheorie als Grundlage vieler Forschungsarbeiten gilt und auch viel Anerkennung in der Literatur findet, gibt es auch einige kritische Stimmen, die bestimmte Aspekte der Theorie hinterfragen. Diese sollen in diesem Kapitel ihre Würdigung finden. Die Feministische Bewegung kritisierte Bowlby dahingehend, dass er der Meinung war, fehlende mütterliche Fürsorge allein würde schwerwiegende Folgen bezüglich Charakter und Entwicklung des Kindes haben (vgl. Holmes 2006: 55). Sie hingegen gingen davon 24 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER aus, dass es fürs Kind nicht schädlich ist, wenn es von einer ihm bekannten und vertrau- ten anderen Person betreut wird, was später auch Bestätigung in weiterführenden Un- tersuchungen fand (vgl. ebd.: 65). Grossmann und Grossmann weisen beim Konzept der Feinfühligkeit darauf hin, dass in den verschiedenen Studien, die für die Metaanalyse verwendet wurden, die Feinfühlig- keit unterschiedlich erfasst worden ist und dass auch die grundlegende Studie von Ains- worth darin keine Erwähnung fand, die ja im Vergleich gute Ergebnisse vorwies (vgl. Grossmann/Grossmann 2012: 134–135). Hochflizer (vgl. 2008: 26–27) verweist auf van Ijzendroorn, der zu dem Schluss kam, dass Feinfühligkeit allein keinen signifikanten Ein- fluss auf die Entwicklung einer sicheren Bindung hat, sondern nur, wenn sie im Kontext weiterer Schutzfaktoren auftritt. Die grösste Studie (NICHD) stellte zwar einen signifi- kanten jedoch schwachen Zusammenhang zwischen mütterlicher Feinfühligkeit und der Bindungsqualität fest (vgl. ebd.: 27). Aus heutiger Sicht wird auch die Aussagekraft von Bowlbys Studien angezweifelt, da sich seine Untersuchungen oftmals auf nur wenigen Fällen begründeten und auch meist Kontrollgruppen fehlten (vgl. Holmes 2006: 57). Bowlby war sich dieses Umstands be- wusst, ging aber davon aus, dass er durch das Verknüpfen vieler kleiner Studien einen bis zu einem gewissen Grad gültigen Gesamttrend deutlich machen könne (vgl. ebd.: 57–58). Wie bereits im Kapitel 2.3.1 erwähnt, steht auch die Fremde Situation in der Kritik bloss als Momentaufnahme zu gelten und die Reaktionen der Mutter zu vernachlässigen. Zu- dem merken Grossmann und Grosssmann (vgl. Grossmann/Grossmann 2009: 18) an, dass in der Fremden Situation mögliche biologische Faktoren zu wenig Beachtung fin- den, wie zum Beispiel ein herausforderndes Temperament des Kindes, welches den Aufbau einer sicheren Bindung behindern könnte. Ausserdem wurde die Fremde Situa- tion bislang noch nicht als prognostisches Instrument geprüft, auch wenn viele Forscher sie als solche verwenden (vgl. ebd.). 25 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER 3 Nähe und Distanz in der stationären Arbeit mit Kindern Im ersten Teil der vorliegenden Thesis wurde deutlich, dass eine sichere Bindung be- deutend ist für eine gesunde Entwicklung von Kindern und dass die Feinfühligkeit der Bezugsperson einen wichtigen Stellenwert im Aufbau einer sichern Bindung innehat. Feinfühligkeit setzt Nähe voraus. Um der zentralen Fragestellung auf den Grund gehen zu können, wie sich das Spannungsfeld Nähe und Distanz in der Bindungstheorie ver- orten lässt und welche Bedeutung es hat, wird sich der zweite Teil dieser Thesis mit dem Thema Nähe und Distanz in der stationären Arbeit mit Kindern auseinandersetzen. 3.1 Entwicklung der Heimerziehung Seit den ersten Waisenhäusern im Mittelalter hat sich in der Heimerziehung einiges ge- tan. Damals hatten diese Anstalten mit Erziehung oder gar Bildung kaum was zu tun, da es in erster Linie darum ging, verwaiste Kinder am Leben zu erhalten und ihnen «Ar- beitsamkeit», «Gottesfurcht» und «Demut» zu lehren, wobei die Kinder auch oft als bil- lige Arbeitskräfte eingesetzt wurden (vgl. Günder 2015: 16–17). Der damals in den Wai- senhäusern vorherrschende Erziehungsstil war geprägt durch eine pietistische Grundhaltung und autoritäre Strenge, während auf Gott bezogene Wahrheit, Gehorsam und Fleiss als Tugenden hochgehalten wurden (vgl. ebd.: 17). Die Auswirkungen des 30-jährigen Krieges führte zu Massenunterbringungen von Kindern in den Waisenhäu- sern, was eine hohe Sterblichkeitsrate zur Folge hatte. Neben den in diesen Anstalten vorherrschenden katastrophalen Zuständen führten auch die hohen Kosten dieser Häu- ser zu einem langjährig andauernden pädagogischen und ökonomischen Streit, der sehr lange nicht wirklich zu einer Auflösung fand (vgl. ebd.: 17–19). Erst als Ende des 18. Jahrhunderts damit begonnen wurde, den Wert der Kindheit posi- tiver zu betrachten und eine allgemeine Veränderung hin zu einer Kind orientierten Er- ziehung stattfand, ebnete dies den Weg für Pestalozzi und Rousseau, welche mit ihren pädagogisch neuen Ideen, die damaligen Institutionen in grossem Umfang prägten und statt Strenge, Zucht und Ordnung die Liebe zu den Kindern forderten (vgl. ebd.: 20). In 26 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER seinem 1798 gegründetes Armen-Erziehungshaus lebte Pestalozzi zusammen mit sei- ner Familie und den Waisenkindern und wollte durch den dadurch erzeugten Wohnzim- mercharakter beweisen, «dass die Vorzüge, die die häusliche Erziehung hat, von der öffentlichen müssen nachgeahmt werden und dass die letztere nur durch die Nachah- mung der ersteren für das Menschengeschlecht einen Wert hat“ (Pestalozzi o. J., S. 93 zit. in ebd.). Der darauf folgenden «Rettungshausbewegung» entstammte der Theologe Johann Hin- rich Wichern, der auf den sozialen Zerfall der Gesellschaft sowie auf die grosse Verar- mung vieler Bevölkerungsteile mit der Gründung des Waisenhauses «Rauhe Haus» im Jahre 1833 reagierte (vgl. ebd.: 21) und mit ihm Pestalozzis Grundprinzip der Liebe zum Kind in die Praxis umsetzte. Sein Waisenhaus hob sich deutlich von den anderen über- füllten Anstalten der damaligen Zeit ab, da der dort gelebte Erziehungsstil von christli- cher und individueller Zuneigung geprägt war und es zeichnete sich durch kleinere Ge- meinschaften aus (vgl. ebd.: 22). Pestalozzi, Rousseau und Wichtern erkannten zwar damals schon den Wert der von Liebe und Zuneigung geleiteten pädagogischen Bezie- hungsarbeit seitens Erwachsener, dennoch dauerte es noch bis Ende der 60er- Jahre, bis diese Auffassung von Erziehung Anklang fand (ebd.: 22, 26). Damals initiierten linke Gruppen von Studierenden die sogenannte Heimkampagne, die das vorherrschende kapitalistische Gesellschaftssystem stark kritisierte und sich für Randgruppen einsetzte (vgl. ebd.: 26). Sie machten auf die Erziehungspraktiken und Rahmenbedingungen in der Heimerziehung aufmerksam und machten durch Skandal- berichte die Not der darin lebenden Kinder öffentlich. Sie reformierten die Heimerziehung nach und nach und machten Forderungen wie die Abschaffung diktatorischer, autoritärer Erziehungsmethoden, die Verringerung der Gruppengrösse, tarifgerechte Löhne sowie Weiterbildungsmöglichkeiten für Fachkräfte, die Abschaffung der stigmatisierenden Merkmale wie Anstaltskleidung und die abgeschieden gelegenen Heime geltend (vgl. ebd.: 26–27). Die Intension der Studierenden war damals jedoch nicht, die komplexe pädagogische Problematik der Erziehung anzugehen oder sich der individuellen Bedürf- nisse dieser Kinder anzunehmen (vgl. Post 1997: 28). Ihre Beweggründe waren politi- scher Natur, dennoch gaben ihre Forderungen einen Anstoss zu den fundamentalen Reformen, welche schlussendlich zur heutigen Heimerziehung führten (vgl. Schleiffer 2015: 105). Die Heime entwickelten sich von «Anstalten mit Aufbewahrungscharakter 27 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER zu differenzierten pädagogischen Institutionen mit qualitativ gut ausgebildeten pädago- gischen Mitarbeiter(inne)n» (Günder 2015: 38). In der Schweiz gab es neben der Heimkampagne noch eine weitere, die sogar noch mehr Wirkung zeigte und schliesslich zu einer weltweiten Kampagne zur Aufdeckung von Misshandlungen und Missbrauch in Kinder- und Erziehungsheimen führte. Es war dies eine Kampagne, die von den Jenischen1 ins Leben gerufen wurde und die eine Aufdeckung ihrer Verfolgungsgeschichte und ihrer Platzierung forderten (vgl. Huonker 2013: 10). In den letzten Jahrzehnten wurden immer mehr Missstände in der Geschichte der Schweizer Heimgeschichte aufgedeckt, über die auf der Homepage «Kinderheime in der Schweiz, Historische Aufbereitung» (vgl. Fluri o. J.: o. S.) in einer umfangreichen Samm- lung von Berichten, Biografien von Betroffenen, Dokumenten, Bildern, Zeitungsartikeln nachgelesen werden kann. In all diesen Veröffentlichungen ist herauszulesen, dass Hei- merziehung in der Geschichte der Schweiz gekennzeichnet war durch oftmals harte und demütigende Strafregime, harte Einsetzung der Kinder als Arbeitskräfte, Ausgrenzung von der Mitwelt und Misshandlungen durch gewalttätige, sadistische und/oder pädophile Taten gegenüber den Kindern (vgl. Huonker 2013: 10). Aufgrund der immer zunehmen- den Publikationen von Opferberichten, hat die Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Juni 2013 einen Runden Tisch eingesetzt, der den Auftrag hat, umfassend die fürsorge- rischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 aufzuarbeiten und noch lebende Betroffene zu entschädigen und auch beratende Hilfe in die Wege zu leiten (vgl. Delegierter für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen 2014: 6–9). 1 Die Jenischen waren eine Völkergruppe, die damals in der Schweiz zu den Zigeunern zählten und die bis in die 1970er-Jahre gezielt verfolgt und aus ihrer Herkunftskultur gerissen wur- den, indem deren Kinder weggenommen und in Heimen und Anstalten oder als Verdingkin- der fremdplatziert wurden und sich teilweise sogar einer Zwangssterilisation unterziehen mussten (vgl. Huonker 2013: 11–13). 28 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER 3.2 Die heutige Heimerziehung in der Schweiz Die Heimerziehung hat ihr Negativimage noch nicht ganz verloren, obwohl sich einiges zum Positiven hin verändert hat. Nachfolgend soll die vorliegende Arbeit kurz die heuti- gen Gegebenheiten und Herausforderungen skizzieren, vor welchen die Heimerziehung in der Schweiz steht. Die Gründe für die Platzierung in einer stationären sozialpädagogischen Institution in der Schweiz zeigen sich sehr vielfältig und in unterschiedlichen fachlichen Kontexten. Bei einigen Kindern und Jugendlichen erfolgt eine Unterbringung aufgrund körperlicher oder geistiger Behinderungen und weil sie therapeutische Unterstützung, bzw. eine spezielle schulische Förderung benötigen, andere zeigen Verhaltensauffälligkeiten oder sie ha- ben Gewalt oder Vernachlässigung in der Familie erfahren (vgl. Blülle 2014: 13). Oft sind es auch mehrere, sich addierende Belastungen und Problemlagen, die schlussendlich zu einer Heimplatzierung führen (vgl. Schnurr 2012: 84). In den letzten paar Jahrzehnten hat in der Schweiz eine starke Ausdifferenzierung in den Formen der Heimerziehung stattgefunden. Neben geschlossenen Gruppen gibt es auch heilpädagogisch und/oder sonderpädagogisch ausgerichtete Heime, Aufnahme- und Beobachtungsstationen, Heime mit internen Ausplätzen, solche mit familienähnlichen Gruppen, begleitete Wohn- gemeinschaften, Therapieheime, Schulheime sowie Heime mit Aussenwohngruppen (vgl. ebd.: 83–84). Wie in der Einleitung dieser Thesis bereits erwähnt, beruht die Zahl von rund 13'000 jährlich in Heimen lebenden Kindern und Jugendlichen in der Schweiz auf einer Hoch- rechnung. PACH und Integras (2017: o.S.) beschrieben die Erhebung der statistischen Daten im Jahr 2015 zur Bestandsaufnahme von Heim- und Pflegekindern in der Schweiz als sehr zäh, da nur etwa zwei Drittel der Kantone Daten lieferten und die andren Kan- tone Widerstand leisteten. Der Grund dafür, dass eine Bestandsaufnahme so beschwer- lich ist, sind die in der Schweiz vorherrschenden föderalistischen Strukturen, welche die Verwaltung der Kinder- und Jugendhilfe in die Verantwortung der Kantone legt und wes- wegen es auch eine Vielzahl an Regeln zwischen Kostenträgern und Leistungserbrin- gern, sowie unterschiedliche Zugangskriterien und verscheiden verfügbare Leistungen in den jeweiligen Kantonen zu finden sind (vgl. Piller/Schnurr 2013: 8). Auch fehlen in der Schweiz einheitliche Bezeichnungen von Leistungen und Diensten und sogar empi- risches Wissen ist meist eng an die Region, Gemeinde oder den Kanton gekoppelt (vgl. 29 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER ebd.). Folgerichtig stellt der Bundesrat in seinem Bericht in Erfüllung des Postulats Fehr fest: «Bezüglich der Kinder- und Jugendhilfe hat sich gezeigt, dass in der Schweiz keine einheitlichen Definitionen bestehen und ein gemeinsames Verständnis der Kinder- und Jugendhilfe sowie ein Überblick über die bestehende Kinder- und Jugendhilfelandschaft weitgehend fehlt.» (Bundesrat 2012: III) 3.3 Der rechtliche Rahmen der Beziehungsgestaltung Auf Bundesebene existieren bis anhin in der Schweiz keine gesetzlichen Grundlagen zu Bestimmungen und Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe, da die Angebote und Leis- tungen dafür kantonal geregelt werden (vgl. ebd.: 38, Piller/Schnurr 2013: 7). Es beste- hen ein paar bundesrechtliche Regelungen, die allerdings fast ausschliesslich entweder den Kindesschutz (vgl. Art. 307ff. ZGB) auf der Ebene legitimer Eingriffe in das Eltern- recht betreffen, die Voraussetzungen zur Aufnahme von Pflegekindern (vgl. Art. 300 ZGB) oder aber die Regelung der Finanzhilfe für Unterstützungs- und Beratungsleistun- gen an Personen, »die durch eine Straftat in ihrer körperlichen, psychischen oder sexu- ellen Integrität unmittelbar beeinträchtigt« (vgl. ebd.: 7–8, OHG) wurden. Ausserdem werden in Art. 11 Abs. 1 der Bundesverfassung das Grundrecht von Kindern und Ju- gendlichen auf besonderen Schutz, Unversehrtheit und ein Anrecht auf Förderung ihrer Entwicklung festgelegt, sowie in Art. Abs. 1 die Förderung und Unterstützung der Kinder und Jugendlichen in ihrer Entwicklung zu selbstständigen und sozial verantwortlichen Personen wie auch in ihrer sozialen, politischen und kulturellen Integration. In insgesamt 11 der 26 Kantone (ZH, BE, OW, FR, TI, VS, NE, GE , BS, JU und VD) liegen eigenständige Gesetze zur Kinder- und Jugendhilfe vor, die unterschiedlich aus- gestaltet sind hinsichtlich der Zielsetzungen und Schwerpunkte (vgl. Schnurr 2012: 99– 100). Schnurr (ebd.: 100) beschreibt den Hauptzweck dieser kantonalen Gesetze wie folgt: «Die wichtigste Funktion der kantonalen Gesetze zur Kinder- und Jugendhilfe liegt darin, Aufgaben und Ausgaben des Kantons im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe bzw. im Handlungsfeld der ausserschulischen Bildung, Betreuung und Förderung von Kindern und Jugendlichen zu begründen, ihnen eine Legitimationsbasis zu geben und die Grundzüge der Ausführung festzuhalten.» 30 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Konkrete Gesetze oder Bestimmungen zur Beziehungsgestaltung in sozialpädagogi- schen stationären Einrichtungen konnte die Autorin nach eingehender Recherche nicht ausfindig machen. 3.4 Der ethische Rahmen der Beziehungsgestaltung Das Fundament der sozialpädagogischen Berufsethik bildet der Dualismus von ethi- schem Wissen auf der einen Seite und von wissenschaftlichen-methodischem Wissen andererseits (vgl. Martin 2001: 19). Ernst Martin (ebd.) führt dies noch weiter aus: «Fachliche Kompetenz und moralische Normen werden nicht gegeneinander ausge- spielt, sondern produktiv aufeinander bezogen. In der Reflexion des professionellen sozialpädagogischen Handelns sollte das wissenschaftliche und erfahrungsbezogene Wissen mit den ethischen Prinzipien, Nomen und Regeln konfrontiert werden, um dadurch beide Elemente reflexiv zu qualifizieren.» Diese Reflexion des Handelns auf professioneller und auch moralischer Ebene als ethi- sche Begründung findet sich auch im Berufskodex der Sozialen Arbeit wieder (vgl. AvenirSocial 2010: 12). Dort wird unter anderem auch darauf hingewiesen, dass profes- sionelles Handeln stets auf den theoretischen, methodischen und ethischen Kriterien der Sozialen Arbeit aufgebaut werden und auch regelmässig sowohl hinsichtlich der fachli- chen als auch moralischen Qualität geprüft werden soll (vgl. ebd.). Die Beziehungsarbeit wird in der Sozialen Arbeit als unabdingbare Voraussetzung des professionellen Handelns gesehen (vgl. Hochuli Freund/Stotz 2017: 84). Arbeitsbezie- hungen unterscheiden sich von alltäglichen Beziehung hinsichtlich Entstehung, Ziel, Dauer und oftmals auch Freiwilligkeit, wobei jede Arbeitsbeziehung äusserst unter- schiedlich ist (vgl. ebd.: 85–86). Die Soziale Arbeit handelt gemäss einem Organisati- onsauftrag, welcher auch die Rahmenbedingungen der Beziehungsgestaltung vorgibt. Der Auftrag der Organisation gibt die Zeit, Dauer und Intensität, den Ort sowie die Ge- staltung und die Inhalte der Interaktionen zwischen Fachkraft und Klientel vor. (vgl. Heiner 2007: 461). Da Beziehungen in der Sozialen Arbeit immer zeitlich begrenzt sind, sollten die Professionellen der Sozialen Arbeit bei der Beziehungsgestaltung stets das Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe beachten und sich bewusst sein, dass die angebotene Hilfe 31 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER und somit auch die Arbeitsbeziehung nach und nach überflüssig werden sollte (vgl. Ho- chuli Freund/Stotz 2017: 87–88). Frost (vgl. 2012: 164) verweist auf die Bindungstheorie im Zusammenhang der ethischen Beziehungsgestaltung in der pädagogischen Arbeit und hebt hervor, wie wichtig eine verlässliche und vertrauensvolle Bezugsperson für eine gesunde Entwicklung des Kin- des ist. Die pädagogische Arbeit im Heimkontext beschreibt er treffend als Gratwande- rung zwischen Nähe und Distanz (vgl. ebd.). Martin (vgl. 2001: 17) sieht die Notwendig- keit der Ausbalancierung von Nähe und Distanz insbesondre in der Sozialpädagogik darin begründet, dass helfende Beziehung sich auf Empathie gegenüber der Klientel stützen, was wiederum zwingend professionelle Reflexion benötigt. Eine Platzierung in einer sozialpädagogischen stationären Einrichtung stellte Professio- nelle der Sozialen Arbeit vor die ethische Herausforderung, dass für die Beziehungsge- staltung einerseits wertschätzendes, empathisches und feinfühliges Handeln gefordert wird, was wiederum eine gewisse Nähe zum Klientel erforderlich macht, andererseits wird von sozialpädagogischen Fachkräften aber auch professionelle Distanz verlangt (vgl. Frost 2012: 164, 168–169). 3.5 Das Spannungsfeld Nähe und Distanz In der Praxis der Sozialen Arbeit werden Nähe und Distanz meist als konträre Pole ver- standen, wobei manche auf mehr Nähe pochen und dies begründen mit dem durch diese ermöglichten Aufbaus von Vertrauen, Empathie und Beziehungen, welche die Qualität sozialpädagogischen Handelns ausmachen, während andere mehr auf Distanzierung drängen und gerade darin sozialpädagogisches Handeln charakterisiert sehen (vgl. Thiersch 2012: 32). Im Rahmen der Sozialen Arbeit verhält es sich mit den beiden Be- griffen jedoch nicht so, dass sie ohne Zusammenhang und gegensätzlich betrachtet wer- den können, sondern als aktives Spannungsfeld, das sich wechselseitig bedingt und das trotz widersprüchlichem Charakter in der Sozialen Arbeit bloss als Begriffspaar Verwen- dung finden kann (vgl. Hausknecht 2012: 9). Professionelle Nähe und Distanz sollte sich bestenfalls dadurch auszeichnen, dass sie zu viel Nähe erkennt und Methoden finden, um dies unter Kontrolle halten zu können und genauso Mittel kennt, eine Distanz zu halten, die jedoch persönliche und intime 32 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Probleme nicht in weiter Entfernung von sich hält oder sie gar gänzlich ausklammert, sondern diese in kontrollierter Form zulässt und gegebenenfalls Raum gibt, um diese zu bearbeiten (vgl. Müller 2012: 145–146). 3.6 Entwicklungsförderliche Distanz Ein gewisses Mass von Distanz ist eigentlich immer gegeben, da es ohne diese keine Individuen mehr geben würde (vgl. Volmer 2019: 77). Es geht demnach selbst bei der Herstellung von Nähe nie darum, die Distanz vollständig zu überwinden, sondern immer darum, ein mehr oder weniger grosses Mass an Nähe, je nach Auftrag und Setting und gemäss der Zuträglichkeit für die Entwicklung des Gegenübers, aufzubauen (vgl. ebd.). Im Kontext des Spannungsfelds Nähe und Distanz kann demnach von «Distanz halten» gesprochen werden, was bedeutet, ein tieferes Bewusstsein für die Eigenheiten anderer zu entwickeln, um deren Integrität zu schützen und anmassende Verhaltensweisen, wie die Haltung es besser zu wissen, was für andere gut ist, vorzubeugen (vgl. ebd.). Die Haltung, dass die Realität des Gegenübers so individuell und komplett ist, dass eine gänzliche Erfassung unmöglich ist, stellt eine protektive Grundhaltung dar, die Fach- kräfte in der Sozialen Arbeit vor bevormundender und respektloser Nähe bewahren (vgl. ebd.). Distanz kann dann gefragt sein, wenn das Kind Verletzungen erfahren hat und die Abgrenzung braucht, um sein Selbstwertgefühl wiederherstellen zu können und seine Integrität zu wahren (vgl. ebd.: 78). Bei Distanz halten geht es darum, die Intimsphäre des Gegenübers zu achten, was bedeutet, dass man ihm den nötigen Raum dafür gibt, seine Individualität und eigene Identität zu entfalten (vgl. ebd.). Dies bedeutet, dem Kind die Freiheit zu gewähren, zu tun, was es selbst für richtig hält, selbst wenn das womög- lich bedeutet, dass es Dinge tut, die ihm schaden, weswegen Distanzhalten hin und wie- der auch bedeutet, den Mut aufzubringen, die Kontrolle über das Kind abzugeben, damit es seine eigenen Erfahrungen und Fehler machen kann (vgl. ebd.). Das bringt auch ein gewisses Risiko mit sich, welches eine sozialpädagogische Fach- kraft eingehen muss, um nicht dem Kind gegenüber bevormundend und anmassend zu sein (vgl. ebd.). Bei Kindern, die als unselbstständig erlebt werden tendieren Fachkräfte dazu, ihnen eigenverantwortliches Verhalten nicht zuzutrauen, wobei gerade bei ihnen eine Bevormundung kontraproduktiv ist und sie stattdessen die Förderung ihrer Selbst- ständigkeit benötigen (vgl. ebd.: 78–79). Distanz halten lässt den Raum für die Entwick- lung eines eigenen Gefühls dafür, was gut für einen ist und was nicht und lässt dem 33 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Klientel das Recht auf Selbstbestimmung, die es in der Sozialen Arbeit zu wahren gilt (vgl. ebd.: 79). Nur die Abwendung von ernstzunehmendem Schaden begründet ein Ein- greifen in dieses Recht (vgl. ebd.). 3.7 Formen von Nähe und deren Bedeutung für die kindliche Entwicklung Colla (vgl. Colla 1999: 359) verweist auf die kasuistische Studie von Gehres (1997), die belegt, dass in der sozialpädagogischen Heimerziehung die Beziehungsqualität einen zentralen Wirkfaktor darstellt. Diese Beziehungsqualität erfordert gemäss der Bindungs- theorie Nähe. Diese wiederum bedingt nicht nur die Bereitschaft, sich auf die Kinder in den sozialpädagogischen Institutionen einzulassen und ihnen mit emphatischem Ver- ständnis entgegenzutreten, sondern auch das Einbringen der Fachkraft als ganze Per- son, die für sich einstehen und sich öffnen kann (vgl. ebd.: 358–359). Für eine gesunde kindliche Entwicklung ist Nähe in Form von funktionierenden Beziehungen, in denen die Kinder Zuwendung, Zärtlichkeit, Geborgenheit und Körperkontakt erfahren, unabdingbar und es gehört daher zum Auftrag der stationären Arbeit mit Kindern, diesen Grundbe- dürfnissen in angemessener Weise nachzukommen (vgl. Abrahamczik et al. 2013: 7) Dieses Kapitel soll nun die unterschiedlichen Formen von Nähe darlegen und benennen, wie diese jeweils aufgebaut werden und wann sie angezeigt sind. 3.7.1 Körperliche Nähe Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass vor allem die verbale, emotionale und körperliche Interaktionen die Basis bilden, aus der sich die Grundemotionen des Menschen bilden (vgl. ebd.: 9). Aus diesem Grund ist das Erfahren von alltäglicher körperlicher Nähe so bedeutsam für eine gesunde kindliche Entwicklung. Das Fehlen dieser körperlichen Nähe erschwert bei den Kindern das Eingehen und Entwickeln von Bindungen und er- höht das Risiko von Selbstentfremdung (ebd.). Erfahren Kinder keine körperliche Nähe, kann dies auch zu erheblichen Entwicklungsstörungen aufgrund von emotionaler Verar- mung führen (ebd.). Im Zusammenhang mit der professionellen Beziehungsgestaltung zeigt sich die Notwen- digkeit von körperlicher Nähe im Rahmen der Pflege bei Krankheit, wobei diese je nach 34 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER geschichtlichem Hintergrund sowohl beim Kind als auch bei der Fachkraft der Sozialen Arbeit Schamgefühle auslösen kann, und bei der viel Taktgefühl angezeigt ist (vgl. Volmer 2019: 69). Auch bei akutem selbst- oder fremdgefährdendem Verhalten von Kin- dern ist angemessen dosiertes körperliches Eingreifen zwingend erforderlich (vgl. ebd.). Neben diesen eben aufgezählten Situationen, bei denen ausser Frage steht, dass kör- perliche Nähe notwendig ist, gibt es jedoch auch eine Vielzahl von Situationen im sozi- alpädagogischen Alltag mit Kindern, in denen sie möglich, aber nicht zwingend ist und das richtige Mass weniger eindeutig erscheint (vgl. ebd.: 70). Der institutionelle Rahmen (vgl. Kapitel 3.3) und auch persönliche Grenzen, sowohl bei der Fachkraft als auch beim Kind, geben vor, ob beispielsweise ein weinendes Kind tröstend in den Arm genommen werden darf, oder ob es allein durch liebevolle, beruhigende Worte getröstet werden soll. Auf die persönlichen Grenzen und derjenigen des Klientels wird später noch genauer eingegangen. Ein Säugling bedarf behutsamer, liebevoller Berührungen zu seiner Bezugsperson, die ihm Halt geben genauso wie des zuverlässigen Stillens seiner körperlichen Bedürfnisse und wechselseitig aufeinander bezogener Berührungen und Gesten für die Entwicklung eines intakten Körpergefühls, sowie einer positiven Einstellung zum eigenen Körper (vgl. ebd.: 73). Bei der Erfüllung dieser elementaren Bedürfnisse, ist das Kind jedoch gänzlich auf die liebevolle Zuneigung und Nähe der Bezugsperson angewiesen (vgl. Leuzinger- Bohleber 2014: 141). Durch Vernachlässigung, aber auch durch Missbrauch der körper- lichen Nähe, etwa durch körperliche Gewalt oder gar sexuellen Missbrauch, können Stö- rungen in der Beziehung zum eigenen Körper entstehen (vgl. Volmer 2019: 73). Einer Pädagogik, die keine körperliche Nähe bei Kindern zulässt, welche körperliche Gewalt erfahren, körperlich vernachlässigt oder missbraucht wurden, wirft Volmer vor, dass sie «nicht nur eine elementare Dimension menschlichen Seins, sondern auch einen wichti- gen Baustein der Entwicklungsförderung (...) vernachlässig[t]» (ebd.). 3.7.2 Emotionale Nähe Nähe auf emotionaler Ebene entsteht unter der Bedingung, dass zwei Menschen sich aufeinander einlassen, also wenn sie auf der Gefühlsebene Kontakt zueinander herstel- len, wofür Feinfühligkeit und die Fähigkeit am Erleben des anderen Anteil zu nehmen 35 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER vorausgesetzt wird (vgl. ebd.: 70). Bei emotionaler Nähe können bindungsintensive Mo- mente entstehen, die sich durch Pendeln zwischen der miteinander geteilten Emotion und dem durch die emotionale Berührung des Moments entstandenen Gefühls kenn- zeichnet, also durch beispielsweise hin- und hergerissen sein zwischen gemeinsam er- lebter Trauer und gleichzeitig das durch die Verbundenheit in der Trauer empfundene Gefühl des Glücks (vgl. ebd.). Volmer (vgl. ebd.: 70–71) beschreibt zum besseren Verständnis eine so erlebte emotio- nale Nähe zu einem syrischen Mann, bei dem er vor der Wahl stand, ihn dazu aufzufor- dern, von den schlimmen Bildern vom Krieg zu erzählen, die ihn nicht schlafen liessen oder ihn zu einer Distanzierungstechnik anzuleiten. Er entschied sich für ersteres, da er dieses Bedürfnis auf Seiten des Klienten spürte und er selbst bereit dazu war, sich da- rauf einzulassen. Folglich brach «unsäglicher Schmerz» (ebd.: 71) aus dem jungen Mann heraus, der es Volmer unmöglich machte, nicht Anteil zu nehmen und die Tränen zu stoppen, was wiederum ein Trost für den Klienten war, der laut Volmer in diesem Ausmass durch die andere Reaktionsmöglichkeit, der Anleitung zur Distanzierung, nicht möglich gewesen wäre. Landolt beschreibt die Kunst mit traumatisierten Menschen da- rin, «sich durch die Trauma-Erzählungen berühren zu lassen, zugleich der pathogenen Gewalt des Traumas stand[zu]halten und dieser kompensierende und pathogene Kräfte entgegen[zu]halten» (Landolt 2004: 87). Emotionale Nähe zu anderen Menschen gilt als Antrieb für die Entwicklung, da sie eine der fundamentalen Bedingungen schafft, damit eine zwischenmenschliche Beziehung gelingen kann: nämlich die Möglichkeit, Vertrauen zu entwickeln (vgl. Volmer 2019: 75). Ausserdem vermittelt sie ein Gefühl der Geborgenheit, und des Selbstwerts, wenn ei- gentlich sonst das Gefühl vorherrscht, der Aufmerksamkeit nicht wert zu sein (vgl. ebd.). Die emotionale Anteilnahme und Verstehen ist dann nötig, wenn die Belastungen des Gegenübers seine eigenen Fähigkeit übersteigt, diese ohne Hilfe in Angriff zu nehmen, da nur auf dieser Basis in dem Moment Hilfe entstehen kann (ebd.: 76). 3.7.3 Mentale Nähe Die dritte Form von Nähe ist die mentale, die meist entsteht, wenn ähnliche Überzeu- gungen politischer oder religiöser und spiritueller Natur, oder eine kongruierende Welt- 36 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER anschauung vorherrschen und durch den Austausch tiefsinniger, faszinierender, geist- reicher, klarer und schöner Gedanken angeregt wird (vgl. ebd.: 71). Das Prinzip funktio- niert ähnlich wie bei der emotionalen Ebene über den Willen und die Bereitschaft sich auf den anderen einzulassen, wobei eine mentale emotionale Nähe nicht nur aus- schliesslich über Gemeinsamkeiten, sondern auch über kontroverse Ansichten entste- hen kann, da vollständig verschiedene Perspektiven und ein «Brennen» für das ge- wählte Thema sich gegenseitig beleben und dabei auch etwas Neues hervorbringen können. Jedoch führen vor allem gleiche Vorlieben in der Musik, der Literatur, oder Kun- strichtung, um ein paar Beispiele zu nennen, zu einer mentalen Nähe, die sich als sehr bedeutsam für befriedigende Beziehungen erweisen kann und es gilt ausserdem als un- gemein bindungsfördernd, wenn gemeinsam über das Selbe gelacht werden kann (vgl. ebd.) Solange von beide Seiten ein Interesse an einem echten Gespräch vorhanden ist, kann theoretisch zu jedem Menschen mentale Nähe entstehen (vgl. ebd.: 76). Geistige Aus- einandersetzungen mit den Meinungen und Einstellungen des Gegenübers verhelfen dazu, Zusammenhänge zu erkennen und eigene Überzeugungen und Haltungen weiter auszuformen, was dazu beiträgt, den eigenen Platz und seine Identität in der Welt zu finden (vgl. ebd.). Der Gedankenaustausch kann allerdings bloss mentale Nähe erzeu- gen, wenn die Fachkraft der Sozialen Arbeit sich dem Klientel öffnet, eigene intime Ge- danken mit ihm teilt und ehrliches Interesse an dessen Meinung bekundet, also Gesprä- che auf Augenhöhe führt (vgl. ebd.). 3.8 Mögliche Gefahren in der stationären Arbeit mit Kindern im Umgang mit Nähe und Distanz Thiersch (2012: 38) bringt ein Nähe-Distanz-Missverhältnis treffend auf den Punkt: Wenn im pädagogischen Verhältnis die Spannung von Nähe und Distanz aufgehoben wird, kann die Verabsolutierung von Nähe in Verführung, Vertrauensmissbrauch, Nö- tigung, Verletzung des pädagogischen Inzestverbots und sexuelle Gewalt umschlagen und damit die Heranwachsenden in ihrem Werden und in ihrer Entwicklung ruinieren. (...) Festzuhalten ist jedoch auch, dass die umgekehrte Auflösung des Spannungsver- hältnisses zugunsten von Distanz zu Verhärtung der formalen Rollen und zu Gleich- gültigkeit und damit zu Unterdrückungs- und Gewaltverhältnissen führen kann. Dieses Zitat macht deutlich, welchen Schaden zu viel Nähe, jedoch auf der andren Seite auch zu viel Distanz nehmen kann. Zunächst geht dieses Kapitel auf die Gefahren von 37 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Grenzüberschreitungen in Bezug auf das Spannungsfeld Nähe und Distanz ein, wobei sowohl Grenzüberschreitungen gegenüber den Kindern, als auch die persönlichen Er- wähnung finden sollen. Anschliessend wird ein Unterkapitel die Gefahr der körperlichen und sexuellen Gewalt aufgreifen. Da Grenzüberschreitungen und Gewalt auch immer etwas mit Macht zu tun haben, sollen auch noch Überlegungen im Umgang mit der Macht im sozialpädagogischen Arbeitsfeld aufgegriffen werden und abschliessend die Folgen fürs Kind aufgezeigt werden. 3.8.1 Grenzüberschreitungen Es gibt verschiedene Erscheinungsformen von Grenzüberschreitungen im Spannungs- feld von Nähe und Distanz. Eine davon stellt den unangemessenen Eingriff in das Selbst- bestimmungsrecht dar (vgl. Volmer 2019: 164). Das geschieht dann, wenn in Form von Begrenzung der Selbstbestimmung in die Individualsphäre eingegriffen wird (vgl. ebd.). In der Arbeit mit Kindern gehört dies selbstverständlich zu einem Teil des pädagogischen Handelns, der nicht vermieden werden kann, da Kinder noch unmündig sind und in vieler Hinsicht noch Führung benötigen. Gemeint ist hier die meist unreflektierte Bevormun- dung von Kindern (vgl. ebd.). Volmer (vgl. ebd.: 165) sieht einen Eingriff ins Selbstbe- stimmungsrecht eines Kindes bloss dann als angebracht, wenn gleichzeitig nach dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe das Ziel gesetzt wird, das Kind in der Übernahme zur Selbstständigkeit zu fördern. Eine weitere Form von grenzüberschreitendem Verhalten ist das Eindringen in die Pri- vat- und Intimsphäre. In die Privatsphäre wird beispielsweise eingedrungen, wenn das Zimmer eines Kindes betreten wird, ohne vorangegangene Einholung des Einverständ- nisses (vgl. ebd.: 166). Nicht gewollte Berührungen der Kinder verletzen deren Intim- sphäre und stellen in jedem Kontext, selbst wenn sie angebracht ist (wie beispielsweise um zwei streitende Kinder voneinander zu trennen, die gerade dabei sind, sich zu ver- letzen), eine Grenzüberschreitung dar, die zu einem späteren Zeitpunkt nachbearbeitet und die Grenze wieder «repariert» werden muss (vgl. ebd.: 167). Auch Blicke können, wenn sie grenzüberschreitend und indiskret sind, in die intime Sphäre eines Kindes ver- letzen (vgl. ebd.). Unangemessenes Ansprechen von Privat- oder Intimsphäre betreffen- den Angelegenheiten stellen ebenso Grenzüberschreitungen dar, wozu auch das An- sprechen von Kindern mit einem Spitznamen zählt und das unreflektierte Ansprechen 38 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER sensibler Themen (vgl. ebd.). Auch beim unbefugten Weitergeben von Wissen aus Pri- vat- und Intimsphäre von Kindern an Schulen, Behörden oder gar an nicht-sorgeberech- tigte Familienangehörige wird eine Grenze überschritten (vgl. ebd.: 168). Eine weitere Erscheinungsform von grenzüberschreitendem Verhalten ist das Hineinzie- hen in die eigene Intimsphäre, beispielsweise in Form von Erzählen sehr intimer Ge- schichten aus dem Privatleben, das den Kindern keine Möglichkeit lässt, sich zu distan- zieren (vgl. ebd.: 171). Genauso gut kann sich das Gegenüber bedrängt fühlen durch unangemessene, allzu legere Kleidung (vgl. ebd.). Die Verfasserin der vorliegenden Arbeit möchte noch eine letzte Form von Grenzüber- schreitung im Zusammenhang mit Nähe und Distanz anführen, die ihrer Meinung nach ebenso auftreten kann. Es ist dies die Überschreitung von persönlichen Grenzen die dann erfolgt, wenn die persönliche Haltung der Fachkraft in Bezug auf das Verhältnis von Nähe und Distanz nicht mit der institutionellen Haltung kongruiert. Aus Sicht der Autorin stellt dann das Handeln gemäss Vorgaben der Institution eine Grenzüberschrei- tung dar, die auch Auswirkungen auf die Kinder haben kann, da Authentizität gemäss Thiersch (vgl. Thiersch 2012: 40) entscheidend ist für eine gelingende Arbeitsbeziehung zwischen Fachkraft und Klientel. Somit stellt diese Form von Grenzüberschreitung ein Dilemma dar, das nur schwer aufzulösen ist. 3.8.2 Körperliche und sexuelle Gewalt Die körperliche und sexuelle Gewalt stellen eine Grenzüberschreitung im extremen Aus- mass dar, die in der Geschichte der Heimerziehung beinahe alltäglich waren. In Deutschland sollen bis in die 1970er Jahre hunderttausende Kinder und Jugendliche in Heimen misshandelt und sexuell missbraucht worden sein (vgl. Schleiffer 2015: 103). Laut eines Berichts aus dem Jahre 1995 der Kindernachrichtenagentur wurden in der Schweiz jährlich zwischen 40'000 und 45'000 Kinder sexuell ausgebeutet (vgl. Bundesrat 1995: 59). Diese Zahl bezieht sich jedoch nicht nur auf die fremdplatzierten Kinder und Jugendliche, sondern auf alle. Es fehlen bislang in der Schweiz konkrete Zahlen zu Opfern von sexueller und körperlicher Gewalt aus der umstrittenen Heimer- ziehungs-Geschichte und der Bund sprach bloss von einer «erschreckenden Anzahl von Minderjährigen» (vgl. Arbeitsgruppe Kindesmisshandlungen 1995: 54), die verschiede- nen Formen sexueller Gewalt ausgeliefert waren, wobei Vernachlässigung noch weiter 39 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER verbreitet gewesen zu sein scheint. Auch gibt es eine sehr hohe Dunkelziffer bezüglich Kindesmisshandlungen, da die bereits bekannt gewordenen Fälle bei weitem nicht dem realen Ausmass entsprechen (vgl. ebd.: 55). Die Folgen körperlicher und sexueller Gewalt haben verheerende Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder und können sich in verschiedenen Formen ausdrücken. Die of- fensichtlichste und sichtbare Form sind die Physischen Folgen (vgl. ebd.: 74). Daneben gibt es aber auch psychosomatische Auswirkungen, die sich unter anderem in Schlaf- und Essstörungen ausdrücken oder in körperlichen Symptomen wie Bauch- oder Kopf- schmerzen, Atembeschwerden, Einnässen, usw. (vgl. ebd.). Auf der psychischen Ebene können chronische Depressionen, Suizid, Selbstverletzendes Verhalten, aber auch Schulversagen, abweichendes Verhalten, Kriminalität oder gar sexuelle Ausbeutung zur Folge haben (vgl. ebd.). 3.8.3 Vernachlässigung Die extremste Form von Distanz zeichnet sich durch Vernachlässigung aus und hat schwerwiegende Folgen. Bei sehr kleinen Kindern wird diese auch selten frühzeitig fest- gestellt und gilt als häufigste Form institutioneller Misshandlung (vgl. ebd.: 71) In vielen Fällen führt Vernachlässigung zu Lernschwierigkeiten in der Schule, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen oder Sprachprobleme, häufig sind diese Kinder geistig zu- rückgeblieben und auch Depressionen und Ängste können daraus resultieren (vgl. ebd.). 3.8.4 Über den Umgang mit der Macht Wie bereits erwähnt, zeichnen sich Arbeitsbeziehungen in der Sozialen Arbeit durch eine Asymmetrie aus, welche die Fachkräfte unweigerlich in eine Machtposition bringen. Thiersch (2012: 39) beschreibt im folgenden Zitat die Gefahr, die davon ausgeht: Die Gestaltung dieses besonders profilierten (...) Umgangs [mit Nähe und Distanz] ist prekär. Die Heranwachsenden sind zugleich auf den Pädagogen angewiesen und durch ihn gefährdet. Er ist strukturell in seiner Position in der Vorhand; das verführt zu Macht und Bemächtigung, die den Heranwachsenden in seiner unterlegenen Position und in der Ungesichertheit seiner Suchbewegungen einengt und unterdrückt (...). Macht wird hier also in einer strukturell bedingten erhobenen Position gesehen, deren Missbrauch zur Einengung und Unterdrückung der unterlegenen Kinder führen kann. 40 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Professionelle der Sozialen Arbeit haben also gegenüber ihrem Klientel immer einen Machtüberhang, dessen sie sich immer bewusst sein sollten. Ein Machtüberhang ist in der Erziehung notwendig, kann jedoch erst zu einer pädagogischen Ressource werden, wenn die sozialpädagogische Fachkraft diesen Machtüberhang für die entwicklungspo- tenzielle Förderung der Kinder einsetzt, da es sich nur unter dieser Bedingung um Er- ziehung handeln kann (vgl. Wolf 2014: 156). Wenn es um die Ausübung von Macht geht, steht auf der oppositionellen Seite auch stets die Ohnmacht. Sie tritt besonders in der Arbeit mit herausfordernden Kinder immer wieder auf und kann dazu führen, dass Fach- kräfte ihre Macht ungerechtfertigt ausüben, um sich aus dieser schwer auszuhaltenden Ohnmacht wieder zu befreien (vgl. Volmer 2019: 108–109). Die Reflexion des Umgangs mit Ohnmacht gilt aus diesem Grund auch als wirksamer Schutzfaktor von illegitimem Machtmissbrauch (vgl. ebd.: 109). Gemäss seinen Beobachtungen sieht Volmer (vgl. ebd.) die Ursache von übermässigem Machtgebrauch meist in zu lange zurückgehalte- nen und unterdrückten negativen Gefühlen gegenüber dem Klientel, die dann folglich in dieser Form aus der pädagogischen Fachkraft herausbricht (vgl. ebd.). Daraus lässt sich schliessen, dass das Erlauben dieser negativen Gefühle und die reflektierte Auseinan- dersetzung damit ebenfalls eine präventive Wirkung hat. Im Hinblick auf den Machtgebrauch durch körperliches Eingreifen lässt sich festhalten, dass dieser ausschliesslich dann gerechtfertigt ist, wenn er «der Selbstbehauptung und dem Schutz der Körpergrenzen des Betroffenen und Anderer dient» (ebd.: 111). Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind und es trotzdem zu machtvollem Körperkontakt kommt, wird die Macht missbraucht, wenn die Bedingungen jedoch gegeben sind, aber dennoch von einem körperlichen Eingriff abgesehen wird stellt dies ein Mangel am Ge- brauch der Macht dar (vgl. ebd.). Eine Reflexion über eine angemessene Balance von Nähe und Distanz muss der Voll- ständigkeit halber auch stets das Nachsinnen über die bestehenden Machtverhältnisse und den Umgang mit dem Machtüberhang gegenüber dem Kind miteinschliessen. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der Frage wie eine angemessene Nähe-Distanz- Regulation in der stationären sozialpädagogischen Arbeit mit Kindern aussehen sollte. 41 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER 3.9 Regulation von Nähe und Distanz in sozialpädago- gischen Einrichtungen Eine angemessene Ausbalancierung zwischen Nähe und Distanz setzt eine reflektierte Feinfühligkeit und Sensibilität der Professionellen der Sozialen Arbeit voraus, um nicht eigene emotionale Bedürfnisse «durch pädagogisch getarnte Beziehungsangebote ab- decken zu wollen», sondern die gewünschte Distanz von Kindern aushalten zu können, jedoch andererseits bei der Gestaltung dieser Distanz darauf zu achten, dass sie nicht als Routine und Gefühllosigkeit rüberkommt, die dann beim Kind ein Gefühl des verlas- sen Seins auslöst (vgl. Colla 1999: 355). Das Paradoxe in professionellen Beziehungen ist gemäss Müller (2012: 100–101) fol- gendes: «Sie können Intimeres betreffen als die intimste private Beziehung und gleich- zeitig distanzierter sein, als die meisten bloss funktionalen Beziehungen». Um die ange- messene Balance halten zu können, folgert aus diesem Grund Volmer (vgl. 2019: 103), dass eine Distanzierung in stationären Einrichtung, die mit unserer Berufsethik vereinbar ist, nur in der Reflexion der Nähe und nicht deren Vermeidung liegen kann. Eine Regulation hat einen dynamischen Charakter, weswegen eine statische Mitte zwi- schen Nähe und Distanz nicht angebracht ist, da sich die Bedürfnisse der Kinder ständig ändern können und die Regulation auch der in der entsprechenden Entwicklungsphase benötigten Intensität angepasst werden sollte (vgl. ebd.: 88–89). Es gilt also in der Nähe- Distanz-Regulation die vitalisierenden und zugleich entwicklungsfördernden Grenzbe- reiche zu ergründen und dabei drauf zu achten, dass die Extreme beider Seiten vermie- den werden (vgl. ebd.: 89). Nachfolgend wird dieses Nähe-Distanz-Kontinuum zum bes- seren Verständnis grafisch dargestellt: 42 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Vernachlässigung frostig zunehmend Gleichgültigkeit kalt feindselig Unnahbarkeit unterkühlt Reserviertheit kühl freundlich, Distanz zugewandt angenehm temperiert Nähe Intimität warm zunehmend Bedrängende Enge schwül feindselig Belagerung stickig Misbrauch heiss und frostig zugleich Abbildung 2: Kontinuum von Nähe und Distanz (vgl. Volmer 2019: 89) Innerhalb des schattierten Bereichs des Pfeils in der Abbildung 1 finden sich Begriffe von der extremsten Form von Distanz (blau) bis zur extremsten Form von Nähe (rot). Auf der linken Seite stehen Begriffe, die die emotionale Qualität der Begriffe charakteri- sieren und auf der rechten Seite die innerlich gefühlte «Temperatur» der erlebten Form von Nähe oder Distanz. Um in stationären sozialpädagogischen Einrichtungen eine ausbalancierte Nähe-Dis- tanz-Regulation gewährleisten zu können, bedarf es Reflexionsräume, in denen Abstand genommen werden kann von unerträglicher Nähe und in denen Konflikte reflektiert wer- den können, ohne zu real darin verstrickt zu sein (vgl. Müller 2012: 155). Auf der Ebene der Organisation gibt es Strukturen und Bedingungen, die gegeben sein müssen, um einen Rahmen für den professionellen Umgang mit Nähe und Distanz zu schaffen. Im nachfolgenden Abschnitt werden die wesentlichen Grundlagen auf organisationaler Ebene nach Abrahamczik et al. (vgl. 2013: 38–39) aufgeführt. In einer stationären sozialpädagogischen Einrichtung muss ein Leitbild als verlässliche Basis skizziert sein, welche die Würde und Individualität des einzelnen Kindes, sowie dessen Schutz als zentrale Werte hervorhebt. Zusätzlich bedarf es eines Konzepts, bzw. 43 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER einer Leistungsbeschreibung, die erläutert, welche personellen, wie auch sachlichen Ressourcen zur Verfügung stehen, um die Kinder vor grenzüberschreitendem Verhalten zu schützen. Mit vielfältigen auf die Institution angepassten Beteiligungsmöglichkeiten und insbesondere mit einem altersgerechten Beschwerdemanagement, soll die Achtung und Umsetzung von Kinderrechten gewährt werden. Solch ein Beschwerdemanagement benötigt es auch für die Fachkräfte und Angehörige, dessen Verfahren geregelt und transparent dokumentiert wird und standardisierte Abläufe enthält. In Fällen vorgewor- fenen grenzüberschreitenden Verhaltens werden Leitfäden, Richtlinien, Krisenpläne und Checklisten benötigt, die bei konkretem Fehlverhalten, bzw. einer Anschuldigung oder einem Verdacht spezifische Handlungsabläufe festhalten. Aber es braucht auch solche, die beschreiben, wie mit Opfern und Betroffenen, mit Tätern und mit Beschuldigten um- gegangen werden soll. Wichtig ist auch ein ausführliches sozialpädagogisches Konzept, welches Beschreibungen auf das Alter und Geschlecht bezogene Formen von Sexualität beinhaltet sowie altersgerechte Sexualaufklärung. Zudem sollte das sexualpädagogi- sche Konzept auch darauf hinweisen, wie die Intimsphäre jedes Kindes geschützt und gewahrt werden kann. Es gibt neben den oben genannten Rahmenbedingen, die in einer Institution gegeben sein müssen, um eine professionelle Nähe-Distanz-Regulation gewährleisten zu kön- nen, auch noch einen weiteren zentralen Aspekt, der besonders wichtig für eine Refle- xion ist. Sieland (1996: 198) führt das weiter aus: Soll der professionelle Mitarbeiter als Kontrolleur seiner eigenen Praxis, z.B. in der Ausgestaltung von Nähe und Distanz, nicht in die Falle des Verwechselns von guten Absichten und faktischen Wirkungen laufen, ergibt sich eine Supervisionsbedürftigkeit vor dem Hintergrund einer lebenslangen beruflichen Sorgfaltspflicht. Supervision stellte eine wertvolle Ressource dar, die genauso wichtig ist, wie der regel- mässige Austausch im Team durch Teamsitzungen mit einer offenen Kommunikations- kultur, sowie gegebenenfalls Coaching und externe Beratung (vgl. Abrahamczik et al. 2013: 22). Positive und kritische Feedbacks von den anderen Teammitgliedern und an- deren Fachkräften wirken besonders in sehr herausfordernden Situationen unterstüt- zend durch gemeinsame Reflexion in Bezug auf die Ausbalancierung von Nähe und Dis- tanz (vgl. ebd.). 44 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER In Bezug auf die Balance von Nähe und Distanz können auch Fachkräfte zur Ressource werden, wenn a) sowohl die Möglichkeiten, Wünsche und Grenzen der Kinder als auch die persönlichen bekannt sind und diese auch benannt und angesprochen werden kön- nen, b) in Bezug auf Nähe und Distanz Strukturen und Abläufe innerhalb der Institution eingefordert werden, die den Kindern Sicherheit bieten, c) und mutig Grenzüberschrei- tungen benannt werden können (vgl. ebd.: 29). Bei gelingender und angemessener Nähe-Distanz-Regulierung eröffnen sich Chancen für die Kinder im Heimalltag, dass alte Verletzungen heilen, negative Erfahrungen mit vermisster oder ausgenutzter Nähe durch neue aufgearbeitet und Vertrauen wieder auf- gebaut werden können (vgl. ebd.: 20) 45 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER 4 Schlussfolgerungen Im folgenden Kapitel soll die Zusammenfassung der Erkenntnisse aus der Bindungsthe- orie und dem Spannungsfeld Nähe und Distanz in der stationären Arbeit mit Kindern einen Überblick verschaffen, vor deren Hintergrund im Anschluss die Fragestellung be- antwortet werden soll. Abschliessend sollen Rückschlüsse daraus für die Praxis der So- zialen Arbeit gezogen werden. 4.1 Zusammenfassende Erkenntnisse Gemäss der Bindungstheorie ist ein wichtiger Faktor, der zu einer sicheren Bindung füh- ren kann, die Fähigkeit zur Feinfühligkeit. Diese beinhaltet eine einfühlsame und wache Beobachtungsgabe, mit der die Bezugsperson selbst kleinste Signale des Kindes wahr- nehmen kann. Zudem bedarf es einer korrekten Interpretation der Signale ohne dass diese durch Projektion, einer Abwehrhaltung oder durch Verleugnen verzerrt werden. Eine feinfühlige Person ist in der Lage prompt und in der angemessenen Intensität Sig- nale zu beantworten und bei dessen Veränderungen die Interaktionen entsprechend an- zupassen. So erkennt eine feinfühlige Person auch, wenn ein Kind Nähe braucht, oder wann es Abstand benötigt, um die Umgebung erkunden zu können. Ein sicher gebun- denes Kind kann die Bezugsperson als sichere Basis nutzen, von der es Schutz und Trost in bedrohlichen Situationen erfährt, von der aus es sich aber auch lösen und die Umgebung explorieren kann, wenn die Bedrohung vorbei ist. Während das sichere Bin- dungsmuster als Schutzfaktor für die kindliche Entwicklung gilt, zählt eine unsicher Bin- dung zu den Risikofaktoren, die sogar mit Angststörungen, dissoziativen Störungen und anderen psychopathologischen Störbildern in Verbindung gebracht werden können. Charakteristisch für die Psychopathologie in Verbindung mit unsicheren und desorgani- sierten Bindungen ist jedoch das Zusammentreffen von Risikofaktoren bei gleichzeiti- gem Fehlen von ausreichenden Schutzfaktoren. Nähe und Distanz können in der Sozialen Arbeit nicht als gegensätzliche Pole betrachtet werden, sondern sie stellen ein dynamisches, sich wechselseitig bedingendes Span- nungsfeld dar. Das richtige Mass an Nähe und Distanz ist von verschiedenen Faktoren abhängig und setzt eine reflektierte Feinfühligkeit gegenüber den Bedürfnissen und 46 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Grenzen der Kinder voraus. Manchmal bedarf es einfühlsamer Nähe, wobei die profes- sionelle Distanz niemals ganz überwunden werden darf und manchmal ist auch Distanz gefordert, damit das Kind seine Individualität und seine Identität entwickeln und eigene Erfahrungen machen kann, selbst wenn das bedeutet, dass es dadurch Schaden nimmt. Mentale, emotionale und körperliche Nähe bilden das Fundament für die Entwicklung der Grundemotionen und sind wichtig für die gesunde Entwicklung eines Kindes. Bei fehlender körperlicher Nähe wird die Entwicklung von Bindungen gehemmt und es kann zu emotionaler Verarmung und Entwicklungsstörungen kommen. Emotionale Nähe ist dazu da, Vertrauen zu anderen zu entwickeln und Beziehungen aufzubauen. Die men- tale Nähe trägt dazu bei, eigene Überzeugungen und Haltungen zu bilden und seinen Platz in der Welt zu finden. Wenn die Regulation von Nähe und Distanz misslingt, führt dies zu Grenzüberschreitungen in Form von unangemessenen Eingriffen ins Selbstbe- stimmungsrecht, Verletzung der Privat- und Intimsphäre, Hineinziehen der Kinder in die eigene Intimsphäre sowie Überschreitungen von persönlichen Grenzen. Die Geschichte der Heimerziehung ist geprägt von den schwerwiegendsten Grenzüberschreitungen in Form von körperlicher und sexueller Gewalt, sowie auch Vernachlässigung, die zu schwersten psychischen, körperlichen und psychosomatischen Symtomen führten. Dies verdeutlicht die Notwenigkeit einer reflektierten angemessenen Balance von Nähe und Distanz, die auch eine Reflexion über den Umgang mit der Macht beinhalten muss, um einen Machtmissbrauch zu verhindern. Für eine ausbalancierte Nähe und Distanz braucht es also viel Feingefühl und ständige Reflexion auf Seiten der Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Aber auch auf organisationaler Ebene müssen Strukturen und Rahmen- bedingungen gegeben sein, welche Abläufe, Verhalten und Haltungen skizzieren in Be- zug auf grenzüberschreitendes Verhalten. Sie müssen den Kindern Schutz bieten und ihnen die Möglichkeit geben zur Beschwerde. Auch Sexualpädagogische Konzepte be- nötigt es einerseits zur Aufklärung und andererseits zum Auflisten der konkreten Hin- weise, wie die Intimsphäre der Kinder geschützt werden soll. Besonders wichtig für eine angemessene Nähe-Distanz-Regulation sind Supervision, regelmässiger Austausch im Team durch Teamsitzungen, Coachings und externe Beratung. Eine offene Kommuni- kationskultur und kritische und positive Rückmeldungen wirken ebenfalls unterstützend. 4.2 Beantwortung der Fragestellung Es hat sich gezeigt, dass gemäss Bindungstheorie die Fähigkeit zu Feinfühligkeit von zentraler Bedeutung ist für die Entwicklung einer sicheren Bindung. Die Sensibilität des 47 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER Herausspürens, was das Kind gerade benötigt und das entsprechend feinfühlige Beant- worten der Signale gehört mit dazu. Gerade bei kleinen Kinder, die sich mit Worten noch nicht klar ausdrücken könne, ist diese Fähigkeit bedeutend. In der Bindungstheorie ist das Explorieren von Kindern ein Zeichen der sicheren Bindung. das Explorieren stellt eine Form von Distanz dar, die das Kind benötigt, um sich weiterentwickeln zu können und ist genauso wichtig wie die Nähe zur Bezugsperson in bedrohlich wirkenden und ängstigenden Situationen. Somit scheint das Spannungsfeld Nähe und Distanz auch in der Bindungstheorie von Bedeutung zu sein. Es geht sowohl in der stationären Arbeit mit Kindern, als auch in der Bindungstheorie um die richtige Dosis Nähe, bzw. die rich- tige Dosis Distanz zum rechten Zeitpunkt und zum rechten Ort. Dafür gibt es nicht ein allgemeingültiges und richtiges Rezept, das auf alle und jeder Zeit anwendbar ist. Wie viel Nähe oder Distanz benötigt wird, ist nicht nur personenabhängig, sondern kommt auch auf die Umstände an. Wenn auf dem Weg der sicheren Bindung das rechte Mass an Nähe und Distanz gefunden werden will, bedarf es diese Feinfühligkeit der Fach- kräfte. Um Grenzüberschreitungen vermeiden zu können im Umgang mit dem Span- nungsfeld der Nähe und Distanz, ist nicht nur stetige Selbstreflexion von den Fachkräften der Sozialen Arbeit verlangt, sondern es bedarf auch auf Seiten der Einrichtungen Rah- menbedingungen zum Schutz der Kinder, damit sie weder vernachlässigt werden bei zu viel Distanz, noch ihre Intim- und Privatsphäre verletzt wird bei zu viel Nähe. Die Folgen bei einem nicht stimmigen Nähe-Distanz-Verhältnissen sind gravierend, wie schon allein die Geschichte der Heimerziehung zeigt. Um diese zu vermeiden braucht es in der So- zialen Arbeit zwingend Leitlinien, Konzepte und Krisenpläne, die den Umgang im Span- nungsfeld Nähe und Distanz zum Schutz der Kinder regeln und genaue Abläufe skizzie- ren, wie bei Grenzüberschreitungen vorgegangen wird. Es bedarf ständiger Qualitätskontrollen hinsichtlich deren Einhaltung, damit die Gefahr von grenzüberschrei- tendem Verhalten möglichst gering gehalten werden kann. Unerlässlich sind auch ge- eignete Reflexionsräume in Form von Teamsitzungen, Supervision, Coachings und ex- terner Bratung, wobei eine offene Kommunikationskultur bedeutend ist. So ist gewährleistet, dass Fachkräfte der Soziale Arbeit den Umgang mit dem Spannungsfeld Nähe und Distanz vertieft reflektieren können und dass sie auch konstruktive Rückmel- dungen erhalten. 48 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER 4.3 Bedeutung für die Praxis und Ausblick Für die Praxis der Sozialen Arbeit bedeuten diese Erkenntnisse, dass der Fokus im Um- gang mit Nähe und Distanz auf die notwenigen Reflexionsräume gelegt werden muss. Die einzelnen Organisationen müssen gewährleisten, dass diese regelmässig wahrge- nommen werden. Die Konzepte und Leitlinien müssen in regelmässigen Abständen überprüft und bei Bedarf angepasst werden. Das festgehaltenen dieser Konzepte allein genügt jedoch nicht, es braucht Kontrollen, die garantieren, dass die darin festgehalte- nen Verhaltensrichtlinien auch eingehalten werden. Während des Schreibens dieser Arbeit wurde immer wieder deutlich, dass es in einigen Bereichen dringend noch der Forschung bedarf. Im Zusammenhang mit der Bindungs- theorie müsste noch weiter erforscht werden inwieweit die Feinfühligkeit der Bindungs- person die sichere Bindung wirklich beeinflusst und welche anderen Faktoren dort noch hineinspielen, wie zum Beispiel der Charakter eines Kindes oder die äusseren Um- stände, in denen es aufwächst. Dazu fehlen bislang noch empirische Befunde. Auch gibt es kaum Studien, die sich mit der Bindungsentwicklung im Heimkontext befasst. In der Schweiz gibt es keine abgesicherten Zahlen zu Kindern, die fremdplatziert sind und es ist schwierig aufgrund der föderalistischen Strukturen, diese zu generieren. Die Soziale Arbeit müsste politisch aktiv werden, um auf dieser Ebene Strukturen fordern zu können, die eine landesweite Statistik zur Heimerziehung ermöglichen könnte, die für Studien eine wichtige Grundlage darstellen. 49 BACHELOR – THESIS NADINE JÄGER 5 Literaturverzeichnis Abrahamczik, Volker/Hauff, Steffen/Kellerhaus, Theo/Küpper, Stefan/Raible-Mayer, Cornelia/Schlotmann, Hans-Otto (2013). Nähe und Distanz in der (teil)stationären Erziehungshilfe. Ermutigung in Zeiten der Verunsicherung. Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag. Ainsworth, Mary (1970). Bindung, Exploration und Trennung am Beispiel des Verhaltens einjähriger Kinder in einer «Fremden Situation». In: Grossmann, Klaus E./Gross- mann, Karin (Hg.) (2020). Bindung und menschliche Entwicklung: John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. Stuttgart: Klett-Cotta. Ainsworth, Mary (1974). Feinfühligkeit versus Unfeinfühligkeit gegenüber den Mitteilun- gen des Babys. 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