10 Fachliches und überfachliches Lernen und Lehren im Fokus der Forschung Soziales Wissen Soziale Einstellungen Selbststeuerung Soziale Kompetenzen korrelieren mit Leistungen und Schul- noten in Mathematik und Deutsch. Unerwünschte Schüler- verhaltensweisen wie Aggressivität, Missachten von Regeln, Hyperaktivität und Impulsivität beeinträchtigen die Leis- tungen. Kinder mit ausgeprägten Unterrichtsstörungen er- halten bei gleichen Leistungen eher tiefere Noten (vgl. auch heimlicher Lehrplan) und werden auf der Sekundarstufe I eher Schulniveaus mit tiefen Anforderungen zugewiesen (Neuenschwander und Malti 2009). Allerdings hat das So- zialverhalten einen bedeutenden Einfluss nicht nur auf die Schulleistungen, sondern es spielt auch für den Übergang in den Beruf und insbesondere bei der Lehrstellensuche eine entscheidende Rolle. So hat sich in unserem Projekt «Fa- milie-Schule-Beruf FASE B» gezeigt, dass Jugendliche mit hohen Konfliktlösefähigkeiten im 6. Schuljahr geringere Ten- denzen zu aggressivem Ver- halten im 9. Schuljahr zeigen und im zweiten Lehrjahr eine höhere Passung zwischen den eigenen beruflichen Fähigkei- ten/Interessen und der Berufs - ausbildung wahrnehmen. Auf - grund dieser Befunde vermu- ten wir enge Wechselwirkun- gen zwischen dem sozialen Verhalten von Kindern in der Schule, ihren Chancen auf eine Schulkarriere und beim Eintritt in den Beruf. Sozialkompetenz erfordert (a) soziales Wissen über Re- geln und Normen in verschie - denen Situationen, (b) soziale Einstellungen im Sinne der Bereit schaft, Regeln und Normen in konkreten Situationen anzuwen den, und (c) Selbststeue- rung im Sinne der Fähigkeit, das intendierte Verhalten in kon - kreten Situationen zeigen zu können (Abbildung 1). Sozialkom- petenz ist ein mehrdimensionales, facettenreiches Konstrukt und schliesst Dimensio nen wie Konfliktfähigkeit, Selbst- behauptung und Durchsetzung, Einhalten von Regeln und Vereinbarungen, Perspektivenübernahme und Einfühlungs - vermögen sowie Offenheit und Initiierung neuer Beziehun- gen ein (Neuenschwander und Frank 2011). Sozialkompetenz darf also nicht mit Konformität verwechselt werden. Sozial kompetente Jugendliche können soziale Aufgaben in ver- schiedenen Situationen so lösen, dass sie gleichzeitig ihre Ziele erreichen und in ihren Bezugsgruppen akzeptiert blei- ben (Neuenschwander und Frank 2011). Selektion von Berufslernenden Nicht nur in der Schule, sondern insbesondere auch in der Berufsausbildung und in der Erwerbstätigkeit spie- len soziale Kompetenzen eine zentrale Rolle. Dabei stellt sich die Frage, welche Aspekte von Sozialkompetenz beim Eintritt in die Berufsbildung bedeutsam sind. Unsere Be- fragung von 243 Berufsbild- nerinnen und Berufsbild- nern hat ergeben, dass die Zahl der unentschuldigten Absenzen im Zeugnis sowie klassische Tugenden wie Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Pünktlichkeit beson- ders wichtige Kriterien bei der Vergabe von Lehrstellen sind (Neuenschwander und Wismer 2010). Diese Merk- male sind den Berufsbildne- rinnen und Berufsbildnern nach ihren eigenen Angaben wichtiger als gute Schul- abschlüsse und gute schu- lische Leistungen und etwa gleich wichtig wie eine hohe Leistungsmotivation. Weiter zeigte unsere Befragung von 228 Ausbildungsverantwort- lichen, dass 70% der Befragten bei gleichen Qualifikationen die teamfähige Person gegenüber der fachlich kompe- tenten Person bevorzugen. Dieser Trend zeigt sich unab- hängig von der Betriebsgrösse und der Branche, in der die Befragten arbeiten. Er erklärt sich damit, dass in vielen Berufen Produkte im arbeitsteiligen Team kooperativ ent- wickelt oder hergestellt werden und hierfür teamfähige Personen, die zu einem guten Arbeitsklima beitragen, ge- braucht werden. Bedeutung der Sozialkompetenz am Übergang von Schule und Beruf Wie Jugendliche in der Schule auf die berufliche Sozialisation vorbereitet werden können Markus P. Neuenschwander Abbildung 1: Konzept der Sozialkompetenz 11 einstellen und gleichzeitig ihr eigenes Verhalten zielgerich- tet steuern. Training von sozialen Kompetenzen in der Schule Angesichts der hohen Bedeutung der Sozialkompetenz beim Berufseintritt plant das Zentrum Lernen und Sozi- alisation einerseits, die Beurteilung der überfachlichen Kompetenzen im Zeugnisformular des Kantons Aargau zu überprüfen. Andererseits wurde ein Interventionspro- gramm zur Förderung von Sozial- und Selbstkompetenzen in der Schule (InSSel) entwickelt, durchgeführt und evalu- iert (Neuenschwander und Frank 2011; Frank und Neuen- schwander 2013, im Druck). Denn es gibt zurzeit noch we- nige Programme oder Lehrmittel, die Lehrpersonen bei der effektiven Förderung dieser Kompetenzen unterstützen. Vielmehr arbeiten Lehrpersonen an diesen Kompetenzen in der Regel nicht geplant, etwa wenn sie soziale Regeln in ihrem Unterricht durchsetzen, das zuverlässige Erledigen der Hausaufgaben einfordern oder Pausenregeln einführen. Im InSSel-Programm begleiten Jugendcoaches verhaltens- auffällige Schülerinnen und Schüler der Mittel- und der Oberstufe während eines Schuljahres, indem sie in wö- chentlichen Gruppensitzungen ein Projekt durchführen, sie im Regelunterricht besuchen, Gespräche mit den Eltern führen und zur Schulentwicklung beitragen. Während der wöchentlichen Gruppensitzungen werden Verhaltensziele vereinbart, gute Beziehungen sowie Sozial- und Selbstkom- petenzen aufgebaut. Das Programm wird gegenwärtig an mehreren Schulen des Kantons Aargau eingesetzt. In der Evaluation wurden die InSSel-Schülerinnen und -Schüler sowie deren Lehrerinnen und Lehrer beim Eintritt Bedingungen der beruflichen Sozialisation Ausgehend von diesen Befunden gingen wir im Forschungs- projekt «Sozialisationsprozesse beim – Übergang in die Be- rufsausbildung SoLe» der Frage nach, wie Jugendliche in der Schule auf die berufliche Sozialisation im Lehrbetrieb vorbereitet werden können. Wir entwickelten ein Konzept der beruflichen Sozialisation beim Eintritt in den Lehrbe- trieb. Strukturgleichungsmodelle mit Längsschnittdaten von rund 400 Jugendlichen zeigten, dass die Zufrieden- heit, die Passungswahrnehmung und die Lehrabschluss- intention sechs Monate nach Lehreintritt wesentlich von der wahrgenommenen sozialen Integration im Lehrbetrieb und der Bewältigung der beruflichen Aufgaben abhängen. Diese wiederum werden nicht von den Zeugnisnoten im 9. Schuljahr vorhergesagt, sondern von Indikatoren für sozi- alen Erfolg im schulischen Unterricht des 9. Schuljahres: Schülerinnen und Schülern gelingt die berufliche Sozialisa- tion eher, wenn sie in der Klasse beliebt sind und eine gute Beziehung zu den Lehrpersonen haben, aber auch wenn sie hohe selbstregulative Fähigkeiten wie geringe Ablenk- barkeit aufweisen und den Unterricht nicht stören (Neuen- schwander und Gerber 2013, im Druck). Gemäss diesen Ergebnissen kann die berufliche Sozia- lisation in der Volksschule so vorbereitet werden, dass die Schülerinnen und Schüler im Verlauf der Schul- jahre lernen, wie sie erfolgrei che soziale Beziehungen zu Gleichaltrigen und Erwachse nen gestalten und wie sie sich selber im Unterricht regulieren. Dafür brau- chen sie eine sogenannte intelligente Anpassungsfähig- keit. Sie müssen Regeln und Normen in Situa tio - nen erkennen, sich auf Interaktionspartner empathisch Die Lehrer(innen)bildung soll Lehrpersonen gezielt auf die Aufgabe der Vermittlung und Förderung von überfachlichen Kompetenzen vorbereiten. Foto: Adriana Bella. 12 Fachliches und überfachliches Lernen und Lehren im Fokus der Forschung «Wenn die Schule die Kinder auf den Beruf und ein selbstständiges, unabhängiges Leben vorbereiten soll, muss die Förderung und Ausbildung von überfachlichen Kompetenzen mehr Gewicht erhalten.» und beim Austritt aus dem Programm befragt und mit einer Kontrollgruppe verglichen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Unterrichtsstörungen aus der Sicht der Lehrpersonen wäh- rend eines Jahres signifikant abnahmen, dass sich die Ein- stellung der InSSel-Schülerinnen und -Schüler zur Schule und zu den Lehrpersonen verbesserte und die Zeugnisbeur- teilungen im Vergleich zum Vorjahr tendenziell besser wur- den (Frank und Neuenschwander 2013, im Druck). Diese Befunde sind deshalb bedeutsam, weil Interventionen zur Förderung von Sozialkompetenzen bislang oft nur schwa- che oder mässige Wirkungen gezeigt hatten. Schlussfolgerungen Die Vermittlung von Sozialkompetenzen ist in vielen noch geltenden Lehrplänen und auch im neu entwickelten Lehr- plan 21 als fachübergreifendes Lehrziel festgelegt. Diese Kompetenzen erhalten beim Eintritt in die Berufsausbil- dung hohe Bedeutung. Ihre Förderung und Beurteilung bleibt aber oft vage. Viele Lehrpersonen, vor allem solche der Sekundarstufe I, definieren ihren Berufsauftrag primär als Vermittlung von Fachkompetenzen in den einzelnen Fä- chern. Die Vermittlung der Sozial- und Selbstkompetenzen vollzieht sich beiläufig, als Ergebnis ihres mehr oder weni- ger expliziten Verständnisses von Klassenführung. Ausser- dem wird die Förderung der Sozialkompetenz wie übrigens auch jene der Selbstkompetenz primär als Erziehungsauf- gabe der Eltern interpretiert. Aufgrund der hohen Bedeutung dieser Kompetenzen beim Berufseintritt ist diesbezüglich eine Präzisierung des Schulauftrags erforderlich. Wenn diese Kompetenzen in der Schule gefördert und beurteilt werden sollen, brau- chen Schulen und Lehrpersonen mehr Hilfsmittel bei der Umsetzung. Die Lehrer(innen)bildung muss Lehrpersonen gezielter auf diese Aufgabe vorbereiten. Zudem sind Richt- linien oder Standards erforderlich, wie diese Kompetenzen in den Schulstufen aufgebaut werden. Insgesamt ist sowohl die Forschung als auch die Umsetzung in der Schule im Be- reich der Sozial- und Selbstkompetenzen im Vergleich zu den Fachkompetenzen vernachlässigt worden. Wenn die Schule die Kinder auf den Beruf und ein selbstständiges, unabhängiges Leben vorbereiten soll, muss die Förderung und Ausbildung von überfachlichen Kompetenzen mehr Ge- wicht erhalten. Dafür bieten die bislang entwickelten und evaluierten Programme probate Orientierungshilfen. Angaben zu den Projekten «Sozialisationsprozesse beim Übergang in den Lehrbetrieb (SoLe)» s. auch S. 52, «Inter- vention zur Förderung von Sozial- und Selbstkompetenzen in der Schule (InSSel)» s. auch S. 51, «Determinanten von Berufsbildungsentscheidungen beim Übergang in den Ar- beitsmarkt (BEN)» s. auch S. 50. Literatur – Frank, Nicole; Neuenschwander, Markus P. (2013, im Druck): Förderung von Sozial- und Selbstkompeten - zen – Das Programm InSSel und seine Wirkungen. In Neuenschwander, Markus P. (Hrsg.): Selektion in Schule und Arbeitsmarkt. Zürich: Rüegger-Verlag. – Neuenschwander, Markus P.; Gerber, Michelle (2013, im Druck): Schulische Vorbereitung auf die berufliche Sozialisation im Lehrbetrieb. Unterrichtswissenschaft. – Neuenschwander, Markus P.; Gerber, Michelle; Frank, Nicole; Rottermann, Benno (2012): Schule und Beruf: Wege in die Erwerbstätigkeit. Wiesbaden: VS-Verlag. – Neuenschwander, Markus P.; Frank, Nicole (2011): Förde- rung der Sozial- und Selbstkompetenzen in der Schule (InSSel): Beschreibung eines neuen Interventionspro- gramms. Sozialmagazin, 36(11), S. 43–49. – Neuenschwander, Markus / Wismer, Nathalie (2010): Selektionskriterien: Wichtige Rolle der überfachlichen Kompetenzen. In: Panorama (1). S. 16–17. – Neuenschwander, Markus P.; Malti, Tina (2009): Selektions - prozesse beim Übergang in die Sekundarstufe I und II. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 12(2), S. 216–232. Publikationen aus diesen Projekten – Neuenschwander, Markus P.; Hermann, Marcia (2013, im Druck): Gefragt ist der richtige Mix aus Kompetenzen und Persönlichkeit. Panorama. – Neuenschwander, Markus P.; Hermann, Marcia (2013, im Druck). Determinanten von Berufsbildungs- entscheidungen bei eingeschränkter Informationsbasis. In: Racherbäumer, Kathrin; Liegmann, Anke B.; Mammes, Ingelore (Hrsg.): Übergänge im Bildungssystem – Nationale und internationale Ergebnisse empirischer Forschung. Münster: Waxmann. – Neuenschwander, Markus P. (2013, im Druck): Zusammen - arbeit von Eltern und Lehrpersonen in Transitions- situatio nen. In: Schüpbach, Marianne; Slokar, Ana (Hrsg.): Kooperation als Herausforderung in Schule und Tages- schule. Bern: Haupt. – Neuenschwander, Markus P. (2013, im Druck): Selektionsentscheidungen beim Übergang in die Sekundarstufe I und in den Arbeitsmarkt im Vergleich. In: Neuenschwander, Markus P. (Hrsg.): Selektion in Schule und Arbeitsmarkt. Zürich: Rüegger-Verlag. – Singer, Annina; Gerber, Michelle; Neuenschwander, Markus P. (2013, im Druck): Individuelle und soziale Bedingungen der beruflichen Sozialisation im Lehrbetrieb. In: Neuenschwander, Markus P. (Hrsg.): Selektion in Schule und Arbeitsmarkt. Zürich: Rüegger-Verlag. – Neuenschwander, Markus P. (2014, im Druck): Übergang in die Berufsausbildung zwischen Wahl und Selektion. In: Schaffner, Dorothee; Ryter, Annamarie (Hrsg.): Begleitung bei der Berufsintegration – neue Anforde- rungen an Professionalität. Bern: hep.